Void von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 1: ----------- 21:30. Ein Abend im Dezember. Kalt, eisig, schneebedeckt der Boden. Die Luft so frisch, dass sie in der Lunge brennt wie Feuer. Wundervolles Gefühl. Abende wie diese sind es, die ich so sehr liebe. Verschneite Winterabende, arktische Temperaturen; so kalt dass der Atem in der Luft gefriert. Man sich am liebsten nicht aus dem Bett bewegen würde, sich lieber in eine Decke einwickeln, Tee trinken... Ja, ich liebe solche Abende. An ihnen fühle ich mich nicht ganz so leer. Nicht wie bereits tot. Nie hält dieses Gefühl lange an. Es verblasst bereits, als ich die Straße entlangstapfe, den Kopf gesenkt, die Kapuze des Mantels tief ins Gesicht gezogen. Der im Licht der Straßenlaternen reflektierende Schnee blendet mich. Zu hell. Jeder Funken Licht ist zu hell für mich an Abenden wie diesen. Als wäre ich ein Vampir, der darin verbrennt. Ich höre Stimmen. Leute, die mir entgegenkommen. Ich kenne sie. Sie gehen auf dieselbe Uni wie ich, mit einigen habe ich mich bereits öfters unterhalten. Smalltalk, nichts weiter. Vielleicht ein wenig Hilfe bei diversen Aufgaben. Gespräche ohne jeglichen wirklichen Inhalt. Einer von ihnen erkennt mich. Ruft meinen Namen, ich hebe den Kopf. Er winkt. Kommt auf mich zu, die anderen folgen ihm. Sie wirken fröhlich, ausgelassen, lächeln. Ich auch. Lächeln ist nicht schwer. Eine Bewegung der Gesichtsmuskeln, weiter nichts. Nichts steckt dahinter, keine Emotionen. Schon gar keine Freude. Bloß Leere. In Momenten wie diesen, in denen ich mit den Anderen Worte wechsle, lache, so tue, als würde mich nichts von ihnen unterscheiden, stelle ich mir die Frage, wann das letzte Mal war, als ich wirklich etwas empfunden habe. Etwas wirklich gefühlt, nicht bloß dumpf wie durch Watte hindurch. Ich kann mich nicht erinnern. Sie fragen mich, ob ich mit ihnen kommen will, in die Mall, zum Essen. Ich entschuldige mich, noch immer lächelnd, sage, ich muss etwas dringendes erledigen. Sie fragen nicht weiter nach. Gehen weiter. Ich auch. Mein Ziel ist immer dasselbe an Abenden wie diesen. Manchmal schäme ich mich dafür, was ich tue, und viel häufiger hasse ich mich. DAS sind Emotionen die ich kenne. Hass. Scham. Verachtung. Niemals gegen andere. Bloß gegen mich selbst. Doch selbst das kümmert mich mittlerweile kaum mehr. Denn ich habe keinen Grund, etwas zu ändern. Nichts. Niemanden. Nicht mehr. Die Türglocke der Bar klingelt, als ich sie aufdrücke. Es ist voll hier, so wie jeden Abend. Bekannte Gesichter, die meisten Stammgäste, so wie ich. Weitaus älter, viele um die fünfzig, spielen Karten, unterhalten sich, lachen. Ein paar nicken mir zu, als ich an ihnen vorbei gehe, ich nicke zurück. Lächle. Ansprechen tut mich niemand. Ich setze mich auf einen Hocker an der Bar, der Barkeeper grüßt mich. Ich grüße zurück. “Dasselbe wie immer?”, fragt er. Ich nicke. Wie immer. Jeden Abend, an dem ich hier bin. Ich bin immer hier, immer in der selben Bar. Denn nur hier ist es dem Barkeeper gleichgültig, dass ich eigentlich noch zu jung bin, um hier zu sein. Auf 21 würde mich beim besten Willen niemand schätzen. Doch hier ist das egal. Meistens bin ich froh darüber, und manchmal wünsche ich mir, dass Ricky - der Barkeeper - sich weigert, mir meinen Vodka auszuschenken. Mich einfach rauswerfen würde, mir Hausverbot geben, vielleicht auch die Polizei rufen. Das sind die Momente in denen ich mich schäme und mich hasse. So selten sie auch sind, immer weniger geworden mit der Zeit, so sind sie doch noch manchmal da. Aber Ricky sagt mir nicht, dass ich gehen soll. Er wirft mich nicht raus. Er greift nach einer der Flaschen in dem Regal hinter sich, öffnet sie und kippt die klare Flüssigkeit in ein Glas, welches er mir gleich darauf hinstellt. “Na, Dann Prost, mein Junge!” Ich nicke. Hebe das Glas, nehme einen Schluck. Der Vodka brennt schwach in meiner Kehle, doch nicht unangenehm. Ich weiß noch, wie ich mich früher immer gefragt habe, wie es Leute geben kann die dieses Zeug herunterbekommen; obwohl es sich jedes Mal anfühlte als würde es einem sämtliche inneren Organe verätzen. Und heute schmecke ich es kaum noch. Bin abgestumpft, und das wohl in mehr als einer Hinsicht. Den Rest des Glases leere ich in einem Zug. Stelle es zurück auf die Theke. Ricky kommt, nimmt es mit. Während ich warte, dass er mir ein neues bringt - das wird er, dazu bedarf es keiner weiteren Aufforderung - lasse ich meinen Blick durch die Bar schweifen, beobachte die anderen Gäste, mustere sie, analysiere sie unterbewusst. Bei vielen von ihnen überlege ich mir, was sie wohl für Menschen sind. Bänker, Lehrer, Feuerwehrmänner...wie sie wohl zu dem geworden sein könnten, was sie jetzt sind. Das tue ich immer, wenn ich unter Menschen bin. Ich kann überhaupt nicht anders. Es ist ermüdend mit der Zeit, doch so wie manche Leute sich keinen Film ansehen können bloß um einfach zu entspannen, so kann ich nicht einfach unter Leute gehen ohne über sie nachzudenken. Nicht, dass sie mich besonders interessieren würden, nein. Es sind ihre Geschichten, über die ich mir Gedanken mache. Ricky kommt zurück. Stellt mir ein neues Glas hin. Ich bedanke mich, nehme einen Schluck. Dieses Mal ist das Brennen kaum noch zu spüren. Wieder schweift mein Blick ab, über die Tische, bleibt an einem Jungen Paar hängen, das keine zwei Meter von mir entfernt an einem Tisch sitzt. Beide wenig älter als ich, wenn auch wohl über 21 und damit legal hier, er mit kurzgeschnittenen weißblonden Haaren, die ein wenig an Hitlerjugend erinnern, ihre Haare platinblond und hüftlang. Sie kleben förmlich aneinander, begrabschen sich und lächeln sich dabei mit grenzdebilem Gesichtsausdruck an; ich wende den Blick ab und leere mein Glas. Ich könnte die Beiden beneiden um ihr frischverliebtes Glück, doch ich glaube kaum, dass es lange anhalten wird. Der Blick, mit dem das Mädchen zwischenzeitlich immer mal wieder auf ihr Handy gesehen hat, immer genau dann wenn ihr Freund gerade kurz abgelenkt war, spricht Bände...Und auch ihr Lächeln wirkt falsch und aufgesetzt. Aber vielleicht bin ich auch nur verbittert und rede mir das ein. Ein dumpfer Knall auf Holz. Mein drittes Glas. Denke kurz nach, dann trinke ich die Hälfte des Glases in einem Schluck; endlich stellt sich ein leicht benebeltes Gefühlt ein... Alkohol wirkt längst nicht mehr so schnell bei mir wie noch vor zwei Jahren. Gedankenverloren lasse ich den Blick über die diversen Spirituosen im Regal hinter der Theke Wandern. Vodka, Whisky, Rum, Tequila, Absinth....Absinth hätte was. Definitiv. “Du solltest das lassen!”, schießt es mir in diesem Moment durch den Kopf; kein bloßer Gedanke, eher beinah wie eine reale Stimme. “Du solltest endlich zusehen, dass du dich mal wieder in den Griff kriegst!” ”Halt die Klappe!”, murmle ich, den Kopf schüttelnd, und dann: “Ich glaub den Absinth brauch ich gar nicht mehr...” Trinke des Rest meines Vodkas, stelle das Glas zurück. Mein Blick bleibt an der langen Spiegelfläche hinter dem Spirituosenregal hängen; während das benebelte Gefühl immer stärker wird betrachte ich mein Spiegelbild. “Gott, seh ich scheiße aus...” Meine Haut, eigentlich immer schon recht blass, sieht hier unter der Barbeleuchtung aus wie die einer Leiche, fast schon wie Knochen eines Skeletts, meine allgemein dürre Gestalt verringert diesen Eindruck nicht unbedingt, die tiefen Augenringe machen deutlich, wie wenig Schlaf ich in den letzten Wochen bekommen habe, meine Augen tränen von den Kontaktlinsen, die ich nicht vertrage aber doch benutze, um keine Brille tragen zu müssen, und meine schulterlangen schwarzen Haare fallen mir wirr ins Gesicht. Grauenhaft. An mich selbst gerichtet frage ich leise: “Und so traust du dich wirklich noch vor die Tür zu gehen?” Ja. Das tue ich. Denn es interessiert mich nicht. Solange ich nicht vollkommen ungepflegt aussehe ist es mir egal...und vielleicht wäre es mir auch dann noch gleichgültig. Ich stoße einen tiefen Seufzer aus. Lehne mich zurück. Schließe die Augen. Und dann, für einen kurzen Moment, nur ein, zwei Sekunden lang, möchte ich weinen. Möchte mein Gesicht in den Armen vergraben schluchzen, schreien, einfach so. Doch dann ist dieser Drang vorbei. So plötzlich wie er gekommen ist. Was bleibt ist die Leere. Diese gottverdammte Leere die schlimmer ist als jeder Schmerz... “Du solltest jetzt gehen.” Wieder diese seltsame Stimme in meinem Kopf. Ich weiß, dass sie nicht real ist, und doch hört sie sich so an; und ich glaube nicht, dass sie vom Alkohol kommt...aber vielleicht doch. Oder aber ich werde langsam komplett verrückt. Wäre das schlimm? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Vielleicht würde es gar keinen Unterschied machen. Vielleicht bin ich längst verrückt. Was weiß ich eigentlich noch? Andere Menschen beobachte und analysiere ich, dichte ihnen Geschichten an, doch davon wer ich selber bin habe ich nicht die geringste Ahnung. Das ist eigentlich ziemlich traurig. Dann wieder diese Gedanken-Stimme. “Jetzt geh schon! Los!” ”Ich weiß nicht, wer du bist”, gebe ich leise zurück, die Tatsache ignorierend, dass ich mit einem Hirngespinst diskutiere und dabei Ricky ein Zeichen gebend, dass er mir noch ein Glas Vodka bringen soll, “aber lass mich einfach in Ruhe, okay?” Keine Antwort. Sie schweigt wirklich. Zugegebenermaßen entgegen meiner Erwartungen. Doch es ist mir nur recht. Ricky ist wieder da, stellt mir den Vodka hin. Ich bedanke mich ein weiteres Mal, er nickt, ich hebe das Glas. Später 23:30 Uhr. Ich greife in meine Manteltasche, taste nach dem Portemonnaie. Alles schwankt. Verschwimmt. Dreht sich. Verdoppelt, verdreifacht sich. Energisch schüttele ich den Kopf, lege das Geld für die fünf Gläser Vodka auf den Tresen, stehe auf. Wäre beinah sofort wieder gestürzt, schaffe es aber, irgendwie das Gleichgewicht zu behalten. Der Weg zur Tür erscheint mir unfassbar lang, scheint sich zu winden wie eine Schlange, doch ich bin ihn mittlerweile schon so oft entlanggegangen dass mir das kaum noch Probleme bereitet. Die schwere Tür lässt sich mit einem Quietschen öffnen, die eisige Nachtluft schlägt mir ins Gesicht, gierig atme ich sie ein, spüre wieder dieses Brennen in der Lunge. Wunderbar. Und diese Stille. Kein Stimmengewirr mehr, nur das leise Rauschen des Windes... Ich muss leise Kichern. Warum, weiß ich nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber das spielt auch keine Rolle. Langsam gehe ich die sich epilepsieartig verzerrende und verkrampfende Straße entlang, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen; es ist noch viel kälter geworden als vorhin, das weiß ich, obwohl ich die Kälte überhaupt nicht richtig spüre. Die Pflastersteine scheinen zu beben und Wellen zu schlagen, immer wieder blitzen kleine schwarze Punkte vor meinen Augen auf und ich merke gerade noch rechtzeitig, dass ich im Begriff bin, gegen eine Laterne zu renne. Oh man, das hätte mir gerade noch gefehlt...gehts noch peinlicher? Kaum ist mir dieser Gedanke gekommen muss ich wieder auflachen. Sage laut, an niemand Bestimmten gerichtet: “Als wäre das wichtig! Tu doch nicht so!” Kichere wieder. Verdammt. Was mache ich hier? Die zugefrorene Pfütze direkt vor mir sehe ich nicht, mein Blick ist noch immer auf das Licht der Laterne gerichtet, der ich soeben knapp ausgewichen bin; ich bemerkte sie erst, als ich darauf ausrutsche und stürze; schlage zuerst mit meiner rechten Schulter, dann mit der Schläfe auf dem harten Boden auf. Schmerz durchzuckt mich, doch er ist dumpf, kaum der Rede wert. Spüre ihn kaum. Fluche leise, will mich wieder aufrichten...aber...den Grund dafür kenne ich nicht… Doch ich merke, wie mir Tränen übers Gesicht laufen. Ein Schluchzen entweicht meiner Kehle. Ich bin verwirrt, weiß nicht, was mit mir passiert, aber muss wieder schluchzen, will mir die Tränen wegwischen doch meine Arme fühlen sich mit einem Mal vollkommen kraftlos an. Mein Schluchzen wird heftiger, ich bekomme kaum noch Luft, doch kann nichts dagegen tun, kann nicht aufhören, mir nicht die Tränen wegwischen, nicht aufstehen, gar nichts. Einfach nur daliegen. Und weinen. “Hör auf damit!”, zische ich zwischen zwei Schluchzern, stoße dann ein seltsames hohes Wimmern aus. “Verdammt noch mal...was ziehst du jetzt schon wieder für eine Scheiße ab?!” Meine Worte verklingen ungehört, wie sollte es auch anders sein; ich bin allein, wie immer. Allein, nicht mehr in der Lage mich aufzurichten, nicht in der Lage mit dem Weinen aufzuhören, obwohl ich noch nicht einmal weiß, weshalb ich weine... Ich bin nicht traurig, ich habe auch keine Schmerzen. Da ist doch nichts weiter als Leere in mir. Aber ich weine, schluchze, wimmere, wie ein kleines Kind, und trotz des Alkohols, der normalerweise all das, was mir an Gefühlen geblieben ist betäubt, schäme ich mich. Frage mich, was mit mir los, mit mir passiert ist, dass ich so geworden bin, so ein verdammter Versager, der nicht in der Lage ist ein vernünftiges Leben zu führen wie alle anderen auch, der nichts erreicht hat trotz seiner hervorragenden Schulnoten und dem Stipendium für eben diese, der einfach nicht glücklich sein kann und lieber in Selbstmitleid versinkt...Verdammte Scheiße. Ich hasse mich so sehr in diesem Moment. Lange liege ich so da, bis mein Hals beginnt zu schmerzen, ich keine Schluchzer mehr hervorbringen kann. Nur noch ein heiseres Krächzen. Meine Finger verkrampfen sich, krallen sich in den Schnee, als würde der mir Halt geben, ich hebe den Kopf, registrieren erst jetzt, wie verschwommen meine Sicht ist, und das nicht bloß aufgrund der Tränen, nein, wegen meines Rumgeheules habe ich meine Kontaktlinsen verloren. “Schlimmer kann es doch überhaupt nicht mehr werden!”, schießt es mir durch den Kopf, und gleich darauf muss ich würgen; mich beinah übergeben. Huste. Mein Hals fühlt sich an, als hätte ich Sandpapier verschluckt; der Schmerz lässt mich zusammenzucken, mein benebelter Zustand bewahrt mich nicht davor. Und dann höre ich Schritte. Zunächst denke ich mir, dass ich sie mir nur einbilde, so wie zuvor diese seltsame Stimme; doch Nein, die Schritte kommen immer näher, schwer, knirschend im frischgefallenen Schnee und definitiv nicht bloß von einer einzelnen Person stammend. Ich will mich aufrichten und nachsehen, doch es gelingt mir noch nicht einmal, den Kopf zu heben, und dann sind die Schritte direkt neben mir, verstummen, und einen Moment lang ist es wieder vollkommen still. Bis Worte beginnen, die kalte Nachtluft zu durchschneiden. "Na, sieh Mal einer an! Wen haben wir denn da?" Ich kenne diese Stimme, kenne sie sogar sehr gut, und dennoch kann ich sie in diesem Moment nicht zuordnen. Nur eines weiß ich, geradezu instinktiv wie ein Kaninchen, wenn es die Anwesenheit eines Feindes spürt obwohl es ihn nicht sieht: Diese Stimme bedeutet Gefahr. Ich bekomme einen Tritt in die Rippen, eine andere Stimme sagt: "Hey, was ist los mit dir? Zu blöd zum Laufen gewesen oder was?" Mehrstimmiges Gekicher. Ich verkrampfe meine Hände noch mehr als zuvor, doch es gelingt mir einfach nicht, mich hochzudrücken, nicht einmal ein kleines Stück; es geht einfach nicht...Es ist, als wäre mein gesamter Körper gelähmt. Und dann packt mich jemand an den Haaren und zerrt mich hoch. Es schmerzt; nicht stark, doch es schmerzt, und noch immer laufen mir warme salzige Tränen übers Gesicht, die einfach nicht versiegen wollen. Ich hänge halb in der Luft, unfähig aus eigener Kraft zu stehen, wie eine Marionette an ihren Fäden. Drei Personen stehen vor mir, dazu noch die, die mich festhält, doch kann ich keine von ihnen erkennen, mein Blick ist getrübt aufgrund der Tränen, der Tatsache, dass ich meine Kontaktlinsen verloren habe und des Alkohols. "Guckt euch das an!", sagt einer von ihnen; die Stimme gleicht der, die ich zuvor als erstes vernommen hatte. "Er heult! Dabei haben wir doch noch gar nichts gemacht!" Wieder Kichern. Angestrengt denke ich nach, überlege, wer zur Hölle das ist, doch meine Gedanken sind so verdammt wirr; und zähflüssig wie Honig. Verdammter Alkohol. Das habe ich jetzt davon... "Hey, ich rede mit dir!" Die Person hinter mir zieht stärker an meinen Haaren und ich stoße einen leisen Schrei aus. Diesmal folgt kein Kichern, sondern ein lautes Lachen. Und nun wird mir auf einen Schlag klar, WER diese Leute sind. Sie sind 5 Jahre älter als ich, besuchen denselben Englischkurs wie ich, sind am College als aggressive Schläger bekannt und ich habe mich letzte Woche geweigert, sie in der Klausur von mir abschreiben zu lassen. Jake, Melvin, Roy und Carter, wenn ich mich richtig erinnere. "Was...was wollt ihr?", bringe ich mühsam hervor, und ich hasse es, wie ängstlich und weinerlich meine Stimme klingt. Melvin - zumindest glaube ich, dass es Melvin ist, der mich festhält - lässt meine Haare los und packt nun stattdessen den Kragen meines Mantels sodass der mir die Luft abschnürt und ich panisch nach Atem ringe, einen Moment lang das übermächtige Gefühl habend, zu ersticken. “Dafür dass du doch angeblich so schlau bist war das aber ganz schön dumm von dir, mir zu widersprechen!”, höhnt Carter; Carter, der wirklich unverkennbar ist, eine Statur hat, die einen ernsthaft an den unglaublichen Hulk erinnert und sowas wie der Anführer der Gruppe ist. Er macht einen Schritt auf mich zu, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. “Also, üben wir das noch mal! Was sagst du wenn ich dir sage, dass du mich abschreiben lassen sollst?” Das, was ich nun tue, begreife ich selbst nicht wirklich; es passiert wie von alleine, ich kann überhaupt nichts dagegen tun, nur alles durch einen verschwommenen alkoholisierten Schleier beobachten, zusehen, wie ich wie in Zeitlupe mein Bein ausstrecke, dabei nur deshalb nicht umfalle, weil Melvin mich- wohl eher unfreiwillig- stützt und Carter gegen das Schienbein trete. Überrascht klappt dessen Mund auf, einen Schmerzensschrei ausstoßend taumelt er zurück, was mich eher verwundert als freut; sonderlich kräftig bin ich nicht einmal dann, wenn ich nüchtern bin, doch scheint mir das Überraschungsmoment einen gewaltigen Vorteil verschafft zu haben, denn auch Melvin lockert seinen Griff, ich bekomme wieder normal Luft und schneller als ich es in meinem betrunkenen Zustand für möglich gehalten hätte drehte ich mich herum, reisse mich los und stolpere an Melvin vorbei in Richtung Straße. Was ich vorhabe, weiß ich nicht. Vielleicht vor das nächste Auto rennen und sterben...rationales Denken hat gerade komplett ausgesetzt. Ich habe keine Ahnung was ich eigentlich tue, vorhabe, will, was und warum, aber wann habe ich das schon? Laufe einfach weiter, oder schwanke viel mehr, die ganze verdammte Welt scheint sich zu drehen, ich scheine eher auf der Stelle zu laufen als wirklich voranzukommen, wie in einem schlechten Traum... Ich wünschte, das wäre es. Nur ein Alptraum. Nichts weiter. Mein ganzes Leben bloß ein Alptraum. Doch das ist es nicht, das ist mir selbst in meinem jetzigen Zustand klar, ebenso wie die Tatsache, dass das, was ich soeben getan habe, extrem dämlich war. Geradezu lebensmüde. Paradoxerweise muss ich wieder kichern, stolpere dabei, stürze fast, kann mich jedoch noch fangen und “renne” weiter. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Carter und die anderen mir folgen, ich kann ihre Schritte und ihre Flüche hören, die immer näher kommen. Wenn sie mich erwischen, bin ich so gut wie tot. Aber...was macht das schon? Und was für eine Wahl hatte ich? Ich bin vielleicht mit so ziemlich allem am Ende, von Selbsthass und Depressionen zerfressen und regelmäßig von Suizidgedanken geplagt... Aber dennoch werde ich sicherlich nicht vor Leuten wie Carter im Dreck kriechen und um Verzeihung betteln. Ganz bestimmt muss ich nicht auch noch das letzte bissches Selbstachtung verlieren, das ich noch besitze... Das ist das Letzte, woran ich denken kenn, bevor meine Beine unter mir wegknicken; ohne jede Vorwarnung, ich will Schreien doch bringe keinen Laut hervor, strecke die Arme aus um mich abzufangen, doch viel zu spät, alles, was diese Handlung bewirkt, ist dass mein rechtes Handgelenk beim Aufprall auf dem Bürgersteig ungesund knackt und ein höllischer stechender Schmerz hindurch zuckt. Und dann sind meine Verfolger bereits bei mir, einer von ihnen verpasst mir einen Tritt gegen die Schulter, dann werde ich wieder gepackt und hochgerissen, so schnell dass alles um mich herum verwischt wie in einem PC Spiel auf einen Rechner mit zu schlechter Grafikkarte. Und wieder muss ich Kichern, über diesen verdammt dämlichen Vergleich, so unpassend das in dieser Situation auch ist. Doch ich kann nichts dagegen tun. "Was ist so witzig, du kleiner Wichser? ", brüllt Carter mir direkt ins Gesicht, ich höre auf zu Kichern, will etwas erwidern doch komme überhaupt nicht mehr dazu, bevor mich der erste Schlag trifft. Er ist so heftig dass ich zur Seite gerissen werde und wieder stürze, auf dasselbe Handgelenk wie zuvor, und diesmal macht sich niemand die Mühe, mich wieder zum Aufstehen zu zwingen; Melvin tritt mir in dem Rücken und Roy und Jake tun es ihn gleich, mein wahrscheinlich gebrochenes Handgelenk umklammernd versuche ich, irgendetwas zu tun, irgendwie wegzukommen oder mich zumindest auf irgendeine Art und Weise zu wehren doch im Grunde ist mir trotz meines eingeschränkten rationalen Denkens klar, dass ich nicht die geringste Chance habe. Wenn sie wollten, könnten sie mich umbringen. Und ich könnte nichts dagegen tun. "Ja, du kleiner Pisser! ", höre ich wieder Carters Stimme, nun direkt neben mir; er hat sich hingekniet, grinst mich direkt an, dann wandert sein Blick zu meinem Handgelenk... und sein Grinsen wird breiter. Dumpfes Entsetzen überkommt mich, gemischt mit Angst, beides jedoch überschattet von Schmerzen und einer seltsamen Art der Resignation...sehe gerade noch wie Carter sich über mich beugt, bevor ich die Augen schließe. Spüre, wie Carters Hand sich um mein Handgelenk schließt und zudrückt. Ich will nicht wieder schreien. Doch es geht nicht anders. Mein Körper verkrümmt sich unkontrolliert als hätte ich einen Anfall, verzweifelt versuche ich, mich loszureissen doch mache es damit nur noch schlimmer. Wie Blitze durchfährt mich der Schmerz, habe das Gefühl, mich übergeben zu müssen und merke gleichzeitig, dass mir erneut Tränen übers Gesicht laufen... Und neben meinen Schreien kann ich Carter und die anderen lachen hören. Dann lässt er mich los. Mein Arm fällt kraftlos zu Boden, der Schmerz lässt nach, meine Schreie verstummen, keuchend liege ich da, erleichtert und dennoch wissend, dass es noch nicht vorbei ist... "Spar dir dein Geheule für später auf!", kichert Roy, als hätte er meine Gedanken gelesen, hektisch und mit einem geringen Anteil an Wut wische ich mir mit der linken Hand übers Gesicht; verdammte Tränen...erst als ich die Hand wieder sinken lasse und dabei einen Blick darauf werfe sehe ich, dass es nicht nur Tränen sind die mir übers Gesicht laufen. Sondern auch Blut. Was...woher... Angestrengt versuche ich, mich zu erinnern, wann ich mir eine Kopfwunde zugezogen haben könnte, doch die letzten Minuten sind bereits hinter einem nebligen Schleier verschwunden, nur noch undeutlich wahrzunehmen...ich weiß es nicht mehr. Komme auch nicht weiter mit meinen Überlegungen, denn Carters Stimme durchbricht meine Gedanken, er kniet noch immer neben mir auf dem schneebedeckten Boden, hält etwas in der Hand... "Das ist doch schon mal ein Anfang!", grinst er, hält mir das Ding vors Gesicht und nun erkenne ich, was es ist... "Gib die wieder her!", fauche ich, gleich darauf selbst erschrocken über meine laute, energische Stimme, reflexartig Strecke ich den rechten Arm nach dem Gegenstand - meiner Brieftasche- aus, was ich sofort bereue. Das Gefühl, das mich durchfährt, entspricht den Schmerzen die ich mir bei einer Amputation ohne Betäubung vorstelle. Doch immerhin gelingt es mir diesmal, einen Schrei zu unterdrücken. "Gib sie mir zurück! ", wiederhole mich, meine Stimme gleicht einem Knurren und jeder, der mich so sehen würde, würde mich wohl für vollkommen wahnsinnig halten. Wahnsinnig, weil ich es selbst in dieser Situation, in dieser Lage noch immer wage, Carter zu widersprechen. Aber das nur, weil ich nichts zu verlieren habe. Vielleicht bringen sie mich ja wirklich um, wenn sie sich zu sehr provoziert fühlen...und vielleicht wäre das das Beste, was mir passieren könnte. Doch keiner von ihnen sieht wütend aus, nein, sie alle grinsen mich an, Carter steckt meine Geldbörse in seine Jackentasche und dann Verschwimmt mein Blick und ich muss die Augen zusammenkneifen, bevor mir das frische warme Blut hineinläuft. Jetzt bin ich praktisch blind. Und das ist schlimmer als alles andere. Ich Ertrage dieses Gefühl nicht, will die linke Hand erneut heben und das Blut wegwischen, doch jemand packt sie und drückt sie fest auf den Boden, das gleiche kurz darauf mit meiner gebrochenen Hand, nun kann ich den Schmerzensschrei nicht mehr unterdrücken, und es ist nicht bloß Schmerz. Sondern auch Angst. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, einfach dadurch dass ich nicht sehen kann was passiert, versetzt mich mehr in Panik als alles andere zuvor. Panik. Schmerz. Dazu mischt sich nun noch ein starkes Gefühl von Übelkeit; kurz glaube ich mich jetzt sofort übergeben zu müssen. Schwindel...der durchdringende metallische Geruch von Blut... "Hey, der Mantel sieht auch ziemlich teuer aus!" Das ist das Letzte, was ich noch vernehme, bevor ich das Gefühl habe zu fallen, zu fallen in ein endlos tiefes Loch, ohne Licht, in bodenlose Schwärze...ein Schrilles Piepen fährt durch meinen Kopf... Und dann...nichts mehr. Stille. Nichts als Stille. Kein Geräusch zu hören...keine Stimmen...kein Gekicher...nichts... Stöhnend hebe ich die Hand, fahre mir übers Gesicht, eine zähe, halb getrocknete Flüssigkeit bleibt daran kleben. Öffne die Augen. Das erste, was ich sehe, ist der nahezu schwarze Nachthimmel, bedeckt mit Wolken, aus denen noch immer Schnee fällt. Und es ist kalt. Bitterkalt, viel kälter noch als vorhin, bevor... Ein stechender Schmerz durchzuckt meinen Kopf, reflexartig kneife ich die Augen zusammen, atme schwer, merke, wie stark ich eigentlich zittere... "Der Mantel sieht auch ziemlich teuer aus!" Dieser Satz drängt sich durch den geistigen Schleier, der mich umgibt, in mein Gedächtnis, bringt mich dazu, die Augen wieder aufzureißen; ahnend was mich erwartet blicke ich zur Seite. Ich muss schon länger hier liegen, auch wenn mir dafür wohl doch noch verhältnismäßig warm ist, denn meine Arme sind bedeckt mit einer dünnen Schicht aus Schneeflocken, die sich kaum von meiner bleichen Haut abheben. Sie haben wirklich meinen Mantel mitgenommen. Und jetzt liege ich hier, bloß in dem dünnen Kapuzenpullover, den ich heute morgen angezogen hatte, weil ich es nicht für nötig befunden hatte etwas wärmeres auszuwählen... Er ist mir eigentlich viel zu groß, deshalb sind die Ärmel hochgerutscht, meine Unterarme liegen direkt auf dem kalten Boden...ich starre darauf, auf die geradezu verletzlich aussehenden kleinen Schneeflocken, die nur auch den vernarbten Stellen des Armes wirklich zu sehen sind...und mir ist klar, dass ich ziemlich knapp vorm Erfrieren stehen muss. Zwar kann ich nicht sagen, wie lange genau ich hier nun bereits so liege, und auch die Kälte nehme ich bloß gedämpft wahr, doch wenn ich nicht aufstehe, zusehe, dass ich ins Wärme komme... Unterkühlt mein Körper wohl komplett. Die Tatsache, dass mein Verstand kaum noch vom Alkohol benebelt ist bestärkt mich in dieser Vermutung; möglicherweise liege ich schon seit Stunden hier. Und vielleicht ist es ein Wunder, dass ich überhaupt wieder aufgewacht bin... Und dennoch bewege ich mich nicht. Verharre einfach hier, Starre den Nachthimmel an, reglos, versuchend, die Kälte sowie das schmerzhafte Pochen meiner rechten Hand zu ignorieren. Schließe erneut die Augen. Ich könnte einfach hier einschlafen. Einschlafen und nie wieder aufwachen. Nie wieder. Dann hätte all das endlich ein Ende... diese ganzen Qualen, die furchtbare Leere die die ganze Zeit über so präsent ist, der ganze Schmerz, der Selbsthass und die Suizidgedanken... Dieser ganze Scheiss der sich mein Leben nennt. Ich merke, wie ich leicht beginnen zu lächeln, während sich Müdigkeit über mich legt, meine Sinne betäubt, alles um mich herum verschwinden lässt. Ja. Ja, das ist es. Einfach einschlafen...und nie wieder aufwachen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)