Bigger Wow von tobiiieee (Entführt) ================================================================================ Kapitel 1: Bigger Wow --------------------- Genesis sah von seinem Buch auf, als es an der Tür klopfte. Er hatte sich gerade erst mit einer Tasse Kaffee und einer alten Nietzsche-Ausgabe aufs Sofa gesetzt. Besuch erwartete er nicht – nun, ganz der Wahrheit mochte das nicht entsprechen, aber er hatte seinen Besuch jedenfalls nicht für diese Uhrzeit bestellt. Er sah sich im Wohnzimmer seines Hauses in Lissabon um und überlegte träge, ob er öffnen sollte oder nicht. Eigentlich war ihm an einem Freitagmorgen nicht danach. Seinen Kaffee hatte er bisher auch kaum angerührt. Wenn Amar, sein Liebhaber, den er an der städtischen Universität aufgegabelt hatte, ihn unbedingt sehen wollte, dann sollte er sich an die verabredeten Zeiten halten. Und ausgemacht war nun einmal ein Mittagessen. Gerade hatte er den Blick wieder seinem Buch zugewandt, als er von der anderen Seite der Tür eine Stimme hörte: „Jetzt mach schon auf, ich weiß, dass du da bist.“ Genesis hob den Blick wieder von den Buchseiten und hielt einen Moment inne. Das änderte die Situation natürlich. Er legte seinen Nietzsche vorsichtig beiseite, erhob sich vom Sofa und ging zur Tür. Als er sie öffnete, stand Ramon vor ihm, ein Lächeln im gebräunten Gesicht und weiße Turnschuhe an den Füßen. „Was, so umwerfend siehst du aus, wenn du nicht weißt, dass ich vorbeikomme?“, fragte er gespielt entrüstet. Genesis zuckte lässig mit den Schultern, als ob er überhaupt nicht wüsste, wovon Ramon sprach. „Offensichtlich ...“ „Was machst du bloß mit deiner Haut?“ Ramon kam einen Schritt auf ihn zu, beugte sich leicht zu ihm herunter und küsste ihn für einen Moment zärtlich auf die Lippen. Dann hob er die linke Hand, an der Schlüssel baumelten. „Willst du fahren?“, fragte er, doch noch bevor er zu Ende sprechen konnte, hatte Genesis ihm schon die Autoschlüssel aus der Hand geschnappt. Daraufhin sah er auch Ramons weißen Wagen in seiner Auffahrt stehen.* Genesis wies mit der Hand über seine Schulter zurück in Richtung Haus. „Brauch ich irgendwas?“ „Nein“, erwiderte Ramon gelassen, „mit mir bist du allzeit bereit.“ „Hm.“ Genesis zuckte akzeptierend die Schultern und ging auf den Wagen zu; er nahm auf dem Fahrersitz Platz, Ramon neben ihm. Er ließ den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein. „Welche Richtung?“ „Erst mal nach Norden raus.“ „Und dann?“ „Nach Westen.“ „Ramon, wohin?“ Ramon sah ihn vielsagend an. „Wenn ich unangekündigt aufkreuze und dir sage, dass du nach Norden fahren sollst, ist doch wohl klar, dass unser Ziel eine Überraschung ist. Nicht?“ Genesis seufzte. „Du sagst mir dann, wenn es Richtung Westen weitergeht.“ „Klar.“ Ramon lehnte sich entspannt in seinem Sitz zurück. Genesis konzentrierte sich auf die Straße, ab und an geleitet von Ramons Kommentaren. Es war ein schöner, schon recht warmer Maitag. Sie fuhren über Lissabons Hinterland kontinuierlich mit der Sonne im Rücken weiter. Als Ramon ihn nach etwa einer halben Stunde eine Ausfahrt entlang komplimentierte, zählte Genesis zwei und zwei zusammen. „Sintra?“ Ramon nickte. „Davon hab ich gelesen.“ „Und jetzt lernst du es kennen. Das typisch Touristische hast du bisher bestimmt gemieden, dachte ich.“ „Aus gutem Grund, dachte ich eigentlich.“ Ramon lächelte ihn nur mysteriös an. Ihr erster Stopp war eine Bäckerei. „Queijadas?“, fragte Genesis mit erhobener Augenbraue, als sie mit einer Auswahl an Süßwaren an einem Tisch saßen. „Der Ort ist berühmt dafür.“ Ramon blinzelte ihn unschuldig an. „Geh ich richtig in der Annahme, dass du für heute wirklich das typische Touristenprogramm geplant hast?“ Genesis biss vorsichtig in das süße Käsegebäck. „Ich will dir doch nur Portugal zeigen.“ Ramon sah ihn aus seinen dunklen Augen durch diese dichten langen Wimpern an. „Als Junge war ich häufig in Sintra. Es ist nicht weit weg ...“ Genesis seufzte. „Ok, ich spiel für dich heute brav den Touristen.“ „Großartig.“ Ramon grinste zufrieden. „Ich hoffe, du bist gut zu Fuß, es geht ein bisschen hoch.“ „Was, Hügel in Portugal? Wo gibt’s denn so was?“ Ramon lächelte ihn liebevoll genervt an. Genesis‘ Blick ging nach oben. „Du weißt, du kannst mich nicht einen solchen Berg hochjagen, wenn ich nur Süßes im Magen habe.“ Ramon knuffte ihn in die Seite. „Wie war das, Laufen ist deine stärkste Disziplin?“, neckte er ihn. „Es wird dir gefallen, oben ist es unglaublich schön.“ Seufzend gab Genesis nach; sie machten sich an den Aufstieg zu einer maurischen Burg. Etwas außer Atem kam Genesis nach einer doch gar nicht so langen Ewigkeit oben zum Stehen und stemmte die Hände in die Seiten, um sich aufrecht zu halten. Er drehte sich um. Ramon war zwar noch in Sichtweite, aber deutlich abgeschlagen. Genesis begrüßte ihn mit einem überlegenen Lächeln. „Warum hab ich mich eigentlich beschwert, wenn ich am Ende doch schneller bin als du?“ Ramon keuchte mehrere Momente schwer, bevor er zu einer atemlosen Antwort ansetzen konnte: „Von uns beiden – bin ja auch ich – der Akademiker – und du nur – der Pseudo-Gasthörer.“ „Meine Rede, Herr Doktor, du sitzt zu viel am Schreibtisch.“ Augenverdrehend verzichtete Ramon auf eine Antwort. Aus einer Wasserflasche, die er in einem Rucksack verstaut hatte, nahm er lange Züge. Er seufzte. „Hier oben war ich schon länger nicht mehr.“ „Das glaub ich dir aufs Wort.“ „Also“ – Ramon atmete noch ein paarmal tief durch, ehe er aufs Wesentliche zurückkam – „hier oben gibt’s ‘ne Mauer. Und ein Kloster – und eine schöne Aussicht.“ Auf der von Ramon angesprochenen Mauer war es sehr plötzlich sehr windig. Am blauen Himmel über ihnen war nicht eine einzige Wolke zu sehen. Ramon nahm ihn an der Hand und zog ihn in eine Ecke der Befestigung. Er suchte kurz den Horizont ab und streckte dann die Hand in die Ferne aus. „Da ist Lissabon.“ „Dann sind wir ja heute doch noch gar nicht so weit gekommen.“ „Oh ja, der Anstieg täuscht.“ „Und macht hungrig.“ Ramon warf ihm für seine Undankbarkeit einen vernichtenden Blick zu. „Kannst du noch ein bisschen warten?“ Genesis hob eine Augenbraue. „Wie lange ist bei dir ein bisschen?“ Ramon lachte. „Was Zeitgefühl und Pünktlichkeit angeht, bist du sehr viel südeuropäischer als ich.“ Genesis machte einen etwas betretenen Gesichtsausdruck; ganz unrecht hatte Ramon da nicht. „Aber nicht, wenn ich Hunger hab.“ Ramon seufzte wieder liebevoll genervt. „Eine Stunde, ok?“ „Also drei?“ „Hör mal – wir gehen nur in die am wenigsten besuchte Burg rein, schauen uns die andern beiden Paläste nur von außen an und gehen dann wieder runter, dann kriegst du was zu essen, gut so?“ „Hat sich dann der Aufstieg überhaupt gelohnt?“ „Kannst du dich mal entscheiden?“ Ramon sah ihn kurz entgeistert an, bevor er verstand, dass Genesis ihn nur hatte ärgern wollen. Er nahm ihn fest in den Arm und verteilte Küsse auf Genesis‘ Wange und Hals. Dann ließ er ihn los. „Bereit?“ Natürlich dauerte es länger als eine Stunde, bis sie alles gesehen hatten und den Berg wieder herabgestiegen waren. Die Mischung der Architekturstile, der alles umgebende Wald, das idyllische Vogelgezwitscher, die Aussicht nach Lissabon und aufs Meer, der klare Himmel, der unendlich ferne Horizont – alles das hatte Genesis tatsächlich mehr beeindruckt, als er zuvor angenommen hatte, doch nun knurrte sein Magen doch beträchtlich. Ramon nahm wieder seine Hand und führte ihn durch die vielen verwinkelten schmalen Gasse am Fuße des Berges zu einem hellen Gebäude mit Tischen und Sonnenschirmen davor. „Der Laden steht in jedem Touristenführer drin“, erklärte ihm Ramon, als sie ihre Plätze einnahmen, „deswegen findest du hier auch nur – Touristen.“ Genesis warf einen Blick auf die Karte und sah dann Ramon verschmitzt an. „Du weißt, ich werd teuer.“ Allein im ersten Moment waren ihm gleich Aufschnitt, Octopus, andere Meeresfrüchte und Schwein ins Auge gefallen. Ramon zuckte mit den Schultern. „Ja, das dachte ich mir schon.“ So aßen sie sich durch unglaublich viele, unglaublich gute kleine Gänge, bis sie zu einem Schokoladenkuchen kamen, der in einem Tontopf serviert wurde. Ramon lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Finger über dem Bauch ineinander verschränkt. „Auch wenn ich damit gerechnet habe, fasziniert es mich immer aufs Neue, was für eine Menge an Lebensmitteln du vernichten kannst. Wo isst du das bloß hin?“ „Diskreterweise spreche ich über so was für gewöhnlich nicht“, erwiderte Genesis zwischen zwei Bissen und brachte Ramon damit zum Lachen. Dann löste er die verschränkten Finger voneinander, um unterm Tisch eine Hand sanft auf Genesis‘ Oberschenkel zu legen. „Hauptsache, du bist glücklich.“ Er seufzte ermüdet, während seine Hand ihn weiter streichelte. „Ich sollte aufhören, mit dir mithalten zu wollen.“ „Da sagst du was“, meinte Genesis leichthin, während er den Topf bis auf den letzten Krümel auskratzte. Er stellte das leere Gefäß vor sich auf den Tisch. „So, ich bin gestärkt – wo geht’s als nächstes hin?“ „Ich schaff dich nicht“, sagte Ramon mit einem gequälten Lachen. Als sie zurück zum Parkplatz gefunden hatten, auf dem Ramons Wagen stand, durchsuchte dieser all seine Taschen, wobei er zunehmend fahriger wurde. Genesis lehnte sich lässig ans Auto. „Suchst du die hier?“, fragte er und hielt die Autoschlüssel hoch. Ramon, erleichtert, griff danach, aber Genesis entzog sie seiner Reichweite. „Du glaubst doch nicht, dass ich dich fahren lasse.“ „Na ja“, wandte Ramon ein, „es ist immerhin mein Wagen.“ „Dann hättest du mir die Schlüssel nicht geben sollen.“ „Komm, so schlimm fahr ich auch nicht.“ „Mit einem vollen Magen setz ich mich in kein Auto, das du steuerst.“ „Ok.“ Ramon zog hilflos die Schultern nach oben. „Du hast gewonnen.“ Als sie ihre Plätze eingenommen hatten, steckte Genesis den Schlüssel in die Zündung. „Wohin?“ „Westen.“ Genesis‘ Augen weiteten sich. „Hast du vor, was ich denke, dass du es vorhast?“ Ramon sah ihn kurz nachdenklich an und schien dann eine Entscheidung zu treffen. „Ja.“ „Wow.“ „Fahr.“ Ramons Hand fand wieder den Weg zu seinem Oberschenkel. „Du findest es schon.“ „Siehst du, du bist eh viel zu müde zum Fahren.“ Bereits mit geschlossenen Augen im Sitz zurückgelehnt, gab Ramon nur ein leises Lachen zur Antwort. Während Ramon neben ihm döste, suchte sich Genesis etwa eine halbe Stunde lang die gewundenen Straßen entlang immer weiter den Weg in Richtung Westen. Als er den Motor abstellte, wachte Ramon ganz von selbst auf. Er schaute aus dem Fenster. „Ich wusste, auf dich ist Verlass.“ „Es war ausgeschildert.“ Sie stiegen aus. „Ich hab ja schon häufig davon gelesen und das eine oder andere Bild gesehen, aber – wow.“ „Freut mich“, erwiderte Ramon, den Wagen umrundend, „krieg ich jetzt meine Schlüssel wieder?“ „Nein“, sagte Genesis knapp und verstaute die Schlüssel sorgfältig in einer Hosentasche. „Ach, und du meinst, da komm ich nicht ran, ja?“, hauchte ihm Ramon ins Ohr, während er ihn an der Hüfte umfasste und näher an sich zog. Genesis legte ihm die Arme um den Hals und ließ sich im Sonnenschein lange küssen. Der Wind umtoste ihre verschlungenen Körper, aber ihren Lippen tat das nichts. Ramon knabberte ihm sanft an der Unterlippe; Genesis schloss entspannt die Augen. Sie lösten sich erst voneinander, als der Wind plötzlich auffrischte und die Richtung wechselte und ihnen wieder einfiel, weswegen sie so weit gefahren waren. „Wir hatten ja noch was vor“, sagte Ramon mit einem Lächeln, als hätte man ihn bei irgendetwas ertappt. „Du hast den Plan.“ „Versuch doch einfach, mich weniger davon abzulenken.“ Genesis sah ihn vielsagend an. „Soll ich raten, was ganz am Ende deines Plans steht?“ Ramon lachte wieder genauso ertappt wie zuvor. „Darüber können wir ja später reden.“ „Ich hoffe doch, dass wir nicht viel zum Reden ... kommen.“ Ramon sah ihn sehr lange an. „Ich beginne zu verstehen, was ‚Du bringst mich um den Verstand‘ bedeuten soll“, sagte er schließlich. Genesis zwinkerte ihm vergnügt zu. „Also. Dein Plan.“ „Richtig.“ Ramon schien sich kurz zu sammeln. „Cabo da Roca. Folge mir.“ Ihr Ziel war eine phantastische Küstenlandschaft. Groß wie Hochhäuser, ragten die zerklüfteten Felsen aus dem stürmenden Meer, das am Horizont just in den blauen Himmel überzugehen schien. Ein Weg führte an der Küstenlinie entlang. Hand in Hand gingen sie einfach eine Weile schweigend den Pfad entlang, bis sie an einem Kreuz anlangten. „Wir befinden uns jetzt also offiziell am westlichsten Punkt des europäischen Festlandes“, stellte Ramon gewichtig fest. „Und wenn du den Abhang so runterschaust, ist das hier wirklich nicht der richtige Ort für Höhenangst.“ „Ziemlich gefährlich eigentlich“, überlegte Genesis laut, „so ein Abhang ohne Sicherung.“ „Es gibt solche und solche Abschnitte“, erwiderte Ramon schulterzuckend. „Und vielleicht einen mit weniger Menschen?“ Ramon umfasste ihn mit einem Arm und zog ihn an seine Seite. „Dafür hast du ja mich, deinen persönlichen einheimischen Tour Guide.“ „Dann, lieber Tour Guide, führ mich an eine solche Stelle.“ Und Ramon geleitete ihn durch den böigen Küstenwind am Abhang entlang, bis sie nach längerer Zeit einen Pfad fanden, an dem sich die Besucher spärlicher verteilten. Und auf jedem einzelnen Meter des Weges war Genesis überwältigt von den ihn umgebenden Gewalten. Er stellte sich gerade vor, wie beeindruckend ein Sonnenauf- oder -untergang von diesem Aussichtspunkt aus sein musste, als Ramon abrupt stehen blieb und sich mit dem Blick in Richtung Meer seufzend auf einem Felsen am Wegesrand niederließ. „Muss sich der alte Mann setzen?“, neckte ihn Genesis. „Pass auf“, erwiderte Ramon und deutete einen erhobenen Zeigefinger an, „wir sind gleich alt, vergiss das nicht.“ Genesis setzte sich neben ihn auf den Felsen. „Es ist unglaublich“, fasste er alles zusammen, während Ramon einen Arm um ihn legte. Gemeinsam blickten sie lange aufs Meer – auf die Felsen – auf den Horizont – auf den wolkenlosen Himmel – die ganze Zeit aneinander geschmiegt und mit ineinander gelegten Händen. Irgendwann stupste ihn Ramon von der Seite an. Genesis riss sich von dem Anblick los, der sich vor ihm ausbreitete, und wandte sich Ramon zu. Der sah ihm einfach nur still in die Augen. „Du hast das hier schon ein paarmal gesehen, nicht?“ Ramon nickte. „Ich kenn den Anblick hier schon mein ganzes Leben; ich kann mich gar nicht daran erinnern, wie es das erste Mal war.“ „Nicht zu beschreiben“, sagte Genesis mit einem weiteren Blick aufs Meer, ehe er wieder Ramon ansah. „Das Dankeschön ist angekommen“, sagte der mit einem liebevollen Lächeln, bevor er sich zu Genesis beugte und ihn erneut in einem zärtlichen Kuss einfing. Ihre Zungen berührten sich sanft; Genesis spürte Ramons Hand über seine Wange streichen. Schließlich drückte er Ramon vorsichtig von sich. Sie mussten beide erst kurz Atem schöpfen, ehe ihre Lippen sich doch nur wieder wie magisch anzogen ... „Wie lange wird das jetzt nach Lissabon dauern?“ „Bis zu dir? Anderthalb Stunden sicher.“ „Grr. Ich hasse Stadtverkehr.“ „Du kannst ja mich fahren lassen.“ Genesis schaute Ramon auf dem Beifahrersitz neben sich lange an. „Nein.“ Ramon seufzte, diskutierte aber nicht. Genesis war es schwer gefallen, die atemberaubende Küstenlandschaft hinter sich zu lassen. Auf dem Weg durch Sintra deckten sie sich noch bei einem Zwischenstopp mit Süßwaren ein, bevor sie den restlichen Weg nach Lissabon antraten. Genesis steuerte Ramons Wagen vorsichtig in seine Einfahrt in Lissabon und stellte den Motor ab. Diesmal überreichte er Ramon die Schlüssel bereitwillig. Sie stiegen aus und Ramon begleitete ihn, allerdings nur bis zur Haustür. „Du kommst nicht mit rein?“, fragte Genesis skeptisch. „Was, nein“, erwiderte Ramon, „oder findest du, das gehört sich so?“ „Für einen Liebhaber, meinst du?“ Genesis zog zum wiederholten Male eine Augenbraue hoch. „Ja, aber ein Wochenendliebhaber. Es ist Freitag.“ „Aber –“ Genesis konnte das Bild nicht ganz zusammenfügen. „Es ist schon die ganze Zeit Freitag. Das hat dich doch vorhin auch nicht interessiert.“ Ramon zuckte mit den Schultern. „Muss immer alles logisch sein?“ „Ok“, sagte Genesis langsam. „Also kommst du ganz sicher nicht mit rein?“ Ramon schüttelte den Kopf. Für Genesis ergab immer noch nicht alles einen Sinn. Er schloss die Tür auf und warf einen langen Blick zurück auf Ramon, bevor er die Tür zwischen ihnen schloss. Er hielt kurz inne und sah sich um. Auf dem Sofa lag noch das Buch, das er am Morgen gelesen hatte, daneben stand die so gut wie unangerührte Kaffeetasse. Und auf dem Tisch daneben lag sein Handy. „Oh nein“, seufzte Genesis. Siedend heiß war ihm wieder sein eigentlich bestellter Besuch eingefallen. „Oh nein, oh nein, oh nein ...“ Doch noch bevor er mehr tun konnte, klopfte es an der Tür. Überfordert von der Situation, wandte Genesis sich um und öffnete. Und wieder stand Ramon vor ihm. Genesis, fassungslos, gingen viele mögliche Sätze durch den Kopf, aber keiner davon fand den Weg nach draußen. Also starrte er Ramon nur sekundenlang an, im Gesicht ein großes Fragezeichen. „Wie ich das sehe“, begann Ramon mit einem überlegenen Lächeln, „ist es jetzt offiziell Wochenende.“ Er hielt Genesis das Zifferblatt seiner Uhr entgegen. Es war achtzehn Uhr. Für Genesis war das alles zu viel. „Hör mal“, versuchte er zu erklären, „ich hab grad gemerkt, dass ich jemanden wirklich fies versetzt hab und –“ „Ach, das erklärt ja einiges“, unterbrach ihn Ramon augenzwinkernd. „Du hast mir immer noch nicht erzählt, was du mit dieser Haut anstellst, dass sie so strahlt ...“ „Ich weiß deine Flirtversuche wirklich zu schätzen, aber es ist besser, ich ruf ihn zurück, er hat bestimmt schon zehntausend Nachrichten hinterlassen – und wenn ich drüber nachdenke, ist es eigentlich komisch, dass er hier nirgends rumlungert ...“ Ramon blieb ganz ruhig. „Ein Grund mehr, sich erst morgen damit zu beschäftigen, oder nicht?“ Er schenkte Genesis ein breites Lächeln. Der war sich allerdings immer noch nicht ganz sicher. Ramon ergriff wieder das Wort. „Komm, lass uns was essen gehen, du hast doch bestimmt schon wieder Hunger. Wie wär’s mit Fisch?“ Genesis sah Ramon sehr lange an. Langsam verschwand seine Fassungslosigkeit und alle Teile setzten sich zusammen. Zugegeben, es hatte seinen Reiz, Amar erst später zurückzurufen. Sein Liebhaber für unter der Woche war eine schreckliche Klette und geradezu ein Stalker. Sicherlich war es besser, seinen höchst eifersüchtigen Freund erst abkühlen zu lassen. Ramon hatte vorgeschlagen, dass er sich erst am nächsten Tag bei Amar meldete – doch Genesis schwebte vor, das ganze Wochenende verstreichen zu lassen ... „Von mir aus“, sagte er zu Ramon. „Diesmal darf ich aber ein paar Dinge mitnehmen, oder?“ „Was brauchst du schon bei mir?“, erwiderte Ramon gelassen. Genesis schaute ihn direkt an. „Na ja, gut.“ „Kommst du jetzt rein?“ „Ja, aber mach schnell.“ Genesis verließ sich darauf, dass Ramon schon die Tür hinter sich schließen würde, und eilte zum Tisch neben dem Sofa, auf dem sein Handy lag. Er fluchte. Amar hatte seit dem Mittag mehrmals pro Stunde angerufen und mindestens ein Dutzend Nachrichten hinterlassen. „Und?“, fragte Ramon. „Das lass ich besser hier“, antwortete Genesis nur, ehe er ein paar Dinge in seinem Rucksack verstaute und ihn schulterte. „Also auf?“ „Auf geht’s.“ „Irgendwie bereue ich jetzt, dass ich dir die Autoschlüssel zurückgegeben habe.“ „Ich dachte, wir nehmen die Öffentlichen.“ ** Genesis verstand genau, was Ramon damit bezweckte. Er lächelte vielsagend. „Ok.“ Genesis setzte sich ermattet auf einen freien Platz in der Tram. Seufzend schaute er aus dem Fenster. Der Tag dauerte nun schon wirklich lange an. Ramon setzte sich ihm gegenüber. „Zurück hättest du mich fahren lassen können, um etwas auszuruhen“, sagte er. „Ha, guter Witz“, erwiderte Genesis matt. Ramon sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. „Fahr ich so schlimm?“ „Im südeuropäischen Verkehr hab ich lieber selbst die Kontrolle.“ „Ich schätze, wenn man damit aufgewachsen ist ...“ „Wahrscheinlich ...“ Genesis schloss für einen Moment die Augen. So gerne er den Abend und das folgende Wochenende mit Ramon verbrachte, verspürte er doch einen kleinen Stich bei dem Gedanken, jetzt ganz in Ruhe bei seinem Nietzsche auf der Couch sitzen zu können oder einen Kaffee zu genießen – allein und ganz entspannt. Er erwachte aus seinen Gedanken, als er spürte, wie Ramon seine Hände in die eigenen nahm. Lange sahen sie sich nur still in die Augen. Ramons dunkler Blick war ein intensiver, der auch durch die große Brille nicht weniger wuchtig werden wollte. Der oberste Knopf seines Hemdes stand offen, sodass Genesis bei Ramons nach vorne gebeugter Körperhaltung ein Stück weit hineinlinsen konnte. Er musste blinzeln. Als sein Blick wieder nach oben zurückkehrte, sah er, dass Ramon sehr nah gekommen war und den Kopf wieder schräg legte. Er verschwendete keinen Gedanken an irgendetwas, als Ramon, nur noch Millimeter von ihm entfernt, die Augen schloss und ihn endlich wieder zu küssen begann, eine Hand an seinem Gesicht. Ihre Lippen verbanden sich beinahe lautlos, als sie sanft einen Kuss nach dem anderen austauschten. Es dauerte eine Weile, bis Genesis‘ Verstand wieder mit ihm gleichzog. Er drückte Ramon von sich. Der sah ihn fragend an. „Hier sind noch andere Leute“, sagte Genesis leise. Ramon zuckte mit den Schultern, fasste ihn wieder an den Händen und machte Anstalten, ihn von Neuem zu küssen, aber Genesis schüttelte den Kopf. „Vorhin war es doch auch kein Problem“, protestierte Ramon. „Da war die Verteilung auch etwas anders.“ Genesis gestikulierte behelfsmäßig. „Die Dichte war nicht so hoch.“ „Du bist echt kompliziert“, sagte Ramon beinahe anerkennend. „Was du nicht sagst.“ „Kann ich dich jetzt wieder küssen?“ „Später, ok?“ „Je später der Abend, desto größer mein Drang.“ Ramon sah ihn vielsagend an. „Es ist noch nicht mal ansatzweise dunkel, also stell dich nicht so an, ja?“ „Ist doch alles deine Schuld, was siehst du so gut aus?“ Genesis wechselte gnadenlos das Thema. „Also, wohin?“ „Ich mach dich hier mühevoll an und du übergehst das so ohne weiteres?“, fragte Ramon empört. „Wohin?“ Ramon fügte sich. „Das wirst du schon sehen.“ „Ich dachte, dieser Teil des Tages wäre vorbei.“ „Ach“, stellte Ramon mit einem zufriedenen Grinsen fest, „macht dich das wahnsinnig? Dann hast du ja einen Eindruck, wie es ist, mit dir zusammen zu sein ...“ Ramon führte ihn durch verwinkelte Gassen, in die sich sicher kein Tourist verirrte, und Genesis versuchte, sich den Weg zu merken, aber dafür bogen sie zu häufig ab und nahmen Abzweigungen, die er ohne Ramon gar nicht wahrgenommen hätte. Schließlich standen sie vor einem unscheinbaren, sehr kleinen Laden. Genesis hätte von außen überhaupt nicht feststellen können, ob er geöffnet war oder nicht, aber Ramon hielt ihm mit einem Lächeln die Tür auf und ließ ihm den Vortritt. Drinnen war der Laden, so überhaupt möglich, noch kleiner als von außen. Es gab unter einer niedrigen, vollbehängten Decke nur drei Tische, von denen noch keiner besetzt war. „Bist du sicher?“, hauchte Genesis Ramon zu. „Ich bin hier öfter“, erwiderte Ramon nicht viel lauter, die Hände sanft von hinten auf Genesis Rücken gelegt. Endlich kam der Wirt aus einer Tür am hinteren Ende des Raumes getreten und begrüßte Ramon, der auf ihn zugegangen war, freudig. Genesis beobachtete die Szene von außen, machte aber keine Anstalten, einzustimmen. Was ihn anging, lief hier etwas falsch. Er ließ sich dem Wirt vorstellen und er ließ sich auch von ihm freundschaftlich begrüßen, aber innerlich konnte er nicht fassen, was Ramon tat. Sie setzten sich endlich und Genesis starrte Ramon funkelnd an. „Was?“ „Was denkt er jetzt?“, fragte Genesis. „Was soll er denken?“ „Du bist hier öfter, sagst du.“ Ramon nickte. „Und bringst einen fremden Mann mit?“ „Ach so.“ Ramon hatte verstanden. „Mein Gott, was soll er schon denken?“ Genesis blieb hartnäckig. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du darüber nicht vorher nachgedacht hast. Also. Zu welchen Schlüssen bist du da gekommen?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Bin ich hier jetzt im Verhör? Oder in einer Prüfung?“ „Lenk nicht ab.“ Ramon schaute auf der Suche nach einer Erklärung zur Seite. „Ich dachte“, begann er, den Blick jetzt auf den Tisch zwischen ihnen gerichtet, „dass es ok wäre, mit dir hierher zu kommen, einfach um dir meinen Stammladen zu zeigen.“ Genesis‘ Blick bohrte sich weiter in ihn hinein. „Hör mal, auch wenn ich öfter hier bin, gehört das Personal nicht gerade zu meinem nächsten Umfeld. Wir sitzen nicht ohne Vorwarnung im Wohnzimmer meiner Eltern, ok? – Ok?“, fragte er nach einer Pause nach, in der Genesis ihn weiterhin stillschweigend angefunkelt hatte. Genesis war zwar immer noch nicht ganz überzeugt, löste aber zumindest die Verschränkung seiner Arme. Es entstand eine unangenehme Stille, in der Genesis nachdenklich an seinem Wasserglas nippte. „Und was ist der weitere Plan?“ „Was, wirst du langsam müde?“ „Ich bin dir immer noch böse, also pass auf.“ Ramon seufzte. „Ich dachte, wir genehmigen uns hiernach noch irgendwo ein Glas Rotwein – oder auch mehrere, wenn ich’s mir recht überlege – und dann ab nach Hause. Versprochen.“ Ramon sah ihn entschuldigend an, aber Genesis erwiderte den Blick nur kühl. „Komm schon, über einen Rotwein kannst du mir nicht mehr böse sein.“ Genesis verdrehte die Augen. „Wenn es zu dem Fisch einen guten Weißwein gibt, verkürzt sich die Zeit vielleicht auch dadurch.“ „Dann brauch ich mir ja keine Sorgen mehr zu machen, der Weißwein hier ist einwandfrei.“ Genesis sah ihn immer noch etwas finster an. Nun war es an Ramon, leicht die Augen zu verdrehen. Er beugte sich über den Tisch. „Komm, tu nicht so, als ob es dir bisher nicht gefallen hätte. Wunderschöne Landschaft, Meer, gutes Wetter, umsonst essen und trinken. Gib ruhig zu, dass du deinen Spaß hast.“ Der Wirt brachte ihnen die Weingläser und einen Gruß aus der Küche. Nun musste Genesis wirklich lächeln. „Ich weiß ganz genau, was du vorhast.“ Ramons Blick sagte ihm, dass sie beide genau wussten, wovon er sprach. „Ist das also deine Vorstellung von ‚umsonst‘?“ Ramon hatte einige Schwierigkeiten, die Tür zu seinem mehrstöckigen Wohnhaus aufzuschließen; Genesis hatte ganz stark die beträchtliche Menge an Rotwein in Verdacht, die Ramon sich zugeführt hatte. Endlich drinnen, warteten sie eine Weile auf den Aufzug. Dabei fiel Ramons unscharfer Blick auf Genesis, als ob er ihn das erste Mal an diesem Tag wirklich bemerken würde. Seine Augen wanderten begutachtend in etwa von oben nach unten, ehe er Genesis an sich zog, gröber diesmal als sonst an diesem Tag, und ihn direkt in einen erhitzten Kuss verwickelte. Die Aufzugtüren öffneten sich und auch Ramon wartete nicht damit, Genesis‘ Hemd aufzuknöpfen, während sie nach oben getragen wurden. Als sie sich aneinander drückten, spürte Genesis, dass es nicht nur in seiner Hose langsam eng wurde. Der Aufzug spuckte sie auf Ramons Etage aus, auf der er fahrig die Wohnungstür öffnete. Genesis warf seinen Rucksack achtlos irgendwo an der Tür auf den Boden und ließ sich von Ramon den Rest des Hemdes abnehmen. Der zog auch sich selbst Sweatshirt und Hemd über den Kopf, ehe er Genesis unter drängenden Küssen in Richtung Schlafzimmer lenkte. Dort drückte er Genesis aufs Bett, öffnete seine Hose und zog sie ihm mit ein wenig Mühe von den Beinen. „Du und deine engen Hosen“, warf er ihm noch vor. „Tu nicht so, als ob dir das nicht gefallen würde ...“, gab Genesis Ramons Satz zurück, den der ein paar Stunden zuvor benutzt hatte. „Zugegeben.“ Ramon stand kurz vom Bett auf und entledigte sich schnell seiner eigenen, weiteren Hose. Er legte noch eben seine Brille auf dem Nachttisch ab. „Aber so geht es doch schneller.“ Und er kam wieder zu Genesis aufs Bett und legte sich mit seinem Gewicht schwer auf ihn. Sie küssten sich noch eine kurze Weile wild unter lauten Geräuschen, doch dann wanderte Ramon nach unten und widmete sich der am dringlichsten pochenden Stelle an Genesis‘ Körper. Genesis meinte sich dadurch für einen kurzen Moment leichter zu fühlen, musste dann aber feststellen, dass Ramons Kunst nur noch mehr Verlangen in ihm auslöste, das sie nur auf eine Weise beseitigen konnten ... „Ich glaube“, sagte Ramon am nächsten Tag in der Küche, eine Tasse Kaffee in der Hand, „das war gestern ein bisschen viel Rotwein.“ „Das hab ich dir genauso bei den letzten beiden Gläsern gesagt, aber du wolltest nicht hören.“ „Na ja“, sagte Ramon und setzte sich vorsichtig, „es hat sich gelohnt. Angetrunkener Sex ist doch der beste.“ Genesis sagte darauf nichts. „Oder?“ „Ich denke, jede Art von Sex hat ihre Vor- und Nachteile.“ „Sehr diplomatisch gesprochen.“ „Werd wieder du selbst, dann sagst du auch solche Sachen.“ „Also“, begann Ramon, „ich schätze, das Wochenende ist vorbei.“ „Wie praktisch, dass du deinen Wagen in meiner Auffahrt hast stehen lassen.“ „Wie, was, den hab ich hier doch nur vergessen.“ „Hm, klar.“ Ramon fasste ihn wieder an der Hüfte und zog ihn nah an sich. „Das war ein sehr schönes Wochenende.“ „Es war ganz nett, ja – wenn man davon absieht, wie sehr du mich gescheucht hast.“ Ramon lächelte ihn zufrieden an, ehe er ihn schon wieder küsste. Wie oft nur hatte er das getan, seit er am Freitag unangemeldet aufgetaucht war? Genesis versuchte sich zu erinnern, wie oft Ramon seine Lippen in den letzten Tagen erobert hatte, aber alles verschwamm in seinem Geist, als er seine Arme um Ramons Hals schlang und ihn näher an sich zog. Er schmeckte nach dem Kaffee, den sie sich unterwegs geholt hatten, nach diesem unglaublich guten Kaffee, und nach Sonne und einfach nach Lissabon. Ramon legte die Stirn an seine, als sie sich voneinander lösten. „Irgendwann wirst du gehen müssen.“ Ramon küsste ihn wieder, diesmal nur kurz. „Ja, irgendwann schon.“ „Vielleicht irgendwann, bevor es dunkel wird.“ Sie küssten sich schon wieder, so zärtlich, aber so kurz. „Das ist noch lange hin.“ „Wie ich dich kenne, hast du bis morgen noch Arbeit zu erledigen.“ Ein weiterer Kuss. „Das schaff ich schon, zur Not mach ich die Nacht durch.“ „Ramon.“ Ramon versuchte ihm die Lippen zu versiegeln, damit er nicht aussprach, was er sagen wollte, aber Genesis ließ sich nicht beirren. „Geh jetzt.“ Ramon küsste ihn noch mehrmals. „Sicher?“ „Ja.“ Sie tauschten einen letzten Kuss aus. Diesmal presste ihm Ramon die Lippen mit ungewöhnlichem Druck auf den Mund, um sich zu verabschieden. Genesis sah Ramon noch lange hinterher, nachdem dieser schon längst in seinem Wagen davongefahren war. Er wandte sich zur Haustür um. Das Kaffeearoma auf seiner Zunge erinnerte ihn daran, dass er drinnen noch eine alte Tasse spülen musste. Kapitel 2: Interlude -------------------- „Weißt du, was wir machen sollten?“ Genesis sah träge von seinem Buch auf, als Ramon plötzlich die angenehm müßige Stille durchbrach, die eben noch zwischen ihnen geherrscht hatte. Von dem Sofa aus, auf dem er es sich halb sitzend, halb liegend mit seinem Buch gemütlich gemacht hatte, warf er einen Blick quer durch das Wohnzimmer zu dem Küchentisch, an dem Ramon saß, um Aufsätze für sein nächstes Forschungsprojekt durchzuarbeiten. Genesis hob fragend eine Augenbraue, als er bemerkte, dass Ramon nur träumerisch aus dem sonnendurchschienenen Fenster vor sich schaute. Sicher, dass sein Verlobter seine Skepsis schon noch früher oder später förmlich spüren musste, machte Genesis zunächst keine Anstalten, weiter nachzuhaken, bis Ramon sich ihm breit grinsend zuwandte und anscheinend endlich mit der Sprache herausrücken wollte. „Wir sollten noch mal nach Sintra fahren!“ Das hatte Genesis nicht erwartet; ihm waren spontan viele flüchtige Ideen durch den Kopf gegangen, was Ramon vorhaben könnte, angefangen dabei, ob sie ihren nächsten Kaffee zu Hause oder auswärts einnehmen sollten, über die Frage, ob sie bei dem schönen Wetter – dem vielleicht letzten Sonnenschein für ein paar Wochen, da der Herbst vor der Tür stand – zum Fluss gehen sollten, bis hin zu Überlegungen, wie sie ihr Abendessen gestalten könnten. Alles in allem empfand Genesis seine Gedanken als praktisch und naheliegend, doch so ganz konnte er nicht verstehen, wie Ramon bei der Lektüre wissenschaftlicher Aufsätze auf die Idee kam, noch einmal an denselben Ort zu fahren, den sie vor einem halben Jahr bereits besucht hatten. Zugegeben, damals, im Mai, hatte ähnliches Wetter geherrscht, aber Sonnenschein war zwischen Frühling und Spätsommer nichts Ungewöhnliches. Ramon unterbrach Genesis‘ Gedankengang. „Was ist? Ich dachte, du würdest begeisterter sein.“ „Echt? Wieso? Nein, ich meine“, fügte er schnell hinzu, bevor es zu Missverständnissen kommen konnte, „ich will wissen, wie du jetzt darauf kommst.“ „Mir ist nur eben eingefallen, dass sie im Wetterbericht gesagt haben, dass sich wohl bald ‘ne Wolkendecke über die Gegend legen wird, und ich sag dir eins: Du musst Sintra mal bei verhangenem Wetter sehen.“ Er machte eine bedeutungsschwere Miene, als ob er über weltbedeutende Erkenntnisse spräche. Genesis runzelte leicht die Stirn. „Du meinst das ernst, oder?“ Ramon nickte in seriöser Akademikermanier; Genesis hatte ihn lange nicht so ernst erlebt, jedenfalls nicht seit seinem Heiratsantrag Anfang August. Also gab Genesis wieder eine ähnliche Antwort: „Ja, ok, warum nicht? Und ich übertrage dir auch die volle Verantwortung für den Ausflug.“ Auf Ramons Gesicht breitete sich ein zufriedener und fröhlicher Ausdruck aus. „Dann ist das abgemacht.“ Und er wandte sich seelenruhig wieder seiner Forschung zu. Das ständig wolkenverhangene, mitunter etwas verregnete Wetter, das im November folgte, fiel zielsicher in eine für Ramon außergewöhnlich arbeitsame Zeit, in der Genesis viele Stunden und meistens auch das Abendessen allein zubrachte, indem er nach Sonnenuntergang durch die Straßen schlenderte, Touristen beobachtete und vom Rand des einen oder anderen großen Platzes geistesabwesend auf den Tejo oder die vielen Lichter auf der anderen Seite starrte, irgendeinen in Plastik verpackten Imbiss in den Händen. War er vorher nicht ganz überzeugt von der Idee gewesen, noch einmal nach Sintra zu fahren, so sehnte er sich jetzt nach einem Tag, den er vollkommen ungestört und von früh bis spät nur mit Ramon verbringen konnte, egal wo. Und Sintra war ja auch sehr schön; ihm war nur vorher nicht ganz klar gewesen, was der Sinn daran sein sollte, irgendwo hinzufahren, wenn sie auch so zusammensein konnten. Seufzend erhob er sich mit vom Wind etwas steifen Gliedern von der Mauer, von der aus er den Fluss betrachtet hatte, in einer Hand eine Verpackung, in der nur noch die Knochen des Hähnchens zu sehen waren, das als sein Abendessen hatte herhalten müssen; er hatte es sich in einem Bahnhof in der Nähe geholt, wo man entweder fertig Verpacktes oder selbst Zusammengestelltes kaufen konnte. Ihm war nicht danach gewesen, mit den Verkäuferinnen zu sprechen, also hatte er sich einfach irgendwas gegriffen, das aussah, als ob es ihn sattmachen konnte. Er machte sich auf den Weg über den Platz, den langsam, aber sicher junge Leute mit Alkoholflaschen bevölkerten; es war Freitag und trotz gelegentlichen Nieselns noch nicht wirklich kalt, und Genesis konnte nicht behaupten, die Anziehungskraft des Atlantikwassers, das der Fluss führte, nicht zu verstehen. Er gönnte es den Gruppen Heranwachsender und junger Studenten, das Leben zu feiern. Nur ihm war gerade nicht danach. Mit etwas hängendem Kopf platzierte er die Plastikschachtel seiner einsamen Mahlzeit im nächsten Mülleimer, trat durch den hochaufragenden Torbogen am andern Rand des Platzes auf eine noch immer belebte Straße, in der auch die Touristen sich nach einem ausgedehnten auswärtigen Abendessen langsam in ihre Hotels zu begeben begannen, dann allerdings stehen blieben, weil nun Verkäufer und Künstler die Straße säumten. Genesis hingegen kannte die Darbietungen zur Genüge; er wollte jetzt nach Hause und ins Bett, in der Hoffnung, am nächsten Tag neben Ramon aufzuwachen und bei einem ersten Kaffee am Morgen zu hören, dass Ramon sich jetzt zwar noch etwas erholen wollte, am nächsten Tag aber wieder voll und ganz für ihn da sein könnte, weil er endlich einmal nicht das Wochenende durcharbeiten müsste. Die Hände tief in den Taschen, fühlte Genesis sich frustriert, wie er da spätabends, eigentlich fast schon nachts durch diese Menschenmengen hindurchlief, aber zu niemandem dazugehörte wie früher. Und der Mensch, zu dem er gehörte, hatte kaum einen Blick für ihn übrig, oder ein offenes Ohr für ihn. Nicht dass er der gesprächige Typ Mensch war; aber war ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu viel verlangt? Ramon kam nach Hause, wenn Genesis längst schlief, und brach wieder zur Arbeit auf, noch bevor Genesis ein erstes müdes Auge öffnete. Der einzige Hinweis auf Ramons zwischenzeitliche Anwesenheit war die Veränderung auf der anderen Bettseite, die Form des Kissens, die Drapierung der Decke, das Wasserglas auf dem Nachttisch. Kein Zettel in der Wohnküche, kein freundlich hinterlassenes Frühstück für Genesis. Was er Ramon allerdings zugutehalten musste, war die Tatsache, dass er hinter sich aufräumte und zumindest nicht die halbe Wohnung in Chaos stürzte und erwartete, dass Genesis schon Ordnung schaffen würde. Was Genesis sowieso nie gemacht hätte. Es war kein weiter Weg vom Fluss zu ihrer Wohnung, deren Tür Genesis, immer noch tief in seinen düsteren Gedanken, aufschloss, ohne es wirklich zu merken. Erst als er plötzlich gegen das in der Wohnung herrschende Licht anblinzeln musste, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung. Er hatte das Licht nicht angelassen. Ramon war vor ihm heimgekehrt. Er stand, den Rücken Genesis zugewandt, an der Küchentheke, an der er sich offensichtlich gerade ein Glas Wasser gegen seine häufigen Kopfschmerzen eingegossen hatte. Als Genesis die Tür ins Schloss fallen ließ, drehte Ramon, das Wasserglas wieder absetzend, zumindest den Kopf; als er Genesis erblickte, breitete sich ein Strahlen auf seinem abgespannten Gesicht aus. „Wo warst du denn?“, fragte er vergnügt. Genesis bemerkte mit einem Blick auf die Uhr, dass es langsam auf Mitternacht zuging. „Du bist ja schon zurück“, bemerkte er, statt die Frage zu beantworten. Er durchquerte den kleinen Raum und ging auf Ramon zu. „Ja, ich hab, ähm – früher Schluss gemacht.“ Genesis verstand die Selbstironie dieser Antwort. Er kam vor Ramon zum Stehen, hielt allerdings etwas Abstand*. Er wartete. Ramon seufzte und ergriff wieder das Wort. „Hör mal, es tut mir ehrlich leid, wie es die letzten Wochen gelaufen ist, alles ist irgendwie außer Kontrolle geraten, es kamen so viele zusätzliche Fristen zu meiner normalen Arbeit hinzu, ich ...“ Er stockte, da er zu merken schien, dass Genesis an dieser Erklärung nicht interessiert war. „Es tut mir leid“, wiederholte er daher. Genesis glaubte ihm das auch. Er ging näher auf Ramon zu. „Du siehst müde aus“, sagte er und griff vorsichtig auf beiden Seiten nach Ramons Brille, um sie ihm so sanft wie möglich abzunehmen und sie behutsam auf der Theke abzulegen. Ramon seufzte tief. „Ich bin auch unglaublich müde“, sagte er mit leidender Stimme, während er wieder nach dem Wasserglas griff. „So sehr, mir ist schon schwindelig wie verrückt, wobei ich natürlich nicht weiß, ob das die Müdigkeit ist oder die Nebenhöhlen – oder beides.“ Er leerte das Glas und stellte es wieder ab. Er schaute Genesis an, der immer noch reglos vor ihm stand und abwartete. Ramon streckte einen Arm nach Genesis aus, der der Aufforderung ohne weiteres Folge leistete und sich an Ramon schmiegte, der ihn fest an sich drückte. „Du hast mir gefehlt“, murmelte Ramon irgendwo neben Genesis‘ Ohr. „Du mir auch“, seufzte Genesis leise. Er löste sich sanft aus der Umarmung und schaute Ramon ins Gesicht. „Wie wär’s, wenn wir einfach ins Bett gehen? Du kannst doch kaum noch stehen. Und morgen wird ausgeschlafen“, fügte er befehlend hinzu. Ramon imitierte scherzhaft einen Salut in Anspielung auf Genesis‘ Militärvergangenheit; wäre Ramon sein Rekrut gewesen, hätte Genesis ihm diesen kläglichen Abklatsch einer Respektbekundung nicht durchgehen lassen. Aber so lächelte er einfach nur geheimnisvoll, packte Ramon am Kragen und sah zu, dass er zeitnah ins Bett kam. Am nächsten Morgen hingen noch immer dicke Wolken am Himmel; sie schienen keinen schweren Regen zu bringen, dachte sich Genesis, als er mit einer Tasse Kaffee zum Fenster heraussah, aber dunkler als sonst war es dennoch, wo doch sowieso schon für gewöhnlich nur wenig Licht ins Wohnzimmer drang. Er war vor Ramon wach geworden, hatte sich angezogen und wollte sich mit einem Buch aufs Sofa legen, musste aber feststellen, dass er sich nicht recht konzentrieren konnte. Nun trank er also seinen Kaffee und wartete. So leid ihm Ramon am Abend zuvor getan hatte, so konnten eine einzelne Entschuldigung, eine Umarmung und eine Beteuerung, wie sehr er ihm gefehlt hatte, doch keine zwei Wochen des Frusts und der Einsamkeit wettmachen. Ramon wusste, dass Genesis in Lissabon keine wirklichen Freunde und kaum Anschluss gefunden hatte und somit auf Ramons Gesellschaft angewiesen war. Die Kontakte, die er vor ihrer Verlobung gehabt hatte, waren nicht emotional tief gehender, sondern sexueller Natur; mit keiner seiner vorigen Bekanntschaften konnte oder wollte er auch nur so etwas wie eine Freundschaft beginnen. Während es Genesis nie schwergefallen war, Männer für eine Nacht zu finden, hatte er doch an den meisten Menschen nicht genügend Interesse, um eine tiefere Beziehung auszuloten ... Hinter sich hörte er Geräusche aus Richtung des Schlafzimmers; die Tür öffnete und schloss sich. Genesis drehte sich aber nicht nach der Geräuschquelle um. Erst als er Ramon „Hey, na**?“ sagen hörte, wandte er sich ihm halb zu. Ramon steckte seinen verschlafenen Lockenkopf zur Tür hinein und grinste ihn fröhlich an. Genesis erwiderte nichts, was Ramon möglicherweise verstand, denn er zog sich zurück und ging ins Bad. Genesis hatte seine zweite Tasse Kaffee in der Hand, als Ramon erneut zu ihm stieß. Die Stille zwischen ihnen war greifbar, die Luft zum Schneiden dick. Genesis wartete. Ramon überlegte allem Anschein nach sehr genau, was er sagen sollte. Er entschied sich für eine risikoarme Variante: „Also ... du bist wohl noch sauer?“ Genesis‘ Gesicht ließ keine Regung erkennen. „Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist“, sagte er leise, „aber ich bin auch kein Muttersprachler.“ Ramon schien getroffen. „An welches Wort dachtest du dann?“, fragte er, auch wenn er auf Genesis wirkte, als ob er Angst vor der Antwort hätte. „Enttäuscht“, versetzte Genesis fast sofort. „Wütend. Frustriert.“ Ramon schlug schuldbewusst die Augen nieder. „Du hättest wenigstens anrufen können.“ Er hätte erwartet, dass Ramon ihm da zustimmte. Wäre ein Anruf zu viel verlangt gewesen? Wenigstens eine Nachricht, dass er nicht blutend im Straßengraben lag, sondern immer noch im Büro saß? Stattdessen zuckte Widerwillen über Ramons Gesicht. „Was?“, fragte Genesis. Ramon zögerte. Dann erwiderte er, als ob er es überhaupt nicht sagen wollte: „Das hättest du doch auch gekonnt! Warum bin ich hier der Böse? Hast denn du mich angerufen?“ Natürlich hatte Genesis darüber nachgedacht. „Es hätte dir doch eh nicht gepasst.“ „Ach, das ist doch ‘ne faule Ausrede“, wischte Ramon seinen Einwand weg, „dann hätte ich dich eben später zurückgerufen, wenn es besser gepasst hätte.“ „Klar, so wie du mich immer zurückgerufen hast“, erinnerte ihn Genesis. „Ich habe dich zurückgerufen“, erinnerte ihn Ramon seinerseits. „Oh bitte, in vielleicht zwei von zehn Fällen“, sagte Genesis abfällig. „Du übertreibst“, warf ihm Ramon vor. „Wir streiten, natürlich übertreibe ich“, meinte Genesis. Ramon seufzte und fasste sich an die schmerzende Stirn. „Dann sollten wir vielleicht aufhören zu streiten, das führt uns nirgendwo hin.“ Er rieb sich mit der Hand mehrfach übers Gesicht und die Schläfen. „So früh am Morgen.“ „So früh ist es gar nicht mal“, wandte Genesis ein, allerdings nicht mehr so giftig wie zuvor. „Lass mir doch meine Illusion.“ Ramon lächelte ihn schüchtern an. Genesis versuchte es mit einer Antwort, aber so ganz konnte er sich noch nicht durchringen. Ramon machte sich entmutigt an einen Kaffee, doch bevor er die Tasse nahm, machte er plötzlich kehrt. „Mir ist grad eingefallen“, sagte er, als er kurz in seinem Arbeitszimmer verschwand und wiederkehrte, „ich hab ja gestern noch was mitgebracht, aber dann war’s irgendwie so spät und ich hatte Kopfschmerzen.“ Aus der Tüte, die er aus dem Zimmer mitgebracht hatte, zog er eine Flasche hervor, die er neben die Spüle stellte, sodass Genesis das Etikett begutachten konnte. Es war sein Lieblingswein, den es nicht gerade in jedem Supermarkt gab. Ramon mochte ihn zwar auch ganz gerne, bevorzugte aber eigentlich doch ein, zwei andere Sorten von anderen Herstellern. Genesis schaute Ramon gespielt missbilligend an. „Ich hasse dich“, sagte er in seiner trockenen Art, „abgrundtief, das weißt du.“ Ramon kannte Genesis mittlerweile sehr gut und wusste, dass er damit das Gegenteil sagen wollte, dass er das böse L-Wort aber für gewöhnlich nicht in den Mund nahm. Zu viel Gefühlsduselei. Er lächelte wieder und auch Genesis schaute zumindest weniger verkniffen drein. Daraufhin kam Ramon etwas näher; er hob eine Hand und begann, sanft über Genesis‘ Arm zu streichen. Als der es geschehen ließ, versuchte Ramon, noch näher zu kommen, aber Genesis wandte das Gesicht ab. Ramon lachte kurz auf. „Wie wär’s, wenn ich dir Frühstück mache?“, fragte er dann. Genesis seufzte genießerisch. „Frühstück – der Versöhnungssex des Ehepaares.“ Ramon lachte wieder. „Mal schauen.“ Nun alle Proteste ignorierend, zog er Genesis an sich und nahm ihn fest in die Arme. „Du hast mir wirklich gefehlt“, hauchte er ihm ins Ohr, während er ihn sehr nah an sich drückte. Genesis, alles Getue fallen lassend, schlang diesmal die Arme um Ramon. „Du mir auch“, seufzte er, das Gesicht an Ramons Schulter vergraben. „Das nächste Mal machen wir das besser“, sagte Ramon versöhnlich. Genesis drückte Ramon noch fester an sich. „Ja ...“ Kapitel 3: Even Bigger Wow -------------------------- „Und du bist dir sicher mit dem ganzen Nebel ...?“, fragte Genesis am nächsten Morgen mit einem Blick aus dem Fenster. „Ja, das ist das perfekte Wetter, vertrau mir da ruhig“, erwiderte Ramon, von dem Rucksack aufsehend, den er gerade packte. „Weißt du, ich verstehe die Beziehungen zwischen Portugal und England, das Wetter ist absolut gleich.“ „Wow“, sagte Ramon trocken, „den hab ich ja noch nie gehört.“ Genesis winkte ab. „Soll ich schon mal den Autoschlüssel vor dir verstecken?“, fragte er stattdessen. „Oh, nicht nötig“, sagte Ramon fröhlich. Genesis verstand nicht ganz. Ramon richtete sich auf und schulterte den fertigen Rucksack. Er schaute Genesis durch den Raum hindurch so gut als möglich in die Augen. Dem rutschte das Herz etwas in die Hose. „Wir sind heute zu Fuß unterwegs.“ Eine Welle von Sintra-Reisenden schwemmte sie am Zielbahnhof mit aus dem Zug. Genesis verließ den Strom und schaute sich um: Es handelte sich um einen Kopfbahnhof mit nur einem Ausgang, auf den alle zuströmten. Ramon gesellte sich zu ihm. „Hier ist Endstation“, sagte er grinsend. „Ja, ich sehe“, erwiderte Genesis. „Nett.“ „Du weißt, draußen ist es hübscher.“ Genesis stimmte zu. Er bot Ramon an, seine Hand zu halten. „Oh, womit hab ich das verdient?“, fragte der angetan. „Ich weiß es auch nicht, also entscheid dich schnell“, grummelte Genesis. Hand in Hand verließen sie den Bahnhof. Mit einem schnellen Blick über die Umgebung ging Genesis plötzlich auf, wo sie waren. „Da drüben haben wir doch beim letzten Mal geparkt“, sagte er, während Ramon ihm zustimmte. Und eine andere Erinnerung wurde auch wach. Zielsicher machte Genesis ihren ersten Stopp auf der anderen Seite der Straße aus. „Queijadas?“ Ramon lachte und scheuchte ihn sanft in Richtung der Bäckerei. Minuten später tauschten sie Belanglosigkeiten über die Queijadas aus, die diesmal schon kalt waren, dafür aber mehr nach Zimt schmeckten, während vor den Fenstern Autos auf der schmalen Straße vorbeifuhren und sich in den anderen Räumen des Cafés Leute laut lachend unterhielten. Ramon wirkte immer noch etwas abgespannt auf Genesis, wie er sachte über den Tisch fasste und sanft über Genesis‘ Arm zu streichen begann. „Na, hab ich dir gefehlt?“, fragte Genesis spitz. Unerwarteterweise nickte Ramon nur etwas wehmütig. Genesis rückte auf seinem Stuhl ein Stück näher an Ramon heran. „Warum hab ich nicht einfach angerufen?“, sprudelte es plötzlich aus Ramon hervor. Genesis starrte ihn stumm an. „Es wär so leicht gewesen. ‚Hi, Schatz, ich hab dich heute den ganzen Tag nicht gesehen, wie geht’s dir, was machst du so?‘ Aber ich hab’s nicht gemacht.“ „Warum machst du dich jetzt deswegen fertig?“, fragte Genesis verdattert. „Das hab ich doch schon übernommen.“ Überrascht schauten sie sich gegenseitig an, beide stutzig, was der andere da gesagt hatte. Einige Momente hielten sie so inne, bis sich ein Lächeln auf Ramons Gesicht stahl und sie über die Absurdität des Augenblicks zu lachen anfingen. „Also“, setzte Genesis dann wieder an. „Also?“, fragte Ramon. „Was ist dann heute das Programm, so zu Fuß und alles?“ Ramon setzte ein mysteriöses Lächeln auf, sagte aber nur: „Das würdest du wohl gerne wissen.“ Genesis ahnte nichts Gutes. Gestärkt machten sie sich auf den Weg die Straße herab, an deren Ende sich ein Kreisverkehr befand. „Das Rathaus da drüben“, sagte Ramon unvermittelt und zeigte auf einen Turm auf der anderen Straßenseite, „hat übrigens Tempelorden-Symbole.“ „Ach, echt?“, fragte Genesis nur. Der weiße Turm mit hellblauem Dach hob sich strahlend ab vor dem wolkenverhangenen, etwas dunklen Himmel. „Ja, aber ich hab vergessen, was es damit auf sich hat.“ „Hauptsache, was gesagt haben.“ „Ich will dich doch nur beeindrucken.“ Genesis warf Ramon einen zweifelnden Blick zu. „Na gut, lass uns einfach weitergehen.“ Auf ihrer linken Seite befand sich eine über zwei Meter hohe Steinmauer, die einen exotischen Wald einzuschließen schien. Sie folgten der gewundenen Straße leicht bergauf und waren nur noch umgeben von unzähligen verschiedenen Baumarten. „Jetzt kannst du mich beeindrucken“, räumte Genesis ein, „was hat es damit auf sich?“ Ramon sah sich um, als ob er erst schauen müsste, was Genesis meinte. „Das sind Bäume aus aller Welt“, sagte er knapp. Auf Genesis‘ ratlosen Gesichtsausdruck fügte er hinzu: „Na ja, Portugal hat ein gleichmäßiges Klima, es wird meist nicht richtig heiß, nie richtig kalt, perfekte Bedingungen für Bäume, die eigentlich woanders heimisch sind, also hat man sie hier angepflanzt. Manchmal holt man sich eben das Beste von woanders her.“ Lächelnd griff er nach Genesis‘ Hand. „Du bist so romantisch“, sagte Genesis ironisch. „Wenn wir Glück haben und das Tor da hinten offen ist, können wir uns den ganzen Park ansehen“, schlug Ramon vor. „Willst du mich gerade davon überzeugen, Bäume anzuschauen?“ „Wir sind über dreißig, wir dürfen so was Langweiliges machen“, sagte Ramon unschuldig und zuckte die Schultern. Genesis lachte. „Vielleicht ein andermal“, sagte er. „In ... noch mal dreißig Jahren.“ „Gut“, sagte Ramon, ebenfalls lachend. „Dann gehen wir lieber hoch zum Dorf.“ Der Himmel trübte sich zusehends, als sie immer an der überwucherten Steinmauer entlang liefen, zwischen uralten Bäumen und Autos, immer leicht bergauf. Die sonst fröhlichen Farben Sintras waren unter den Wolken etwas gedämpft. Langsam, immer links und rechts schauend und alles bewundernd, kamen sie zum Dorf und nach kurzer Zeit zu einem Platz. „Ein weißer Palast“, kommentierte Ramon. „Beachte den arabischen Einfluss an den Fenstern.“ „Sehr schön“, sagte Genesis zu dem Komplex aus rechteckigen Gebäudeteilen, vor dem sie standen. Auch der Platz aus Kopfsteinpflaster war gesäumt von Bäumen; am Ende standen ein paar Palmen. „Das ist der Nationalpalast“, ergänzte Ramon. „Wer benutzt ihn heute?“, wunderte sich Genesis. „Ist ein Museum“, räumte Ramon ein. „Aber Weltkulturerbe, glaub ich.“ Genesis nickte beeindruckt. „Ist auch größer, als man von hier aus denkt, der geht nach hinten noch ein ganzes Stück weiter.“ „Aber wir gehen jetzt nicht rein, oder?“ „Ach, das können wir mal wann anders machen.“ „Gerade eben wolltest du noch Bäume anschauen gehen“, neckte ihn Genesis. „Ich könnte auch einfach nur einen ganzen Tag dich anschauen“, entgegnete Ramon. „Muss ich mir Sorgen um dich machen?“, fragte Genesis scherzhaft. „Ich möchte dich heiraten, da sollte das doch klar sein“, sagte Ramon doppeldeutig und deutete mit einem Nicken an, dass sie weitergingen. „Geradeaus oder rechts?“, fragte Genesis an der Kreuzung. „Weder noch“, erwiderte Ramon überraschend und deutete links auf eine kleine Gasse, die Genesis sonst nicht aufgefallen wäre. „Da oben gibt’s was, das dir gefallen wird.“ „Ich bin gespannt“, gab Genesis zu. Über gelbbraunes Pflaster gingen sie die Gasse entlang, die auf beiden Seiten von Markisen gesäumt war. Oben angekommen, sah Genesis schon von Weitem, was Ramon meinte. „Du glaubst, das wird mir gefallen?“, fragte er belustigt. „Ich weiß, dass dir das gefallen wird“, sagte Ramon überzeugt. Sie näherten sich dem Stand. „Zwei Becher“, bestellte Ramon, für die er zwei Euro bezahlte. Einen davon reichte er Genesis. Es handelte sich um einen winzigen Becher aus Schokolade, in dem sich lokaler Kirschlikör befand. Genesis konnte kaum aufhören zu grinsen. Schon von dem Geruch wurde ihm schlecht. „Eine hiesige Spezialität“, sagte Ramon stolz. „Auf die Gesundheit.“ Ramon zuliebe stürzte Genesis den Likör hinunter. „Boah, ist der süß“, sagte er dann doch angewidert. „Ja, schon“, sagte Ramon lachend, „du hast ja noch die Schokolade.“ „Die voll ist von den Likörresten“, gab Genesis zu bedenken. Ramon zuckte die Schultern. „Wir könnten zum Palastpark hochgehen“, schlug Ramon vor. „Ist so ein Freimaurerding.“ „Ist das das, wo man in die Unterwalt hinabsteigt?“ Ramon nickte ernst. „Ja, das könnten wir machen.“ Nach einem etwa halbstündigen Anstieg hielt Genesis seine Eintrittskarte vor sich, um sie genau zu studieren. „Ist das dieses Unterwelt-Ding?“, fragte er. Auf der Karte war ein steinerner Gang wie eine Wendeltreppe abgebildet. Ramon schaute ihm über die Schulter. „Ja, das ist genau das.“ Er orientierte sich mit einem Blick rundherum. „Zum eigentlichen Palast müssen wir aber ein Stück zurück.“ „Hörst du mir nicht zu? Ich will diesen Unterwelt-Gang runter.“ Ramon wirkte etwas ratlos. „Ich dachte, das macht man zum Schluss.“ „Ich weiß nicht, was du für komische Gedanken hast.“ Ramon schmunzelte und fasste Genesis um die Taille, um ihn sanft zu sich zu ziehen. „Denk dran, du bist auf mich angewiesen“, sagte er sachte. „Pff, was bin ich?“, fragte Genesis unnachgiebig. „Na ja, immerhin weiß ich, wo es hier langgeht“, sagte Ramon unbeirrt, wobei seine Stimme immer leiser wurde und er Genesis langsam näher kam ... ehe er plötzlich mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck zurückzuckte. „Ha, jetzt hab ich’s! Ich weiß, was wir machen!“ Enttäuscht schmollte Genesis, bis sich Ramon ihm wieder zuwandte. „Was? Ich weiß jetzt, wie wir laufen können.“ Genesis warf ihm einen Blick zu, der sagen sollte, dass das nicht das war, was er hören wollte. Ramon brauchte einen Moment, ehe er begriff. Mit einem verstehenden Lächeln fasste er Genesis wieder um die Taille, zog ihn zu sich und gab ihm einen kurzen Kuss. „Ich liebe dich“, raunte er Genesis ins Ohr, während der sich erleichtert seufzend an Ramon schmiegte. Ramon strich ihm über die Wange. „Irgendwann müssen wir dann auch weiter“, flüsterte er sanft. Widerwillig löste sich Genesis aus der Umarmung, woraufhin er Ramon trübselig anschaute. Sie tauschten einen langen Blick aus, ganz stumm, mit dem sie mehr kommunizierten als vielleicht in den ganzen vorangegangenen zwei Wochen zusammen und dessen Ende sie zurückließ wie ein sehr langes, sehr intensives Gespräch. Vorsichtig rückte Ramon näher. „Vielleicht muss ich dich ja nicht loslassen“, sagte er und seine Worte streichelten zart wie ein Schmetterlingskuss über Genesis‘ Seele. Behutsam suchte seine Hand erneut den Weg um Genesis‘ Taille, wo sie diesmal liegen blieb, während sie sich langsam in Bewegung setzten. Genesis ließ sich vertrauensvoll von Ramon durch den Park führen, vorbei an Wasserspielen, Kapellen, Sträuchern und bemalten Mauern, aber immer gespannt darauf wartend, wann sich endlich der Weg zur Unterwelt auftun würde. „Eigentlich“, sagte Ramon unvermittelt, „ist es ja der Brunnen zur Initiation, nicht der Weg in die Unterwelt.“ „Du glaubst kaum, wie egal mir das ist“, sagte Genesis trocken. Sie standen vor ein paar unscheinbaren, moosbewachsenen Steinen, zwischen denen ein Spalt klaffte, der gerade groß genug war, um eine schlanke Person einzulassen. „Willst du mir sagen, das hier ist der Eingang?“ „Meinst du damit etwa, du wärst ohne mich direkt dran vorbei gelaufen?“, fragte Ramon unschuldig. „Ich sag ja, du bist auf mich angewiesen.“ „Können wir dann?“, fragte Genesis ungeduldig. Ramon bedeutete ihm mit einer Handbewegung, dass er vorgehen sollte. Hinter dem schmalen Spalt war es deutlich geräumiger und auch heller, als Genesis angenommen hätte. Nach einem kurzen Eingang ging der Raum direkt in die Treppe über, die in ausladenden Steinbögen nach unten führte. Genesis beugte sich vorsichtig über das Geländer. Unten auf dem Boden war eine Art Verzierung zu sehen, doch er erkannte das Motiv noch nicht. „Es sind neun Stockwerke“, sagte Ramon, als er zu ihm aufgeschlossen hatte. „Und die Steinstufen sind schon ziemlich abgetreten, also muss man etwas aufpassen.“ In größter Konzentration stiegen sie in zunehmende Dunkelheit herab; wegen der Wolken reichte das Sonnenlicht nur ein paar Stockwerke nach unten. Genesis, eine Hand immer an der inneren Wand, richtete den Blick stets nach unten auf die Stufen, die, wie Ramon ihn berechtigterweise vorgewarnt hatte, tückisch und rutschig waren. Die ganze Zeit hörte er Ramon direkt hinter sich, was ihn bei diesem doch irgendwie magischen Abstieg etwas beruhigte. Er atmete endlich wieder auf, als sie es geschafft hatten und unten angekommen waren, von wo aus ein glücklicherweise beleuchteter Gang wegführte, aber Genesis wollte sich zuerst den Boden anschauen. „Was soll das sein?“, fragte er. „Vier Pfeile für die Himmelsrichtungen?“ Er erkannte vier spitze Formen, die im Kreis angeordnet waren. „Nein, das ist auch so ein Templersymbol, eigentlich sind es acht, aber die anderen vier Formen sind so verblasst, dass man sie selbst bei gutem Licht kaum sieht“, erklärte ihm Ramon. „Das ist das Templerkreuz, und der Kreis in der Mitte soll für den Großmeister stehen.“ „Ist ja spannend.“ „Du willst also lieber mit dem Labyrinth weitermachen.“ Genesis, den Blick eben noch auf dem Templerkreuz auf dem Boden, schaute sehr schnell nach oben zu Ramon. „Von einem Labyrinth war nie die Rede.“ „Na ja, ich kenn ja den Weg“, beschwichtigte ihn Ramon. „Es ist nicht so anspruchsvoll.“ „Ok“, sagte Genesis zögernd. Ramon streckte ihm seine Hand entgegen und gemeinsam schritten sie auf den erleuchteten Gang zu, der sich nach kurzer Zeit gabelte. Ramon führte sie in der Tat durch die niedrigen Höhlengänge, ohne sich zu verirren, bis sie zu einem Ausgang kamen, hinter dem sich ein Bächlein schlängelte. „Siehst du, war gar nicht schlimm“, sagte Ramon. Er wies auf ein paar Steine, die in dem Bach verteilt waren. „Hier läuft man sozusagen übers Wasser.“ „Ich wusste schon immer, dass Jesus geschummelt hat“, sagte Genesis unbeeindruckt. Sie überquerten den Bach und stiegen ein paar Treppen hinauf, die sich anschlossen, bis sie wieder im Freien standen. Hinter ihnen erstreckte sich eine langgezogene Mauerkonstruktion. „Und hier wird man dann quasi wiedergeboren“, schloss Ramon ihren Ausflug in die Unterwelt ab. „Und vorausgesetzt, man hat sich nicht umgedreht, kann man auch alle seine Lieben mitnehmen.“ Genesis grinste. „Und vorausgesetzt, niemand verspeist den anderen, ich krieg Hunger.“ „Na ja, ich dachte, wir könnten uns noch den Palast ansehen, dann in Sintra nur was Kleines essen, irgendeinen Imbiss, nach Cabo da Roca fahren und abends in Lissabon was Richtiges essen gehen.“ Genesis warf Ramon einen zweifelnden Blick zu. „Komm schon, das schaffst du. Der Palast ist schön, glaub mir.“ „Du hattest recht, der Nebel gibt der Gegend was ganz Besonderes“, sagte Genesis, als sie nach einer Tour durch den Palast auf der Terrasse standen und einen Überblick über die Hügel in Sintra hatten. „Irgendwie was Mysteriöses.“ „Die Templer und Freimaurer waren hier, der Ort ist geheimnisvoll.“ Ramon legte einen Arm um Genesis. „Du hast ganz tapfer durchgehalten.“ „Nur dank der Aussicht, dass du mir einen ganz tollen Imbiss spendierst.“ „Ich find schon was, was dir gefällt.“ „Oder du könntest einfach irgendwen fragen, wo es was Tolles gibt.“ „Oder“, schlug Ramon vor, „wir könnten vorher noch ‘ne Shopping-Tour machen.“ Genesis war sprachlos. „Oh wow, du solltest dein Gesicht sehen, war doch nur ein Witz.“ „Haha“, machte Genesis. „Willst du mich umbringen oder dich?“ Ramon schmunzelte, zog Genesis zu sich heran und küsste ihn sanft auf die Stirn. „Komm, wir suchen dir was zu essen.“ Es dauerte lange, wieder nach unten ins Dorf zu kommen und etwas Essbares zu finden. Anschließend machten sie eine Pause und dann schlenderten sie noch etwas durch die Straßen, wobei sich Ramon das eine oder andere Geschäft ansah und seinen Rucksack mit ein paar Souvenirs füllte. Das Einzige, das Genesis sich kaufte, war ein Limoneneis. Da sie nun alles hatten, machten sie sich auf den Weg zur Busstation. Das Haus auf der anderen Straßenseite war mit hübschen Kacheln verziert wie die Wohnhäuser in Lissabon. „Wie oft fährt der Bus hier?“, fragte Genesis und setzte sich mit dem Rest seines Eises ins Wartehäuschen. Ramon studierte den Fahrplan. „Der Bus müsste in ungefähr zwanzig Minuten kommen.“ Er setzte sich zu Genesis. „Ich kann es kaum erwarten.“ „Du weißt, du steigerst meine Erwartungen ins Unermessliche, und dann ist die Enttäuschung nur umso größer.“ „Oh, ich weiß, dass du nicht enttäuscht sein wirst“, versicherte ihm Ramon. „Sieh mal, bis wir da sind, wird die Sonne langsam untergehen, und das ist die schönste Zeit überhaupt, um in Cabo da Roca zu sein. Und das perfekte Wetter haben wir auch. Du wirst überwältigt sein.“ Genesis nickte einfach zustimmend und aß den letzten Bissen Eis. „Oh, komm, ich weiß, dass du dich freust“, sagte Ramon. Genesis platzierte die Eispackung im Mülleimer neben der Bank. Er nickte mit dem Kopf in Richtung des Hauses auf der anderen Straßenseite. „Katze“, sagte er. Ramon schaute hin. Auf der Veranda hatte es sich eine Katze gemütlich gemacht. „Jetzt lenk doch nicht ab“, sagte Ramon. Als Genesis seinen Blick auf Ramon richtete, schaute der ihn erwartungsvoll an. „Mir ist schon klar, dass es da sehr schön ist“, sagte er endlich. „Das war es auch schon beim letzten Mal.“ Ramon kam ihm sehr nah, bis seine Stirn Genesis‘ berührte. „Und jetzt wird es sogar noch schöner sein.“ Genesis schwankte etwas, als er den Bus in Cabo da Roca verließ, Ramon direkt hinter sich. „Bitte rede ein paar Minuten nicht mit mir“, sagte er zu Ramon. „Oh Gott, Liebling“, sagte der belustigt, „es tut mir so leid.“ Genesis lehnte sich gegen den Pfahl, an dem der Fahrplan hing, und atmete ein paar Mal tief durch. „In meinem ganzen Leben“, sagte er langsam und etwas außer Atem, „war ich noch nie reisekrank.“ „Na ja“, sagte Ramon entschuldigend, „bei den Bussen hier sollte man seinen Magen am besten direkt am Eingang abgeben ...“ „Und diese Kurven bei diesem Tempo!“ Genesis schluckte. „Siehst du, und genau deswegen lass ich dich nie fahren.“ „Beim Rückweg wird es nicht so schlimm“, sagte Ramon. „Da fahren wir über Cascais, nicht über Sintra.“ „Ah, schön“, sagte Genesis. Nach ein paar weiteren Atemzügen hatte sich sein Magen beruhigt. Noch immer ein wenig zittrig nahm er Ramon bei der Hand und sie liefen über den Parkplatz auf die Küste zu. Nach und nach schüttelte Genesis die Auswirkungen der Horrorfahrt ab und er spürte, wie seine Vorfreude stieg: Gleich würde er diesen von Ramon so gepriesenen sagenhaften Anblick des Atlantiks bei Nebel und Wolken zu Gesicht bekommen. Er erinnerte sich sehr gut, wie gewaltig der Eindruck bei Sonnenschein gewesen war. Und jetzt war er gespannt. Der Wind frischte auf. Wie schon beim letzten Mal drängten sich eine Menge Leute an der Küstenlinie, alle mit Blick aufs Meer. Die Wolkendecke am Himmel war dünn: Noch schien die Sonne aufs Wasser, doch es glitzerte nicht so hell wie beim letzten Mal. Das graue Meer brach sich am Fuße der Klippen und bildete kräftige Strömungen. Die Wellen und der Wind tosten um die Wette. Genesis lehnte sich auf das Geländer am Rande der Küste. „Ist noch ziemlich sonnig“, sagte er zu Ramon. Der legte ihm einen Arm um die Schultern und gab ihm einen kurzen Kuss. „Wart’s nur ab“, sagte er. Eine Weile betrachteten sie nebeneinander den unendlichen Ozean, dann unterbrach Ramon die Stille. „Aber weißt du was, wir könnten uns da drüben noch nach Souvenirs umschauen.“ Er wies auf einen Shop neben dem Parkplatz, direkt unter einem großen Leuchtturm. „Von denen hast du doch bestimmt schon eine Million“, sagte Genesis. „Aber die sind bei meinen Eltern“, erwiderte Ramon kleinlaut. Genesis lachte. „Na gut, dann lass uns noch einen Leuchtturm oder so kaufen.“ Als sie wieder aus dem Souvenirladen kamen, hatte sich die Wolkendecke am Himmel tatsächlich verdichtet; vom Meer ergoss sich ein feiner Sprühnebel in Richtung Land. „Oh“, machte Genesis, diesmal mit aufrichtigem Staunen. Bedächtig schritt er wieder auf den Rand der Küste zu: Der Tag verdunkelte sich zusehends, das übrige Zwielicht überzog die Umgebung mit einer mysteriösen Atmosphäre, während ein beinahe unheimlicher feiner Nebel landeinwärts über das Heidekraut auf den Abhängen zog. Langsam liefen sie die Küstenlinie ab, Ramon immerhin darauf achtend, dass Genesis, vollkommen eingenommen vom Moment, in niemanden hineinlief. Eine leichte, untergehende Sonne war hinter den Wolken am Himmel und dem Nebel auf dem Meer zu erahnen, aber nicht zu sehen. Sie musste das sein, das ein wenig heller war, fast weiß unter all dem hellen Grau am oberen Rand. Ganz am unteren Rand rollten die Wellen dunkelgrau auf die Felsen zu, doch dazwischen – was war dazwischen? War es Meer? War es Himmel? Wo hörte das eine auf, wo fing das andere an? Genesis starrte minutenlang ununterbrochen auf den Horizont, konnte aber außer wunderschönem Nebel nichts erkennen, alles ging ineinander über, alles war alles und nichts. Sie kamen am Kreuz an, das den westlichsten Punkt des europäischen Festlands markierte, dahinter der mit Heidekraut übersäte Abgrund. Das Licht schwand, der Nebel zog mehr und mehr auf. Genesis überlegte nicht lange. „Äh, Liebling?“, hörte er Ramon etwas panisch hinter sich rufen. Doch Genesis lief weiter auf den Nebel zu, trottete den Abhang herab, den Trampelpfad entlang, hinter der Absperrung, Betreten auf eigene Gefahr, was soll’s. „Genesis!“ Er spürte Ramons Hand an seinem Arm. Er wandte sich um und sah in Ramons besorgtes Gesicht. „Du kannst hier nicht lang, das ist gefährlich!“ „Ich pass schon auf, wo ich hingehe“, versicherte er Ramon. „Der Nebel ist tückisch, du siehst nur ein Mal nicht, wo du hintrittst, und fällst ungebremst da runter, Genesis, hier sterben Leute!“ „Jetzt verfall doch nicht gleich in Panik, so steil ist es auch nicht.“ Ramon sah ihn hilflos an. „Weißt du was, da drüben ist ein Stein zum Hinsetzen, wie wär das? Der Boden da sieht sicherer aus.“ Er zeigte auf ein Stück weiter oben, wo der Abhang flacher war. Genesis erkannte auf dem Boden ein rundes Steingebilde. Vorsichtig gingen sie darauf zu. Probehalber ließ Genesis sich darauf nieder. „Von hier sieht man das Meer kaum noch“, beschwerte er sich und war drauf und dran, wieder aufzuspringen, aber Ramon hielt ihn zurück. „Mir wär’s lieb, wenn du da sitzen bleiben würdest“, sagte er, während er selbst wie ein Wächter vor Genesis stand. „Ich weiß nicht, was mit dir los ist.“ „Ich fass es nicht! Erst schleppst du mich hier hin und dann wunderst du dich, wenn ich begeistert bin!“ „Na ja, sonst bin ich das von dir auch eher nicht gewohnt.“ Genesis blinzelte verdutzt. „Entschuldigung?“ „Ähm.“ Ramon wirkte peinlich berührt. Genesis legte gespannt den Kopf schief. „Na ja, ist es so falsch zu sagen, dass du meist eher unbegeistert bist?“ „Ach“, machte Genesis unterkühlt. „Und wovon soll ich begeistert sein? Davon, wie großartig und aufmerksam du mich umsorgst?“ Ramons Gesichtsausdruck veränderte sich; Genesis wusste, dass er getroffen hatte. „Was soll das?“, fragte Ramon leise. „Ich dachte, wir hätten uns vertragen.“ „Nun“, sagte Genesis und richtete sich auf, „dann hab ich eben beschlossen, dass wir das nicht haben.“ „Wie kannst du das einfach beschließen?“, sagte Ramon in einem Anflug von Wut. „Ich weiß nicht, so wie du beschließt, mich ständig allein zu lassen? Es waren doch nicht nur die zwei Wochen.“ „Dann lass hören“, sagte Ramon herausfordernd. „Wann immer ich dich anrufe: ‚Es passt grad nicht.‘“ „Oh bitte.“ „Wenn ich dich frage, ob du mich irgendwohin begleitest: ‚Da hab ich schon was zu tun.‘“ „Entschuldige, dass ich arbeite!“ „Wenn ich irgendetwas möchte: ‚Ich bin müde, ich bin so erschöpft, dafür hab ich jetzt keinen Nerv.‘“ „Wie gesagt, entschuldige –“ „Und weißt du zufällig gerade, wann wir das letzte Mal Sex hatten?“ Ramon sah aus, als hätte Genesis ihm ins Gesicht geschlagen. „Aber wie oft und wann du wie starke Kopfschmerzen in den letzten vier Wochen hattest, das weißt du auswendig.“ „Willst du mir das ehrlich vorwerfen?“, fragte Ramon. In den letzten Strahlen des Sonnenlichts sah Genesis Tränen hinter seinen Brillengläsern glitzern. „Glaubst du, du bist perfekt?“ Genesis machte ein abwägendes Geräusch, fing sich dann aber: „Nein, natürlich nicht“, sagte er mit ironischem Unterton. „Siehst du, das zum Beispiel!“, brach es aus Ramon hervor. „Du kannst nie irgendwas ernst meinen, außer du willst mir so richtig wehtun! Wo kommt dieser Zynismus her? Wer hat dich so verletzt?“ „Oh, meine Ex-Partner vielleicht“, erwiderte Genesis trocken. „Aber von so was verstehst du ja nichts, du hast dich nie wirklich auf einen Mann eingelassen.“ Ramon starrte ihn wutentbrannt an. „Warum bin ausgerechnet ich derjenige, dem du so verzweifelt wehtun willst?“ „Du bist ja im Moment auch die einzige Person in meinem Leben, wofür du übrigens auch ganz geschickt sorgst, Glückwunsch.“ „Wie bitte?! Genesis, von mir aus, geh raus, such dir Freunde, kein Problem! Du hast unzählige Männer gefunden, die in kürzester Zeit mit dir ins Bett gegangen sind, du wirst doch wohl jemanden finden, der dich für mehr als das mag, oder hältst du dich für so unausstehlich? Eins sag ich dir, das bist du nicht.“ Genesis merkte auf. Ramon sah aus, als ob er bereuen würde, den letzten Satz gesagt zu haben. „Ich ... streite nicht sehr gut“, räumte er ein. „Was du nicht sagst“, fauchte Genesis. Die Sonne war untergegangen, die Nacht hereingebrochen. Da standen sie in der Dunkelheit, hinter ihnen das Ende der Welt und das unendliche Meer. Genesis fiel nichts mehr ein. Er setzte sich wieder auf den Stein und beobachtete die endlosen Wogen, hin und her und hin und her und hin und her und irgendwann schienen die Wellen nicht mehr auf das Land zuzurollen, sondern sich umzukehren ... Sie verbrachten eine ganze Weile im Schweigen, während der Himmel sich verfinsterte. Statt der Sterne erstrahlte der Leuchtturm. Ramon, der ohne ein Wort zu sagen neben Genesis verharrt war, stupste ihn sanft an. „Lass uns gehen“, sagte er abgekämpft. Genesis nickte und erhob sich und mit Abstand voneinander stiegen sie den Abhang wieder hinauf. Die Leute an der Küste hatten sich zerstreut und waren auf dem Weg zurück. Genesis und Ramon sahen sich demonstrativ nicht an, solange sie auf den Bus warten mussten, und auch als sie sich dann nebeneinander im Bus niederließen, sprachen sie kein Wort miteinander. Genesis sah aus dem Fenster, konnte in der Dunkelheit allerdings nichts außer Schemen erkennen. Er war irgendwie froh, Ramon mitgeteilt zu haben, dass er sich isoliert fühlte und dass Ramon mit seinem Verhalten dazu beitrug, aber ... Und seltsamerweise war er sogar ein wenig froh, dass Ramon ihm Vorwürfe gemacht hatte. Er seufzte und wandte sich um. Ramon sah ihn immer noch nicht an, sondern hatte den Blick in Richtung der anderen Fahrzeughälfte gerichtet. „Ramon“, hauchte Genesis, ehe er sich zurückhalten konnte. „Hm?“, machte der, und sein Ton machte deutlich, dass er noch immer sauer war. Genesis zögerte. Sein Herz sprang bald aus seiner Brust. Er wusste, was er jetzt sagen sollte. Ganz genau sogar. Er spürte, dass es jetzt das Richtige war. Aber so etwas hatte er noch nie zu einem Mann gesagt ... „Was?“, fragte Ramon noch einmal nach, als Genesis nichts sagte. „Warte kurz“, bat Genesis inständig. Ramon sah immer noch etwas angriffslustig drein. Genesis versuchte, seine Zunge mit einem tiefen Atemzug zu lösen, während sich ihm der Magen umdrehte und sein Herz so schnell und heftig schlug wie vielleicht noch nie zuvor. Stockend brachte er es endlich hervor: „Ramon, ich – möchte ... dass du weißt ... – dass mir das hier unglaublich schwerfällt, aber ... ich ... Ramon –“ „Jetzt spuck’s aus“, unterbrach ihn Ramon. Genesis sah ihm direkt in die Augen. „Ramon, wenn es einen Mann gibt, mit dem ich mein Leben verbringen möchte, dann bist du es“, sagte Genesis mit fester Stimme. Ramons Augen weiteten sich. „Und ein blöder Streit oder auch zwei ändern nichts daran. Und es tut mir leid, dass ich wieder davon angefangen hab. Verziehen ist verziehen. Ich hätte das nicht machen sollen.“ Genesis wandte den Blick ab. „Und das war unheimlich anstrengend.“ Er spürte, wie sich Ramons Arm wieder vorsichtig um ihn herum legte. Ohne einen Moment zu verschwenden schmiegte Genesis sich an ihn und legte seinen Kopf an seine Halsbeuge. „Ich hab das allerdings alles gemeint, weißt du.“ „Oh, ich auch“, versicherte ihm Ramon. „Das ist gut“, sagte Genesis und schloss entspannt seine Augen. „Ich hab keine Energie mehr.“ „Wenn wir zu Hause sind, kriegst du was Schönes zu essen“, sagte Ramon sanft und gab ihm einen Kuss. „Wie wär’s mit Fisch? Ich muss dem Besitzer ja noch von unserer Verlobung erzählen.“ Genesis schenkte Ramon ein liebevolles Lächeln, ehe er sich wieder mit geschlossenen Augen an ihn schmiegte und seufzte: „Das klingt nach einer ganz tollen Idee.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)