Bigger Wow von tobiiieee (Entführt) ================================================================================ Kapitel 2: Interlude -------------------- „Weißt du, was wir machen sollten?“ Genesis sah träge von seinem Buch auf, als Ramon plötzlich die angenehm müßige Stille durchbrach, die eben noch zwischen ihnen geherrscht hatte. Von dem Sofa aus, auf dem er es sich halb sitzend, halb liegend mit seinem Buch gemütlich gemacht hatte, warf er einen Blick quer durch das Wohnzimmer zu dem Küchentisch, an dem Ramon saß, um Aufsätze für sein nächstes Forschungsprojekt durchzuarbeiten. Genesis hob fragend eine Augenbraue, als er bemerkte, dass Ramon nur träumerisch aus dem sonnendurchschienenen Fenster vor sich schaute. Sicher, dass sein Verlobter seine Skepsis schon noch früher oder später förmlich spüren musste, machte Genesis zunächst keine Anstalten, weiter nachzuhaken, bis Ramon sich ihm breit grinsend zuwandte und anscheinend endlich mit der Sprache herausrücken wollte. „Wir sollten noch mal nach Sintra fahren!“ Das hatte Genesis nicht erwartet; ihm waren spontan viele flüchtige Ideen durch den Kopf gegangen, was Ramon vorhaben könnte, angefangen dabei, ob sie ihren nächsten Kaffee zu Hause oder auswärts einnehmen sollten, über die Frage, ob sie bei dem schönen Wetter – dem vielleicht letzten Sonnenschein für ein paar Wochen, da der Herbst vor der Tür stand – zum Fluss gehen sollten, bis hin zu Überlegungen, wie sie ihr Abendessen gestalten könnten. Alles in allem empfand Genesis seine Gedanken als praktisch und naheliegend, doch so ganz konnte er nicht verstehen, wie Ramon bei der Lektüre wissenschaftlicher Aufsätze auf die Idee kam, noch einmal an denselben Ort zu fahren, den sie vor einem halben Jahr bereits besucht hatten. Zugegeben, damals, im Mai, hatte ähnliches Wetter geherrscht, aber Sonnenschein war zwischen Frühling und Spätsommer nichts Ungewöhnliches. Ramon unterbrach Genesis‘ Gedankengang. „Was ist? Ich dachte, du würdest begeisterter sein.“ „Echt? Wieso? Nein, ich meine“, fügte er schnell hinzu, bevor es zu Missverständnissen kommen konnte, „ich will wissen, wie du jetzt darauf kommst.“ „Mir ist nur eben eingefallen, dass sie im Wetterbericht gesagt haben, dass sich wohl bald ‘ne Wolkendecke über die Gegend legen wird, und ich sag dir eins: Du musst Sintra mal bei verhangenem Wetter sehen.“ Er machte eine bedeutungsschwere Miene, als ob er über weltbedeutende Erkenntnisse spräche. Genesis runzelte leicht die Stirn. „Du meinst das ernst, oder?“ Ramon nickte in seriöser Akademikermanier; Genesis hatte ihn lange nicht so ernst erlebt, jedenfalls nicht seit seinem Heiratsantrag Anfang August. Also gab Genesis wieder eine ähnliche Antwort: „Ja, ok, warum nicht? Und ich übertrage dir auch die volle Verantwortung für den Ausflug.“ Auf Ramons Gesicht breitete sich ein zufriedener und fröhlicher Ausdruck aus. „Dann ist das abgemacht.“ Und er wandte sich seelenruhig wieder seiner Forschung zu. Das ständig wolkenverhangene, mitunter etwas verregnete Wetter, das im November folgte, fiel zielsicher in eine für Ramon außergewöhnlich arbeitsame Zeit, in der Genesis viele Stunden und meistens auch das Abendessen allein zubrachte, indem er nach Sonnenuntergang durch die Straßen schlenderte, Touristen beobachtete und vom Rand des einen oder anderen großen Platzes geistesabwesend auf den Tejo oder die vielen Lichter auf der anderen Seite starrte, irgendeinen in Plastik verpackten Imbiss in den Händen. War er vorher nicht ganz überzeugt von der Idee gewesen, noch einmal nach Sintra zu fahren, so sehnte er sich jetzt nach einem Tag, den er vollkommen ungestört und von früh bis spät nur mit Ramon verbringen konnte, egal wo. Und Sintra war ja auch sehr schön; ihm war nur vorher nicht ganz klar gewesen, was der Sinn daran sein sollte, irgendwo hinzufahren, wenn sie auch so zusammensein konnten. Seufzend erhob er sich mit vom Wind etwas steifen Gliedern von der Mauer, von der aus er den Fluss betrachtet hatte, in einer Hand eine Verpackung, in der nur noch die Knochen des Hähnchens zu sehen waren, das als sein Abendessen hatte herhalten müssen; er hatte es sich in einem Bahnhof in der Nähe geholt, wo man entweder fertig Verpacktes oder selbst Zusammengestelltes kaufen konnte. Ihm war nicht danach gewesen, mit den Verkäuferinnen zu sprechen, also hatte er sich einfach irgendwas gegriffen, das aussah, als ob es ihn sattmachen konnte. Er machte sich auf den Weg über den Platz, den langsam, aber sicher junge Leute mit Alkoholflaschen bevölkerten; es war Freitag und trotz gelegentlichen Nieselns noch nicht wirklich kalt, und Genesis konnte nicht behaupten, die Anziehungskraft des Atlantikwassers, das der Fluss führte, nicht zu verstehen. Er gönnte es den Gruppen Heranwachsender und junger Studenten, das Leben zu feiern. Nur ihm war gerade nicht danach. Mit etwas hängendem Kopf platzierte er die Plastikschachtel seiner einsamen Mahlzeit im nächsten Mülleimer, trat durch den hochaufragenden Torbogen am andern Rand des Platzes auf eine noch immer belebte Straße, in der auch die Touristen sich nach einem ausgedehnten auswärtigen Abendessen langsam in ihre Hotels zu begeben begannen, dann allerdings stehen blieben, weil nun Verkäufer und Künstler die Straße säumten. Genesis hingegen kannte die Darbietungen zur Genüge; er wollte jetzt nach Hause und ins Bett, in der Hoffnung, am nächsten Tag neben Ramon aufzuwachen und bei einem ersten Kaffee am Morgen zu hören, dass Ramon sich jetzt zwar noch etwas erholen wollte, am nächsten Tag aber wieder voll und ganz für ihn da sein könnte, weil er endlich einmal nicht das Wochenende durcharbeiten müsste. Die Hände tief in den Taschen, fühlte Genesis sich frustriert, wie er da spätabends, eigentlich fast schon nachts durch diese Menschenmengen hindurchlief, aber zu niemandem dazugehörte wie früher. Und der Mensch, zu dem er gehörte, hatte kaum einen Blick für ihn übrig, oder ein offenes Ohr für ihn. Nicht dass er der gesprächige Typ Mensch war; aber war ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu viel verlangt? Ramon kam nach Hause, wenn Genesis längst schlief, und brach wieder zur Arbeit auf, noch bevor Genesis ein erstes müdes Auge öffnete. Der einzige Hinweis auf Ramons zwischenzeitliche Anwesenheit war die Veränderung auf der anderen Bettseite, die Form des Kissens, die Drapierung der Decke, das Wasserglas auf dem Nachttisch. Kein Zettel in der Wohnküche, kein freundlich hinterlassenes Frühstück für Genesis. Was er Ramon allerdings zugutehalten musste, war die Tatsache, dass er hinter sich aufräumte und zumindest nicht die halbe Wohnung in Chaos stürzte und erwartete, dass Genesis schon Ordnung schaffen würde. Was Genesis sowieso nie gemacht hätte. Es war kein weiter Weg vom Fluss zu ihrer Wohnung, deren Tür Genesis, immer noch tief in seinen düsteren Gedanken, aufschloss, ohne es wirklich zu merken. Erst als er plötzlich gegen das in der Wohnung herrschende Licht anblinzeln musste, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung. Er hatte das Licht nicht angelassen. Ramon war vor ihm heimgekehrt. Er stand, den Rücken Genesis zugewandt, an der Küchentheke, an der er sich offensichtlich gerade ein Glas Wasser gegen seine häufigen Kopfschmerzen eingegossen hatte. Als Genesis die Tür ins Schloss fallen ließ, drehte Ramon, das Wasserglas wieder absetzend, zumindest den Kopf; als er Genesis erblickte, breitete sich ein Strahlen auf seinem abgespannten Gesicht aus. „Wo warst du denn?“, fragte er vergnügt. Genesis bemerkte mit einem Blick auf die Uhr, dass es langsam auf Mitternacht zuging. „Du bist ja schon zurück“, bemerkte er, statt die Frage zu beantworten. Er durchquerte den kleinen Raum und ging auf Ramon zu. „Ja, ich hab, ähm – früher Schluss gemacht.“ Genesis verstand die Selbstironie dieser Antwort. Er kam vor Ramon zum Stehen, hielt allerdings etwas Abstand*. Er wartete. Ramon seufzte und ergriff wieder das Wort. „Hör mal, es tut mir ehrlich leid, wie es die letzten Wochen gelaufen ist, alles ist irgendwie außer Kontrolle geraten, es kamen so viele zusätzliche Fristen zu meiner normalen Arbeit hinzu, ich ...“ Er stockte, da er zu merken schien, dass Genesis an dieser Erklärung nicht interessiert war. „Es tut mir leid“, wiederholte er daher. Genesis glaubte ihm das auch. Er ging näher auf Ramon zu. „Du siehst müde aus“, sagte er und griff vorsichtig auf beiden Seiten nach Ramons Brille, um sie ihm so sanft wie möglich abzunehmen und sie behutsam auf der Theke abzulegen. Ramon seufzte tief. „Ich bin auch unglaublich müde“, sagte er mit leidender Stimme, während er wieder nach dem Wasserglas griff. „So sehr, mir ist schon schwindelig wie verrückt, wobei ich natürlich nicht weiß, ob das die Müdigkeit ist oder die Nebenhöhlen – oder beides.“ Er leerte das Glas und stellte es wieder ab. Er schaute Genesis an, der immer noch reglos vor ihm stand und abwartete. Ramon streckte einen Arm nach Genesis aus, der der Aufforderung ohne weiteres Folge leistete und sich an Ramon schmiegte, der ihn fest an sich drückte. „Du hast mir gefehlt“, murmelte Ramon irgendwo neben Genesis‘ Ohr. „Du mir auch“, seufzte Genesis leise. Er löste sich sanft aus der Umarmung und schaute Ramon ins Gesicht. „Wie wär’s, wenn wir einfach ins Bett gehen? Du kannst doch kaum noch stehen. Und morgen wird ausgeschlafen“, fügte er befehlend hinzu. Ramon imitierte scherzhaft einen Salut in Anspielung auf Genesis‘ Militärvergangenheit; wäre Ramon sein Rekrut gewesen, hätte Genesis ihm diesen kläglichen Abklatsch einer Respektbekundung nicht durchgehen lassen. Aber so lächelte er einfach nur geheimnisvoll, packte Ramon am Kragen und sah zu, dass er zeitnah ins Bett kam. Am nächsten Morgen hingen noch immer dicke Wolken am Himmel; sie schienen keinen schweren Regen zu bringen, dachte sich Genesis, als er mit einer Tasse Kaffee zum Fenster heraussah, aber dunkler als sonst war es dennoch, wo doch sowieso schon für gewöhnlich nur wenig Licht ins Wohnzimmer drang. Er war vor Ramon wach geworden, hatte sich angezogen und wollte sich mit einem Buch aufs Sofa legen, musste aber feststellen, dass er sich nicht recht konzentrieren konnte. Nun trank er also seinen Kaffee und wartete. So leid ihm Ramon am Abend zuvor getan hatte, so konnten eine einzelne Entschuldigung, eine Umarmung und eine Beteuerung, wie sehr er ihm gefehlt hatte, doch keine zwei Wochen des Frusts und der Einsamkeit wettmachen. Ramon wusste, dass Genesis in Lissabon keine wirklichen Freunde und kaum Anschluss gefunden hatte und somit auf Ramons Gesellschaft angewiesen war. Die Kontakte, die er vor ihrer Verlobung gehabt hatte, waren nicht emotional tief gehender, sondern sexueller Natur; mit keiner seiner vorigen Bekanntschaften konnte oder wollte er auch nur so etwas wie eine Freundschaft beginnen. Während es Genesis nie schwergefallen war, Männer für eine Nacht zu finden, hatte er doch an den meisten Menschen nicht genügend Interesse, um eine tiefere Beziehung auszuloten ... Hinter sich hörte er Geräusche aus Richtung des Schlafzimmers; die Tür öffnete und schloss sich. Genesis drehte sich aber nicht nach der Geräuschquelle um. Erst als er Ramon „Hey, na**?“ sagen hörte, wandte er sich ihm halb zu. Ramon steckte seinen verschlafenen Lockenkopf zur Tür hinein und grinste ihn fröhlich an. Genesis erwiderte nichts, was Ramon möglicherweise verstand, denn er zog sich zurück und ging ins Bad. Genesis hatte seine zweite Tasse Kaffee in der Hand, als Ramon erneut zu ihm stieß. Die Stille zwischen ihnen war greifbar, die Luft zum Schneiden dick. Genesis wartete. Ramon überlegte allem Anschein nach sehr genau, was er sagen sollte. Er entschied sich für eine risikoarme Variante: „Also ... du bist wohl noch sauer?“ Genesis‘ Gesicht ließ keine Regung erkennen. „Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist“, sagte er leise, „aber ich bin auch kein Muttersprachler.“ Ramon schien getroffen. „An welches Wort dachtest du dann?“, fragte er, auch wenn er auf Genesis wirkte, als ob er Angst vor der Antwort hätte. „Enttäuscht“, versetzte Genesis fast sofort. „Wütend. Frustriert.“ Ramon schlug schuldbewusst die Augen nieder. „Du hättest wenigstens anrufen können.“ Er hätte erwartet, dass Ramon ihm da zustimmte. Wäre ein Anruf zu viel verlangt gewesen? Wenigstens eine Nachricht, dass er nicht blutend im Straßengraben lag, sondern immer noch im Büro saß? Stattdessen zuckte Widerwillen über Ramons Gesicht. „Was?“, fragte Genesis. Ramon zögerte. Dann erwiderte er, als ob er es überhaupt nicht sagen wollte: „Das hättest du doch auch gekonnt! Warum bin ich hier der Böse? Hast denn du mich angerufen?“ Natürlich hatte Genesis darüber nachgedacht. „Es hätte dir doch eh nicht gepasst.“ „Ach, das ist doch ‘ne faule Ausrede“, wischte Ramon seinen Einwand weg, „dann hätte ich dich eben später zurückgerufen, wenn es besser gepasst hätte.“ „Klar, so wie du mich immer zurückgerufen hast“, erinnerte ihn Genesis. „Ich habe dich zurückgerufen“, erinnerte ihn Ramon seinerseits. „Oh bitte, in vielleicht zwei von zehn Fällen“, sagte Genesis abfällig. „Du übertreibst“, warf ihm Ramon vor. „Wir streiten, natürlich übertreibe ich“, meinte Genesis. Ramon seufzte und fasste sich an die schmerzende Stirn. „Dann sollten wir vielleicht aufhören zu streiten, das führt uns nirgendwo hin.“ Er rieb sich mit der Hand mehrfach übers Gesicht und die Schläfen. „So früh am Morgen.“ „So früh ist es gar nicht mal“, wandte Genesis ein, allerdings nicht mehr so giftig wie zuvor. „Lass mir doch meine Illusion.“ Ramon lächelte ihn schüchtern an. Genesis versuchte es mit einer Antwort, aber so ganz konnte er sich noch nicht durchringen. Ramon machte sich entmutigt an einen Kaffee, doch bevor er die Tasse nahm, machte er plötzlich kehrt. „Mir ist grad eingefallen“, sagte er, als er kurz in seinem Arbeitszimmer verschwand und wiederkehrte, „ich hab ja gestern noch was mitgebracht, aber dann war’s irgendwie so spät und ich hatte Kopfschmerzen.“ Aus der Tüte, die er aus dem Zimmer mitgebracht hatte, zog er eine Flasche hervor, die er neben die Spüle stellte, sodass Genesis das Etikett begutachten konnte. Es war sein Lieblingswein, den es nicht gerade in jedem Supermarkt gab. Ramon mochte ihn zwar auch ganz gerne, bevorzugte aber eigentlich doch ein, zwei andere Sorten von anderen Herstellern. Genesis schaute Ramon gespielt missbilligend an. „Ich hasse dich“, sagte er in seiner trockenen Art, „abgrundtief, das weißt du.“ Ramon kannte Genesis mittlerweile sehr gut und wusste, dass er damit das Gegenteil sagen wollte, dass er das böse L-Wort aber für gewöhnlich nicht in den Mund nahm. Zu viel Gefühlsduselei. Er lächelte wieder und auch Genesis schaute zumindest weniger verkniffen drein. Daraufhin kam Ramon etwas näher; er hob eine Hand und begann, sanft über Genesis‘ Arm zu streichen. Als der es geschehen ließ, versuchte Ramon, noch näher zu kommen, aber Genesis wandte das Gesicht ab. Ramon lachte kurz auf. „Wie wär’s, wenn ich dir Frühstück mache?“, fragte er dann. Genesis seufzte genießerisch. „Frühstück – der Versöhnungssex des Ehepaares.“ Ramon lachte wieder. „Mal schauen.“ Nun alle Proteste ignorierend, zog er Genesis an sich und nahm ihn fest in die Arme. „Du hast mir wirklich gefehlt“, hauchte er ihm ins Ohr, während er ihn sehr nah an sich drückte. Genesis, alles Getue fallen lassend, schlang diesmal die Arme um Ramon. „Du mir auch“, seufzte er, das Gesicht an Ramons Schulter vergraben. „Das nächste Mal machen wir das besser“, sagte Ramon versöhnlich. Genesis drückte Ramon noch fester an sich. „Ja ...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)