Die Ballade des Unbesungenen von Paperforce ================================================================================ Kapitel 2: Zweite Strophe: Blitz und Donner ------------------------------------------- Verwundert über Hylias plötzliche Schockstarre, trat Kishin einen Schritt zurück, ohne sie aus seinen Armen zu entlassen. „Hylia … stimmt was nicht?“ Seine dumme Frage beantwortete er sich sogleich selbst: Natürlich stimmte etwas ganz und gar nicht mit ihr. Hylia beachtete ihn überhaupt nicht, hatte den Kopf leicht schiefgelegt; ihre Augen waren starr geradeaus gerichtet. Sie blickten durch ihn hindurch, als sei er nicht da – oder Hylia selbst. Bestürzt flüsterte die Göttin: „Oh nein …“ Mit einem Ruck riss sie sich aus der Umarmung. Noch in derselben Bewegung breitete sie schwungvoll die Flügel aus, dass sie wie splitterndes Eis klirrten, verteile dabei ein paar Kristallfedern. Sogleich schoss Hylia in die Luft und flog in einer aufbrausenden Böe davon. Irritiert rief Kishin ihr nach: „Hylia, was ist … Warte!“ In seiner Ratlosigkeit, was er tun sollte, nahm er schließlich die Verfolgung auf, indem er wie ein überirdischer Steinbock die Berghänge erklomm. Doch er merkte schnell, dass, wollte sie ihm wirklich entkommen, er keine Chance hatte, mit ihr mitzuhalten: Anders als in ihrem Spiel fiel es ihm trotz Schwebesteinen schwer, den Anschluss zu ihr nicht zu verlieren. Hylia flog schneller als jeder Vogel, flitzte durch das Gebirge wie der Wind. Als Kishin hinter ihr die Berge verließ, war sie schon fast außerhalb der Reichweite seines Übersinns. Dennoch fiel es dem Gott leicht, ihrer Spur weiter zu folgen: Noch mehr Federn lösten sich von ihren Flügeln ab; ihre nicht abbrechende Kette wies ihm den Weg durch das leicht bewaldete Vorgebirge. So hilfreich diese Fährte auch war, beunruhigte sie Kishin zutiefst. Sonst verlor Hylia nie Federn einfach so ohne ihr eigenes Zutun. Das Gelände ging in die leicht hügelige Ebene über, wodurch Kishin wieder an Geschwindigkeit zulegen konnte. Wäre sein Übersinn nicht gewesen, der ihm die Position der Bäume schon von weitem verriet, hätte er gewiss etliche von ihnen umgerissen. Gerade, als er Hylia wieder am Himmel über und weit vor sich wahrnahm, gelangte noch etwas anderes in seine Reichweite: Dunkel und drückend wie Rauch hing eine Wolke des Todes und der Verzweiflung über der Ebene, so dicht, dass er kaum erkannte, was darin war. Es schienen Menschen zu sein, die in Panik vor etwas flüchteten, das er nicht einordnen konnte. Die Bewaldung wurde spärlicher, als er ein Gebiet erreichte, in dem viele Generationen von Holzfällern ihr Unwesen getrieben hatten. Endlich holte Kishin Hylia ein, als er in Hörweite der Angstschreie kam. Nun sah er auch, was er zuvor mit seinem Übersinn nur undeutlich wahrgenommen hatte: Ihm völlig unbekannte Wesen trieben die Bewohner eines Dorfes hämisch krächzend vor sich her. Erschrocken blickte Kishin hoch zu Hylia, die über der Siedlung schwebte, in der heilloses Chaos herrschte. Die Augen weit aufgerissen, die Hände vor den Mund geschlagen, brannte die Geflügelte geradezu vor Entsetzen. Ihr Blick wanderte zu Kishin, sandte ihm die stumme Bitte zu helfen. Daraufhin stieß die Göttin herab, landete mitten unter ihren Schützlingen und den merkwürdigen Kreaturen. Ratlos sah Kishin sich um. Was sollte er schon tun? Eines der fremdartigen Wesen lief an ihm vorbei. Beiläufig packte Kishin es an seinem steil abstehenden Haarschopf und hielt es auf eine Armlänge Abstand, um es genauer zu betrachten. Nach wie vor verriet ihm sein Übersinn nichts über die diffuse, ja leer wirkende Aura, die unliebsame Erinnerungen in ihm wachrief. Schnell verdrängte er sie wieder, konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Was seine Augen ihm zeigten, trug kaum etwas bei. Das Wesen kreischte wie ein Wildschwein, dem es auch ähnlich sah, allerdings zur Groteske verzerrt. Es lief aufrecht auf den Hinterläufen, wie Menschen und Vögel es taten; die an Hände gemahnenden Vorderklauen waren somit frei für einen langen, schmalen Holzstock mit schwarzer Steinspitze. Mit dieser stach die Kreatur nach Kishins Gesicht in dem Bestreben, sich von ihm zu befreien. Im Anbeginn der Welten hatten die Goldenen Göttinnen den zum Schutz abbestellten Gottheiten, zu denen Hylia und Kishin zählten, versichert, dass kein irdisches Material ihnen physischen Schaden zuzufügen vermochte. Bislang hatte Kishin sich keine wirklichen Gedanken über diese ihm selbstverständliche Unverwundbarkeit gemacht. Sie war Teil seiner Natur, hatte ihm immer treue Dienste geleistet, so weit seine bewusste Erinnerung zurückreichte. Und doch drang der Steinsplitter, schwarz und ölig glänzend wie Obsidian, fast ohne Widerstand in seine Haut. Durch seinen Übersinn war Kishin in der Lage, das seelische Leid, das sterbliche Wesen empfanden, wenn sie Schmerzen hatten, wahrzunehmen. Aber erst jetzt in all den Äonen seiner Existenz erfuhr er zum ersten Mal körperlichen Schmerz am eigenen Leib, als der unendliche, in sich geschlossene Energiestrom, aus dem er bestand, unterbrochen und in Unordnung gebracht wurde. Vor Schreck warf er das Schweinswesen in hohem Bogen weit von sich, fasste sich ins Gesicht an die verletzte Stelle. Sie blutete nicht, wie es bei Sterblichen der Fall wäre; noch dazu war der Schaden schon wieder beseitigt – jedoch mit dem Preis, dass winzige Mengen Kraft aus seinem ganzen Körper an der Wunde konzentriert worden waren, um sie zu heilen. Aber wie war sie überhaupt möglich gewesen? Er war ein Gott! Ein hoher, spitzer Schrei drang an Kishins Gehör und weckte ihn aus seiner Erstarrung. Er wirbelte herum, der Quelle des Geräusches zu: Ein kleines Kind inmitten des Chaos, das hilflos dabei zusehen musste, wie einem anderen Menschen der Schädel eingeschlagen wurde. Der Mann, eine Steinaxt in Händen, lag reglos auf dem Bauch; ein Wildschweinwesen kniete auf seinem Rücken und drosch mit einer Keule wieder und wieder auf seinen Hinterkopf ein. Zwischen zweien dieser Keulenhiebe wurde Kishin von einer Erinnerung heimgesucht: Auf seiner Erkundungsreise mit Hylia hatte er in einem der Löcher, die er zu einer anderen Zeit überall in seiner Welt gegraben hatte, eine Kuh entdeckt. Das schwarzweiße, friedliebende Tier, dessen Spezies um sich ihres Lebens zu erfreuen nur genügend Gras benötigte, war in die unterirdische Höhle gestürzt und dort verendet, bevor die Götter darauf gestoßen waren. Sie war nicht verletzt gewesen, genug Wasser hatte den Höhlenboden bedeckt, und auch wenn nur wenig Gras darin gewachsen war, war die Kuh auch nicht verhungert. Als Herdentier war sie dazu geboren, mit ihrer Familie über die Ebene zu weiden. Die Qual, die sie in völliger Einsamkeit erlitten hatte, war ins Gestein eingezogen wie abgestorbene Wurzeln, die es brüchig machten. Für lange Zeit sollte diese gepeinigte Seele nicht aus der Höhle weichen. Sogleich hatte Kishin in der Gewissheit, dieser schreckliche Tod sei seine Schuld, sämtliche Löcher zuschütten wollen, konnte er sich noch genau an die Lage jedes einzelnen davon erinnern. Hylia jedoch hatte ihn dazu ermutigt, es nicht zu tun. Die Löcher waren nunmal ein Teil seiner Welt und damit auch von ihm. „Außerdem“, hatte sie argumentiert und ihn schließlich überzeugt, „wären wir uns, hättest du sie nicht gegraben, nie begegnet.“ Also hatte sie ihm einige ihrer Schwebesteine überlassen, damals noch in einem frühen Entwicklungsstadium, in dem sie selbst noch nicht der Schwerkraft trotzen konnten. Sie hatten lediglich andere Gegenstände durch ihr Leuchten für kurze Zeit zum Schweben gebracht. Kishin hatte unter jedes Loch eine Platte aus diesem Gestein gesetzt, sodass niemals ein Tier das Schicksal der Kuh teilen musste. Dazu hatte er sich geschworen, dass er dafür Sorge tragen werde, dass kein Lebewesen durch sein Verschulden wieder so litt oder gar verstarb. Und seitdem war ihm das auch gelungen. Aber nie hatte er sich dabei in die natürliche Rivalität zwischen zwei Spezies eingemischt, und jetzt sollte er plötzlich entscheiden, auf welche Seite er sich schlug: Die der angreifenden Wesen, die sogar Götter verletzen konnten – oder die der Menschen, die die Schöpfung so, wie sie war, nicht ehrten? Als Kishin zu Hylia hinübersah, die in ihrer Göttergröße die Flügel schützend über die sie um Hilfe anflehenden Menschen gebreitet hatte, wusste er es genau. Er packte das Wesen, das auf den Kopf des Mannes einschlug, und schmetterte es, begleitet von dessen spitzen, überraschten Aufschrei, zu Boden. Eine Staubwolke stob auf, die merkwürdige Aura verschwand, und ihre Leere hinterließ Nichts. Das Opfer des Wildschweinwesens hatte Kishin nicht mehr gerettet: Sein schwaches Lebenslicht war erloschen, sein Kopf nur noch eine undefinierbare Masse. Das Mädchen, vor dessen Augen der eigene Vater brutal erschlagen worden war, blickte voll Furcht zu Kishin auf. Tränen hatten Spuren durch die Blutspitzer gezogen, die ihr kleines Gesicht bedeckten. Sie hatte zu schreien aufgehört, wimmerte jetzt mitleiderregend. Kishin konnte in der allgemeinen Angst die ihre nicht herausfiltern, sah sie dafür umso deutlicher in ihrer Mimik: Eine urinstinktive, unverständige Panik, nicht nur vor dem, was geschah – sondern auch vor ihm. Plötzlich sprang das Kind auf, rannte mehrfach strauchelnd auf die Gruppe Menschen zu, die sich um Hylia zusammengeschart hatten. Die Göttin hielt ihre Lyra in Händen und sang und spielte ein Lied, das Kishin bekannt vorkam: Es war jene Melodie, mit der sie den Blitz heraufbeschworen und gegen ihn benutzt hatte. Ein Bannkreis bildete sich um das Dorf, eine halbkugelige Kuppel bleichen Nebels. Blitze schossen daraus in ihr Inneres, packten die Wildschweinwesen und schleuderten sie hinaus. Die Kreaturen, die sich bereits draußen befanden, ließ die Kuppel nicht mehr herein; das hielt diese jedoch nicht davon ab, einzudringen zu versuchen: Mit ihren Keulen schlugen, mit den Speeren stachen sie auf die milchige Barriere ein. Weitere Blitze, die daraus hervorzuckten, stießen sie nur zurück, ohne sie zu verletzen, sodass sie sogleich wieder anbrandeten. Kishin erkannte, dass sie nur dann Ruhe geben würden, wenn sie mit derselben Brutalität abgewehrt wurden. Hylias Gesang mischte sich mit den Todesschreien der Wildschweinwesen zu einem schauerlichen Konzert, dem die grimmige Gottheit den Takt vorgab. Nachdem das Dorf von der Plage befreit war, heilte Hylia die Menschen mit ihrer Musik, körperlich von ihren Verletzungen, seelisch von ihren Traumata. Auch Kishin blieb, hielt sich aber im Hintergrund und beobachtete die Hingabe, mit der die Göttin sich um ihre Schützlinge kümmerte. Jedem Einzelnen von ihnen ließ sie ihre Zuneigung zukommen und erntete dafür Dankbarkeit und Verehrung. Als die Gottheiten das Dorf schließlich verließen, war darin längst keine Normalität eingekehrt. Noch lange würden die Hinterbliebenen um ihre Toten trauern, aber Hylia hatte ihnen den Willen verliehen, trotz aller Verluste ihre Leben bald wieder aufzubauen. Auf ihrem Rückweg zum Urwald kamen Hylia und Kishin durch einen Forst, der nahe des Dorfes von dem einst großflächigen Gehölz übriggeblieben war. Die ihn bewohnenden Singvögel schlossen sich der Herrin der Musik an, hüpften am Boden neben ihr her oder flatterten durch die Zweige. Es würde ein langer Marsch werden, hatte Kishin nicht das Gefühl, die Höchstgeschwindigkeit erreichen zu können, mit der er von den Bergen herabgekommen war. Bislang hatte er geglaubt, Götter könnten keine Müdigkeit verspüren, von der Sterbliche bisweilen befallen wurden. Allerdings konnte er mit keinem anderen Wort beschreiben, was er gerade empfand. Das unbeschwerte Fangspiel durch die Schlucht schien in weite Ferne gerückt. Hylia schien es ähnlich zu ergehen. Sie flog nicht, hätte es wahrscheinlich auch gar nicht gekonnt wie gewohnt. Ihre Flügel hingen hinter ihr herab, hinterließen Federn, wo die Göttin entlangschritt. Nachdem sie und Kishin die mörderischen Kreaturen vertrieben hatten, hatte sie die Schwingen die ganze Zeit über angelegt, sodass die Menschen nicht davon hatten beunruhigt werden können, wie ausgedünnt ihr Gefieder war. Was davon übrig war, hing in leerer Luft an Hylias Gedankenkraft wie himmelblaue Blütenblätter an einem unsichtbaren Ast. Sie ging vor Kishin her, daher konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Die Gefühle, die von ihr ausgingen, waren schwer einzuordnen; irgendwie suchend, Ausschau haltend. „Was für Wesen waren das?“, fragte er in das Schweigen zwischen ihnen hinein. Was ihn eigentlich umtrieb, war die Frage, wie Hylias wunderbare Welt nur solch schreckliche Kreaturen hatte hervorbringen können. Verzögert, weil in aufmerksamer Nachdenklichkeit versunken, antwortete Hylia: „Die Menschen nennen sie Monster. Sie tauchen oft plötzlich auf, kriechen aus ihren Erdlöchern und töten Menschen.“ Sie lauschte angestrengt in den Wald hinein. „Zum Glück waren es keine Dämonen. Die hätte meine Barriere nicht lange aufgehalten. Trotzdem … Das war ihr bislang größter Angriff.“ Als Hylia stehenblieb, kam Kishin dicht hinter ihr ebenfalls zum Halt. „Warum hast du sie nie erwähnt?“, verlangte er zu wissen. „Ich wollte nicht, dass du davon erfährst. Es ist nicht dein Problem.“ Sie wandte sich ihm zu, legte eine Hand an seine Wange. „Danke, dass du trotzdem geholfen hast“, sprach sie, ergriffen vor Dankbarkeit. Schimmerten ihre Augen trübe? „Ich habe es für dich getan“, stellte Kishin klar. „Ich weiß.“ Um Hylias Lippen spielte ein kleines Lächeln, bevor sie sich wieder von ihm abwandte. Den Kopf lauernd schiefgelegt, erinnerte sie Kishin an einen Falken, der im Flug eine Maus entdeckt hatte. Mit rauer Stimme fragte sie: „Was nimmst du wahr?“ Verwundert schaute Kishin sich um. Da waren nur schmale Stämme, spärliches Unterholz, ein paar Baumstümpfe. Nach oben hin begrenzt von einem lichten Laubdach, durch das viel zu viel blauer Himmel hindurchschien, nach unten von festgetretenem Erdboden. „Ich sehe den Wald“, erwiderte er schlicht. „Nein!“, widersprach Hylia heftig. Die Vögel flatterten erschrocken auf, ihr ausgelassenes Gezwitscher verstummte. „Was spürst du?“ Auch wenn Kishin jetzt verstand, was sie meinte, machte ihn das nur noch stutziger. Sonst ermahnte sie ihn immer, seine Augen zu gebrauchen. Warum wollte sie jetzt wissen, was er spürte? Die Antwort war ohnehin nicht viel anders, nur dass da auch kleinere Pflanzen und Tiere waren, die er mit den Augen nicht erblicken konnte. Dazu der Fluss der Lebenssäfte in den Wurzeln und Stämmen der Bäume und das unendlich langsame Ein- und Ausatmen in ihren Blättern. Endlich erklärte sich Hylia: „Ich weiß, die Monster haben sich hier in der Nähe versteckt. Sie warten nur darauf, dass wir weg sind, damit sie wieder zuschlagen können.“ Ihre Stimme war dunkel vor Abscheu. „Ich kann sie spüren, aber nicht, wo genau sie sich befinden. Du hingegen kannst das gewiss. Dein Übersinn ist viel schärfer als meiner.“ Konzentriert richtete Kishin seine mentalen Fühler in das sie umgebende Gehölz, streckte sie so weit aus, wie es ihm möglich war. Schließlich fand er die Hohlräume in der Aura der Welt, die ihm vom Kampf um das Dorf bekannt geworden waren. Vor Erschöpfung hätte er die verschwommenen, nicht vorhandenen submateriellen Präsenzen übersehen, wenn er nicht explizit nach ihnen gesucht hätte. Sie hielten sich tatsächlich in der Nähe auf, zu einem wabernden Haufen zusammengerottet. Mit einem Fingerzeig gab Kishin Hylia die Richtung an, in der sich die Monster befanden. Zum Dank nickte die Göttin. „Ich muss dafür sorgen, dass sie nicht noch einmal angreifen.“ Sie nahm die Lyra zur Hand, legte die Fingerspitzen auf die Saiten. Voll kalter Wut grollte sie: „Sie sollen büßen für das, was sie getan haben!“ Sie begann zu spielen, eine Erweiterung des Liedes, mit dem sie die Nebelbarriere um das Dorf erschaffen hatte. Doch etwas war ungewöhnlich, wie Kishin feststellte, als sie dazu sang: Ihr Harfenspiel und ihr Gesang waren zwei völlig verschiedene Melodien. Dadurch entstand zwar kein Missklang – keine Musik aus Hylias Schöpfung war je disharmonisch –, jedoch verbanden sich die beiden Melodien zu etwas ganz Neuem, das Kishin noch nie vernommen hatte. Jetzt nahmen die Vögel panisch Reißaus wie vor drohendem Unheil. Als eine Brise aufkam, sah Kishin hinauf in den Himmel, nur um dort etwas zu erblicken, was er in Herale wiederum noch nie gesehen hatte: Wolken zogen auf, nicht unschuldig weiß, als hätten sie Sonnenlicht wie Flüssigkeit aufgenommen; sondern grau und düster, als wollten sie jenes verschlingen. Der Wind wurde stärker, drohte sogar, Kishin die Mütze vom Kopf zu reißen. Ihm fiel auf, dass er in genau die Richtung wehte, die Kishin Hylia eben erst gedeutet hatte. Als er erkannte, was sie im Begriff war zu tun, packte der Gott ihr Handgelenk, brach somit ihr Leierspiel ab. Auch die Sängerin selbst verstummte überrascht, versuchte, ihm ihren Arm zu entziehen. Doch als Kishin keine Anstalten machte, nachzugeben, zischte sie herrisch: „Lass mich los, Kishin!“ Fast hätte der Gott es tatsächlich getan, so voll Schmerz und Kummer waren ihre Worte. Bis Hylia hinzufügte: „Du verstehst das nicht!“ Wut brannte in ihren Augen, die dieselbe Farbveränderung durchliefen wie der Himmel: Von hellblau zu wolkengrau. Donner grollte bedrohlich in der Ferne. Kishin, von dieser Wut angesteckt, steuerte sie in eine ganz andere Richtung: „Ich verstehe nicht?!“, fuhr er Hylia an, die vor seinen harschen Worten nicht einmal zurückzuckte. „Dann erkläre mir das!“ Mit fuchtelnder Geste deutete er hinauf zu den Wolken, aus denen es nun zu regnen begann. Erst waren es nur einige wenige Tropfen, die daraus herabfielen, aber schnell zu einem Schauer heranwuchsen, der vom Wind scharf wie Flintsteinsplitter durch die Luft gepeitscht wurde. Hylias Blick folgte Kishins Fingerzeig nicht, sondern war nur weiterhin auffordernd auf ihn selbst gerichtet. Um den tosenden Wind und den immer lauter rauschenden Regen zu übertönen, brüllte Kishin: „Herale ist also das Land, in dem immer die Sonne scheint? Und da beschwörst du so ein Wetter herauf?!“ Ein Blitz zuckte durch die Wolken, erhellte den Wald, als stürze die Sonne selbst vom Himmel. Das Krachen, mit dem er wie ein gewaltiges Spaltbeil in einen Baum gleich neben den Gottheiten einschlug, ließ die Erde erzittern. Das stolze Gewächs wurde gespalten bis herab zu den Wurzeln, verglühende Holzspäne sprühten herum. Licht erhellte die beiden göttlichen Gesichter: Hylias nach wie vor befehlerisch, Kishins unnachgiebig. Es war schließlich Hylia, die den Blick abwandte. Ihr langes, bernsteingoldenes Haar, das wild im Wind getanzt hatte, fiel reglos herab. Erleichtert, dass sie sich wieder beruhigt hatte, ließ Kishin ihre Hand los. Er glaubte, sie habe das Unwetter wieder zurückgerufen, musste aber feststellen, dass er da einem Irrtum aufgesessen war: Auch wenn dort, wo sie standen, Windstille eingekehrt war, riss der Sturm um sie herum noch immer an den Baumkronen. Mehr noch, auf sich gegenüberliegenden Seiten waren sie in entgegengesetzte Richtung geneigt. Der so entstehende Wirbelsturm ließ Äste abbrechen, peinigte die Wurzeln, die verzweifelt versuchten, ihre Stämme gegen die himmlische Kraft im Boden verankert zu lassen. Mit Schrecken erkannte Kishin, dass Hylia weder spielte noch sang. Der Blick ihrer Augen, die nun jede Farbigkeit verloren hatten, war unabwendbar dorthin gerichtet, wo die Monster zweifelhaften Schutz vor dem Unwetter gesucht hatten. Hylia kontrollierte den Sturm allein mit ihren Gedanken! Nachdem die Goldenen Göttinnen Kishin in die ihm anvertraute Welt gesetzt hatten, hatten sie ihm gesagt, dass er nur zu einem Teil seiner göttlichen Macht Zugang hatte. Dieser sollte ausreichen, seine Aufgaben als Schutzgottheit zu erfüllen. Jedoch hatten sie ihn gewarnt: Sollte er sich von heißglühendem Zorn überwältigen lassen, würde er damit eine Zerstörungswut entfesseln, die ganze Landstriche verwüsten konnte. Das zu verhindern gehörte ebenfalls zu jenen Aufgaben, die sie ihm aufgetragen hatten. Kishin hatte keinen Grund anzunehmen, dass die Schöpferinnen der Welten dies nur ihm eingeschärft hatten. Hylia war gerade drauf und dran, diese ungezügelte Urmacht der Götter freizusetzen. Das Wetter zu manipulieren, war ihre ursprünglichste göttliche Fähigkeit, für die sie die Lyra lediglich benutzte, um sie zu kanalisieren. Aber im Grunde brauchte sie keine Hilfsmittel. Eindringlich, ruhiger als zuvor, aber deutlich hörbar sprach Kishin: „Wenn dieser Sturm einmal besteht, wirst nicht einmal mehr du ihn aufhalten können, selbst wenn du es willst.“ Zwar wusste er nicht, ob das stimmte, aber irgendwie musste er an Hylias Vernunft appellieren, bevor sie etwas tat, das sie später garantiert bereuen würde. „Du verstehst das nicht“, wiederholte Hylia voll Leid und Zorn. Eine unheimliche Energie ging von ihr aus. „Sie haben so viele Menschen getötet und gefoltert. Es macht ihnen Spaß, sie leiden zu sehen. Sie haben es nicht anders verdient!“ Wolkenarme griffen sich drehend aus dem Himmel herab, bildeten eine Röhre, die in Richtung Erde wuchs. Inbrünstig sagte Kishin: „Du willst sie bestrafen, weil du wütend bist. Aber ist es das wert, den Wald mit zu zerstören? Und wahrscheinlich auch noch das, was darumliegt? Mit allem, was darin lebt, alle Tiere, die Vögel und auch die Menschen?“ Sein Geist war erfüllt von der Erinnerung an die Kuh im Erdloch, an das vom Blut ihres Vaters besudelte Mädchen. „Ich lasse nicht zu, dass du dich für so viel Leid und Tod verantwortlich machst!“ Endlich – endlich! – schien seine leidenschaftliche Rede Wirkung zu zeigen: Hylia hob den Blick hinauf über die Baumkronen, wo die schwarzgrauen Wolken mit schrecklichen Krallen nach dem Wald griffen – und plötzlich innehielten. Abscheu über das eigene Wirken erfasste Hylia, so stark, dass Kishin für einen Moment nur dieses Grauen wahrnahm. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Hylia in den verdüsterten Himmel. Kishin sah, wie diese ihr altes Aquamarinblau wieder annahmen, daher hinderte er sie nicht daran, als sie wieder auf der Lyra spielte. Diesmal war es ein Lied, das ihm sehr vertraut war; Hylia ließ es stets unter dem strahlend blauen Himmel des Urwaldes erklingen. Die Wolken lösten sich auf, sogar viel schneller, als sie aufgekommen waren, und gaben die Sonne wieder frei. Der Sturm flaute zu einer lauen Brise ab. Kaum hatte Hylia ihr Spiel beendet, entglitt das Instrument ihren Fingern. Die Göttin schwankte, brach zusammen. Sofort war Kishin zur Stelle, fing sie auf und lehnte sie vorsichtig gegen einen Baum, der durch die Nähe zum Auge des Wirbelsturms von diesem unversehrt geblieben war. Mit Sorge betrachtete Kishin das fahle Licht, zu dem Hylias Körperenergie geworden war. Warum war sie so geschwächt? Ihr elender Zustand konnte wohl kaum vom Erzeugen des Sturms herrühren, hatte sie diesen doch mit der Kraft erschaffen, die ihm ihr Zorn verliehen hatte. Das Wetter zu beeinflussen, war für Hylia ebenso Routine, wie Menschen zu heilen, daher war auch die Hilfe, die sie ihnen nach dem Angriff hatte zuteilwerden lassen, nicht schuld an ihrer Verfassung. Und den Himmel aufklaren zu lassen, hatte ihr nur den Rest gegeben. Kishin zählte die Hinweise zusammen und kam zu einer erschreckenden Erkenntnis. Der Grund für ihre Entkräftung lag zeitlich noch weiter zurück als der eben erst zurückgerufene Sturm: Die Barriere, mit der Hylia die Wildschweinmonster von dem Dorf fernhielt. Diese hatte die Göttin nicht nur aufgebaut, sondern auch stehengelassen. Damit sie nicht von Monstern zerstört wurde, speiste sie sie auch noch aus der Ferne mit Energie. Und diese eine, bei deren Erschaffung Kishin dabei gewesen war, war nicht die einzige; da gab es noch mehr, ältere. Hylia hatte ihre Erschöpfung hinter heller Ausgelassenheit verborgen, und Kishin hatte sich davon täuschen lassen. Jetzt kniete er neben Hylia, die seinem vorwurfsvollen Blick auswich, indem sie die Flügel ausgebreitet hatte, die nur noch aus vereinzelten Federn bestanden. Gedankenverloren flüsterte sie, mehr zu sich selbst: „Ich brauche neue Flügel …“ Sie zog die telekinetische Kraft zurück, sodass auch noch die letzten Federn herabfielen. „Wieviele von diesen Bannkreisen hast du erschaffen?“, fragte Kishin scharf. So, wie er sie kannte, musste mindestens jedes Dorf einen solchen haben. Wortlos schlug Hylia die Hände vors Gesicht und beantwortete Kishins Frage dadurch nur zu deutlich: Viel zu viele. Sie war den Menschen eine bessere Schutzpatronin, als diese ahnten, und eine weit bessere, als sie es verdienten. Gnadenlos forderte Kishin: „Du musste sie auflösen.“ „Und die Menschen?“, rief Hylia voll Verzweiflung. „Ich kann sie schon nicht vor Alter und Krankheit bewahren, da muss ich doch zumindest ihre Dörfer vor den Monstern schützen!“ Gerne hätte Kishin gesagt, dass ihm die Menschen herzlich egal waren, solange es nur ihr gutging, aber er besaß genug Taktgefühl, das nicht auszusprechen. Stattdessen entgegnete er: „Du kannst nicht ganz Herale mit diesen Kuppeln pflastern. Das muss ein Ende haben!“ „Ich schaffe das nicht allein“, sagte Hylia leise. Voll flehentlicher Hoffnung schaute sie auf. „Hilfst du mir dabei?“ Das Türkisblau ihrer Augen glühte dabei wie ein von der Sonne beschienener Aquamarin. Der Gott seufzte nur. Er gab Hylia die Lyra zurück, schob sachte die Arme unter ihre Knie und Schultern und hob sie vom Boden auf. So den Rückweg fortsetzend, sprach er bestimmt: „Ruh dich erst einmal aus.“ Verunsichert sah Hylia ihn an; es war ihr durchaus aufgefallen, dass Kishin auf ihre Bitte keine Antwort gegeben hatte. Aber im Moment war er alleine für sie da, und nichts anderes zählte mehr. Widerspruchslos kam sie seiner Aufforderung nach. Die goldene Lyra fest an sich gepresst, lehnte sie den Kopf an seine Schulter, schloss die Augen und ließ sich von ihm tragen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)