Hüll dein Herz von DragomirPrincess ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Heilige Scheiße!, zuckte es durch Lestrades Kopf. Seine Ohren rauschten noch von dem Schuss, der auf ihn abgegeben worden war, auch wenn das Piepen langsam an Lautstärke abnahm. Er lag am Boden und sein Blick wurde langsam klar. Keine fünf Meter entfernt lag der regungslose Körper auf dem Boden. Nein, es war nicht nur ein Schuss gewesen, wurden seine Erinnerungen langsam klar. Es waren zwei gewesen. Woher kam der zweite? Sein Kopf wollte sich nicht bewegen oder tat es zumindest in einer beinahe quälend langsamen Geschwindigkeit. Es war niemand dort. Es hatte zwei Schüsse gegeben, ganz sicher. Der Leichnam ihm gegenüber war der beste Beweis dafür. Hatte er selbst abgedrückt? Nein. Er hatte den Schuss, der auf ihn gerichtet gewesen war, gehört, bevor er den Mann gesehen hatte, den er in Ermangelung von Verstärkung alleine in diese Lagerhalle verfolgt hatte. Es war naiv gewesen, kam er doch gerade erst von der Polizeischule und hatte keinerlei Einsatzerfahrung, aber wenn er nicht gehandelt hätte, wäre er entkommen. Jetzt war er tot. Lestrades Hände zitterten. Hatte er gerade einen Mann getötet? Langsam tastete er nach der Waffe, öffnete das Magazin: Eine Patrone fehlte. Wieso konnte er sich nicht erinnern, dass er abgedrückt hatte? Wie war er überhaupt zu Boden gegangen? Wieso war er unverletzt geblieben, wenn der Mann doch auf ihn gewartet, auf ihn gezielt hatte? Er war nicht dumm genug, um zu glauben, dass er sich schneller als eine Kugel bewegen konnte. Er hob die Hand an seine Schulter. Sie schmerzte, ganz so als hätte ihn dort ein Schlag getroffen. Jemand hatte ihn gestoßen, nicht wahr? „Hallo?“, rief er mit zittriger Stimme in die leere Halle, doch nur sein eigenes Echo kehrte zu ihm zurück. Er war allein. Niemand hatte ihn gestoßen, aber wie hatte er dann einem Schuss ausweichen können, den er erst mit dem Klicken der Waffe bemerkt hatte? Der Schall bewegte sich ungefähr mit derselben Geschwindigkeit wie die Kugel einer 9mm, wenn nicht sogar schneller. Das hatte er zumindest in seiner Ausbildung irgendwann einmal gelesen. Er hätte von der Kugel also in dem Moment getroffen werden müssen, wo er den Schuss hörte. Und es handelte sich bei dem Täter um einen erfahrenen Schützen! Er hatte unmöglich daneben- „Lestrade?“, hörte er dann plötzlich eine bekannte Stimme nach ihm rufen und zuckte zusammen vor Schreck, als er taumelnd auf die Füße kam und dann seinen Chef in der Tür stehen sah. „Sir“, brachte er über die Lippen, seine Stimme zitterte noch immer. „Wir haben Schüsse gehört.“ Wie viel Zeit mochte seitdem vergangen sein? Es hatte sich wie Stunden angefühlt, während er unbewegt am Boden lag und seine Ohren rauschten. „Ja… ich…“, begann er verwirrt und wusste nicht einmal, was er sagen wollte. Ich habe geschossen? Hatte er das? Er konnte es nicht klar sagen. Scheinbar ja schon. Sein Blick zuckte über die Schulter zu dem Mann am Boden. Nur langsam wurde ihm klar, dass der Brustkorb des Mannes sich noch hob und senkte, langsam und gequält und rasselnd. „Ist… ist das der Verdächtige?“, kam die langsame Frage von Detective Inspector Barton vor ihm und dann ging plötzlich alles wieder sehr schnell, zu schnell, um es mit Lestrades benebelten Verstand alles wahrzunehmen. Er musste sich den Kopf angeschlagen haben. „Ruft einen Krankenwagen!“ Lestrade hatte nicht bemerkt, dass noch zwei weitere Constable mitgekommen waren, aber einer von ihnen alarmierte einen Krankenwagen, der andere eilte zu dem Mann am Boden und nahm ihm die Waffe aus der reglosen Hand. „Sir! Aus dieser Waffe wurden Schüsse abgefeuert!“ „Ihre Waffe, Constable Lestrade“, forderte sein Vorgesetzter dann von ihm und einen Moment sah Lestrade ihn unverständig an, bevor er die Hand mit der Dienstwaffe und dem Magazin langsam hob. Die Welt fühlte sich noch immer zu langsam für ihn an und gleichzeitig kamen Lestrades Gedanken einfach nicht hinterher, was hier geschehen war. „Ich habe ihn hierher verfolgt. Er wollte sich durch die Lagerhallen auf eines der Frachtschiffe schleichen.“ Sein Mund sprach, ohne dass seine Gedanken die Worte geformt hätten. „Er scheint mich bemerkt zu haben und schoss auf mich.“ Soweit wusste er noch, was passiert war. Danach war alles ein Chaos. War da ein Schatten gewesen? Sein Arm fühlte sich an als müsse da ein blauer Fleck entstehen, doch es war kein Blut am Ärmel seiner Uniform. Es war nicht die Folge eines Streifschusses, da war er sich sicher. Offensichtlich hatte er geschossen. „Ich muss Sie in Untersuchungshaft nehmen, Constable.“ Die Worte formten nur langsam einen Sinn in Lestrades Verstand. Offensichtlich zeichnete sich Unruhe auf seinem Gesicht ab, vielleicht sogar etwas wie Angst. „Keine Sorge, Junge.“ Eine starke Hand drückte seine Schulter, beruhigend. „Es war Notwehr. Es ist eine reine Formalität.“ Er sah ihn fest an, aber da war eine Freundlichkeit in seinem Blick, die Lestrade an seinem Vorgesetzten – einem Mann, den er noch keinen Monat kannte – schätzte. Sie sprach von Erfahrung und etwas, was ihn an den Vater erinnerte, den er schon so früh verloren hatte. Also nickte er und ein Lächeln formte sich auf dem Gesicht des älteren Mannes: „Sie haben gerade verhindert, dass ein mehrfacher Mörder entkommt und das mit einem Schuss, den ich nicht besser hätte platzieren können.“ Wann hatte er sich den Mann am Boden so genau angesehen? Und worauf sollte er überhaupt geschossen haben? Er konnte sich ja nicht einmal mehr an den Schuss erinnern, geschweige denn daran, dass er gezielt hätte. „Sie können stolz auf sich sein.“ Detective Inspector Gregory Lestrade betrachtete die bald fünfzehn Jahre alte Akte, die ihn immer wieder in seinen Träumen und Erinnerungen einholte. Es waren Schmauchspuren an seiner Hand gewesen und die Kugel in der Verletzung, die den Mann außer Gefecht gesetzt hatte, stammte aus seiner Waffe. Der Verdächtige war operiert worden und hatte überlebt. Keinen Monat später war er unter erdrückender Beweislast verurteilt worden. Detective Inspector Barton hatte, obwohl er es ohne Probleme hätte tun können, nicht den Ruhm für die Gefangennahme eingestrichen, sondern öffentlich Lestrades Beteiligung verkündet. Wahrscheinlich hatte er deshalb irgendeinen Rekord von Scotland Yard gebrochen, denn noch bevor seine Probezeit abgelaufen war, war er bereits zum Sergeant befördert worden, doch die Geschehnisse von jenem Tag ließen ihn bis heute nicht los. Irgendetwas an jenem Tag war seltsam, auch wenn er sich auch bis heute nicht klar an die Geschehnisse in der Lagerhalle erinnern konnte. Er hatte einmal versucht mit seiner Frau, damals noch Verlobten darüber zu sprechen, was dort geschehen war, aber er hatte keine Worte gefunden und sie hätte es wohl so oder so nicht verstanden, also waren diese Zweifel bis heute noch sein Geheimnis geblieben, das er mit niemandem geteilt hatte. In letzter Zeit ertappte er sich dabei, wie er darüber nachdachte, die Akte Sherlock Holmes zu geben, mit dem er jetzt seit einigen Wochen mehr oder minder freiwillig in Kontakt gekommen war, einfach um endlich Gewissheit zu erhalten, doch was sollte der Consulting Detective finden? Es war absolut klar, was passiert war. Es war nur der Schock, der Lestrades Gedanken so durcheinandergebracht haben musste. Immerhin hatte er zuvor immer nur auf Zielscheiben und menschliche Umrisse auf schwarzem Papier geschossen… Als hätten seine Gedanken ihn beschworen, wurde die Tür seines Büros ohne ein vorheriges Klopfen geöffnet und Sherlock Holmes betrat den Raum. „Lestrade, Sie müssen jemanden für mich festnehmen!“, forderte er ohne weitere Erklärungen von ihm und der Inspector konnte nicht verhindern, dass diese kleine Ader an seiner Stirn ein wenig zuckte. Ein weiteres Haar musste sich auf seinem Kopf in diesem Moment grau färben, wie es seit ihrer ersten Begegnung wohl immer wieder passierte. Sherlock Holmes war möglicher Weise der unsympathischste Mensch, den er je getroffen hatte und das musste etwas heißen, denn immerhin ermittelte er gegen Schwerverbrecher und Mörder. Und er war definitiv der Grund dafür, dass seine Haare grau wurden! Sherlock war ein junger Mann, wohl in seinen Dreißigern, obwohl es unmöglich erschien zu sagen, ob es seine frühen oder späten Dreißiger waren. Manchmal schien er keinen Tag älter als 29 und dann wirkte er doch zugleich wieder älter als die faltenfreie Haut zu glauben erlaubte. Er hatte schwarze Locken und so hohe Wangenknochen, dass Lestrade manchmal an Marmorbüsten aus vergangener Zeit denken musste, so wie sich die helle Haut über ihnen spannte. Er war auf vollkommen objektive Art und Weise schön und er hätte sich wahrscheinlich auch auf Hochglanzseiten von Modemagazinen ablichten lassen und als Schauspieler seine Millionen machen können, wenn da nicht sein unausstehlicher Charakter und diese absurde Obsession mit Kriminalfällen gewesen wäre. Diese Obsession war im Übrigen wohl auch der Grund für die absolut absurde Idee, sich nach dem Hauptcharakter einer Krimireihe aus dem 19. Jahrhundert zu benennen. Es war Donovan gewesen, die bei ihrem ersten Aufeinandertreffen danach gefragt hatte, hin- und hergerissen zwischen Faszination und Abscheu, wie er in ihrem Blick hatte bemerken können. Sherlock hatte gegrinst und gemeint, dass er eigentlich William hieße, aber dass ihm schon als Kind die Erzählungen von Arthur Conan Doyle so gut gefallen hätten, dass er sich geweigert habe, auf einen anderen Namen zu reagieren. Dass sein Nachname dazu so gut passte, sei ein absoluter Zufall gewesen. Sherlock Holmes konnte, ganz ähnlich wie sein literarisches Vorbild, mit einem Blick eine ganze Lebensgeschichte erfassen und erkannte einen Mörder daran, wie er seine Schuhe zuband, aber das Problem war, dass er nie den Mund darüber halten konnte, was er beobachtete. So auch jetzt. „Sie beschäftigt etwas und das ist weder ein neuer Fall noch die Tatsache, dass ihre Frau sich hinter ihrem Rücken mit einem anderen Mann trifft“, deduzierte er nach einem einzigen Blick. „Geht es um die Akte aus den späten 90er Jahren, die Sie gerade unter den Dokumenten vor mir verstecken wollen? Lestrade hätte ungehalten über das ungefragte Eintreten reagieren können, wäre er in diesem Moment nicht damit beschäftigt gewesen, die Worte zu verarbeiten. Seine Augen weiteten sich ein wenig und er setzte an zu widersprechen, wusste es nicht besser: „Was reden Sie da? Meine Frau ist mit Freundinnen auf einer Wellnessreise am Meer!“ „Sicherlich ist sie das“, versicherte Sherlock ihm, aber da war etwas so Wissendes in seinen Augen, dass Lestrade beinahe schlecht wurde. „Wie auch immer“, wechselte der junge Mann das Thema. „Gestern Nacht wurde jemand in der Themse versenkt. Sie werden seinen Leichnam in etwa zwei Tagen in der Nähe von Southend aus dem Wasser ziehen und glauben, dass er bei einem schrecklichen Unfall ertrunken ist. Sie irren sich und es war auch nicht seine Verlobte, die erfahren hat, dass er mit seiner Sekretärin eine Tochter hat, die er seit Jahren vor ihr versteckt, sollten sie die Spuren der offensichtlichen Gewalttat doch an ihm finden. Es war sein Bruder, der seit Jahren unter krankhafter Spielsucht leidet und ihn in einem Moment blinder Wut ermordet hat. Er wird allerdings in weniger als drei Tagen das Land verlassen und hat nicht vor von der Rückfahrkarte Gebrauch zu machen, die er gekauft hat. Also nehmen sie ihn bitte vorher fest.“ Lestrade starrte ihn perplex an. Mal von der Tatsache abgesehen, dass die Worte über seine Frau noch alles andere als vergessen waren, war diese Erklärung absolut lächerlich! Es gab noch nicht einmal eine Leiche und Sherlock wollte bereits den Mörder kennen?! Gut, in den letzten beiden Fällen hatte er sich als durchaus nützlich erwiesen, auch wenn er unerlaubt an Tatorten aufgetaucht und Beweise zurückgehalten hatte, aber da hatte es zumindest Opfer und Tatorte gegeben. Hier gab es überhaupt keinen Fall! Er weigerte sich in diesem Satz ein ‚noch‘ zu ergänzen. Scheinbar erwartete Sherlock keine Antwort, denn noch bevor der Inspector eine formuliert hatte, in der nicht die Worte absolut wahnsinnig oder gleichbedeutende Synonyme ihren Platz fanden, hatte er auf dem Absatz kehrt gemacht und war zur Tür zurückgekehrt, wo er jedoch noch einmal innehielt. „Sagen Sie ihm doch bitte von mir, dass er seine Nase in seine eigenen Angelegenheiten stecken möge und mich in Ruhe lassen.“ Damit war er gegangen und Lestrade blieb noch sprachloser als zuvor zurück. Wem sollte er was sagen? Und wieso verdammt nochmal?! Er fluchte unschön und fragte sich, warum er zugelassen hatte, dass der jüngere Mann ihm so auf der Nase herumtanzte, ohne ein Wort zu sagen. Noch bevor er wieder auf seinem Stuhl Platz genommen hatte – Wann war er überhaupt aufgestanden? –, um seine Gedanken zu ordnen, klingelte sein Bürotelefon und Lestrade knurrte einmal genervt, bevor er tief Luft holte, um sich zu beruhigen, und abhob. „Scotland Yard. Detecitve Inspector Lestrade am Apparat?“, ging er so ruhig wie möglich ran und zwang sich seine Wut nicht an, wer auch immer die Hilfe Scotland Yards suchte, auszulassen. „In zehn Minuten wird Sie ein Wagen abholen“, war die ‚Begrüßung‘, die er erhielt. „Wie bitte?“ Lestrade zwang sich, das nicht für einen dummen Telefonstreich zu halten und einfach aufzulegen. Er hatte wirklich keinen Nerv für so etwas. „Ich wiederhole mich nur ungern. Bitte steigen Sie in zehn Minuten in den Wagen, der vor Scotland Yard auf sie wartet.“ Dann war die Leitung tot. Weshalb er tatsächlich auf eine Stimme hörte, die sich ihm nicht einmal vorgestellt hatte, konnte der Inspector selbst nicht sagen, aber ihn hatte eine gewisse Unruhe getrieben, die vermutlich mit der Tatsache in Verbindung stand, dass ihn die Frage nach Sherlocks Andeutungen bezüglich seiner Frau nicht losließ, doch als tatsächlich ein Wagen vor dem Haupteingang hielt, genau zehn Minuten nach besagten Anruf, hatte er den Kloß in seinem Hals runtergeschluckt, seine Sachen – inklusive seiner Waffe, man konnte ja nie wissen – mitgenommen und das Büro verlassen. Er hatte seine Gedanken so oder so nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren können. Stimmte, was Sherlock gesagt hatte? Ging seine Frau ihm wirklich fremd? Nein, das war absolut undenkbar. Hatte er es dann nur gesagt, um ihn zu verärgern? Ja, das passte zu dem Mann, den er in Sherlock Holmes kennengelernt hatte. Der Wagen war ehrlich gesagt eher eine Limousine und entsprechend wurde ihm die hintere und nicht die vordere Tür geöffnet, von einem Mann der gefährlich wie ein persönlicher Fahrer aussah. Im Inneren saß eine junge Frau, die jedoch nicht von ihrem Mobiltelefon aufblickte. Lestrade überdachte sein Hiersein noch einmal. Das war ihm alles doch etwas zu seltsam. „Bitte steigen Sie ein, Inspector. Er wartet nur sehr ungern.“ „Wer?“, fragte er langsam und stieg gegen seinen Entschluss doch langsam ein, zog die Tür hinter sich zu. „Er wird sich ihnen sicherlich selbst vorstellen wollen.“ Lestrade wollte schon wieder aussteigen, doch der Wagen war bereits losgefahren. Er verzog das Gesicht, ballte die Hand zur Faust und legte die Hand, verdeckt von seiner Jacke, auf das Pistolenhalfter, einfach nur um sicherzugehen. „Worum geht es hierbei?“, versuchte er noch einmal mehr Informationen zu bekommen, aber bekam keine Antwort. Die Falte auf seiner Stirn wurde noch ein wenig tiefer, gab sich aber nicht die Blöße, noch einmal nachzufragen. Die Fahrt war nicht lang. Sie waren definitiv noch in London, doch er hatte nicht auf die vorbeiziehenden Straßen geachtet, was er jetzt bereute. „Wo sind wird?“ Die Tür wurde geöffnet und offenbarte den Eingang zu einem Gebäude, das wohl einem jeden Londoner bekannt war, das aber nahezu keiner je betreten hatte: Die marmornen Stufen, die zur Tür des Diogenes Club führten. Lestrades Augenbrauen verschwanden unter seinem Haaransatz. „Bitte steigen Sie aus, Mr. Lestrade. Im Inneren werden Sie einen Empfangstisch vorfinden, gehen Sie einfach daran vorbei und wenden Sie sich nach rechts. Ihr Kommen ist angekündigt. Sie stehen dann direkt vor dem Besucherraum. Er wartet dort auf Sie.“ Die junge Frau erklärte es mit einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, als wäre das hier nicht ein Club für Stars, Politiker und Menschen, die mehr Geld hatten als er in einem Jahr verdiente, und hatte offensichtlich nicht vor, ihn zu begleiten. Das gefiel ihm alles immer weniger, aber zumindest würde ihm darin wohl kaum erschossen werden, richtig? Greg stieg langsam aus und bevor er sich versah, fuhr der Wagen hinter ihm weg. Skeptisch folgte er ihm mit dem Blick. Er könnte einfach gehen und keinem würde es jemals auffallen, aber in gewisser Weise war er wohl einfach zu neugierig, vielleicht eine Berufskrankheit. Er stieg die Stufen nach oben, 8 Stück, er hatte mal gelesen, dass sie für Ordnung und Disziplin stehen sollten, auch wenn er absolut keine Ahnung hatte, weshalb das so sein sollte. Er betrachtete die schwere Tür aus dem dunklen Holz, daneben das goldene Schild, auf dem der Name dieses Gebäudes stand, und fragte sich, was er hier eigentlich tat. Er trug ein Hemd, das er schon dreimal angehabt hatte, war sich durchaus bewusst über die Ketchupflecken am oberen Kragen, eine Hose, die er auch langsam ersetzen müsste und Schuhe, mit denen er am Morgen noch auf einer schlammigen Wiese einen Tatort begutachtet hatte. Er bezweifelte, dass er auch nur halbwegs angemessen aussah, um diesen Ort zu betreten und zuckte doch nur mit den Schultern, bevor er die goldene Türklinke absenkte und die Tür aufschob. Ein elektrischer Mechanismus griff ein und Lestrade bezweifelte, dass er das glänzende Gold überhaupt hätte berühren sollen. Das Innere des Gebäudes war noch prunkvoller als der viktorianische Bau es von außen war, roter Teppich, helle Wände und Säulen, Wandteppiche, goldene Kronleuchter und dunkle Holzmöbel. Lestrades Augenbrauen blieben an seinem Haaransatz kleben. Nach links öffnete sich hinter einem Säulenpaar ein großer Raum voller Sessel und kleiner Tische, an ihnen Männer in teuren Anzügen mit teuren Getränken und Zeitungen. Keiner unterhielt sich und niemand beachtete Greg auch nur. Sie alle schienen vollkommen aneinander vorbei zu existieren. Sein Blick wanderte weiter zum Empfangstresen, ein Mann mit mindestens genauso teurem Anzug wie die Gäste im Saal musterte ihn pikiert, sagte aber nichts. Über seinem Kopf bat ein goldenes Schild um Ruhe. Er überlegte, ob er den Mann ansprechen sollte, aber der Empfangsherr blickte bereits wieder nach unten auf ein großes Buch und so folgte Lestrade mit einem kurzen inneren Schulterzucken dem Rat der Frau aus dem Auto, ging am Tresen vorbei und wandte sich der Tür zu. Ein weiteres goldenes Schild zierte dunkles Holz und verkündete den Zweck des Raumes, ‚Besucherzimmer‘. Ohne weiter zu zögern, öffnete er die Tür und trat ein. Von seiner Größe einmal abgesehen, unterschied sich der Raum nicht vom Eingangsbereich oder dem Saal mit den hohen Fenstern und Kaminen. Es gab auch hier Sessel, wenn auch nur genug für maximal vier Personen. Einer der Stühle war besetzt. Greg traf den Blick des dort wartenden Mannes selbstbewusst und musterte ihn. War er derjenige, der ihn angerufen hatte? Er trug einen dunklen Nadelstreifenanzug, vermutlich einen Dreiteiler, ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Seine Schuhe sahen aus als würden sie etwa soviel kosten wie er monatlich für die Miete der gemeinsamen Wohnung ausgab und eine goldene Kette, die wohl zu einer Taschenuhr gehörte, verschwand unter dem dunklen Stoff. Wahrscheinlich würde dieser Mann sogar Manschettenknöpfe tragen, die zu ihr passten, auch wenn seine Handgelenke unter dem Jackett nicht sichtbar waren. Seine Haare waren bereits ein wenig zurückgegangen, aber in ihrer roten Farbe fein geordnet und das Gesicht, das keine Miene verzog, zeigte keine Züge des Alters, das seine Haare andeuten mochten. Lestrade fielen sofort die wissenden, erstaunlich blauen Augen auf und für einen kurzen Moment schien er sie zu kennen, aber er musste sich irren, denn Gregory Lestrade hatte diesen Mann noch nie in seinem Leben gesehen. „Setzen Sie sich, Inspector.“ Greg blieb stehen und betrachtete sein Gegenüber weiter. „Wer sind Sie? Weshalb bin ich hier?“, fragte er unverblümt, angespannt, so wie schon die ganze Zeit seit Sherlock in seinem Büro aufgetaucht war. „Möchten Sie einen Tee trinken?“, wurde ihm statt einer Antwort angeboten. „Nein, danke. Ich möchte eigentlich nur nach Hause und mit meiner Frau telefonieren, wenn Sie also nichts zu sagen haben…“ Der Blick des fremden Mannes zuckte kurz zu seiner Hand und wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er ein Gefühl der Verletztheit in den blauen Augen zu sehen geglaubt, als er dort den Ring sah? Für einen winzigen Moment hatte er dieses unerklärliche Gefühl eines Deja-vus, doch es war fort, bevor er es hätte greifen können, genauso wie diese Gefühlsregung, die er zu sehen gemeint hatte. Lestrade riss sich von dem Gedanken los und beschloss zu gehen. Er hatte genug von diesen Spielchen. „Mein Name ist Mycroft Holmes“, bekam er dann plötzlich doch eine Antwort und der Inspector wäre fast über seine eigenen Füße gestolpert. Er hatte die Sherlock-Holmes-Bücher nie selbst gelesen, deshalb war es wohl nicht der Vorname, über den er stolperte. Die Tatsache, dass er hier einen Verwandten von Sherlock vor sich hatte, reichte dafür vollkommen aus. „Mein einziges Interesse besteht darin, ein wachsames Auge auf meinen Bruder und die Menschen, mit denen er in Kontakt kommt, zu werfen. Offensichtlich sind Sie seine neueste Wahl, was Kontakte zu Scotland Yard angeht.“ Es klang so ein Missfallen in seiner Stimme mit, dass Greg sich doch irgendwie beleidigt fühlte. Offensichtlich stimme Mycroft Holmes der Wahl seines Bruders nicht zu, was auch immer das bedeuten sollte. In jedem Fall schien es ihn in ein schlechtes Licht zu stellen und das gefiel ihm ganz und gar nicht. „Wie haben Sie ihn getroffen? Was hat er Ihnen erzählt? Ich gehe davon aus, dass Sie das meiste, was er sagt, ohnehin nicht verstehen würden, aber es ist äußerst wichtig für mich, es zu erfahren. Von den offensichtlichen Dingen wie Ihrer Verbissenheit, was Ihre Fälle angeht, Ihren Gerechtigkeitssinn und die Treue Ihren Freunden und Kollegen gegenüber, die er sicherlich deduziert und ihnen vorgehalten hat, einmal abgesehen. Ich interessiere mich auch nicht dafür, dass Sie beinahe zwanghaft die Lautstärke Ihres Radios auf Zahlen einstellen, die sich durch fünf teilen lassen oder dass Sie sich jede Woche mit ihren Mitschülern von der Polizeischule treffen, obwohl sie keinen davon wirklich leiden können und dabei häufig mehr als ein Bier über den Durst trinken. Ah ... und an Ihrer Veranlagung dazu in Partnerschaften einzutreten, die nicht funktionieren können, ebenfalls nicht.“ Er schnalzte kurz mit der Zunge, dann schien er seine Beobachtungen abgeschlossen zu haben und setzte erneut an. „Ich habe gerne ein Auge auf meinen Bruder, aber er hat mich nur ungern in seiner Nähe. Unsere Beziehung ist alles in allem ziemlich schwierig. Wenn Sie bereit wären, mir regelmäßig darüber Bericht zu erstatten, würde sich das sicherlich für Sie lohnen. Ich weiß, dass die Wohnung in der North Gower Street, die Sie bewohnen, alles andere als günstig ist und große Teile ihres Gehalts verschlingt. Immerhin ist ihre Frau nicht berufstätig.“ Greg hatte das Gefühl, dass sein Blutdruck mit jedem weiteren Wort so stark angestiegen war, als einer Beleidigung die nächste folgte, dass seine Adern jetzt kurz vor dem Platzen stehen mussten. Er konnte ihn in jedem Fall deutlich in seinen Ohren rauschen hören. Er hatte keinen Nerv für noch einen von der Sorte, denn all das hatte ihm Sherlock tatsächlich in den letzten Wochen über sich selbst erzählen können, und der Gedanke, dass der Mann vor ihm in Erfahrung gebracht hatte, wo er wohnte, was er bezahlte und wie viel er verdiente, nur um ihn bestechen zu wollen, brachte das Glas zum Überlaufen. Mit einem Schlag kochte die Anspannung des Tages einfach in ihm über. „Jetzt hören Sie mal, Mr. Holmes!“ – Er betonte den Namen ein wenig mehr als nötig – „Wenn Sie nicht wollen, dass ihr Bruder mit mir redet, sagen Sie das ihm! Ich habe kein Interesse daran, ihn an meinen Tatorten zu haben und mir erzählen zu lassen, dass irgendwelche Leichen, die wir noch gar nicht gefunden haben, von sonst wem ermordet wurden! Ich habe kein Interesse daran, Ihnen zu berichten, was Ihr Bruder tut oder nicht tut! Stecken Sie sich Ihr Geld sonst wohin und rufen Sie mich nie wieder an!“ Er war immer lauter geworden und er war sich sicher, dass es durch die Tür auch nach draußen gedrungen war, aber das war ihm egal. Er konnte den Mann vor sich jetzt schon nicht leiden und er kannte ihn noch keine zehn Minuten! Mit wütenden Schritten machte Lestrade kehrt und schlug die Tür hinter sich so laut in die Angeln, dass das Goldschild daran klirrend zu Boden fiel. Er marschierte zur Tür, sah dabei jeden, der ihn anblickte zornig an und hatte sich auch noch nicht beruhigt, als er den ganzen Weg zu seiner Wohnung zu fuß zurückgelegt hatte. Wenn es nach ihm ging, würde er keinen der Holmes-Brüder je wiedersehen müssen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)