Zum Inhalt der Seite

Wiedervereint

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Mit klopfendem Herzen trat Ryu vor die Tür seiner Wohnung. Normalerweise wäre so ein Geschenk ein Klacks gewesen – wer den magischen Künsten kundig war, der konnte Dinge auch aus dem Nichts herbeizaubern. Dieses Mal jedoch war es anders: Er wollte mit seinem eigenen Schweiß, seinen eigenen Händen, etwas erschaffen. Es musste außerdem perfekt sein, war es doch für jemanden, den er so sehr liebte. Lächelnd strich er über den geflochtenen Bastkorb, in dem sich sein Werk befand. Er hatte sich mehrmals die Finger verbrannt, und seine Küche sah aus wie ein einziges Schlachtfeld. Dann war da noch die Geschichte mit den anderen Geschenken – weitere Zeichen von Zuneigung.
 

Mit einem Schlenker seiner linken Hand verriegelte sich die Tür und er stieg die Treppe hinab, hinaus auf die lebendige Straße der Stadt, in der er wohnte. Die Sonne würde bald untergehen, und er war sich sicher, dass sie genau am Horizont stand, wenn er ihr seine Geschenke überreichte. Ein malerisches Bild. Ein Blick auf seine Uhr verriet aber, dass er sich sputen musste. Er hatte schon viel zu lange getrödelt. Eigentlich blieben ihm nur mehr zwanzig Minuten. Zeit ein wenig zu tricksen.
 

Hastig lief er in eine der unzähligen, spärlich beleuchteten, dunklen Seitengassen der Stadt. Seine Eltern hatten ihn Ryu getauft, ein passender Name. „Wenn du nur nicht immer so unpünktlich wärst“, ging es dem Schwarzhaarigen mit der kurzen Frisur durch den Kopf. Das hatte sie schon öfter bemängelt. Heute würde er es aber schaffen. Ganz sicher! Er prüfte noch einmal kurz, ob der Bastkorb an seiner Hand gut hielt und dicht war, bevor er sich konzentrierte.
 

Langsam brach seine Haut im Halbdunkel der schattigen Gasse auf. Weiße Schuppen ersetzten das schwache, menschliche Fleisch. Vogelartige Krallen umschlossen nun den Griff des Bastkorbes, während sich die Haare langsam über den Rücken des schlangenartigen Wesens spannten. Zwei Hörner wuchsen Ryu aus dem Schädel. Sie bogen sich zum Ende hin ein wenig nach innen. Mit dem schwarzen Haarbüschel am Schweif, und den zwei langen, weißen Barthaaren, komplettierte sich das Bild des Drachen. Er wollte sie heute so überraschen, und ihr die Wahrheit sagen, oder vielmehr zeigen.
 

Mit einem kraftvollen Sprung schraubte sich der Drache in die Luft, und stieg über die Dächer der Stadt. Die ersten Straßenlaternen gingen an, denn es dämmerte bereits. „Jetzt aber schnell“, ermahnte sich der junge Drache und flog davon. Auf dem Weg zum verabredeten Treffpunkt gingen ihm ein Dutzend Gedanken durch den Kopf. „Wird es ihr gefallen? Sitzen meine Haare auch richtig? War seine Kleidung sauber?“ Gedankenverloren schwebte Ryu über die Stadt hinweg, ließ rauchende Schornsteine, genauso wie das Lichtmeer der Autos und Laternen, und die Geräuschkulisse der Metropole hinter sich. Wie würde sie reagieren?
 

Bemüht leise und vorsichtig landete der junge Drache auf dem Dach des kleinen Schreines, den man genau in die Mitte eines Sees gebaut hatte. Stumm wob er den Zauber, der diesen Ort für heute unauffindbar machen würde. Alle waren ausgeschlossen, nur sie nicht. War sie schon da? „Asami, wo bleibst du?“, schnaubte Ryu unruhig. Das Boot war noch nicht da. Ein Blick in die Ferne zeigte, dass es noch unberührt am Ufer des Sees dümpelte. Wo war sie denn schon wieder? War ihr etwas passiert?
 

Gerade, als er besorgt losfliegen wollte, regte sich etwas in der Nähe. Ein weiterer, zielsicherer Blick genügte, um die Frau zu erspähen, und Ryu ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Sie war so wunderschön, mit ihren langen, schwarzen Haaren, der blassen Haut und der süßen Stupsnase. Wie ein zum Leben erwachtes Porzellanpüppchen. Kein Wunder, dass er sich in sie verliebt hatte.
 

Ein wenig ängstlich stieg die junge Frau ins Boot, welches, wie von Geisterhand, zum Schrein hinüberfuhr. Sie hielt sich energisch am Rand fest. „Hätte ich sie selbst rudern lassen sollen?“, fragte sich Ryu. Es war zu spät, und die Geste lieb gemeint. Heute, da sollte sich Asami nicht plagen müssen. Heute war ihr Tag. Ein hastiger Blick zum Bastkorb verriet ihm, dass dieser unter dem Flug nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Nun galt es nur noch herauszufinden, ob Asami Freude an ihren Geschenken finden würde, oder nicht.
 

Das Mädchen konnte den Drachen auf dem Schreindach nicht sehen. Dafür hatte er gesorgt. Er wollte zuerst ihre Reaktion austesten. Wie von Geisterhand erschienen im See Lotusblüten, deren Herz von einer schwachen, magischen Flamme erhellt wurde. Der Schrein war nun in ein Lichtermeer von hunderten dieser kleinen Fackeln getaucht. Auch wenn Asami mulmig zu Mute war, so fühlte sie sich sicher, geborgen. Wie Ryu es geschafft hatte, dieses Zauberstück auf die Reihe zu bekommen, war ihr ein Rätsel. Für sie, als Medizinstudentin, war Magie, genauso wie Drachen und andere Legenden, einfach nur Mummenschatz.
 

Vorsichtig stieg Asami aus dem Boot und betrat die weißen Pflastersteine, die hell glitzerten, und das schwache Licht der Sonne reflektierten, die die ganze Szene in ein zartes Rot tauchte. „Ryu? Wo bist du?“ rief sie, und sah sich um. Hier war weit und breit kein Mensch. „Ryu?“, rief sie noch einmal, ungeduldiger diesmal. Nichts. Genervt schob sie die Unterlippe ein wenig nach vorne, was ihren unsichtbaren Beobachter noch ein wenig breiter lächeln ließ. Das tat sie meist nur, wenn sie etwas wirklich nervte, oder sie verunsichert war.
 

Langsam ließ Ryu den Bastkorb nach unten schweben. Wie von Geisterhand landete er vor Asami, die mit großen Augen auf das vermeintliche Geschenk starrte. Was hatte er sich nur für Mühe gegeben? Der Ärger von vorhin war verflogen. Lächelnd bückte sie sich und wollte schon an dem Faden ziehen, den sie um den Griff herum vermutete, als ihre Hand ins Leere fuhr. Da war kein Faden, auch sonst kein Hilfsmittel – komisch. „Spinner“, murmelte sie glucksend und öffnete den Korb. Er enthielt eine kleine, herzförmige, weiße Schachtel, nebst einem Strauß Feuerlilien, und einer kleinen, blauen Box.
 

Sie liebte diese Blumen, das wusste er. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, freute sie sich auch. Als sie die erste Praline kostete, die er selbst gemacht hatte, lächelte sie ein wenig breiter. Beides waren übliche Geschenke. Hatte sie ihm nicht auch einst Schokolade geschenkt? Das war viele Jahre her. Ryu hatte sie aber nie aus den Augen verloren. Nach der Schule waren sie getrennte Wege gegangen. Sie hatten sich trennen müssen – es war zu gefährlich gewesen. Heute würde er diesen Fehler wiedergutmachen.
 

Asami öffnete neugierig die blaue Box. Sie enthielt einen kleinen Armreif, in den etwas eingraviert worden war: „Für Asami, in Liebe, Ryu.“ Um den Armreif wand sich ein kleiner Drache, der, wie Asami fand, sie fast schon ein wenig liebevoll anstarrte. „Aaah Ryu, du mit deinen Drachen immer“, lächelte sie und probierte das Schmuckstück: Es passte wie angegossen. Wie konnte das sein? Nach all den Jahren? Ihr letztes Treffen lag weit in der Vergangenheit. Es wirkte schon fast, wie in einem anderen Leben. Doch auch sie hatte nie aufgehört, an ihn zu denken. Ryu war ihre erste große Liebe gewesen. Es folgten einige, eher belanglose Beziehungen. Sie hatte nie verstanden, warum er plötzlich verschwunden war. Am Anfang war sie ihm böse gewesen, doch jetzt, etwas älter und reifer, da war sich Asami sicher, dass er einen Grund gehabt haben musste.
 

„Gefällt er dir?“, riss eine vertraute Stimme die Schwarzhaarige aus ihren Gedanken. Sie schien von überallher zu kommen, und doch von nirgends. „Ryu? Bist du das wirklich?“, fragte sie nun mit klopfendem Herzen. Wo war er denn? „Asami“, fuhr die Stimme fort, „es ist nun fünf Jahre her, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es verging kein Tag, an dem ich dich nicht vermisst habe.“ Die Frau schüttelte den Kopf: „Warum bist du denn überhaupt gegangen? Du warst wie vom Erdboden verschluckt!“ Natürlich war er das gewesen. Dort wo er hinging, konnte ihm Asami nicht folgen.
 

„Weil ich musste, Asami. Hätte es einen anderen Weg gegeben, ich wäre bei dir geblieben.“ Ryus Stimme klang traurig, fast schon ein wenig brüchig. Er hätte ihr viel früher von allem erzählen sollen. Sie waren Freunde seit Kindertagen gewesen. Asami war wie eine kleine Schwester gewesen, und irgendwann mehr. „Ryu, zeig dich endlich!“, versuchte sie erneut, ihren Freund dazu zu bewegen, sich zu offenbaren. „Asami? Erinnerst du dich an unser Gespräch im Garten vor dem Haus meiner Eltern?“, wollte der junge Drache wissen. Natürlich erinnerte sie sich daran. „Als ich dir erzählt habe, ich träume manchmal davon, zaubern zu können, fliegen zu können?“ Asami hatte das damals als Laune abgetan. Ryu war eben immer schon ein Träumer gewesen. „Was, wenn das stimmt? Wenn ich wirklich fliegen könnte?“
 

Die Frau lachte leise. „Du Träumer. Los, zeig dich endlich, damit ich dich in die Arme schließen kann.“ Vorsichtig löste der junge Drache den Zauber, und glitt fast schon lautlos auf den Boden. Er senkte sein Haupt ein wenig und streckte es ihr entgegen. Asami war bemüht, nicht laut loszuschreien. „Wie, was?“, begann sie, wurde aber mit einem sanften Stupsen seitens des Drachen unterbrochen. „Asami, es gibt sie, diese Legenden und Mythen. Sie sind wahr. Genauso wie ich real bin, genauso wie du real bist.“
 

Die Haut des Drachen fühlte sich fein, weich und warm an. Im Gegenzug genoss er die Berührung ihrer Finger, die, wie aus Gewohnheit heraus, begannen, ihn an der Stirnpartie vorsichtig zu streicheln. Das schien wirklich Ryu zu sein, ihr Ryu. „Es tut mir leid, dass ich nicht da war, dich zu beschützen. Glaube mir, es verging kein Tag, an dem ich nicht über dich gewacht habe, aber ich durfte nicht eingreifen.“ Er durfte es auch heute noch nicht, genaugenommen, doch Regeln waren dazu da, um gebogen zu werden.
 

Asami verstand die Welt nicht mehr. Ihr ehemaliger Freund, der Junge, mit dem sie bereits im Sandkasten gespielt hatte, ein Drache? Legenden und Mythen, die der Realität entsprachen? Das wirkte alles so irrational, und doch – er stand vor ihr, leibhaftig. Vorsichtig legte sie ihre Hände an die Schläfen des Drachen und sah ihm tief in die Augen. Tatsächlich, diesen Blick, seine grünen Iriden, sie würde beides überall wiedererkennen. Er hatte noch immer diesen unschuldigen, verletzlichen Ausdruck in seinen Augen. „Ryu“, hauchte Asami leise, und legte ihre Stirn an die des Drachen.
 

„Ich habe dich vermisst“, gab er leise zu und schmiegte sich an sie. Wie oft hatte er sich ihre Nähe gewünscht? Wie oft war er dagesessen, und hatte einfach nur mit einem Lächeln an sie gedacht? Asami, die Liebe seines Lebens. Endlich waren sie wieder eins. Unter ihren Fingern, die langsam ihren Halt verloren, verwandelte er sich wieder in einen Menschen. Sein rot-schwarz kariertes Hemd saß ein wenig unordentlich, die schwarze Jeans war ihm ein wenig zu kurz, und Asami war sich sicher, dass er das schwarze Shirt, welches unter dem Hemd hervorlugte, vom Vortag war, doch seine Bedenken waren unbegründet gewesen: Sie liebte ihn, wie am ersten Tag. Schmunzelnd zupfte sie Ryus Kragen zurecht: „Gegen früher, wo du nur in Tanktop und Jogginghose herumgestreunert bist, ist das eine echte Verbesserung.“ Er konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Nach all den Jahren hatte Asami noch immer nicht ihren Humor verloren. „Verstehst du jetzt, warum ich mich manchmal so komisch verhalten habe?“ Die Schwarzhaarige nickte. Das erklärte einiges.
 

Sanft griff er nach ihren Händen und bettete sie in den seinen. So standen sie da und sahen sich in die Augen. Die grünen Iriden trafen auf ihren schwarzen Counterpart und holten nach, was sie in den letzten Jahren verabsäumt hatten. Langsam beugte sich Ryu nach vorne und legte seine Lippen auf die von Asami. Sie waren so unfassbar weich und zart. Für einen kurzen Moment stand die Zeit um die beiden still. Der aufgegangene Mond, in Verbindung mit dem Lichtermeer an Lotusblumen, tauchte die Szene in ein wunderschönes Licht. Es fühlte sich an, als wäre er nie weggewesen. Das hatte Asami so vermisst: Dieses Gefühl der Richtigkeit, der Liebe.
 

„Ich habe dich auch vermisst“, hauchte sie leise, als sich ihre Lippen trennten, und sie ihren Kopf an seine Brust schmiegte. Zärtlich strich er ihr durchs Haar: „Dieses Mal bleibe ich auch, sofern du noch möchtest.“ Ihre Lippen zuckten ein wenig, als sie die Augen schloss. „Dummkopf, warum wäre ich sonst wohl hier?“ Ryu lächelte amüsiert: „Dein freches Mundwerk habe ich aber nicht vermisst.“ Dafür kassierte er einen Hieb gegen die Schulter.
 

„Wie waren die Pralinen?“, wollte er wissen. Seine Mühen und Verwundungen sollten sich schließlich auch ausgezahlt haben. „Mh, geht so“, neckte sie ihn, der sich dafür mit einem Kuss in ihre Haare revanchierte. „Ich liebe dich“, hauchte er und schloss die Augen. „Ich dich auch, Ryu“, antwortete sie, und beide hielten sich fest.
 

Was die Liebe verbindet, konnten auch Götter nicht trennen. Das hatte Ryu verstanden – Asami war wichtiger, als Ansehen und Aufgaben in der magischen Welt. Sie standen noch Stunden so da, oder waren es nur Minuten gewesen? Die Zeit war bedeutungslos geworden, denn beide hatten sich wiedergefunden. Das war es, was zählte. Sie waren, sie sind, und sie würden sein, bis in alle Ewigkeit. Liebe war etwas Unendliches, eine Macht, die stärker war, als der göttliche Wille. Niemand würde sie je wieder trennen, und selbst wenn: Diese eine Erinnerung, sie würde ihnen immer bleiben, bis ihre Herzen aufhörten zu schlagen.



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück