Die Drachenballade von Kylie (Band 1 - Drachen-Saga) ================================================================================ Kapitel 5: Süße Lügen --------------------- „Was zur Hölle ist denn hier passiert?“, fragte Argrim entsetzt und betrachtete die Leiche des riesigen Drachen. Im ersten Moment hatte er geglaubt, dass Billiana auch tot sei, jedoch bewegte sie sich noch. Das Blut stammte wohl von der armen Echse. Blinzelnd öffnete die Elfe ihre Augen und erblickte die beiden Männer. Sie hatten also nach ihr gesucht... Und sie hatten sie auch noch gefunden! Hier in den Tiefen des geheimen Raumes, in dem sie ihre Bluttaufe erhalten hatte. Ansonsten gab es hier nur noch Staub von alten Gebeinen und frische Spuren eines Kampfes. „Das wollt ihr nicht wissen.“, antwortete die Blondine endlich. „Ich bin nur froh, dass es vorbei ist.“ „Gar nicht schlecht, Prinzessin.“, lobte Andras sie. „Dein Papi wäre ungemein stolz auf dich.“ „Das wage ich zu bezweifeln. Der Drache hat sich von sich aus ergeben... Flehte um Erlösung.“ „Es ist trotzdem außergewöhnlich...“, murmelte Argrim. „Ich habe noch nie zuvor einen Drachen gesehen.“ „So geht es sicherlich nicht nur dir.“, sagte Andras und hockte sich vor den Leichnam. Er schien nachdenklich. Vielleicht überlegte der Nekromant, ob er solch einer riesigen Bestie ebenfalls seinen Willen aufzwingen konnte, um ihn zu seinem Diener zu machen. Billie gefiel der Gedanke gar nicht, weshalb sie dem Schwarzhaarigen einen Stoß versetzte. Ihr Blick huschte nochmals voller Reue über das tote Tier. „Wir sollten endlich einen Weg hier heraussuchen.“, sagte sie bitter. „Es wird das Beste sein, wenn wir einfach den Weg zurücknehmen, den wir gekommen sind, um dich zu finden.“ „Ihr habt mich ernsthaft gesucht?“, hinterfragte die Blondine überrascht. „Ihr seid gar nicht selbst abgestürzt?“ Argrim lachte auf und nickte dann: „Nein, wir sind nicht abgestürzt. Ich wollte dich hier einfach nicht alleine zurücklassen. Zwerge lassen die ihren nicht im Stich!“ „Aber ich bin kein Zwerg.“ „Das habe ich ihm auch versucht zu erklären.“, warf Andras amüsiert ein. „Er versteht nicht, dass du einfach so klein gewachsen bist.“ „Genaugenommen bin ich noch nicht ausgewachsen.“, zischte die Elfe. „Bist du nicht etwas alt, um immer noch eine jugendliche Gestalt zu behalten?“ Sie zuckte nur mit den Schultern und ignorierte seinen stichelnden Kommentar. Wenn die Blondine ehrlich war, dann war es vielmehr so, dass sie die Reife zur erwachsenen Gestalt noch nicht gemeistert hatte. Viele Gelehrte vermuteten, dass es an ihr lag. Irgendwas in ihr sagte, dass sie noch nicht soweit war und es bedürfte vermutlich nur eines Ereignisses oder einer Erfahrung, damit sich der Zustand änderte. Normalerweise war es bei Unsterblichen kaum anders als bei Sterblichen. Sie wurden geboren, dann wuchsen sie und nach etwa zwanzig Jahren waren sie dann erwachsen. Bei einigen Rassen war es noch etwas anders, weil sie erst nach viel mehr Jahren als erwachsen galten, doch das Prinzip blieb stets gleich. Bei einem langen Leben dauerte die Reife einfach nicht länger als gewöhnlich. Aus diesem Grund wussten viele Unsterbliche gar nicht, dass sie von einer solcher Langlebigkeit gesegnet worden waren. Bei Billiana lag es viel mehr in der Familie. Das Markrhon-Gen hatte sich irgendwann einer ungemeinen Kontrolle bemächtigt, welche wie ein Erbe oder Fluch von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Wären sie normale Sterbliche, könnte ihre Hülle das Potenzial nicht tragen! Die Elfe war eigentlich selbst für ihre unsterbliche Hülle zu mächtig. Die treuste Dienerin ihres Vaters hatte ihre Kräfte teilweise versiegeln müssen, um nicht nur die Welt, sondern vor allem Billiana zu schützen. „Vielleicht werde ich ja paranoid, aber folgt uns da eine dieser gigantischen Spinnen?“, fragte Andras und riss die Elfe damit aus ihren Gedanken. Langsam drehte sich die Elfe um und entdeckte tatsächlich Zinara. Sie versteckte sich ständig hinter Felsen und versuchte nicht in den Lichtbereich der Fackeln zu kommen, die die Männer mitgebracht hatten. Sie versuchte ihnen unentdeckt zu folgen, was aber eindeutig gescheitert war. „Das ist Zinara.“, antwortete Billie. „Bitte, was? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“ „Was soll ich dazu auch groß sagen? Lass‘ sie einfach in Ruhe.“ Perplex sahen sich die Männer an, konnten aber wohl keine weiteren Erklärungen von ihr erwarten. Es war trotzdem verwirrend, dass diese Zinara ihnen einfach folgte und dennoch alles tat, um verborgen zu bleiben. Es musste mehr passiert sein, als ihnen klar war... Sie wanderten gefühlt drei Stunden durch die Katakomben, doch da Andras den Weg mit allem möglichen markiert hatte, verirrten sie sich zumindest nicht. Waren es nun umgeworfene Felsen oder kleinere Symbole, die er an die Wand gekritzelt hatte. Wie Brotkrummen, die den Weg nach Hause wiesen. Argrim hatte den Weg längst vergessen und deshalb diskutierten sie auch ständig über die Richtigkeit der Markierungen. Hätten sie sich auf seine Zwergen-Sinne verlassen, dann kämen sie nie wieder aus den Minen heraus. Egal, wie sehr sich die Elfe auch umguckte, es gab an den Wänden keine zwergischen Schriften. Vermutlich hatten sie geahnt, dass hier unten etwas lauerte, das immun gegen die Runen der oberen Etage war und hatten es deshalb unterlassen, hier Trupps hinzuschicken. Leider fehlte es dadurch an Wegweisern, die Argrim hätte deuten können. Es gab höchstens Zeichen auf Drowisch, die allerdings nur Warnungen waren oder alte Flüche. Bald schon erreichten sie wieder den Aufgang und wurden sofort wieder von den Riesenspinnen im Auge behalten. Oder eher in ihren zahlreichen Augen... Sie hatten sicherlich nicht damit gerechnet, dass die Männer am Stück zurückkehren würden und schon gar nicht so schnell! Plötzlich preschte Zinara auf ihren acht Beinen voran. Sie schlängelte sich einfach durch sie hindurch, um wieder zu ihren Artgenossen zu gelangen. Offenbar war es genau umgekehrt..., überlegte Billiana lächelnd, Nicht ich brauchte ihre Hilfe, sondern sie hat die ganze Zeit meine in Anspruch genommen. Sie wusste den Weg nach Hause auch nicht mehr... Aber wenigstens hat sie es nun geschafft. Mit etwas Glück würden auch sie bald den Weg aus dieser Hölle finden und all die Fehler der Vergangenheit hinter sich lassen. Was auch immer die Drow gedacht hatten, damit erreichen zu können, es war ein fataler Fehltritt. Tausende hatten dafür bezahlen müssen. Letztendlich hatte es ihnen nicht mal etwas gebracht, weil sie mit zu den Toten gehörten. Zinara drehte sich um und ging in geduckter Haltung auf die Elfe zu. Unterwürfig und sie wirkte fast etwas... traurig. Schwer zu beurteilen bei Tieren, doch die Körperhaltung wirkte wirklich so massiv gedrückt, dass das Tier nicht wirklich glücklich sein konnte. Es tat Billie irgendwie leid. Zärtlich streichelte sie die Riesenspinne, die ihren Kopf direkt an die weiche, leicht gebräunte Hand presste. Es hatte ein bisschen etwas von einer anschmiegsamen Katze. Wenn sie nun noch schnurrte, war es genau das gleiche! Ihr gefiel es und machte ihr deutlich, dass jedes Lebewesen Wünsche hatte, Gefühle und auch Träume. Diese Spinne sehnte sich nach einem Meister, wie es sie zu alter Zeit in Form der Drow gegeben hatte. Nicht nur sie, sondern auch die anderen Spinnen, welche nach und nach aus ihren Verstecken krochen, um einen genauen Blick auf die Geschehnisse zu werfen. „Das ist echt unheimlich.“, murmelte Argrim. „Wenn sie uns jetzt angreifen, sind wir geliefert.“ „Sie sehen mir nicht so aus, als wollten sie kämpfen.“, warf Andras gelassen ein. „Sie alle sehnen sich eher nach der Anerkennung ihrer neuen Königin. Alle wollen mal gestreichelt werden.“ „Schade, dass wir sie nicht mitnehmen können.“, sagte Billiana ehrlich. „Sie wären bestimmt eine große Hilfe.“ „Warum können wir sie nicht mitnehmen?“, hinterfragte der Zwerg. „Sie brauchen die Dunkelheit ebenso wie ihre Herren. Das Sonnenlicht schadet ihnen ungemein. Zwar können sie sich daran gewöhnen, jedoch sind sie dabei nie besonders glücklich.“ „Muss schrecklich sein, wenn man nur in dieser tristen Dunkelheit leben kann.“ Andras schüttelte den Kopf: „Nein, keineswegs... Die Drow und auch diese Spinnen kennen nichts Anderes. Es ist für sie ihr Tageslicht. Man kann nichts vermissen, was man nie besessen hat.“ „Da hast du vermutlich recht.“ Es fiel Billie schwer, sich von der Spinne zu lösen, doch sie wusste, dass es an der Zeit war. Hierbleiben war keine Option und die Riesenspinnen mitzunehmen auch nicht. Ihre Wege mussten sich also ohnehin trennen. Trotzdem tat es ihr immer noch ungemein leid. „Zinara, geh‘ zu deinen Freunden und bleib‘ bei ihnen.“, flüsterte die Blondine sanft. „Sie brauchen dich und du brauchst sie. Wir müssen weiter... Hier bist du unter Familie und Freunden. Es ist besser so.“ Vielleicht hatte sie die Intelligenz der Tiere hier unterschätzt, denn Zinara schien wirklich zu verstehen. Mit einem letzten Schmiegen löste sie sich von ihrer neuen Herrin und trippelte zu ihren Artgenossen, die sie bereits erwarteten. Sicherlich würde sie heute Abend von ihren großen Abenteuern berichten, in denen es Untote gab, Drachen und eine heldenhafte Jungfrau in Nöten. „Lasst uns aufbrechen.“, sagte sie rasch. „Sonst überlege ich es mir noch anders.“ „Natürlich, Madam Spinnenflüsterin.“, scherzte Andras. Er schien sich langsam als Mitglied der kleinen Gruppe zu entwickeln, was Argrim gar nicht schmeckte. Ihr auch nicht, aber es war besser, als alleine zu sein.   Es dauerte einige Stunden, doch sie schafften es schließlich endlich wieder in das obere Geschoss und ebenso hinaus. Auf der anderen Seite der Mine lag – wie Argrim schon richtig vermutet hatte – hoher Schnee. Für einen Zwerg war er kaum richtig zu überwinden, weil er darin versank. Selbstverständlich konnte der Schwarzhaarige nicht anders, als sich über ihn zu amüsieren. Er spielte jedoch mit dem Gedanken, ihm die Beine abzuhacken, damit er wusste, wie sich das anfühlte. Trotz der eisigen Kälte schien die Sonne. Dadurch blendete der weiße Schnee sie immer und immer wieder. Solch eine Schneeblindheit konnte durchaus gefährlich sein, weil sie nicht wussten, wer auf dieser Seite des Berges auf sie lauerte. Dennoch mussten sie sich weiterfortbewegen und durften nicht verharren. Die klirrende Kälte könnte sonst dafür sorgen, dass ihnen Gliedmaßen abfroren oder eine massive Müdigkeit sie ergriff. Kam es erstmal so weit, war ein Überleben fast undenkbar. Kaum waren sie einige Schritte gegangen, schwankte Billiana und musste sich an einem Felsen festhalten. Sie spürte Übelkeit in sich hochkriechen und eine seltsame, unbekannte Angst, dessen Ursprung sie nicht kannte. „Billie?!“, rief Argrim panisch und sprang direkt an ihre Seite. „Was ist denn los? Du bist leichenblass...“ „Ich weiß nicht... Mir ist irgendwie nicht gut...“, nuschelte sie. „Könnten... wir kurz ausruhen...? Nur ganz kurz.“ „Ja, natürlich. Setz‘ dich am besten direkt auf den Felsen dort.“ Die Blondine brauchte Hilfe, damit sie den Stein überhaupt fand. Ächzend ließ sie sich darauf nieder, wirkte aber immer noch vollkommen kaputt. Wenn Argrim es nicht besser wüsste, würde er behaupten, dass sie krank sei, aber zuvor hatte es dafür keinerlei Anzeichen gegeben. Anderseits war sie vor dem Berg fast gestorben und in den Minen sehr tief in den Abgrund gestürzt. Auch das Drachenblut klebte noch an ihr. Mehrmals atmete sie tief und schwer durch, jedoch schien es keine Wirkung zu haben. Ihr Kreislauf schien in Sekundenschnelle einfach abzusacken. So etwas hatte der Zwerg noch nie zuvor gesehen! Krankheiten konnten natürlich schlimme Auswirkungen auf die Infizierten haben, der Prozess ging aber normalerweise sehr langsam daher. „Hat sie die schwarze Schlacke abbekommen?“, wollte Andras wissen. „Vielleicht bei einem Kampf gegen Besessene?“ „Nichts, dass ich wüsste.“, antwortete Argrim wahrheitsgemäß. „Müsstest du das nicht als Anhänger dieser Brut genauer wissen?“ „Ich habe denen nur aus Langeweile geholfen.“, erwiderte er. „Das wusste Zodiak. Billie ist für mich potenziell viel wertvoller als er. Lieber folge ich ihr.“ „Bis sie dir ebenfalls langweilig wird und du sie dann ebenfalls verraten kannst?“ „Ich denke nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist, damit ihr euch streitet...“, zischte die Blondine erschöpft. „Ja, ich habe etwas abbekommen... Da habe ich gegen die menschliche Hülle von Zodiak gekämpft.“ Es überraschte den Schwarzhaarigen, der ein bisschen haderte. Sein Blick huschte zu dem Zwerg, doch der schien nicht wirklich zu wissen, worum es ging. Da hatten sie einander also nicht gekannt. „Bist du dir sicher?“ „Natürlich bin ich mir sicher. Warum sollte ich denn bitte über so etwas Witze machen?“ „Wie sah er denn aus?“, hakte er weiter und ging nicht auf ihren Zynismus ein. „Weiße, mittellange Haare, bleiche Haut, weiße, dämonische Augen... Ziemlich groß. Etwa wie du... Schlank, aber durchaus muskulös.“, beschrieb die Elfe den Mann. „Außerdem hatte er eine ungemein gruselige Ausstrahlung. Schlimmer war allerdings seine Stimme... Als würden tausende Leute gleichzeitig sprechen.“ „Als sei er eine Legion aus Wesen?“ „Ja, so könnte man es wohl beschreiben.“, stimmte sie zu. „Vor allem war aber deutlich, dass er nicht wirklich etwas fühlte. Keinen Schmerz, keine Freude und vor allem auch kein Bedauern. Richtig unmenschlich...“ Andras nickte verstehend: „Ja, dann war er es wohl wirklich.“ „Na toll, ihr habt einen gemeinsamen Bekannten! Es freut mich...“, wetterte Argrim dazwischen. „Aber vielleicht sollten wir nun erstmal etwas tun, damit sich Billie wieder erholt und wir weiterkönnen.“ „Das Problem ist, dass sie offensichtlich infiziert ist, du Narr.“ „Infiziert? Du meinst...“ „Ja, genau das meine ich. Wenn wir Pech haben, dann wendet sie sich bald gegen uns.“ Von dieser Vermutung bekam die Elfe gar nichts mehr mit. Ihr war so ungemein schwindlig und schlecht! Nur wenige Augenblicke später wurde ihr ganz schwarz vor Augen. Dass sie vornüberkippte, bekam sie nicht mehr mit. Auch nicht den schmerzhaften Aufprall auf dem schneebedeckten Boden. Sie spürte nur Schwerelosigkeit und Erschöpfung. „Billie!“, schrie Argrim, aber es ging vollkommen bei ihr unter. Es war wie das Rauschen eines fernen Flusses. Er war zwar da, doch so unerreichbar fern...   Als Billiana ihre Lider aufschlug, war es dieses Mal vollkommen anders. Sie fand sich nicht in der Leere ihres Verstandes wieder und da war auch kein weißhaariger Mann oder eine schwarze Kreatur. Hier war auch nicht ihr Bruder, der ihr schon mal einen Besuch abgestattet hatte. Es gab keine Minen, keine Untoten, keinen Schnee und keine Kriege. Es war die Unterwelt! Ihre eisblauen Augen sahen sich um. Für sie gab es keinen Zweifel, dass es die katakombenartigen Gänge des Schlosses ihres Vaters waren. In den Wänden waren zahlreiche Totenköpfe eingelesen. Einige von Menschen, andere waren von Unterweltlern oder Bestien anderer Welten. Sie symbolisierten die unendliche Macht ihres Vaters! Jeder, der hier entlang marschierte, musste sich ansehen, wen er alles schon besiegt hatte und sich erinnern, dass er nur ein schwacher, kleiner Funken in einer großen, gefährlichen Welt war. Unbedeutend in Anbetracht dessen, was hier auf den Thron saß. Ihre Finger streckten sich nach einem der Schädel aus und strichen über den rissigen Knochen. Es fühlte sich so echt an! Als wäre sie wirklich hier und könnte wirklich alles berühren. Selbst die Wand fühlte sich klamm und kalt an. Es zog sie magisch zum Thronsaal. Von hier aus war er nur wenige Schritte entfernt. Fackeln waren an der Wand eingelesen und mussten regelmäßig entzündet oder erneuert werden, damit die Flure ausreichend Licht bekamen. Nicht jeder Einwohner konnte im Dunklen sehen. Auch wenn es so aussah, als habe man das Licht aus Gnade angebracht, wirkte es ebenso erdrückend wie die Totenköpfe. Langsam streckten sich ihre Finger nach dem großen Doppeltor aus, welches sich von Zauberhand selbst öffnete. Knarrend und langsam... Aber es offenbarte den mächtigen Saal, der etwas Beklemmendes an sich hatte. Hier gab es noch mehr Schädel, die in den Raum eingearbeitet worden waren, dazu kamen aber auch Waffen von besiegten Feinden und einige Teppiche aus fremden Welten. Von Vasen hielt der Herrscher nicht viel, dafür gab es einige andere Schätze in Gold, Silber oder sogar Mithril. Manche besaßen teure Edelsteine, die im Fackelschein verlockend funkelten. Wer dumm genug war, dieser Verlockung zu folgen, musste aber damit rechnen, dass er mehr verlor als eine Hand. Viel auffälliger war der Thron, der direkt gegenüber von dem mächtigen Torbogen stand. Natürlich am anderen Ende des Raumes, doch das verfehlte die Wirkung bis heute nicht. Hades saß breitbeinig auf seinem riesigen Thron, mit seinem riesigen Großschwert an der Armlehne gelehnt. Kam ihm jemand blöd, konnte er direkt danach greifen und ihn einen Kopf kürzer machen. Dabei durften Unsterbliche nicht vergessen, dass es sich um eine der wenigen magischen Klingen handelte, welche auch sie töten konnte. Deshalb blieb Hades auch weiter am Leben! So viele Feinde, die er damit getötet und noch mehr Lebensjahre, die er sich dadurch angehäuft hatte. Niemals würde er sterben... Er war von hünenhafter Gestalt. Er maß über zwei Meter zehn und musste etwa hundertdreißig Kilo wiegen. Das kam von den massiven Muskelmassen, die er sich antrainiert hatte und niemals abflachen ließ. Seine Haut war schwarz und von Narben verunstaltet, während sein Haar weiß bis grau war und einen Kontrast zu der Haut bildete. Stets trug er einen sehr kurzen Haarschnitt wie ein Soldat es eben tat. In ihm schlummerte der ständige Krieger. Seine schwarze, prächtige Rüstung machte zu deutlich, was er eigentlich war. Nicht nur einfach ein Dunkelelf, dessen Gene außergewöhnliches vollbracht hatten, sondern vor allem ein schwarzer Ritter! Für viele mochte die Bezeichnung nichtssagend oder langweilig sein, doch spätestens dann, wenn sie sich einem schwarzen Ritter stellen mussten, endete diese Voreingenommenheit. Sie kämpften in schweren Rüstungen, mit großen Waffen und mächtiger Magie! Sie vereinigen Schwarzmagier und Krieger in einer tödlichen Kombination. Stets ganz vorne an der Front, um sich mit ihrer Magie zu stärken und ihre Feinde niederzumetzeln. Sie waren jene Ritter, die als letzte noch standen! Unfähig Angst zu verspüren. Hades war der beste von ihnen. Der stärkste! Er überragte sie in allen Punkten. Er überragte jedoch nicht nur in seinen Fähigkeiten, sondern auch in der Anzahl der Frauen. Ein Weib war ihm nie genug gewesen! Es musste ein halbes Dorf an Frauen sein, dessen Aussehen nicht ganz so wichtig war. Natürlich strebte Hades ebenfalls zu exotischen Schönheiten, aber er verschmähte auch keine Damen, die vielleicht beleibter waren oder nicht dem Idealbild entsprachen. Auch unterschiedliche Rassen lockten sein Interesse. Ebenso bunt gemischt war deshalb sein Harem. Seine ganzen Frauen mussten immer in seiner Nähe bleiben. Sie saßen direkt an seinem Thron oder standen dahinter, manche knieten auch regelmäßig vor ihm, damit sie ihm eine blasen konnten. Eigentlich waren sie eher Sklavinnen als Gattinnen. „Billie...“, schnurrte er begeistert und winkte sie zu sich heran. „Bist du heute hier, um mich glücklich zu machen?“ „Das glaube ich nicht, Vater.“, erwiderte sie zähneknirschend. „Hast doch genug Frauen dafür.“ „Sie sind nicht du.“ „Und du bist definitiv nicht real. Ich bin doch nicht vollkommen verblödet!“ „Was redest du denn da?!“, brüllte er und packte sein Großschwert. „Du unterstellst mir, dass ich nicht Wirklichkeit bin?! Soll ich dir zeigen, wie real ich sein kann?!“ Ihre Furcht vor ihm war auf jeden Fall echt. Wenn er so aufsprang und sich in seiner gigantischen Größe präsentierte, wurde der Blondine stets ganz anders. Etwas in ihr wimmerte, dass sie sich zu unterwerfen hatte, doch der größere Teil in ihr wollte rebellieren. Es fiel ihr so schwer, sich einer Macht zu unterwerfen, die aber viel größer war als sie. Etwas in ihr wollte nicht akzeptieren, dass andere Wesen ihr gefährlich werden konnten. Die eigentliche Gefahr bin ich immer noch selbst... Hier ist ein Kampf entbrannt und der geht alleine von mir aus, nicht von meinem Vater., sinnierte die Elfe und versucht stehen zu bleiben. Alles in ihr schrie nach Flucht! Erst recht, als der Schwarzhäutige seine grauen Augen verengte und mit dem Großschwert auf sie zu rannte. Er holte mit der Klinge aus und ließ sie auf sie niedersausen, doch der erwartete Schmerz blieb dennoch aus! Die Illusion verpuffte in schwarzen Nebel. Seine zahlreichen Frauen kreischten und weinten, als habe sie gerade ihren eigenen Vater vor ihren Augen geköpft. „Wolltest du nicht immer nur seine Anerkennung?“, fragte eine ihr vertraute Stimme. Es war nicht Zodiak, das wusste sie sofort. Langsam drehte sich die Langhaarige herum und behielt ihre dunklen Wimpern vorerst gesenkt. Unterwürfig und ein bisschen schamvoll. Ihre devote Ader lockte viele Männer in ihren Dunstkreis, doch die meisten langweilten sie wahnsinnig schnell, weshalb sie diese schnell verstieß. Bei ihm war es anders... Er hatte sie weggestoßen! Als sie ihren Blick hob, sah sie den Mann, den sie schon vermutet hatte. Seine stark gebräunte Haut war unter der langen Kapuze kaum zu erkennen, die den größten Teil des Gesichtes verbarg. Auch er war ein Mann von ungemeiner Größe, die fast die zwei Meter erreichten, aber er war eher athletisch gebaut. Rüstungen waren ebenfalls nicht sein Ding, sondern eher Gewänder, die er mit Harnischen verstärkte und ihn eher einhüllen sollten. Durch die dunklen Stoffe wirkte er stets wie der Sensenmann, von dem die Menschen gerne voller Angst sprachen. Ironischerweise führte er auch eine Sense. „Sataniel...“, murmelte die Elfe kleinlaut. „Seit wann bist du so schüchtern?“, fragte er und kam auf sie zu. „Die große Klappe ist wohl zugenäht worden?“ „Auch du bist nicht real.“ „Spielt das denn wirklich eine Rolle? Ist es wichtig, ob ich aus Fleisch und Blut bin oder nur eine Verfestigung deines Verstandes?“ „Ja, für mich spielt es eine Rolle. Wenn es nicht real ist, ist es auch nicht richtig. Es wird sich niemals echt anfühlen... Wird niemals gut sein.“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Manche sind im Kopf stets so ungemein weit, aber in der Wirklichkeit tut sich niemals etwas. Es kann nur vorwärtsgehen, wenn man sich der Realität stellt und dort versucht, alles zu erreichen. Träume werden nur wahr, wenn man aufwacht.“ „Ach? Seit wann denn so erwachsen? Diese Ansicht hattest du früher definitiv nicht.“, antwortete er in seiner gewohnten Gelassenheit und Kühle. „Damals wolltest du mich so unbedingt heiraten und eine glückliche Familie mit mir werden. Was hat sich geändert?“ „Du hast mich benutzt und zurückgelassen, das hat sich geändert. Hast mich geschwängert und ich musste unsere Tochter alleine großziehen. Für mich bist du ab diesem Augenblick gestorben...“ Die Illusion von Sataniel lachte und kam näher: „Trotzdem hattest du dich an meine Fersen geheftet. Auch nachdem wir die Nacht miteinander teilten.“ „Zu dieser Zeit kannte ich nichts Anderes. Ich kannte keinen anderen Mann, an den ich mich halten konnte.“, erwiderte sie. „Nun weiß ich, dass ich jeden Mann haben kann, wenn ich nur will. Bessere Männer als dich.“ „Wie dieser Wyrnné? Denkst du wirklich, dass er ein guter Mann ist?“ „Das weiß ich nicht, aber er wollte zumindest, dass ich bleibe.“ Er kam näher und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie musste sich wohl ihrem Innersten stellen, doch was das alles voraussetzen könnte, wusste die Elfe nicht zu sagen. Gerade wenn es um diesen Mann ging... Dieser einnehmende, mächtige und furchtbar schweigsame Mann, der ihr schon früh das Herz gebrochen hatte. Gerade dessen Sohn faszinierte sie auf eine neue und ehrliche Art und Weise. Seine Finger streckten sich aus, aber nicht nach ihr, sondern nach der ausladenden Kapuze. Er schob sie langsam herunter und offenbarte so das maskuline, markante Gesicht in seinem gebräunten Ton und die ebenso braunen, kurzen Haare. Die tiefschwarzen Augen lagen nur auf ihr. Nicht das erste Mal, das wusste sie, doch es ließ sie immer wieder schwanken, wenn die Aufmerksamkeit von Sataniel ungeteilt auf ihr lag. Jetzt erst streckte er seine behandschuhte Hand nach ihr aus, als wollte er sie mit sich nehmen. Wie der Prinz in einem Märchen... Ihre eisblauen Augen stierten auf die Finger, die einst über ihren Körper geglitten waren. So zärtlich hatte er ihre Hämatome berührt und ihr zugeflüstert, dass sie die schönste Frau war, die er jemals zuvor gesehen hatte. Sie erinnerte sich an die Kuppen, die in ihr Haar gewandert waren, um die honigfarbenen Locken zu umspielen. Es fühlte sich an wie gestern, als er ganz sachte und vorsichtig in sie eindrang und ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Noch einprägsamer war der Verlust seiner Wärme. Ihre Augen schlugen am nächsten Tag auf und er war fort! Die Erinnerung an diese Nacht war das einzige, was ihr geblieben war. Er behandelte sie am nächsten Tag wie immer, weshalb sich die Elfe nie gewagt hatte, ihn darauf anzusprechen. „Du hast mir niemals gesagt, dass du schwanger geworden bist.“, erinnerte die Illusion dieses Mannes sie. „Ich hätte vielleicht mein Verhalten geändert, wenn ich es gewusst hätte und du mir eine Chance gegeben hättest.“ „Nein, ich denke nicht, dass das irgendwas geändert hätte. Selbst wenn ich dir mitgeteilt hätte, dass du nun eine Tochter hast.“, sagte sie kühl. „Außerdem wollte ich, dass du mich meinetwegen willst und nicht wegen eines Babys.“ „Jetzt kannst du mich haben, Billie. Aus welchem Grunde auch immer... Es liegt bei dir.“ In diesem Augenblick wusste sie, was sie zu tun hatte. Warum weiter Lügen lauschen? Das hier konnte die Realität niemals ersetzen und auch nicht ändern, was damals zwischen ihnen wirklich vorgefallen war. Vielleicht konnte sie Sataniel vergeben, doch sie würde niemals vergessen, was er ihr angetan hatte. Selbst wenn es irgendwann wahr werden würde, es stünde ein Leben lang zwischen ihnen. „Vergib mir... Irgendwann.“, flüsterte sie und schlug die Hand der Illusion, die sofort in einem schwarzen Dunst verschwand. Im Anschluss packte sie sich die Sense aus seiner zweiten Hand und schlug damit nach dem Gebräunten. Seine entsetzten Augen machten klar, dass er damit wohl nicht gerechnet hatte. Jedoch erfüllte es seinen Zweck und er verschwand ebenso wie ihr Vater zuvor. Das hat Connar wohl sagen wollen... Er wollte mich vor diesen Erinnerungen und Lügen warnen. Nur weiß ich nicht, wie lange ich dem wirklich standhalten kann., dachte die Blondine und drehte sich um. Sie wollte diesen Thronsaal endlich hinter sich lassen, der nun vollkommen leer und kalt war.   Argrim konnte nicht genau sagen, wie lange sie inzwischen unterwegs waren. Die Sonne war jedenfalls schon lange untergangen und es war wirklich anstrengend die Elfe zusammen mit Andras zu schleppen. Nicht, dass sie ein ernsthaftes Gewicht besaß. Wenn man dieses jedoch über mehrere Stunden trug, machte es sich leider bemerkbar. Der hüfthohe Schnee machte es ihm auch nicht wirklich einfacher, der für Andras kaum eine Herausforderung war. „Meinst du wirklich, dass hier irgendwo ein Dorf ist...?“, ächzte der Zwerg. „Wir sind schon eine Ewigkeit unterwegs und haben bisher nicht mal einen einzigen Menschen getroffen.“ „Willst du mich eigentlich auf den Arm nehmen? Denkst du ernsthaft, dass die Menschen bei diesem Wetter mal eben eine Runde spazieren gehen?“ „Das ist mir schon klar! Trotzdem müssen sie sich doch etwas zu Essen suchen oder Feuerholz sammeln. Den ganzen Tag sich zu verkriechen, würde sie umbringen.“ „Ich bin mir sicher.“, beharrte der Nekromant sichtlich genervt. „Wir kommen einfach nur furchtbar langsam voran. Wären wir schnellen, wären wir auch längst da.“ Oder du willst nicht zugeben, dass du dich einfach nur verlaufen hast und selbst verzweifelst..., sinnierte der Axtschwinger, Aber ich gebe zu, dass ich mich wohl in dir getäuscht habe. Wenn sie dir egal wäre und du wirklich nur Zodiak dienen würdest, dann hättest du sie schon lange im Stich gelassen. Stattdessen schleppten sie sie weiter. Keiner von ihnen dachte auch nur für einen Herzschlag daran, aufzugeben oder sie zurückzulassen. Vermutlich wäre diese Option gesünder, doch es kam einfach nicht in Frage. Egal, welche Hoffnungen sie unterbewusst in Billiana steckten, es entfachte das Feuer und die Kraft in ihnen, die sie einst verloren glaubten.   Die dunklen Gänge der Unterwelt wurden ausgetauscht für die prunkvollen Flure des Palastes im Weltenbaum. Überall waren diese Zierrüstungen, die großen Fenster und die einladenden Dekorationen. Die Sonne erhellte alles und wob es in einem traumhaften Zwielicht der Verlockung. Von so etwas hatte Billie stets als Kind geträumt. Und von dem Prinzen, der um ihre Hand anhielt und ihr eine Krone anbot, damit sie zusammenleben konnten. So oft hatte ihr Vater ihr gesagt, dass das alberne Fantasien waren, die sich so niemals verwirklichen würden, aber sie hatte diesen Hoffnungsschimmer einfach gebraucht. Wieder führte es sie magisch in eine bestimmte Richtung. Ihre Erinnerung irrte sich in diesem Falle nicht, denn der Weg zu Wyrnnés Gemächern hatte sich definitiv sehr gut eingeprägt. Das eine Mal hatte gereicht, damit es sich für immer in ihr verankerte. Als ihre schlanken Finger die vertraute Tür aufdrückten, saß er auf seinem Bett in nichts bekleidet als einer engen Lederhose. Seine muskulöse Brust sah traumhaft schön im Schein der Sonne aus und sein markantes Gesicht prägte sich von selbst wieder in ihr ein. Er blieb der schönste Mann, den sie jemals gesehen hatte! Wyrnné lächelte als er sie bemerkte und erhob sich langsam von seinem bequemen Bett. Seine langen, kräftigen Beine führten ihn auf sie zu und er streckte seine Hand nach ihr aus. Dieses Mal ergriff die Elfe die ausgestreckte Hand und ließ sich von dem Mann auf den nahen, gigantischen Balkon führen. Von dort aus gab es eine wundervolle Aussicht über die Stadt, die schön sauber war und in der auch zahlreiche Bäume wuchsen. Selbst auf Gärten wurde ein großer Wert gelegt. Die Vorstellung, dass all das irgendwann zerstört werden könnte, tat wirklich weh. „Das könnte alles dir gehören, Billie.“, hauchte er mit seiner tiefen Stimme mit einem samtigen Tenor der Verlockung. „Mit mir zusammen könntest du hier herrschen. Ich würde dich in seidige Kleider stecken und dich auf Händen tragen.“ „Allerdings vergisst du, dass du weder der Herrscher dieser Stadt bist noch ein König.“ „Dir ist doch klar, dass sich das bald ändert. Das Volk liebt mich, ich habe bereits so viel Einfluss und Macht wie kein zweiter.“ „Ja, irgendwann wirst du herrschen...“, gestand die Elfe. „Doch ich denke nicht, dass es dieser Ort sein wird. Bis dahin wird sich eine Menge verändern und viele Unschuldige müssen noch sterben.“ „Vielleicht hast du damit recht, aber das ist nicht deine Schuld. Du verdienst ein besseres Schicksal als das, welches du dir selbst auferlegt hast.“ „Du hast recht...“ „Also wirst du bei mir bleiben?“, fragte er hoffnungsvoll und drehte sich zu ihr. Seine grünen Augen strahlten wunderbar und linderten ihren innerlichen Schmerz. Es spendete Ruhe. Trotzdem musste die Blondine den Kopf schütteln: „Nein. Ich werde nicht bleiben.“ „Aber du hast doch gesagt-...“, er konnte nicht weitersprechen als sie ihren Zeigefinger an seine Lippen lehnte. Natürlich hätte er es gekonnt, doch das tat kaum einer, wenn es soweit war. Billiana schüttelte bedauernd den Kopf. Es war die Tücke am Schicksal: Niemand konnte es sich aussuchen. Wenn dann alle davonliefen, dann wäre die Welt bald voller Toter. Jeder Bauer könnte schließlich davonlaufen und auch jeder große König würde der Verantwortung entfliehen. Am Ende zerfiel alles in Anarchie. Niemand wäre dazu bereit, sich einer großen Aufgabe zu widmen, um wieder für Ordnung zu sorgen. Das war keine Welt, in der sie leben wollte. Allerdings fehlte ihr auch etwas in ihrem Leben. Wärme, Nähe und jemand, der sie beschützte. Wyrnné hatte in einer Nacht genau das verkörpert. Seither hatte sie sich verändert und vieles durchlitten, was sie formte. Sicherlich war auch er nicht mehr ganz der Gleiche. Vermutlich war es besser so! Sie brauchten diesen Pfad aus Steinen. „Du weißt, dass du mich verlieren wirst, wenn du nicht umdrehst.“, sagte er eindringlich. „In unserer ersten Nacht hast du dieses Band gespürt. Du hast gewusst, dass du meine Hilfe brauchen wirst. Du weißt aber auch, dass ich im Moment eigentlich nicht dazu bereit bin. Willst du mich wirklich zertrümmern?“ „Nein, das will ich nicht.“, gab die Elfe zu. „Aber du wirst bereit sein. Du wirst genauso bereit sein wie ich. Wir haben eben keine andere Wahl...“ „Man hat immer eine Wahl.“ „Ja... Ja, die hat man. Jeder wählt sein Schicksal selbst, doch, wenn wir es gewählt haben, dann gibt es keinen Weg mehr zurück.“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich habe meinen Weg gewählt und du den deinen. Das hier war unsere Entscheidung. Wir sind bereit, kopfüber in den Abgrund zu stürzen und sie alle zu retten...“ „Wann bist du endlich an der Reihe, Billie?“, fragte Wyrnné. „Wann bist du endlich dran, etwas Glück zu bekommen?“ „Keine Ahnung... Noch nicht heute.“ „Und auch nicht morgen. Rechne lieber auch nicht übermorgen damit, dass du endlich etwas für deine Mühen bekommst.“ „So ist das Leben.“, sagte sie mit zuckenden Schultern. „Wenn alles so leicht zu erreichen wäre, würde es auch keinen Spaß mehr machen. Andere haben es noch schwerer als ich. Andere haben es dafür leichter. Niemand hat ein gutes Los gezogen und es bringt nichts, ständig darüber zu jammern.“ „Irgendwann wirst du erkennen, Billie, dass es nicht so einfach ist, wie du es darzustellen versuchst.“, sagte er mit seiner samtigen Stimme. „Dann wirst du bereuen, dass du die Chance ausgeschlagen hast, dich aus dem Ganzen herauszuhalten.“ „Kann schon sein, aber ich habe gelernt, dass ich mich von Leuten besser fernhalte, die angeblich besser wissen, was gut für mich ist.“ Das vertraute, seltene Lächeln des Ratsmitglieds verschwamm in einem dunklen Nebel und offenbarte die Gestalt des hünenhaften Weißhaarigen. Es war schwierig zu sagen, ob die bisherigen Niederlagen ihn verärgerten oder ob es ihm an sich egal war. Seine dämonischen, weißen Augen bespickten die Blondine mit bohrenden Blicken, doch sie blieb standhaft und zeigte keine Angst vor ihm. Es würde ihn nur stärker machen! Zodiak wirkte so gelassen, dabei war er eigentlich in ihr Revier eingedrungen und musste sich ihren Regeln unterwerfen. Bisher hatte er auch nicht unbedingt auf Sieg gespielt. Trotzdem strichen seine bleichen Finger über den Rand des Balkons, während er sie nicht aus seinem Blick ließ und offenbar etwas suchte. Vielleicht ein Wanken oder eine Schwäche in ihren Augen. Immerhin galten die Augen als die Tore zur Seele und viele versprachen sich, dass darin nur die Wahrheit zu finden war, statt lauter Lügen. Vermutlich hatte er niemals aufrichtigere Augen gesehen als ihre, denn er wandte den Blick relativ schnell wieder ab. Das, was er suchte, schien er im Moment nicht finden zu können. Oder er hatte bisher nicht richtig gesucht... Da sie von seiner Anwesenheit kaum etwas mitbekam, war das wirklich schwer zu sagen. „Niemand kann so selbstlos sein.“, sagte seine Stimme in Begleitung des gewohnten Chors. „Jeder hat Wünsche, für die er alles tun würde. Begierden, die so unstillbar sind, dass sie niemals ein Ende finden.“ „Ich bin nicht jeder, Zodiak.“, sagte sie gefasst. „Ich bin diejenige, die dich aufhalten wird. Mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen.“ „Du hast nicht mal eine Ahnung, wie du das anstellen sollst. Auch die Drachen haben es nicht gewusst und nur eine Notfalllösung parat gehabt.“ „Heute ist eine andere Zeit und dies ist ein anderer Ort als damals. Andere Menschen leben heute, andere Nichtmenschen wollen dich stürzen.“ „So viel hat sich gar nicht geändert, Billie.“, erwiderte er. „Die Städte sind vielleicht größer geworden, doch die Begierden blieben gleich. Selbst die Wünsche...“ „Etwas hat sich sehr wohl geändert...“ Der Weißhaarige drehte sich zu ihr und sah sie an. Er schien in ihrem Kopf nach der Antwort zu forschen, drang aber offenkundig zu gewissen Partien nicht durch. Das war gut. Es zeigte der Elfe, dass noch nicht alles verloren war und sie noch realistische Chancen hatte, ihn herauszuwerfen. „Was soll das sein?“ „Ich bin jetzt hier.“, antwortete Billiana grinsend. „Das war damals nicht so.“ Er lachte. Die Begleitung all dieser Stimmen hämmerte wie wild in ihren empfindlichen Ohren. Seine Fratze verzog sich dabei zu einer bestienartigen Maske, die sie ihm so gerne abgerissen hätte. Trotz des Lachens wirkte er nicht so, als würde er wirklich Humor verstehen oder Spaß empfinden. Die Mimik passte sich einfach nicht seinem Handeln an. Es bestätigte zumindest ihre Vermutung, dass er nicht fühlte. „Du warst immer irgendwie da, Kind!“, spottete er. „Damals wie heute. Es wird sich nichts ändern.“ „Was? Wie meinst du das?“, fragte die Blondine vollkommen verwirrt, bekam aber keine Antwort. Nur wenige Herzschläge später, verschwamm die Gestalt des Urbösen und ließ sie alleine in der Illusion von Wyrnnés Zimmer. Vollkommen ratlos sah sie sich um und fragte sich langsam, was genau er in ihr gefunden hatte. Wenn sie von dem Balkon herunterblickte, dann sah sie nur Erinnerungen. Vielleicht schirmt er mich von ganz bestimmten Erinnerungen bewusst ab, damit ich gewisse Dinge nicht lüften kann. Und die, die er mir vorsetzt, dienen letztendlich nur der Ablenkung..., sinnierte die Elfe und knirschte mit den Zähnen. So hatte sie sich das gewiss nicht vorgestellt!   „Habe ich nicht gesagt, dass hier ein Dorf sein müsste?“, seufzte Andras, der vollkommen verschwitzt war. Die Kälte machte gerade diesen Schweiß noch unangenehmer als sowieso! Dazu kamen dieser schreckliche Wind, die ständigen Felsen und Äste, die aus dem Boden ragten. Durch den Schnee waren viele dieser Dinge nicht zu erkennen, weshalb sie mehr als einmal dagegen gerannt waren. „Ich gratuliere dir... Nach einem halben Tag und einer Nacht haben wir dein Dorf gefunden, dass angeblich um die Ecke sein sollte.“, erwiderte der Zwerg zynisch. „Und es sieht zerstört aus.“ Leider konnte der Schwarzhaarige das nicht von der Hand weisen. Es sah wirklich wahnsinnig ramponiert aus. Als er das letzte Mal hier gewesen war, waren sie sicherlich auch keine reichen Bewohner gewesen und hatten auch nicht viel, wofür sich das Leben lohnte, doch es war ein pures Luxus-Örtchen gewesen, wenn man es mit jetzt verglich. Türen waren eingetreten worden, zahlreiche Dächer waren durch das Gewicht des Schnees eingestürzt und das Nutzvieh lief frei herum. Einige Tiere lagen sogar tot herum, weil der Frost sie erwischt hatte. Zäune waren zerschlagen und vieles lag begraben im Schnee. Selbst die Fenster standen zum Teil weit offen und ließen die Kälte in die Häuser! Wenn sich die Bewohner kümmern würden, dann sähe es hier definitiv ganz anders aus. Am auffälligsten ist, dass hier kein einziger Mensch zu sehen ist..., überlegte Andras für sich. Niemand schaut auch nur aus dem Fenster. Keiner läuft herum... Argrim hatte recht: Wir haben von Anfang an zu wenige Leute getroffen. Auch wenn alles dagegensprach, diesen Ort zu besuchen, schleppten sie die bewusstlose Elfe trotzdem hinein. Selbst wenn sie alle tot sein sollten, gab es vielleicht Bücher, Lebensmittel oder Medikamente, die ihnen weiterhelfen konnten. Auf jeden Fall würde es Betten geben, auf denen sie sich eine Weile ausruhen konnten. „Wann warst du nochmals zuletzt hier?“, erkundigte sich der Zwergen-Anführer. „Vor einigen Wochen erst.“, antwortete er. „Warum fragst du?“ Argrim zog aus dem Schnee eine verwesende Leiche, die inzwischen von der Kälte gefroren war. Das erhielt sie zumindest relativ „frisch“. Schlimm war eher die Weise, wie die Frau guckte! Als habe sie den Leibhaftigen kurz vor ihrem Tod gesehen, der ihr offenbarte, dass sie in die Hölle käme... Irgendwas Schreckliches musste ihr den Tod gebracht haben. „Ich würde sagen, dass sie seit ein paar Wochen tot ist.“, sagte er schließlich. „Hast du hier ein Massaker angerichtet, bevor du gegangen bist? Einfach mal so aus Langeweile?“ Andras verzog das Gesicht: „Sehe ich so aus? Warum hätte ich uns dann hierhergebracht? Alle Mühen sind umsonst.“ „Vielleicht arbeitest du doch noch mit Zodiak zusammen und du wolltest uns von Anfang an nur in eine Falle locken. Dass Billie umgekippt ist, kam eben zu früh.“ „Mach‘ dich nicht lächerlich.“ „Ich denke nicht, dass ich mich lächerlich mache! Deine ganze Anwesenheit ist zutiefst eigenartig und deine-...“, in dem Moment wurde er von Andras unterbrochen. Er schlug ihm beinahe schon die Hand auf den Mund! „Scht~!“, zischte der Nekromant und hob die Finger der anderen Hand an die Lippen. Der Axtschwinger spielte mit dem Gedanken, ihm mal wieder den Kopf von den Schultern trennen zu wollen. Da Billiana aber neben ihnen im Schnee lag, ließ er es. Es wäre unhöflich, sie mit dem Blut des Magiers zu baden und es wäre noch schwieriger, sie davon zu reinigen. Obwohl der Gedanke zunehmend reizvoller wurde... „Hörst du das denn nicht?“, fragte Andras ihn. „Da schreit doch jemand, oder?“ Jetzt lauschte er auch. Tatsächlich! Da war irgendwas... Irgendwer schien etwas zu rufen. Es konnte jedoch auch der Wind sein, der vielleicht durch die Fenster, Zimmer oder die Bäume zischte. Auch wenn sie nicht sicher sein konnten, machten sie sich auf den Weg, um diesem verräterischen Geräusch zu folgen. Da sie nicht wussten, was sie erwarteten, öffneten sie einige Türen und wählten das Haus aus, welches am besten instand wirkte und wo sie auch noch alles verriegeln konnten. Hier legten sie Billiana in einem Bett ab und entfachten für sie ein Lagerfeuer aus dem restlichen Feuerholz. Danach konnten sie mit ruhigem Gewissen wieder nach draußen gehen. Die Elfe würde nicht in der Zeit erfrieren und sie konnten nachprüfen, was hier los war. Immer mal wieder schien es so, als hätten sie nur Einbildungen, denn urplötzlich war nichts mehr zu hören, dann war es aber wieder da! Es führte sie immer weiter aus dem Dorf heraus und schien niemals wirklich an Lautstärke zu gewinnen. „Das könnte eine Falle sein...“, flüsterte Argrim und griff nach seiner Streitaxt. „Davon gehe ich auch stark aus.“ „Warum folgen wir denn diesen mysteriösen Rufen?“ „Weil wir uns beide irren könnten.“, erwiderte der Nekromant. „Vielleicht lebt doch noch jemand und kann uns Antworten liefern.“ „Entdecke ich da vielleicht einen Funken Güte und Großmut in dir?“ „Das wage ich zu bezweifeln und nun konzentrier‘ dich besser auf das, was vor uns liegt.“ Kein allzu dummer Vorschlag, denn wenn sie einander ablenkten, konnte es für sie tödlich enden. Dann würde auch Billiana sterben. Es wäre idiotisch, dass nicht einzusehen und seinen Einwand zu ignorieren. Trotzdem war es überraschend, dass Andras einem Unschuldigen helfen wollte. Nach einigen Schritten wurden die Rufe endlich deutlicher. Hinzu kamen seltsame Geräusche, die etwas danach klangen, als wollte jemand eine Tür eintreten. Vielleicht auch nur eine dumme Einbildung oder ein Irrtum, der durch den Wind verstärkt wurde. Je näher sie kamen desto mehr klang es aber nach genau dem, was sie vermuteten. „HILFE!“, kreischte plötzlich eine Frauenstimme, die nun wirklich klar zu hören war. Kurz darauf knallte etwas heftig gegen Holz. Sie gaben sich kurz Zeichen, dann trennten sich die Männer, damit sie den Ort des Geschehens von unterschiedlichen Richtungen betreten konnten. Abseits des Dorfes gab es eine Hütte, die ein bisschen heruntergekommen aussah, sonst aber offenbar in gutem Zustand war. Das Dach war heil, die Fenster geschlossen und es kam Qualm aus dem Schornstein. Es war der belebteste Ort, in dieser ganzen Gegend! Nur eine Sache stimmte ganz und gar nicht: Mehrere Männer versuchten mit Äxten, Schaufeln und Spitzhacken die Tür dieser Hütte zu zertrümmern. Offenbar hatten sie das massive Holz schon seit Stunden bearbeitet, denn es barst schon bedrohlich. Es fehlte nicht mehr allzu viel und sie konnten so ein großes Loch reißen, dass einer nach den anderen einfach in die Hütte eindringen konnte. Andras versuchte durch die Büsche zu schleichen, um ein bisschen näher heranzukommen. Falls es sich um eine Falle handelte, dann war diese wirklich meisterhaft ausgearbeitet worden! Es gab keine Anzeichen für andere Männer, die sich irgendwo versteckten oder Anzeichen von Magie. Keine Leichen, die schnell zum Leben erwachen könnten. Einfach nur Dorfbewohner, die sehr brutal auf eine Holztür eindroschen und wie von Sinnen nicht mal auf ihre Umgebung achteten. Jetzt endlich sah er den Ursprung des Hilferufs. In der Hütte befand sich eine Frau! Er erkannte sie sofort... Es war die Gehilfin der einzigen Heilkundigen dieses Orts. Ihr rötlichbraunes Haar war ihm gut im Gedächtnis geblieben, welches kaum bis zu den Schultern ging. Meistens – so auch heute – flocht sie die kurzen Strähnen zu einem strengen Dutt, damit kein einziges Haar sie störte. Es erinnerte den Schwarzhaarigen oft an Ammen und Zofen, wenn er solche Zöpfe erblickte. Sie war ein junges, hübsches Ding von vielleicht dreiundzwanzig Jahren. Ihre Sommersprossen waren dunkel und verteilten sich über ihren ganzen Körper. Er wusste das nur allzu genau... Bei seinem letzten Besuch hatte Andras kaum die Finger von dieser Schönheit lassen können! Er hatte lange gebraucht, um sie für sich zu erobern. Dass diese Typen nun nach ihrem Leben gierten, gefiel ihm ganz und gar nicht. Solch ein Ende verdiente sie auf keinen Fall und ihm war klar, dass sie solch ein Mädchen nicht einfach nur töten würden... Sie würden sie vorher mehrmals vergewaltigen und wenn sie ihnen langweilig wurde, kam vielleicht noch Folter dazu. Ihre Seele würde niemals Frieden finden... Genauso wenig wie sein Zorn! Ohne lange zu fackeln griff der Nekromant nach seinem Degen und sprang aus den Büschen heraus. Das Überraschungsmoment stand auf seiner Seite und machte es ihm leicht, den ersten Mann einfach aufzuspießen. Als er seine Klinge herausriss, erkannte er die schwarze Schlacke. Es waren Besessene! Zodiak hatte ihren Verstand bereits gewaschen und nun wollten sie ihren tiefsten Gelüsten folgen. Sofort beschwor er den Leichnam, damit er sich nun in seine Dienste stellte. Trotzdem waren da noch fünf Männer, die bereit waren, sich dem Schwarzhaarigen zu stellen. Der erste griff an, doch sein Diener warf sich dazwischen und hob seine Spitzhacke, um den Angriff abzulenken und dem Angreifer dann sein Werkzeug direkt in den Schädel zu rammen. Andras musste zugeben, dass so eine Waffe durchaus praktisch war, wenn es auch eigentlich Bergwerkzeug war. Den nächsten Mann stach er seinen Degen direkt in den Mundraum. Es waren keine ausgebildeten Kämpfer und deshalb keine Herausforderung für den Hünen. Trotzdem sah er nicht kommen, wie ein weiterer von hinten mit einem Hammer auf ihn einschlagen wollte. Argrim war es zu verdanken, dass ihm genau das nicht gelang! Mit Wucht rammte er seine Streitaxt in den Rücken des Angreifers und riss sie wieder heraus. Eine Blutsfontäne verdeutlichte, dass er das nicht überleben konnte. All das vermischte sich mit der schwarzen Schlacke, die so viel Grauen über die Menschheit brachte. So viele Leichen wollte der Magier nicht verschwenden und beschwor auch sie wieder herauf, damit sie sich den letzten beiden Männern entgegenstellen konnten. Besessene waren nicht klar im Kopf und erkannten nicht, dass sie in der Unterzahl waren. Ein Kampf war sinnlos, trotzdem griffen sie mit ihrer Axt und ihrer Schaufel die Front aus Feinden an. Das bezahlten sie ebenso mit ihrem Leben wie ihre Freunde. „Danke...“, murmelte Andras. „Wofür? Ich wollte nur den Typen töten.“, antwortete Argrim. „Hatte nichts mit dir zu tun.“ Andras winkte ab und ging langsam auf die fast eingeschlagene Tür zu. Er stierte durch den Spalt. Die Rothaarige wirkte atemlos, aber durchaus erleichtert als sie ihn sah. Eilig kam sie näher. „Ist alles in Ordnung, Cazie?“, erkundigte sich der Nekromant. „Haben sie dir etwas getan?“ „Mir geht es gut.“, antwortete sie und versuchte die Tür zu öffnen. Sie war vollkommen deformiert, weshalb der Schlüssel sich kaum im Schloss drehen ließ, nachdem sie die Schränkchen weggeschoben hatte, die den Eingang blockieren sollten. Erst durch die Hilfe von Argrim und Andras war es möglich, die Tür endlich aufzudrücken. Kurz darauf krachte sie auch in sich zusammen! Es hatte ein bisschen etwas von einem Kartenhaus, welches einen Windstoß abbekommen hatte. Es hatte also wirklich nicht mehr viel gefehlt und die Besessenen wären durchgekommen. Drinnen sah es vollkommen chaotisch aus. Sie hatte offenbar nach Möglichkeiten gesucht, die Tür zu blockieren und nebenbei eine brauchbare Waffe zu finden. Das hatte wohl nicht besonders gut geklappt, denn letztendlich lagen nur zahlreiche Bücher herum. Obwohl ein Schlag mit so dicken Wälzern im Gesicht sicherlich schmerzen würde! Falls sie mal Vorräte gehabt hatte, waren diese inzwischen aufgebraucht. Als der Zwerg die Hütte nach eventuellen Angreifern und Gefahren durchsuchte, fand er nur Kräuter, Tränke und Salben, aber nichts Essbares. Sie wussten aber auch nicht, wie lange sie inzwischen hier festgesteckt und auf Hilfe gehofft hatte. „Wo ist deine Meisterin, Cazie?“, fragte der Schwarzhaarige und sah sich um. Außer der Rothaarigen schien wirklich niemand hier zu sein. Viele Orte zum Verstecken gab es aber auch nicht. „Leider ist sie... Na ja... Sie ist tot.“, antwortete sie. „Als die Leute alle durchdrehten, wollte sie ihnen helfen. Wir probierten Tinkturen aus, Salben und einfache Kräuter, aber sie drehten alle einfach durch. Irgendwann griff einer der Patienten sie an und drückte ihr die Kehle ein.“ „Das tut mir sehr leid.“ „Letztendlich hast du uns ja alle davor gewarnt zu bleiben. Du hast gesagt, dass eine Seuche auf den Weg hierher ist, aber niemand wollte auf dich hören. Nun wurden wir dafür bestraft...“ „Nein, das hat nichts mit einer Strafe zu tun, Cazie. Ob ihr nun gehört hättet oder nicht, es wäre hier ohnehin ausgebrochen.“, sagte er besänftigend. „Ob Sünder oder Heiliger, wir können alle davon ergriffen und infiziert werden. Wir müssen nur für einen Moment wanken.“ „Woher kennt ihr euch eigentlich?“, fragte Argrim, als er wieder in das Zimmer kam. „Ihr wirkt ziemlich vertraut auf mich.“ „Vor einigen Wochen war ich doch bereits hier und da haben wir uns besser kennengelernt.“ Der Zwerg zog eine Augenbraue hoch und sah zwischen ihnen hin und her: „Aha... Ich verstehe schon. Habt euch wohl ziemlich eng kennengelernt, was?“ Seine Vermutung trieb der jungen Frau die Röte ins Gesicht und sorgte dafür, dass sie die Sachen nach brauchbaren Dingen durchsuchte. Irgendwas war vielleicht heil geblieben und konnte noch von ihr verwendet werden. Nun, wo ihre Meisterin tot war, würde sie ihre Position einnehmen und als Heilkundige dienen müssen. Andras hingegen fand es nicht lustig, dass der Axtschwinger sie direkt mit solchen Details aufzog und in Scham führte. Deshalb verpasste er ihm auch direkt einen Hieb in die Seite. Der Zwerg ächzte und blickte ihn vorwurfsvoll an. „Jetzt sei nicht albern, sonst komme ich auf deine Gefühle für Billie zu sprechen.“, sagte er und grinste schief. „Es ist mir auch nicht entgangen, wie du sie immer ansiehst. Also lass‘ das Mädchen mal schön aus dem Spiel.“ „Ich weiß nicht, was du meinst“, empörte sich Argrim sofort. „Ich gucke sie nicht anders an als andere!“ „Solange du daran glaubst...“ „Wie sehr ich mich auch über eure Hilfe freue...“, unterbrach Cazie die Streithähne. „Aber warum seid ihr hierhergekommen? Hier gibt es immerhin nichts und Andras hatte doch gewusst, dass die Seuche uns vernichten wird.“ „Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie euch noch nicht erreicht hat.“ „Sie brach nur einige Stunden später aus, nachdem du gegangen warst.“, erklärte die Rothaarige. „Eigentlich dachte ich, dass du selbst infiziert sein müsstest.“ „Ja, das ist zutreffend, aber ich war schon lange vorher infiziert.“, sagte er gelassen. „Was?!“, rief der Zwerg empört aus. „Du bist einer von diesen Kreaturen?!“ „Ich WAR infiziert... Vergangenheit. Du musst lernen, genauer zuzuhören.“ „Wie kann das denn bitte sein?“, wollte Cazie wissen und warf einen genaueren Blick auf ihn. „Wir haben alles versucht, um dieses schwarze Zeug aus den Körpern der Leute zu bekommen, aber nichts hat geholfen. Wie wurdest du geheilt?“ „Später...“, warf Andras ein. „Lasst uns erstmal ins Dorf gehen. Wir wissen nicht, wie viele hier noch herumlaufen und Billie ist dort alleine. Der Qualm aus dem Schornstein könnte sie anlocken.“ „Ja... Ja, du hast recht.“, stimmte der Zwerg zu. „Wir sollten zurück und dann wird es Zeit für Erklärungen.“ „Natürlich. Cazie, nimm‘ so viele deiner Bücher und Kräuter mit, wie du nur kannst. Falls der Karren noch heil ist, dann nutze ihn für den Transport. Wir werden alles gebrauchen können.“ Sie nickte, behielt ihn aber mit ihren grünen Mandelaugen genau im Blick. Es war schwer zu fassen, dass jemand, der mal infiziert gewesen war, wieder normal werden konnte. Bisher waren sie stets zu blutrünstigen Bestien geworden und kein Mittel hatte diesen Prozess verhindern können. Allerdings wirkte Andras wirklich nicht krank! Er war nicht schwach, bleich oder wie von Sinnen, sondern entspannt und vollkommen fit. Wie viel Zeit sie mit ihren Überlegungen vergeuden, wie ich noch auf den Beinen sein kann. Sie werden es doch nie erraten... Dafür müssten sie das gleiche auch durchmachen. Das wünscht man keinem!, sinnierte Andras mit einem Blick in den Himmel. Zu der gleichen Zeit machte Billiana genau das durch, was er selbst hinter sich gebracht hatte. Es würde schwierig werden, ihr zu helfen.   Ihr Kopf schmerzte so ungemein, dabei konnte die Elfe nicht mal sagen, ob es Einbildung war oder echte Kopfschmerzen. Hier war es generell schwer einzuschätzen, was alles real war und was nur schmerzliche Erinnerungen. Die Realität verschwamm zunehmend... Je länger sie das hier mitmachte desto schwieriger wurde es, nicht auf die Illusionen hereinzufallen. „Billie...“, flüsterte eine ihr vertraute Stimme, dessen Ursprung sie nicht lange suchen musste. Vento war nicht einfach nur ihr ältester Halbbruder, sondern einer der wenigen Männer, der sie auf einer anderen Ebene berührt hatte. Inzest war in ihrer Familie nicht ungewöhnlich, trotzdem hatte es sie überrascht, als er sie damals tatsächlich entjungfert hatte. Nicht, weil es jemand gewollt oder befohlen hatte, sondern wirklich aus eigenem Bestreben. Dabei war er zärtlich mit ihr gewesen und flüsterte ihr hunderte Komplimente zu. Für einen Vampir war es nicht ungewöhnlich, dass er so unaussprechlich gut aussah! Seine Haare waren gräulich und gingen ihm leicht wellig bis zum Nacken. Billiana hatte ihn stets für sein makelloses, aber bleiches Gesicht bewundert, welches von durchdringenden Augen bespickt war. Wie sie es kannte, trug er ein edles, schwarzes Gewand, welches seiner männlichen Gestalt schmeichelte. Es war so geschnitten, dass der Lord der Vampire darin kämpfen konnte, wenn es die Situation erforderte. Obwohl er ebenso ein Markrhon war wie all die anderen, unterschied sich Vento deutlich von den anderen Mitgliedern der Familie. Seine Gier obsiegte niemals der Vernunft. Er trank freiwillig nur das Blut von Tieren, statt von Menschen. Dabei nahm er die Schwächung seines Körpers und seiner Magie in Kauf. Trotz des werwölfischen Blutes in ihm, war er einer der mächtigsten seiner Art. Die offenkundige Feindschaft zwischen eben diesen Rassen hätte eine Zerreißprobe für seinen Körper darstellen müssen, hatte ihn aber wohl nur stärker gemacht. Das Werwolf-Gen blieb aber auch deshalb inaktiv. Wäre es anders, würde sein Organismus sich innerlich selbst zerstören ohne eine Chance auf Wiederkehr. Noch heute fragte sich die Elfe, wie ihr gemeinsamer Vater es geschafft hatte, sich solange bei einer Vampirdame zu beherrschen, um ein Kind zu zeugen. Allerdings wusste sie auch nicht, ob er Ventos Mutter kurz nach seiner Geburt vielleicht getötet hatte. Keiner sprach über sie... Es änderte zumindest nichts an der Weisheit, die Sanftmut und der Weitsicht ihres ältesten Bruders. Er focht keine Kriege aus, die er nicht gewinnen konnte und frönte keiner unnötigen Gewalt. Sein einziges Laster war – wie von allen Vampiren – seine Nymphomanie. Polygamie war in ihrer Rasse nicht ungewöhnlich und auch keine ausschweifenden Orgien in dunklen Kämmerchen. Ihre Schönheit ermöglichte es ihnen mit Leichtigkeit zahlreiche und neue Partner für ihre sexuellen Vorlieben zu finden. Ironischerweise vertraten sie damit das deutliche Gegenstück zu Werwölfen, die normalerweise monogam lebten und sich nur eine Partnerin zur gleichen Zeit nahmen. Starb die Partnerin oder verlor ihren Status, suchten sie sich natürlich ein neues Weibchen, aber bis dahin waren sie absolut treu. Hades bildete hierbei eine extreme Ausnahme! Wobei er früher durchaus nur eine Frau zurzeit gehabt hatte, solange seine Gefühle aufrichtig genug waren. Heutzutage war gerade das undenkbar... „Du warst lange nicht mehr bei mir.“, säuselte er mit seiner verlockenden Stimme. „Sehnst du dich denn nicht mehr nach meiner Nähe? Immerzu sagtest du, dass das zwischen uns besonders sei.“ „Natürlich sehne ich mich nach dir... Mir fehlt deine Stärke.“, antwortete sie schweren Herzens. „Aber das Besondere ist doch schon lange verebbt. Wir haben uns irgendwann kaum noch gesehen...“ „Wenn ich könnte, würde ich dich öfters besuchen.“, hauchte er. „Du weißt, dass ich als Lord der Vampire viele Verpflichtungen habe. Sie folgen nur mir... Immer wieder wollen sie gegen unseren Vater in den Krieg ziehen.“ „Der Hass gegen die Lykaner ist eben stark, aber bisher konntest du sie immer bändigen.“ „Da hast du recht, aber sie sind trotzdem immer bereit, sich dem Herrscher in den Weg zu schmeißen.“, schmunzelte Vento verlockend. „Wenn ich nicht ständig die Hand über ihnen habe, dann werden sie wirklich Dummheiten begehen. Es ist einfach meine Pflicht...“ „Seltsam, dass wir immer unsere Pflicht in den Vordergrund schieben und es die Ausrede für alles ist.“, sagte Billiana seufzend. „Von Vater können wir das nicht haben. Seine einzige Pflicht ist das Saufen und Huren. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge...“ Der Vampir lachte, stimmte aber nickend zu: „Du hast dich ganz schön verändert, Billie.“ „Was meinst du? Ich sehe doch aus wie immer.“ „Ich meine nicht dein Äußeres, Schwester, sondern viel eher dein Inneres.“, warf er ein. „Sonst hat du dich dauerhaft auf allen Vieren gehalten und hast dich animalisch an jede Sache herangewagt. Jetzt tust du es nur noch, wenn du dich unsicher fühlst... Du sprichst, statt zu knurren.“ „Die Leute verstehen einen auch besser, wenn man spricht und es nicht mit Knurrlauten versucht.“, spottete die Elfe lachend. „Das ist es ja nicht mal, Billie... Die Reise macht etwas mit dir. Langsam scheinst du erwachsen zu werden.“ Über solche Details hatte sie seit Wochen nicht mehr nachgedacht. Früher hatte sie sich geärgert, dass sie in dieser jugendlichen Hülle feststeckte und auf der Stelle stagnierte, doch er hatte nicht unrecht. Etwas tat sich in ihr... Bei Wyrnné fühlte sie sich in den ersten Momenten bedroht und unsicher. Eine fremde Umgebung, ein fremder Mann und fremde Kulturen, die sich nach dem Erwachen direkt erschlagen hatten und sie in ihre alten Muster drückten. Es war aber kein Alltag mehr! Es war schwer vorzustellen, dass sie früher ständig auf Schränken, Regalen oder unter Betten verbracht hatte, um knurrend jede Bewegung zu beobachten. Selbst jetzt war es schwer zu glauben, dass sie das bei Wyrnné auch getan hatte. Etwas in ihr fürchtete sich davor, ihre katzenhafte Art zu verlieren. Der andere Teil jubelte und freute sich darauf, endlich erwachsen zu werden. „Willst du das wirklich, Billie?“, fragte Vento. „Willst aufgeben, wer du bist und eine andere werden? Vielleicht mögen wir einander nicht mehr, wenn es so weit ist.“ Sie verzog das Gesicht, während sie ihn ansah: „Wenn du mich nicht mehr mögen würdest, weil ich mich verändere, dann wärst du ein miserabler Bruder und den Gedanken nicht wert. Veränderung ist ein ständiger Bestandteil des Lebens! Ohne Veränderung gibt es kein Leben. Alles verändert sich ständig und du magst ja nicht urplötzlich keine Blumen mehr, weil sie wieder blühen.“ „Das ist doch etwas vollkommen Anderes.“ „Ist es nicht.“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Du hast dich während unseres Kennens auch laufend verändert und ich bin dir trotzdem treu geblieben. Eines wird sich niemals ändern... Dass du mein großer Bruder bist.“ Vento lächelte und sah sie einen Moment lang einfach nur an. Schließlich verpuffte die Illusion. Mehr Worte hatte es wohl nicht gebraucht, damit deutlich wurde, dass sie sich auch diesem Lebewesen nicht beugen konnte. Ihre Gefühle waren stark und sie empfand für viele Männer und Frauen sehr intensiv, doch es beeinflusste nicht ihren Glauben oder ihre Wünsche. Trotzdem empfand sie einen tiefen Kummer. Ihre Familie fehlte ihr... Zumindest ein Teil davon. Es machte ihr Angst zu glauben, dass sie keinen davon jemals wiedersehen würde. Das letzte Gespräch mit ihrem Vater war ein markerschütternder, heftiger Streit gewesen. Er hatte sie nicht gehen lassen wollen und sie hatte einfach nicht hören wollen. Von Vento hatte sie sich gar nicht erst verabschiedet! Dann war da noch Sataniel, der schon immer als ihr Leibwächter gedient hatte und später auch als ihr Ausbilder. Es hatte einen Trick und etwas Magie benötigt, um ihn abzuhängen und endlich auf eigene Gefahr die Unterwelt zu verlassen, was ihm sicher viel Ärger eingebracht hatte. Er suchte sie vielleicht sogar... Das hing davon ab, was Hades von ihm verlangte und in diesem Moment wichtig war. Die einzige Person, um die sie sich nicht sorgen musste, war tatsächlich ihre Tochter. Sie war vielleicht noch jung, aber auch stark, selbstbewusst und klug. Ohne zu wissen, wer ihr Vater ist, hatte sie sich wirklich dem Sensenkampf verschrieben und durch ihre Mutter auch noch eine starke Magiebegabung entwickelt. Selas war in der Unterwelt sicherlich die einzige Frau, die nicht den Schutz der Herrscher-Familie nötig hatte.   „Hast du alles, was ich für das Ritual brauche?“, erkundigte sich Andras bei Cazie. „Keine Zutat darf fehlen.“ „Ich denke schon.“, erwiderte sie und hockte über den zahlreichen Kräutern und Mixturen. Ihre frühere Meisterin hatte jedenfalls einen Hang für eine große Auswahl an Zutaten gehabt. Argrim ging draußen immer wieder seine Runden und stellte sicher, dass sich hier nicht doch noch Besessene hierher bewegten und zu störten. Er kam nur herein, wenn er eine kurze Erwärmung seiner Glieder brauchte oder um sich nach dem Wohlergehen der Elfe zu erkundigen. Bisher blieb ihr Zustand allerdings unverändert. Es ist auch besser, wenn sie sich nicht regt. Sobald sie es tut, müssen wir wirklich vom Schlimmsten ausgehen! Dann können wir nichts mehr für sie tun..., dachte der Schwarzhaarige und warf einige Kräuter in einen alten Kupfertopf. Er fühlte sich ein bisschen wie die alten Hexen aus den Märchen der Menschen. Es fehlte nur noch die dicke Warze auf der Nase, ein struppiger alter Besen und ein sehr schiefes Lachen, dann wäre die Maskerade perfekt. „Meinst du, dass das wirklich eine gute Idee ist?“, hinterfragte die Rothaarige und sah ihn dabei ernst an. „Wenn etwas schiefgeht, dann seid ihr beide verloren. Außerdem könntest du in ihr wahnsinnig viel durcheinanderbringen, wenn du nicht aufpasst.“ „Die Alternative wäre, dass ich zulasse, dass Zodiak eine Gehirnwäsche durchführt und sie gegen uns hetzt. Vielleicht lässt er sie zur Sicherheit sogar Selbstmord begehen!“ „Warum hängst du so an ihr?“ Er war sich nicht sicher, ob Cazie das aus Eifersucht fragte. Frauen konnten sehr eitel sein, wenn man mit ihnen das Bett geteilt hatte und noch mehr fiel es ihnen schwer, Gefühle und Lust zu trennen. Wenn sie sich in ihn verliebt hatte, dann konnten einige Informationen ihr sauer aufstoßen. Es brachte aber auch nichts zu schweigen und alles für sich behalten zu wollen. „Ursprünglich sollten wir mal heiraten.“ „Bitte... Was?“, fragte sie entsetzt und starrte auf die goldhaarige Elfe. „Du solltest sie heiraten?“ „Ja...“, bestätigte der Schwarzhaarige. „Wieso überrascht dich das so sehr?“ „Weil sie so jung aussieht! Das kann doch nicht besonders lange her sein...“ „Der Schein trügt öfters, als du glaubst. Sie ist viel älter als du. Älter als fast jedes Lebewesen... Nur wenige leben schon länger als sie.“ „Ist sie eine dieser Langlebigen?“ Er nickte gemächlich: „Ja. Und es würde ihr gefallen, dass du es so bezeichnest und nicht als Unsterbliche.“ „Wieso seid ihr nicht mehr verlobt?“, wollte Cazie wissen. „Habt ihr euch gestritten?“ „Es war eine arrangierte Hochzeit. Ursprünglich sollte sie den Prinzen der Drow heiraten, doch kaum hatte man sie zusammengeführt, haben sie sich nur gezofft. Erst hofften die Leute, dass das aufhören würde, wenn sie erstmal wuchsen und reiften, doch es wurde eher noch schlimmer.“, erklärte er gelassen. „Elghinn blieb in seinem Kopf unreif und mutierte zu einem richtigen Muttersöhnchen, während Billiana immer klüger und gewandter wurde. Ihre Anmut überflügelte ihn rasend schnell, was für noch mehr Unruhen zwischen ihnen sorgte. Jedes Mal rissen sie sich gegenseitig Haarbüschel aus! Das Geschrei war im ganzen Unterreich zu hören... Lloth fand das nicht witzig und Hades auch nicht.“ „Aber es ist doch nicht ungewöhnlich, dass arrangierte Ehen nicht funktionieren.“, sagte die Heilkundige und warf einige Kräuter in den Topf. „Es geht ja nicht um Liebe, sondern um Politik. Wenn sich die Partner alles aussuchen dürften, dann hätten alle Länder für alle Zeiten Krieg.“ „Damit hast du natürlich recht, doch es ist nicht so, dass Hades mit den Drow ein kippliges Bündnis hat. Die Wahrheit ist, dass er es selbst mit ihrer Königin treibt. Diese Ehe sollte eher eine Festigung des Bandes werden und eine neue Ära für die Drow einläuten. Lloth mochte Billie zwar nie, erkannte aber ihr Machtpotenzial und das von zukünftigen Erben.“ „Und es wurde aufgelöst, weil sie sich einfach nicht verstanden? Das Potenzial war plötzlich unwichtig? Sie hätten sie doch zwingen können.“ „Das hätten sie tun können, doch in einer Sache waren sie sich beide einig: Sie liebten ihre Kinder mehr als Macht. Es ist wohl so ziemlich das einzige, was sie mehr liebten als ihre Macht zu erweitern...“ Für einen Moment schwieg die Alchimistin und warf einen Blick in das Buch, um die nächsten Zutaten, Mengen und Zubereitungen genau zu studieren. Es musste wirklich schwer vorzustellen sein, dass die Blondine eine Adlige aus einer ganz anderen Welt war und er sie ursprünglich ehelichen sollte. Dann hätte er einen Titel durch Heirat bekommen. Sie musste eine Art Prinzessin sein! Als die nächsten getrockneten Blumen in dem Gebräu landeten, blickte sie wieder zu ihm: „Wie kamst du dann ins Spiel? Du siehst nicht aus wie ein Dunkelelf... Eigentlich siehst du wie ein Mensch aus.“ „Tatsächlich waren meine Eltern auch Menschen, ebenso wie meine Vorfahren. Sie wurden zur frühen Zeit in die Unterwelt ohne Wiederkehr verbannt und haben sich dort vermehrt. Schnell lernt man, sich den Gesetzen dieser Welt anzupassen und entwickelt entweder Potenzial oder stirbt.“, erklärte Andras. „Durch unsere lange Existenz dort und die Macht, die wir über die Jahrhunderte aufgebaut haben, sind wir schnell in der Nahrungskette nach oben gestiegen. So etwas wie Adelshäuser gibt es nicht in der Unterwelt, aber es gibt Lordschaften unter dem Herrscher. Sie sind Lords von irgendwas! Meistens um bestimmte Völker oder Rassen zu kontrollieren, die nur einem der ihren Folgen würden.“ „Bist du solch ein Lord?“ „Nein, nein... Wir haben keine besonderen Rassen-Gene in uns. Keiner würde uns folgen. Aber mein Vater ist die rechte Hand einer Lordschaft.“ „Warum wollte er sie dann nicht mit diesem Lord verheiraten oder dessen Erben?“ „Der Lord ist schwul.“, sagte er ganz unverblümt. „Er weigert sich eine Frau zu heiraten und frönt lieber dem gleichen Geschlecht. Deshalb kann man ihn nicht verheiraten und es gibt auch keine Erben. Mein Vater und er sind aber wie Brüder, also komme ich einem Erben am nächsten.“ „Was passierte dann? Warum keine Hochzeit?“ Der Nekromant lachte amüsiert. Dass die Rothaarige nicht selbst draufkam, überraschte ihn ehrlich. Eigentlich hatte sie erlebt, wie er eigentlich tickte. Vielleicht kam sie aber noch drauf, weshalb er sich weiter der Tinktur widmete und die nächsten Zutaten hineinwarf. Cazie warf ihm immer wieder Blicke zu, bekam jedoch keine Antwort von dem Schwarzhaarigen. Die Gedanken kreisten wild umher, wieso er ihr nicht antwortete und was genau passiert sein könnte, doch in den ersten Momenten sah sie immer nur die Elfe und ihn... Wie glücklich sie miteinander sein konnten! Lachend mit vielen kleinen Kindern. Alle mit kleinen Krönchen und Diademen. Für immer gebunden an den Thron und zu großer Macht verholfen. „Du bist weggelaufen!“, keuchte sie, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. „Korrekt.“, bestätigte er ihr. „Mir war das alles zu anstrengend und ich hatte keine Lust, ein Lord oder Prinz zu werden. Da habe ich meine Sachen gepackt und bin einfach davongelaufen. Natürlich brachte es mir den Status eines Verräters ein, aber ich musste auch nicht heiraten.“ „Sehr erwachsen...“ „Darüber sprechen wir nochmals, wenn du gezwungen wirst, irgendeinen Mann zu heiraten und plötzlich einen Titel zu übernehmen.“, warf Andras mit einem schiefen Grinsen ein. „Mal sehen, wie lange du dann durchhältst, bevor du türmst.“ „Glücklicherweise wird das nie passieren. Ich bin keine Adlige und auch sonst nicht von Bedeutung.“ Du hast mehr Bedeutung als du glaubst... Alleine, weil du lebst. Viele stellen sich selbst unter den Scheffel., dachte der Nekromant für sich, Irgendwann wirst du sehen, wie wertvoll du bist. Hoffen wir, dass es dann nicht zu spät ist.   Es dauerte noch gut zwei Stunden bis sie das Ritual endlich zu Ende vorbereitet hatten. Immer wieder kam Argrim herein, wärmte sich auf und erkundigte sich nach Billiana. Was genau die beiden trieben, wollte er nicht wissen und beteuerte immer wieder, dass es besser so sei. Von Magie habe er keine Ahnung und es würde nur in seinem Inneren zu Protesten kommen, wenn er es genauer wüsste. Vermutlich hatte er damit durchaus recht. Als der Zwerg wieder im Schneetreiben verschwand und seine Streitaxt dabei fest in den Händen umklammerte, sah Andras ihm für einen Moment noch nach. Er musste sicher sein, dass er sich nicht spontan umdrehte! Das hatte er ein paar Mal getan, weil er innerlich wohl doch mehr wissen wollte. „Bist du sicher, dass du das tun möchtest?“, fragte Cazie und riss der Elfe gerade einige Haare samt Wurzel heraus. Natürlich an einer Stelle, bei der es nicht auffallen würde, dass welche fehlten. „Ich habe keine andere Wahl, Cazie.“ „Man hat doch immer eine Wahl.“, erinnerte sie ihn. „Aber du kennst sie offenbar kaum und willst dich in ihren Kopf begeben. Die Wahrscheinlichkeit ist ungemein hoch, dass du dich verirrst und nie wieder aufwachst.“ „Ja, mir sind die Konsequenzen durchaus bewusst, danke sehr.“, murmelte der Schwarzhaarige und riss sich selbst einige Strähnen samt Wurzel heraus. Auch wenn es ungemein schmerzte, zuckte er nicht mal und war auch nicht traurig über den Verlust. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch der Heilkundigen: „Achte du einfach darauf, dass mein Körper am Leben bleibt und Argrim nicht durchdreht. So ganz ohne Führer kann es wirklich lange dauern und wenn Billie mich noch abstößt, sowieso...“ „Ich weiß.“, sagte sie bitter. „Ich werde darauf achten, dass es dir an nichts fehlt.“ Gerade, als er sich mit einem Becher etwas aus dem Topf abschöpfen wollte, landete ein anderes Holzgefäß darin und füllte sich etwas ab. Sofort hob Andras seine roten Augen und erkannte einen schwarzhaarigen, attraktiven Mann, der frech grinste. „Connar...“, murmelte der Nekromant. „Was willst du denn hier?“ „Ich werde dort dein Führer sein, mein Lieber. Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen?“ „Doch, klar, ich bin vollkommen außer mir vor Freude.“, sagte er trocken. „Leider hast du dir nicht zu eigen gemacht, dass man dir trauen kann.“ „Das beruht doch auf Gegenseitigkeit, du kleiner Wegläufer.“, amüsierte sich der Schwarzmagier. „Ob du nun willst oder nicht: Ich komme mit dir.“ „Ich hatte befürchtet, dass du das sagst...“ Die Rothaarige war vollkommen verwirrt und sah zwischen den Männern hin und her. Sie kannte die Familie der Markrhon nicht und würde erst recht keine Verwandtschaft bei ihnen erkennen. Alle Kinder von Hades konnten unterschiedlicher nicht sein, weil er sich stets auf andere Frauen einließ. Andere Rassen, andere Gene, andere optische Besonderheiten... Alles übertrug sich auf seine Kinder, die schon bald in der ganzen Welt verbreitet waren. Alle hatten aus unterschiedlichen Gründen die Unterwelt entweder komplett verlassen oder sich aus der Nähe des Herrschers zurückgezogen. Trotzdem war es klug, sich jetzt nicht einzumischen. Diese Familie war überaus eigen, wenn es darum ging, sich insgeheim gegenseitig zu beschützen. Das wusste auch Andras, der Cazie in diesem Augenblick keine Beachtung schenkte. Er wusste eigentlich sehr genau, dass Connar ihn nicht betrügen würde, solange Billiana nicht in Sicherheit war. Außerdem war er seine beste Chance, um sich in ihrem Kopf zurecht zu finden und die Erinnerungen zu filtern. „Also gut, dann ist es eben so...“, murmelte der Hüne leise. „Du bist ihr Bruder und kennst sie besser als die meisten. Du wirst mich führen und ich erledige den Rest.“ „Deal.“, erwiderte Connar feierlich und grinste breit. „Du wirst schon sehen, Andras der Läufer, dass ich dir da drin mehrmals den Arsch retten werde.“ „Hör‘ auf mich so zu nennen, sonst lasse ich dich in ihrem Verstand zurück.“ „Dann solltest du nicht immer gleich weglaufen, wenn etwas ernst wird.“ „Das war ein Mal. Ein einziges Mal.“, erinnerte Andras ihn und wandte sich an Cazie. „Auch, wenn ich es im Moment fast anders regeln möchte, achte bitte auch auf seine Gesundheit. Lass‘ Argrim ihn nicht köpfen. Vielleicht überlege ich es mir noch anders, wenn er noch ein paar Kommentare bereit hält...“ „Klar, ich achte auf euch beide...“, murmelte die Rothaarige und musterte die beiden Männer weiter. Sie schienen vom Wesen her nicht vollkommen verschieden, sondern eher ähnlich, dennoch bekämpften sie sich wie Feuer und Eis. Gerade die Ähnlichkeiten schienen es ihnen unmöglich zu machen, vernünftig miteinander klarzukommen. Solange es in dem Kopf der Elfe keine Schwierigkeiten bereitete, machte es nichts. Irgendwie glaubte die Heilkundige aber nicht, dass sie sich dort zusammenreißen konnten. Beide warfen in ihren Becher die eigenen Haare herein samt Wurzeln. Sofort lösten sie sich in dem Gebräu auf, welches in einem giftigen Grün dampfte. Alleine das Wissen um die Zutaten konnte für massive Übelkeit sorgen, was durch Farbe und Geruch nicht unbedingt besser wurde. Natürlich machte es keinen Unterschied... Sie mussten es zu sich nehmen, solange der Verstand der Blondine blockierte. Das tat sie nicht absichtlich, sondern durch den Einfluss des Urbösen, der keine Störungen wollte. Die Männer sahen einander an, dann hoben sie die Holzbecher, um die Flüssigkeit einfach herunterzustürzen. Nicht schmecken war die Devise! Trotzdem verzogen sie alle beide fast synchron angewidert die Gesichter. Bei der Geschmacksexplosion konnte wohl niemand lange die Fassade eines gelassenen Mannes aufrechterhalten. Beide setzten sich auf die nahen Matratzen, die nicht wirklich bequem waren, ihren Zweck jedoch erfüllten. Sie mussten sich darauf verlassen, dass Cazie in jedem Fall richtig reagierte und handelte. Wenn Billiana zum Beispiel doch Zodiak nachgab, musste sie getötet werden und wenn etwas von den Männern Besitz ergriff, mussten sie solange gefesselt werden wie möglich. Notfalls würde sie die Hilfe des Axtschwingers brauchen, der sicherlich bald hereinkommen würde, um die Lage zu prüfen. Es war sogar wahrscheinlich, dass Zodiak ihre Positionen durch das Eindringen und Einmischen herausfinden würde. Dann konnte es passieren, dass er zahlreiche seiner Untergebenen schickte, damit sie alle hier töteten. Das wäre eine kritische Situation, da Cazie selbst keinerlei Kampferfahrung besaß und deshalb nur der Zwerg da war, um die Truppen aufzuhalten. Der Schneefall bot ihnen nur minder Vorteile und würde nur wenig Zeit schinden. „Falls... sie angreifen, dann gebt nicht auf...“, murmelte Andras, der die drückende Müdigkeit schon spürte. „Einige Mixturen haben sicherlich eine... explosive Wirkung auf Angreifer...“ „Es wird schon werden.“, erwiderte die Rothaarige. „Entspann‘ dich bitte und denk‘ nicht daran, was sein könnte. Konzentrier‘ dich auf deine Aufgabe.“ „In Ordnung... Sei trotzdem vorsichtig.“ „Natürlich.“, sagte sie lächelnd. „Ich werde vorsichtig sein.“ Mit diesem Bild vor den Augen verschwamm alles und kurz darauf wurde es schwarz. So in etwa war es sicherlich auch Billiana gegangen, als sie geschwächt genug gewesen war, damit Zodiak seine Machtübernahme beginnen konnte. Dazu noch das bleierne Gefühl von aufsteigender Übelkeit, damit es auch möglichst unangenehm war. So war der Eintritt in diese Welt war perfekt. Natürlich war es keine Welt im eigentlichen Sinne, sondern viel mehr die Erinnerungen eines Menschen oder Nichtmenschen. Anhand der Haare – Blut wäre natürlich auch eine Möglichkeit – wurde die Person festgemacht, in dessen Verstand der Aufbruch geplant war. Im Anschluss musste die Person oder die Personen ihre eigenen Haare beziehungsweise ihr Blut in den Becher werfen, um sich selbst als Reisenden anzumelden. Sobald das Gebräu getrunken wurde, begann das eigentliche Ritual... Gefährlich hierbei war nicht einfach nur, dass man sich in einen fremden Kopf aufmachte. Es war vielmehr die Tatsache, dass die eigene Seele sich vom Körper loseiste, damit sie in den Kopf des Betroffenen eindringen konnte. Verirrte sich der Besucher oder starb in einer der Erinnerungen, kehrte natürlich auch die Seele nicht mehr in den Körper zurück. Um eine Rückreise zu ermöglichen, mussten sie in einer bestimmten Zeit ihr Ziel erreichen und den Kopf von sich aus wieder verlassen. Selbstverständlich musste der Besitzer dieses Ortes dem Verlassen mehr oder minder zustimmen, was die nächste Schwierigkeit machte. Bei Komplikationen gab es also kein Zurück mehr... Kam es zu der Lage, dass sie nicht mehr aus ihrem Kopf herauskamen, dann blieben ihre Seelen solange ein Teil von ihr, bis sie selbst verstarb. Wenn das passierte, würden sie jedoch in der Zwischenwelt landen und verkümmerten zu Schattenwölfen oder anderen formlosen Gestalten. Selbst wenn sie starb und ihre Seelen dadurch wieder frei wurden, wäre es zu spät für sie. Doch sie waren beide bereit den Preis zu zahlen, wenn sie versagen sollten.   Die beiden Männer erwachten erschöpft und verwirrt an einem dunklen Ort. Die katakombenartigen Wände waren mit Schädeln verarbeitet worden. Alleine die Fackeln in den Ständern spendeten schwaches Licht und machten zu deutlich, wo sie sich befanden. „Das ist das Schloss eures Vaters...“, merkte Andras an, während er sich auf die Füße zog. Noch war er ganz wacklig. Nicht ungewöhnlich nach dieser Reise und ohne den eigenen Körper zur Verfügung zu haben. „Ach nein...“, murmelte Connar sarkastisch und klopfte sich die Kleidung ab. „Wie schön, dass ein Wegläufer den Ort erkennt, vor dem er geflohen ist.“ „Was ist denn bloß dein Problem? Solltest du nicht froh sein, dass deine Schwester nicht gezwungen wurde, einen Fremden zu heiraten?“ „An sich schon, aber du hättest sie vielleicht glücklich machen können. Du bist immer einer der wenigen Typen in der Unterwelt gewesen, der nicht wahnsinnig und ein Mörder ist.“ „Meine Eltern würden dir etwas Anderes sagen.“, amüsierte sich Andras. „Es ist besser so, Connar. Jetzt bin ich bei ihr und ich stehe ihr bei. Als Gatte wäre ich ungeeignet gewesen, aber als Freund kann ich ihr eine Hilfe sein.“ Der Schwarzmagier wirkte einen Moment skeptisch, nickte dann aber zustimmend: „Ja, es ist vermutlich besser so.“ „Also warum gerade dieser Ort?“, wollte Andras wissen. „Was sucht sie hier?“ „Es wird der erste Ort sein, den Zodiak ihr gezeigt hat, um ihr Vertrauen zu wecken. Es muss für sie möglichst real sein und nichts ist realer für einen Markrhon als die Unterwelt.“, erklärte er und sah sich um. „Wie ich Zodiak einschätze, hat er ihr ihren Vater gezeigt. Wir sollten also mal zum Thronsaal gehen.“ „Wieso gerade euren Vater?“ „Weil alle denken, dass wir Markrhon-Kinder absolut abhängig von ihm sind und uns niemals wiedersetzen würde.“ Der Nekromant lachte leise auf: „Ist das nicht wahr? Ich habe nie gesehen, dass es anders sei.“ Connar antwortete darauf nicht. Viele verstanden die morbiden Familienbande nicht, die sie in der Familie vereinten. Fälschlicherweise gingen alle davon aus, dass sie von Hades abhängig waren, doch die Wahrheit war, dass es umgekehrt war. Hades verlor sich ohne seine Kinder. Seine Kinder aber flohen, sobald sie eine Chance dazu hatten. Niemand wollte sich in seinen Bann ziehen lassen, um letztendlich für immer im gemachten Nest zu bleiben. Es verkümmerte die eigenen Träume und machte auf eine Art und Weise abhängig, die für niemanden auf Dauer wirklich gesund sein konnte. Er war eines der wenigen Markrhon-Kinder gewesen, das niemals in Hades‘ Nähe aufgewachsen war. Alathaia – seine Meisterin in Magie und anderen Dinge – hatte ihn von Anfang an großgezogen. Sie hatte ihm immer wieder gesagt, dass Hades ihn weggegeben habe, wegen eines Paktes mit ihr. Für ihn gab es keinen Grund, dass es eine Lüge sein könnte und es wäre nicht das erste Mal, dass er so etwas seinen Kindern antat. Zumindest hatte es ihn davor geschützt, abhängig von ihm zu werden oder ein festes Band zu knüpfen. Sein Band hatte er stattdessen zu seinen Halbschwestern geknüpft, die er wahnsinnig vergötterte. Im Thronsaal fanden sie genau das vor, was Connar schon vermutet hatte: Leere. Billie hatte sich sicherlich dem Vater gestellt und die Illusion zerschlagen. Ein trauriger und dummer Versuch, sie auf diese Weise zu brechen. „Was nun?“, fragte Andras. „Hier muss irgendwo ein Weg zur nächsten Erinnerung sein.“ „Sie wird den Thronsaal verlassen haben und ging sicherlich von hier aus in Richtung ihres Zimmers.“, antwortete der Schwarzmagier. „Dort wird dann auch irgendwo der Durchgang zur nächsten Erinnerung sein.“ Das Wandern in einem Verstand war viel eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Sie mussten immer wieder Vermutungen folgen und hoffen, dass sie an den richtigen Punkten herauskamen, damit sie die Elfe fanden. Gerade weil jeder falsche Schritt sie weiter von ihr wegbringen würde und die Suche sich endlos ziehen konnte. Wie Connar es prophezeit hatte, fanden sie den Durchgang und konnten in die nächste Ebene ihrer Erinnerungen steigen, welche Zodiak für sie auserwählt hatte. Andras wusste, dass er wie ein Parasit durch alles kroch, was einen ausmachte und nach möglichen Schwachpunkten suchte. Es konnten andere Mitmenschen sein, die einen einst berührt hatten oder Ereignisse, die das Grundgerüst erschütterten und einen massiv verändert hatten. Manchmal waren es so unbedeutende Geschehnisse, dass man sich selbst nur dunkel daran erinnerte... Ihre Bedeutung schien erst dann deutlich zu werden. „Was meinst du, wird er in ihr finden?“, fragte Andras. „Kann er sie umpolen, wenn er genug Zeit hat?“ „Mit genügend Zeit und Ressourcen kann jeder gekippt werden. Billie ist zwar ein besonderer Härtefall, aber auch nicht unumstößlich.“, antwortete Connar ungewöhnlich gelassen. „Wenn er lang genug wühlt, wird er herausfinden, dass vieles in ihr zerbrochen wurde und nie wieder rekonstruiert werden kann. Hat er genug Zeit, wird er herausfinden, wie oft sie sich verliebt hat, um schließlich doch enttäuscht zu werden. Billie hat so vieles verloren und so wenig bekommen... Ganz ehrlich: Wenn er nur einige Wochen Zeit hat, dann kann er ihr ganzes Selbst umwühlen und all ihre Verluste, ihren Schmerz und ihre Einsamkeit gegen sie verwenden. Das, was sie durchlitten hat, kann nie repariert werden.“ „Habe ich meinen Beitrag dazu geleistet? Als ich abgehauen bin, um nicht zu heiraten?“ „Sicher...“, erwiderte er kühl. „Aber du warst nur ein Teil des großen Ganzen. Ein kleiner Fisch in einem großen Teich. Wenn Billiana ehrlich ist, dann sucht sie nur die großen, süßen Lügen des Lebens. Die Lüge der aufrichtigen, uneingeschränkten Liebe und die Lüge der einen Aufgabe, die alles wiedergutmacht. Mit diesem süßen Nektar der Verzweiflung kann er sie bekommen, wenn er es nur geschickt genug einsetzt.“ „Du glaubst, dass Liebe eine Lüge ist?“, hinterfragte Andras ehrlich überrascht. „Hat nicht euer Vater selbst die eine, wahre Liebe gefunden? Die Liebe auf den ersten Blick?“ „Das ist wahr und ich bezweifle auch nicht, dass Liebe existiert oder funktionieren kann. Allerdings bezweifle ich, dass es sie wirklich uneingeschränkt und aufrichtig gibt. In jeder Beziehung wird es Schattenseiten geben. Streitigkeiten, Unsicherheit... Überall, wo Licht erstrahlt, ist auch Schatten. Desto heller das Licht umso dunkler sind die Schatten.“ Der Nekromant zog die Stirn kraus und musste dann doch etwas schmunzeln. Das verwirrte Connar, der ihn anblickte, als wollte er ihn gleich anspringen. Sofort hob er abwehrend die Hände: „Ich dachte bloß, dass es in der Unterwelt dann wahnsinnig viel Licht geben müsste, bei so vielen Schattenseiten.“ Für einen Moment wurde es vollkommen still. Dann mussten sie beide lachen. Es war nicht wirklich witzig, doch es ließ sie zumindest etwas vergessen, was ihre Mission war und was alles auf dem Spiel stand. Wie Billie diesen Druck aushielt, würden sie beide niemals begreifen...   „Wieso hast du mich alleine gelassen?“, fragte Selas und sah ihre Mutter mit traurigen, eisblauen Augen an. „Ich brauche dich doch. Du lässt mich unter Vergewaltigern und Mördern zurück, um einer Ahnung zu folgen. Das ist absurd! Bedeute ich dir wirklich so wenig?“ Selas war eine der schönsten Frauen, die Billiana jemals gesehen hatte. Vielleicht klang das ein bisschen eitel, da sie immerhin ihre erstgeborene Tochter war und gewisse Ähnlichkeiten aufwies, aber trotzdem konnte sie das nicht abstreiten. Ihr langes, goldenes Haar ging ihr bis zum Hintern und lockte sich dabei so wundervoll schwungvoll. Die leicht spitzen Ohren hatte sie ebenfalls von ihrer Mutter geerbt, genauso wie die hellen Augen. Ihre blasse Haut aber bildete einen starken Kontrast zu Mutter und Vater, die beide eher gebräunt waren. Das konnte jedoch auch von der Dunkelheit der Unterwelt kommen und sich ändern, sobald sie die Oberwelt betrat. Meistens trug sie schön geschwungene Diademe und hübsche Gewänder so wie jetzt auch. Nur im Training oder Kampfsituationen griff sie zu Rüstungen und Lederkleidung. Eigentlich war Selas durch und durch eine Frau wie jede andere, nur, dass sie schon früh Ambitionen zum Kampf gehabt hatte. Das musste ein Erbe Sataniels sein... Zwar griff sie genauso zu dicken Wälzern wie Billiana, aber wenn sie die Wahl hatte, dann würde sie eher die Sense schwingen als eine Feder. Bedauerlicherweise konnte die junge Mutter das sogar nachvollziehen und wollte sie deshalb nicht hindern. Selas war stark... Auf ihre ureigeneweise war sie stärker als alle anderen Markrhons vor ihr. Vermutlich würde sie auch alle nach ihr überflügeln! So oft habe ich mich an dich gelehnt... Eigentlich hättest du dich an mich lehnen sollen. Ich hätte die Starke sein sollen!, schämte sich Billie gedanklich. Du musstest viel zu früh erwachsen werden. Hast viel zu viel mitansehen müssen... Eigentlich verdienst du eine bessere Mutter als mich und ein besseres Zuhause. Billiana war unwahrscheinlich jung bei der Geburt ihrer Tochter gewesen. Um ihre Schwangerschaft geheim zu halten, hatte Hades sie zu einem befreundeten Lord geschickt. Natürlich unter den Deckmantel einer Ausbildung, die sie dringend benötigte! Dort hatte sie ihre Schwangerschaft in Ruhe aussitzen können und dort hatte sie Selas schließlich auch geboren. Kaum einer wusste davon. Oft hatte ihre Tochter sie gefragt, warum sie nicht wusste, wer ihr Vater war und immer wieder hatte Billie keine gute Antwort parat gehabt. Immer nur die Floskel, dass die Unwissenheit in diesem Fall wirklich besser für sie sei. Natürlich war das nicht sehr befriedigend gewesen, aber irgendwann hatte sie dann endlich aufgehört zu fragen. Ihr zu erzählen, dass Sataniel es war und er sie so schändlich verraten hatte, konnte sie nicht... Er war ihre erste große Liebe gewesen und schien für alles Übel in ihrem Leben zu stehen. So sehr wollte sie Selas nicht in den Abgrund ziehen... Sie verdiente es, dass sie sich ausmalen konnte, wie ihr Vater vielleicht war. Er konnte alles sein! Ein toller Maler, ein Krieger, ein Gelehrter... Nur eines konnte er niemals sein: Ein Vater. „Du bist stark...“, flüsterte die Elfe kleinlaut. „Bisher hattest du nie Probleme in der Unterwelt. Anders als ich... Du warst immer meine Stütze und nicht umgekehrt.“ „Denkst du das denn wirklich? Ich brauche dich... Du bist doch meine Mutter!“, warf Selas berechtigt ein. „Ob du es glaubst oder nicht, du hast viel Leid von mir abgehalten, einfach nur, weil du da warst. Onkel Lucigar zum Beispiel... Er würde bei dir nicht so leicht zuwider handeln, aber wenn du nicht da bist...“ Es stach ihr mitten ins Herz. Natürlich wusste Billiana, dass viele ihrer Verwandten sich tatsächlich nur wegen ihr zusammenrissen. Sie war nicht nur das Goldkind ihres Vaters, sondern eben auch vieler Markrhons. Manche fanden eine nahezu zärtliche Seite an sich, wenn sie da war... Nun war Selas jedoch ohne ihre Mutter und konnte sich nicht mehr hinter ihrem Rücken ducken. Ich habe vielleicht einen Fehler gemacht, als ich meine Tochter alleine ließ... Sie ist mein Kind. Sie wird es immer bleiben! Noch kann ich eine gute Mutter werden..., dachte sie entschlossen. „Wirst du bleiben, Mutter? Wirst du für mich da sein und mich vor der Dunkelheit beschützen, die mich einzuholen droht?“, wollte Selas wissen. „Bist du bereit, das Richtige zu tun?“ „Ja... Ja, das bin ich.“ In diesem Augenblick wollte sie mit niemandem tauschen. Wenn ihre Tochter lächelte, dann schien alles zu strahlen. Die Sonne ging mit einem Schlag auf und erwärmte alles in ihr und spendete ihr Kraft. Als die Halbelfe auf sie zukam, schrumpfte sie. Schritt für Schritt ein bisschen mehr. Kurz darauf war sie in der Gestalt eines Kindes. Schon als kleines Mädchen war Selas erstaunlich hübsch gewesen. Ihre langen, blonden Haare lockten sich sogar noch stärker und die Augen waren groß und bezaubernd. Sie hatte stets bekommen, was sie wollte... Früh hatte sie gelernt, ihr Umfeld zu manipulieren und von ihnen zu fordern, was immer sie sich wünschte. Mit ihren tapsigen Füßchen konnte sie das dickste Eis zum Schmelzen bringen. Billiana hockte sich hin und breitete ihre Arme aus, damit sie ihr Kind in Empfang nehmen konnte. Zärtlich umschloss sie es und wog es auf und ab. Das hatte Selas früher stets geholfen, einzuschlafen und die dunklen Träume zu vergessen. Dann hatte sie aufgehört zu weinen. Warme Tränen bildeten sich in den Augen der viel zu jungen Mutter und sie spürte, wie sich etwas Dunkles um ihr Herz schlang. Es drückte, es zog und es erinnerte sie daran, warum sie einst einer Ahnung gefolgt war, statt im sicheren Zuhause zu bleiben. Der winzige Körper ließ sie daran denken, warum es wichtig war, dass es Personen gab, die ihr eigenes Wohl unter das Wohl aller stellten. Was bedeutete schon der Schmerz einer einzigen Person gegen die aller? Ganz zärtlich begann sie zu summen. Leise, warmherzig und mütterlich. Es war das Schlaflied, welches sie Selas früher immer vorgesungen hatte. Seit dem ersten Tag ihrer Geburt an. Manchmal sogar während ihrer Schwangerschaft, wenn der kleine Wurm in ihr getreten hatte... Sie musste bei diesem Gedanken lächeln. Anfangs hatte es Billie so ungemein genervt, dass sie ein Leben austragen würde und wie es sie einschränkte, doch bald hatte sie sich so unendlich verliebt, dass all der Kummer nebensächlich wurde. „An dem Tag, als du geboren wurdest...“, flüsterte Billie und konnte ihre Tränen nicht mehr bremsen. „Habe ich die wahre Liebe entdeckt. Diese aufrichtige und uneingeschränkte Liebe kann dir kein Mann und keine Frau jemals schenken. Du warst das eine Licht in der Dunkelheit. Der eine Hoffnungsschimmer, der mich an Märchen glauben ließ und mich einer Ahnung nachjagen ließ...“ „Mami...?“, fragte die zarte Kinderstimme. „Warum weinst du denn, Mami?“ „Weil ich so glücklich und so dankbar bin, Selas...“, schluchzte die Blondine. „Und ich hoffe, dass ich es dir irgendwann sagen und zeigen kann. So, wie du es eigentlich schon immer verdient hast...“ Verwirrte, große Kinderaugen sahen zu ihr auf. Sie schienen nicht zu verstehen, was hier vor sich ging und wovon ihre Mutter da sprach. Eigentlich konnte sie nur sehen, dass ihre Mami weinte. Einst hatte man Selas erklärt, dass Mamis nur dann weinten, wenn ihnen etwas wehtat. Zum Beispiel dann, wenn sie sich den Fuß an etwas Hartem stießen oder die Suppe zu heiß war. „Hast du Aui, Mami?“, fragte sie voller Unschuld. „Soll ich Pusti machen?“ „Nein, mein Schatz... Es ist alles gut. Bald ist alles wieder in Ordnung.“, schwor sie und drückte ihr Bündel für einen Moment fester an sich. „Irgendwann... Irgendwann, wenn du eigene Kinder hast, wirst du verstehen, warum ich das... tun muss. Vielleicht kannst du mir dann verzeihen. Ich liebe dich.“ Das hier war ihr Verstand und sie war die Herrin über alles, was hier vor sich ging. Mehr oder minder zumindest... Deshalb war es nicht allzu schwer, aus dem Nichts einen Dolch zu erschaffen und ihn in die Illusion ihrer liebsten Tochter zu stechen. Sie sah mit schwerem Herzen das entsetzte Kindergesicht, welches unter Tränen in einem schwarzen Dunst einfach verschwand. Bittere Kälte ergriff Billiana und ließ sie auf allen Vieren in sich zusammensacken. Sie spürte, wie etwas in ihr zerbrach. Auch wenn es nicht ihre echte Tochter war, hatte sich die Tötung von ihr durchaus echt angefühlt. Schmerzhaft... Als habe sie sich selbst einen lebenswichtigen Teil entrissen! Sie weinte um die Dinge, die sie einst verloren hatte und noch mehr weinte sie um die Dinge, die sie vielleicht mal verlieren würde. Innerlich schwor sich die Blondine, dass sie zurückkehren würde. Sie würde nicht sterben! Weder heute noch auf dieser Reise... Selas verdiente es, dass sie endlich die Rolle annahm, für die sie geschaffen worden war. Sie verdiente eine liebende, starke und gefestigte Mutter, die nicht auf sie angewiesen war. Und ich verdiene es auch... Ich verdiene Frieden und Zufriedenheit. Wärme... Ich verdiene es, dass ich eine zweite Chance bekomme. Doch für den Augenblick wollte sie einfach nur verharren. Zitternd und bibbernd weinte sie so bitterlich, wie sie noch nie zuvor geweint hatte. Nicht mal als Kind. Nicht mal, als ihr Onkel sie das erste Mal vergewaltigt hatte... Es war die schrecklichste Erfahrung ihres Lebens und sie brauchte gerade die Dunkelheit ihres Herzens, um diesen Augenblick überwinden zu können. Alleine... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)