Hinter der Fassade von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 28.5: Das Ende der Reise | A ------------------------------------ Damals, als Laslow in den Dienst seines Prinzen getreten war, hatte er schon gewusst, dass ihr gemeinsamer Weg einmal hier enden würde. Im Herzen von Valla, im Angesicht des Monsters, das einmal ein warmherziger, großzügiger Drachengott gewesen war. Damals hatte er nicht gewusst, dass dieser Ort Schloss Gyges sein würde. Damals hatte er nicht gewusst, welche Schrecklichkeiten sich auf dem Weg hierher befinden würden. Wie viele Freunde er finden würde. Und wie viele wieder verlieren, noch vor der Zeit des Abschieds. Damals hatte er oft versucht, es sich vorzustellen. Wie es sein würde, Anankos gegenüberzutreten. Dem Mann, der so verzweifelt um Hilfe gebeten hatte, ihm den Tod zu bringen. Er hatte keine Ahnung gehabt.   Nichts, nicht einmal seine kühnsten Träume, konnten ihn vorbereiten auf all die Seltsamkeiten, die das magietriefende Land für sie bis zum Schluss bereithielt.   Schloss Gyges begrüßte mit stockfinsteren Kellern, die Odins magische Flammen kaum erleuchten wollten, während sie durch die Dunkelheit irrten auf der Suche nach ihren Kameraden, nie mutig genug, nach ihnen zu rufen. Es war der kräftige Gesang von Prinzessin Azura, der sie am Ende alle wieder zusammenführte. Ein ganzes Labyrinth folgte, das Laslow erneut von seinen Kameraden trennte, als sie sich alle aufteilten, um einen Weg durch den Irrgarten zu suchen. Ein Wiedersehen mit dem hoshidischen König, der schon vor so langer Zeit aus dem Leben geschieden war. Noch mehr Schmerz und Trauer, die Laslow zwar nur aus zweiter Hand erfuhr, aber trotzdem genauso heftig spürte, als wäre es sein eigener Vater, der hier gefallen war. Im Thronsaal wartete der nächste große Schrecken. Verrat aus den eigenen Reihen – noch ein Thema, das Laslow aufs Unangenehmste berührte. Zu viele Parallelen zu seinem eigenen Leben, das ihm gerade wie ein Stein in der Brust lag und sein Herz zerriss. Sie waren erschöpft. Emotional ausgelaugt. Ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Und in dieser Situation, in dieser Verfassung sahen sie sich endlich dem gegenüber, wegen dem sie den ganzen langen Weg durch die verdrehte Fremde auf sich genommen hatten: Anankos. Kaum noch ein Schatten seiner selbst, ein seltsamer, steinerner Schädel, dem Leben eingehaucht wurde von der Magie eines wahnsinnigen Drachen. Die Magie der Drachenadern war hier so unfassbar stark, dass sie selbst Laslow die Haare zu Berge stehen ließ.   Er kämpfte an Odins Seite. Vallitische Soldaten. Ungesichter. Anankos beschwor Monster um Monster, und während sie und viele Andere die Rücken ihrer Kameraden freihielten, rückten ihre Herren unerbittlich vor, um sich dem wahren Feind zu stellen. Stahl traf auf Stahl, Magie versengte Fleisch, das längst verwesen sollte. Laslow sah nichts mehr als die wechselnden Gesichter seiner Feinde. Ein Ungesicht, dem schon ein Arm abgeschlagen war, und das laut grölend eine Axt schwang, die nichts mehr traf. Ein vallitischer Soldat, der Lanzen trug. An einen Bogenritter schlich er sich von hinten heran, durchstach sein Herz und sah zu, wie das Pferd des Monsters panisch davonhetzte. „Odin, ich–“ –könnte deine Hilfe gebrauchen. Das nächste Mal, das er sich zu seinem Kameraden umwandte, war da kein Odin mehr. Niles‘ kaltes Grinsen sah ihm entgegen. „Odin, ja? Das ist eine Verwechslung, die ich nicht auf mir sitzen lassen kann. Aber vielleicht kann ich dir auch eine helfende Hand reichen, Laslow.“ „Lenk die Bogenschützen da hinten ab.“ Er wartete nicht auf Antwort. Er hätte lieber ein Blitzgewitter gehabt als einen Pfeilhagel, aber er nahm, was er kriegen konnte. Der erste Pfeil sauste an ihm vorbei, als er loshetzte, in einer weiten Kurve näher an die Bogenschützen heran, die die linke Flanke des Schlachtfelds jetzt schon viel zu lange ungestört terrorisierten. Im Vergleich zu Odin war Niles nutzlos. Ein Blitzgewitter war eben doch ein ganz anderes Kaliber als ein paar Pfeile, egal, in wie schneller und zielsicherer Folge sie flogen. Im Vergleich zu gar keiner Rückendeckung war Niles aber Gold wert. Als Laslow keuchend den letzten Bogenschützen enthauptete, war ihm selbst bewusst, dass er es alleine Niles‘ Hilfe zu verdanken hatte, dass er nicht durchlöchert war wie ein Sieb. Stattdessen hatten ihn einige Streifschüsse erwischt. Ein Pfeil ragte aus seinem linken Oberarm, machte den Arm damit überwiegend nutzlos. Aber er lebte. Er stand noch. Im Gegensatz zu den Bogenschützen, die ihm aus direkter Nähe nichts mehr entgegenzusetzen gehabt hatten als flimsige Bögen, die nicht im geringsten als Schlagwaffe taugten. Niles war an seiner Seite, ehe er es überhaupt bemerkte, zwang ihn, innezuhalten, bevor er sich wieder ins Gefecht stürzen konnte. „Sieh dich an. Willst du so weiterkämpfen?“ Er lachte. „Die paar Kratzer sind doch nicht der Rede wert! Du müsstest sehen, wie ich nach einem wilden Techtelmechtel aussehe!“ „… Du meinst, wenn dich mal wieder eine Schankmagd verprügelt hat? Den erbärmlichen Anblick erspare ich mir lieber. Jetzt komm her.“ Laslow hatte gar keine Wahl. Niles packte ihn grob, um zu untersuchen, welche Verletzungen er ignorieren konnte, und für welche er seine magische Kraft aufbringen musste. Jeder Handgriff ließ ihn schmerzerfüllt winseln, zusätzlich zu der Demütigung der boshaften Worte. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Deine harte Hand oder deine spitze Zunge.“ Niles lachte barsch, lehnte sich ein Stück näher, als es nötig gewesen wäre, um einen oberflächlichen Schnitt an Laslows Wange in Augenschein zu nehmen. „Oh, ich bin mir sicher, unter anderen Umständen würde dir sowohl das eine als auch das andere sehr gefallen.“ Es war der falsche Zeitpunkt, um rot zu werden. Laslow war noch nie gut in Timing gewesen.    Eine Erschütterung, die bis tief ins Mark ging, ließ ihn zu Boden fallen, noch ehe er sich wieder in die Schlacht stürzen konnte. Der steinerne Schädel, der Anankos war, bäumte sich in einem letzten Todeskampf auf. Laslows Herz setzte aus, er vergaß das Atmen, als mit einer kaum gekannten Wucht Hoffnung auf ihn niederkrachte. Konnte es sein? „Ist es vorbei?“       ~*~       Es war nicht vorbei. Anankos, geschwächt und dem Tode nah, ersann einen Weg, an neue Kraft zu kommen. Laslow hielt nichts von König Garon, doch zu sehen, wie der Mann von Anankos verschlungen wurde, ließ seinen Magen krampfen, und der Gedanke, wie sehr Lord Xander um seinen Vater trauern würde, ließ ihn beinahe bereuen, dass er längst beschlossen hatte, seinen Herrn hinter sich zu lassen. Dann war kein Raum mehr für Gedanken, für Gefühle. Im Angesicht des riesigen Drachenmonsters, das sich mit neugeschöpfter Kraft in den Himmel erhob, vergaß Laslow fast sogar die Angst. Es geschah zu schnell. So viel Energie. Ein schwarzes Loch im Himmel, dessen Sog alles zum Opfer fiel, das nicht völlig fest im Erdboden verankert war – und selbst das stabilste Fundament drohte zu bersten. Als es vorbei war, waren sie an einem Ort, der jeder Logik und jedem Sinn spottete, eine schwebende Insel inmitten eines endlos weiten, sternenübersäten Nachthimmels. Ein Stück Wahnsinn mitten im Nirgendwo, und nichts anderes war hier als die kleine Armee, die ausgezogen war, Anankos zu fällen, und eben dieser irrsinnige Drache. Die Diener, die Anankos immer noch beschwor, wirkten beinahe lächerlich im Angesicht des riesigen Ungetüms. Sie kämpften. Sie hatten keine andere Wahl. Gegen den Drachen. Gegen seine Diener, die immer wieder auftauchten, egal, wie viele niedergeschlagen wurden. Sie kämpften, obwohl ihre Arme längst bleischwer waren, die Waffen in ihren Händen schiere Tonnen wogen. Trotz aller Wunden, aller Schmerzen. Immer wieder hörte Laslow die Rufe der Heiler, die übers Schlachtfeld hetzten, um Linderung zu verschaffen, wo auch immer sie konnten. Heiltränke wechselten den Besitzer, und trotzdem war schmerzvolles Ächzen ein dauerhaftes Hintergrundgeräusch, Schmerzensschreie und Flüche keine Seltenheit. Wie Laslow in all dem Chaos statt vor noch einem vallitischen Soldaten irgendwann vor der Schnauze des Drachen landete, verstand er selbst nicht. Doch hier stand er. Starrte in eine wahnsinnige, verzerrte Fratze, und suchte irgendwo darin noch einen letzten Überrest des Mannes, den er einst gekannt hatte. Er fand nichts. Hob das Schwert, das zu schwer wurde, mit Armen, die zu sehr zitterten. „Wir haben es versprochen. Hier sind wir.“ Es war kein guter Schlag. Kein sauberer Treffer, und noch lange kein Todesstoß. Der Drache brüllte, mehr vor Wut als vor Schmerz, glaubte Laslow, und dann glaubte er gar nichts mehr, als das Monster ihm eine Wolke aus purer Finsternis entgegenspie und ihn damit von den Füßen wischte.   Als er wieder zu sich kam, hatte irgendjemand ihn aus der direkten Reichweite des Drachen weggeschafft und bis zu einem abgelegenen Punkt des Schlachtfeldes gezerrt, das ein Verletztenlager zu sein schien. Prinzessin Elise strahlte ihn an, versicherte sich kurz, dass es ihm gut ging, und dann war sie schon wieder verschwunden, um woanders zu helfen. Sie sah erschöpft aus, aber das realisierte Laslow erst, als sie längst aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er kam kaum noch auf die Beine. Er war nicht der Einzige: Hier überall sah er Krieger, die schon damit kämpften, überhaupt aufrecht zu stehen. Bis auf einen harten Kern, der sich um ein undefinierbares, rundes Gebilde voller Augen scharte, dort, wo der Drache gewesen war, schienen sie alle am Ende ihrer Kräfte zu sein. Prinzessin Azuras Gesang war schon vor einer ganzen Weile verstummt. Erschöpft schleppte er sich weiter, bis er vor Selena auf die Knie fiel, die selbst am Boden saß. Odin hockte neben ihr, einen regelrecht zerfetzt aussehenden Folianten an seine Brust gedrückt. Ein Stück Abfall, das kaum noch seinen Dienst tun konnte, doch er klammerte sich daran fest wie an einem teuren Schatz. Laslow hatte einmal in den Einband dieses speziellen Bandes gespickt. Der in Odins Handschrift dort notierte Name erklärte seinen Wert. „Du siehst erbärmlich aus“, schnaubte Selena. Sie ignorierte, dass sie selbst nicht besser dran war. Laslow lachte. „Und du siehst entzückend aus, selbst in deinem zerschlagenen Zustand.“ Hätte sie die Kraft gehabt, sie hätte ihn geschlagen. So gab sie nur einen angewiderten Laut von sich. Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und wandte das Gesicht ab. „… Das hier ist das Richtige, nicht wahr?“ Jetzt sprach sie doch. Leise. Laslows Mundwinkel zuckten. Er fühlte sich zu erschöpft zum Lächeln. Lächelte trotzdem. Schluckte um einen Kloß an ehrlichen Gedanken herum und nickte. „Es war sein Wunsch.“ „Und es ist unsere Pflicht, jeden finsteren Schurken zurückzuschlagen! Die uns gegebene Kraft ist eine schwere Bürde, die nur wir zu tragen vermögen!“ „Und wir können nach Hause, wenn es vorbei ist. Habt ihr–?“ Selena hatte. Das hörte man an ihrem Tonfall. Laslow wechselte einen Blick mit Odin, suchte im Gesicht seines Cousins nach der Antwort, die er selbst schon längst hatte.   Er fand sie. Dann explodierte das letzte Überbleibsel von Anankos, und mit ihm die verdrehte Welt, in der sie gefangen waren. Laslow lachte, ohne sich selbst zu hören, seine Stirn kollidierte mit Selenas Schulter.   Es ist vorbei. Ruhe in Frieden, Anankos.       ~*~       Valla, ohne seinen wahnsinnigen, mächtigen Gott, war ein anderer Ort. Das stete Pulsieren der Magie war verschwunden. Lord Leo sagte, die meisten Drachenadern seien versiegt. Hier war nichts mehr als der Tod, die Zerstörung, Trümmer einer Zivilisation, die nicht mehr existierte, eine ewige, einsame Ödnis aus Staub und Dreck und wilden Pflanzen. Während die Prinzen und Prinzessinnen einen letzten Kriegsrat hielten, waren die meisten Anderen damit beschäftigt, ihre Wunden zu lecken. Kaum jemand war unverletzt geblieben. Manche Verletzungen waren schwer genug, dass sie immer noch Behandlung bedurften. Wie durch ein Wunder war niemand mehr gestorben. Laslow saß am Rand ihres notdürftig zusammengezimmerten Lagers, kaute auf einem Stück Dörrfleisch herum, hungrig, aber eigentlich viel zu erschöpft, etwas zu essen. Ein naher Fluss – am Boden, nicht im Himmel, netterweise – hatte ihnen geholfen, den Dreck von den Körpern zu waschen, und jetzt, wo er sauber war, wollte er am liebsten nur noch schlafen.   „Ich habe dir Unrecht getan mit meiner Einschätzung.“ Er blinzelte verwirrt. Niles setzte sich neben ihn, das Haar noch feucht von der Wäsche. Er hatte eine Kante Brot bei sich, sah aber auch nicht aus, als hätte er zu viel Motivation, sie zu verspeisen. Laslow blinzelte noch einmal, und erst langsam fügten sich die Puzzleteile in seinem Kopf zu einem sinnvollen Bild zusammen. „Ja. Hast du.“ Er runzelte die Stirn. Machte eine vage Geste mit der Hand, in der er das angekaute Dörrfleisch hielt. „Aber das ist nicht wirklich deine Schuld.“ Niles betrachtete ihn kurz erstaunt, dann zuckte er unbekümmert mit den Schultern. „Nun, dann spare ich mir die Entschuldigung wohl.“ Mach doch, dachte Laslow sich müde. Dann begriff er, was Niles eigentlich gesagt hatte, und schüttelte so hektisch den Kopf, dass es schmerzte. „N-nein! Was ich meine, ist– Es war meine Absicht. Ich wollte nicht, dass jemand sieht, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist bei mir. Die Welt ist harsch genug, ohne dass ich meinem Umfeld noch mehr Ballast aufbürde. Also lache ich. Bin stark. Zeige nicht, wie viel Leid ich gesehen habe. Verstecke meine ehrlichen Sorgen hinter flapsigen Sprüchen und Scherzen, auf dass nie jemand begreift, dass ich tief im Inneren immer noch ein weinerlicher Vollidiot bin, der panische Angst davor hat, seine Kameraden zu verlieren.“ So wie gerade. Ihm war nach Heulen, vor Erschöpfung, vor Erleichterung, und ein bisschen aus der herzzerreißenden Erkenntnis heraus, dass er dieses Leben, diese Kameraden, und vor allem Lord Xander gar zu bald hinter sich lassen würde. Für immer. Ohne Wiederkehr. Er lachte. Niles lachte. „Es ist kaum zu glauben, aber deine Fassade ist überraschend gut. Hättest du es mir nicht erzählt, ich hätte kaum geglaubt, dass hinter deinem dümmlichen Grinsen und deinen schlechten Anmachsprüchen tatsächlich eine düstere Vergangenheit liegt.“ Niles hielt inne. Er klang, als hätte er noch mehr zu sagen, doch für den Moment schwieg er. Tippte nachdenklich mit viel zu sanften Fingerspitzen auf Laslows Oberschenkel. „Niemand ist unbezwingbar. Hin und wieder Schwäche zu zeigen ist auch nur menschlich – und völlig in Ordnung. Es ist kein Wunder, dass jeder dich als leichtlebigen Hallodri sieht. Hat dir das nie jemand gesagt?“ Laslow öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Tränen liefen über seine Wangen, bevor er es verhindern konnte. Er lachte, schluchzte, lachte noch einmal auf. „Mein Vater hat. Aber–“ Niles‘ Finger auf seinen Lippen brachte ihn zum Verstummen. Obwohl seinem Grinsen nichts an der üblichen Gemeinheit fehlte, fühlte Laslow sich nicht ausgelacht. „Kein Aber.“ Kein Aber. Laslow wusste nichts anderes zu tun, als zu nicken. „Guter Junge.“ Aus Niles‘ Mund klang selbst das falsch genug, um ihm Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Oder vielleicht war es auch nicht falsch, sondern genau das, was Niles beabsichtigte, denn er kam näher, so wie die Hand auf Laslows Oberschenkel weiterstrich, höher. „Was sagst du? Wäre es nicht eine wunderbare Gelegenheit, um noch einmal auf meine scharfe Zunge und meine harte Hand zurückzukommen?“   Laslow hätte widersprochen, wäre Niles‘ Mund nicht längst viel zu nah gewesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)