Leichtsinn ist kein Mut von Swanlady (KagaKuro | Wichtelgeschichte) ================================================================================ ■ two ■ ------- Mit quietschenden Reifen kam der rote Wagen zum Stillstand. Noch in denselben Sekunden sprangen drei junge Männer aus dem Fahrzeug, allesamt gekleidet in blaue Overalls. Hastig machte sich jeder einzelne an seine zugeteile Arbeit, während hinter ihnen ein weiterer Wagen anhielt. Als Kagami Taiga aus diesem kletterte, wehte ihm ein bekannter, wenn auch nach wie vor verhasster Geruch entgegen. Er verengte die Augen und versuchte das flaue Gefühl im Magen, das ihn schon die gesamte Fahrt über begleitet hatte, zu ignorieren, während er sich augenblicklich nach seinem Vorgesetzten umsah, um potentiellen Sonderanweisungen zu folgen. Dieser war bereits dabei, eine erste Einschätzung zu treffen, während Kagami sich mit geübten Griffen daran machte, den C-Schlauch für den Einsatz vorzubereiten. Nicht einmal eine ganze Minute später sprintete er bereits mit seinen Kollegen auf das Gebäude zu. Er wurde beinahe täglich mit Hitze und züngelnden Flammen konfrontiert und selbst bei dieser hohen Frequenz weigerte er sich, es als normal zu bezeichnen, aber an diesem Tag war es noch schlimmer: Es begrüßten ihn weinende und schreiende Kinder. Der Knoten in seiner Brust zog sich enger zusammen, als er an zwei Kindern, die von einer jungen Frau in die Arme geschlossen wurden, vorbei rannte, doch er versuchte seinen Blick geradeaus zu halten und sich darauf zu konzentrieren, das schwere Löschwerkzeug zu stemmen. Die körperliche Fitness, die er bereits seit seiner Basketballzeiten besaß, war in seinem Beruf ein großer Vorteil. Kagami war einer der schnellsten und kräftigsten Feuerwehrmänner, die es in seiner Einheit gab. Er war zumeist für die Tragarbeit verantwortlich und ergänzte sich wunderbar mit schmächtigen, aber dafür flinkeren Kollegen. Tatsuya hatte ihn vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass er unwissend in gewohnte Verhaltensmuster verfiel, doch Kagami war nicht ganz klar, was er damit meinte – und er war auch niemand, der sich allzu lange den Kopf darüber zerbrach. An der entsprechenden Stelle, den nötigen Sicherheitsabstand wahrend, bremste er ab und gab das Signal. Die Pumpe wurde augenblicklich betätigt und Kagami verspürte die bekannte, kommende Druckwelle. Er richtete das Löschwasser direkt auf das brennende Gebäude. „Ito-san, wie sieht die Situation auf der anderen Seite aus?“, rief Kagami, als er seinen Kollegen auf sich zukommen sah. „Weniger kritisch. Der Captain sollte jeden Augenblick bestätigen können, ob alle Kinder und das Personal in Sicherheit sind“, kam die knappe Antwort, bevor Ito auch schon weitereilte. Sämtliche von Kagamis angespannten Muskeln schienen auf diesen einen Moment zu warten. Sein Nacken knackte unangenehm, als er mit einer kreisenden Kopfbewegung versuchte seine Haltung zu korrigieren. Über die Jahre hinweg hatte er versucht zu lernen, seine hitzköpfigen Handlungen auf keinen Fall seine Arbeit beeinflussen zu lassen, doch dieser Ort brachte all dies ins Wanken. „Kagami-kun.“ Erschrocken erstarrte Kagami, als er aus den Augenwinkeln eine Gestalt wahrnahm. Seine Augen speicherten einen Hauch von blassem Blau ab, doch sein Verstand konnte die Information nicht so schnell verarbeiten. Mit wild klopfendem Herzen wirbelte er herum. Es war niemand zu sehen. „Kagami-kun, hörst du mir zu?“ Kagamis Kopf ruckte in die andere Richtung und er erblickte seinen guten Kollegen Saitou Daisuke, der ihn tadelnd anstarrte. „T-tut mir leid, ich dachte nur…“ Kagamis Aussage endete mit einem undeutlichen Murmeln. „Ich soll hier übernehmen, du wirst auf der westlichen Seite gebraucht“, wiederholte Saitou und deutete über seine Schulter, als würde er Kagami nicht zutrauen, die Himmelsrichtungen zu unterscheiden. „Bleib bei der Sache. Alles andere ist gefährlich“, warnte er. „Verstanden.“ Kagami straffte die Schultern und überließ Saitou den Wasserschlauch. Einen Bogen um den kleinen Spielplatz vor dem Kindergartengebäude machend, steuerte Kagami die vorgegebene Richtung an, doch mitten in der Bewegung bremste er ab, als er es plötzlich wieder erblickte – das Blau, das ihm so vertraut war. Er riss die Augen auf, starrte und brachte kein Wort heraus. Sein auffälliges Verhalten blieb nicht unbemerkt, denn der Kopf mit dem blauen Haarschopf, den er immer und überall erkennen würde, wandte sich zu ihm um. „Kagami-kun!“ „Kuroko…“ Erschüttert versuchte Kagami den komplexen Gedankengang, der ihm durch den Kopf schoss, zu verarbeiten. Was machte Kuroko hier? Er arbeitete doch in einem anderen Kindergarten! Zumindest hatte er das noch vor einer Weile, aber in diesem Moment war sich Kagami nicht einmal seines eigenen Namens sicher. Letzten Endes war es tiefe Erleichterung, dass Kuroko es aus dem Gebäude geschafft hatte, die alle Verwirrung zurückdrängte und sich Kagamis Beine wieder in Bewegung setzen ließ. „Alles in Ordnung?“, fragte er japsend, Kuroko von oben bis unten musternd. Ruß klebte an seiner Kleidung und er hatte ein paar Schrammen an Kiefer und Hals, aber ansonsten schien er unverletzt. Kagami erhielt keine verbale Antwort. Schockiert nahm er wahr, wie sich Kurokos Hände in den Stoff seines Overalls krallten. Der Griff an seiner Brust war kräftig, verzweifelt. Die großen Augen, die ihn voller Panik anblickten, ließen ihn erzittern, obwohl die Hitze, die vom Brand ausging, noch immer intensiv war. „Ich kann ihn nicht finden“, brachte Kuroko mit heiserer Stimme hervor und presste die Lippen fest zusammen. Kagami kannte diesen Ausdruck. Er hatte ihn schon oft auf den Gesichtern seiner Kollegen gesehen, wenn sie sich Vorwürfe machten, eine Person nicht gerettet zu haben. „Wen?“, fragte Kagami mit Nachdruck, als er sich aus seiner Starre löste und sich endlich an seine Ausbildung erinnerte. Der Schock, Kuroko gegenüberzustehen, war noch nicht verebbt, doch es gab dringlichere Probleme, denen er sich als Feuerwehrmann annehmen musste. Um Kuroko kurzzeitig aus seiner Trance zu holen, packte er ihn – etwas gröber als nötig – an den Schultern. „Wen kannst du nicht finden?“ „Hyuuga“, antwortete Kuroko atemlos und fügte, als er Kagamis irritierten Blick sah, krächzend hinzu: „Masaru. Hyuuga Masaru.“ Die Farbe wich aus Kagamis Gesicht, als das Puzzle sich zusammenfügte. Mit einem Schlag verstand er, wieso nicht nur ein Teil des brennenden Gebäudes, sondern auch Kurokos Welt zusammenbrach. Kagamis Kieferknochen knackte und seine Finger krallten sich unwillkürlich fester in die schmalen Schultern, doch dies schien Kuroko kaum zu spüren – er gab keinen Ton von sich. „Ich bin gleich wieder da. Warte hier“, wies Kagami ihn an. Er schenkte Kuroko einen langen, intensiven Blick, der versprach, dass er alles in seiner Macht stehende tun würde, um den Jungen zu finden. „Warte hier“, wiederholte Kagami ernst. Als Antwort erhielt er nur einen blanken Gesichtsausdruck, doch Kagami wollte keine Zeit vergeuden, um auf ein verbales Einverständnis zu warten und trabte los. Er brauchte die Auskunft seiner Kollegen, um sich ein besseres Bild zu machen und darauf hinzuweisen, dass womöglich noch eins der Kinder im Gebäude gefangen war. Bei dem Gedanken, dass es sich dabei um das Kind seiner Schulfreunde handelte, wurde ihm schlecht. Er konnte Kurokos Schock nachvollziehen, aber womit Kagami nicht rechnete, war die Tiefe der Verantwortung, die er empfand. Als er nämlich keine vier Minuten später wieder zu der Stelle zurückrannte, an der er Kuroko zurückgelassen hatte, war dieser nicht mehr da. Und Kagamis Herz, das ihm in die Kniekehlen rutschte, hatte bereits eine Ahnung, was Kuroko getan hatte. „Kuroko!“, donnerte Kagami lautstark und zog einen zweiten Kreis um das Haus, doch seine Suche war vergebens. „Kuroko! Verdammt!“ Mit den Zähnen knirschend, klammerte sich Kagami an die Wut, die sich in ihm ausbreitete, denn Wut war gut – sie war besser als lähmende Sorge oder Schwarzmalerei. Er mochte nicht viel von Gefühlen verstehen, aber dass diese einen antreiben oder aufhalten konnte, hatte er schon während der zahlreichen Basketballspiele gelernt, die er und sein Highschool-Team bestritten hatten. „Kagami-san! Wieso laufen Sie tatenlos durch die Gegend?! Sollten Sie nicht auf der westlichen Seite helfen?“, wehte die strenge Stimme seines Captains zu ihm hinüber. In jeder anderen Situation wäre Kagami ertappt zusammengezuckt, doch in diesem Moment erschien ihm der barsche Ton wie der erlösende Wecker, der ihn aus einem Alptraum holte. „Ein Kind! Ein Kind ist noch im Gebäude!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Kagami merkte kaum, wie sich seine Stimme überschlug. „Und…“ Er stockte, denn er hatte keine Gewissheit, aber seine Intuition schrie ihm zu, dass er sich nicht irrte. „Und einer der Betreuer ebenfalls.“ „Saitou-san hat mich soeben über das Kind informiert. Wir haben das Personal vor ein paar Minuten gezählt, es fehlte niemand“, erwiderte Matsuda Kentarou, der seine Einheit schon zehn Jahre anführte und jedwedes Protokoll im Schlaf befolgen konnte. Gleichzeitig schien er seinen Kollegen zu vertrauen, denn es genügte ein Blick von Kagami, um ihm klarzumachen, dass die Anzahl des evakuierten Personals nicht mehr gültig war. „Wie sicher sind Sie?“ „Neunundneunzig Prozent.“ „Ich stelle ein Team zusammen und lasse das Personal noch einmal zählen“, verkündete Matsuda knapp und griff nach seinem Walkie-Talkie. Kagami machte auf dem Absatz kehrt. Er konnte nicht länger an Ort und Stelle verweilen, der Stillstand machte ihn verrückt. Völlig verschwitzt rannte er weiter und blinzelte gegen den Rauch an, der seine Augen tränen ließ. Diese hielt er krampfhaft offen, um nach Kuroko Ausschau zu halten. Kagami hätte nicht gedacht, dessen Fähigkeit, unbemerkt verschwinden zu können, jemals dermaßen zu verfluchen. Er hätte Kuroko fragen sollen, wo er den kleinen Hyuuga-Sprössling das letzte Mal gesehen hatte. Er hätte Kuroko gut zureden sollen. Er hätte sich einmal im Leben nicht wie der größte Idiot verhalten sollen, dann wäre… Urplötzlich blieb Kagami stehen, als er an einem der Notausgänge vorbeilief. Es war der einzige Teil des Gebäudes, zu dem sich das Feuer noch nicht ausgebreitet hatte. Seine inneren Alarmsirenen begannen wie Kettensägen zu kreischen, doch gleichzeitig keimte Hoffnung in ihm auf. Wenn Kuroko tatsächlich zurückgegangen war, um den Versuch zu unternehmen, Masaru zu holen, dann war diese Tür der einzige, unbewachte Durchgang. Er wäre nie in der Lage gewesen, mit Kurokos Basketballspielweise klarzukommen, hätte er mit der Zeit nicht gelernt, seine Gedankengänge zu verstehen. Dass ihm dies eines Tages in einer solchen Lage helfen würde, hätte Kagami niemals vermutet. Es lag kein Zögern in seinen Bewegungen, als er sein Intercom einschaltete und seinem Captain seinen aktuellen Standort nannte. In den meisten Fällen war absoluter Verlass auf Kagami, wenn er zum Einsatz ausrückte. Nicht selten schimpfte sein Vorgesetzter mit ihm, ein leichtsinniger Dummkopf zu sein, aber er war ein effektiver, leichtsinniger Dummkopf. Zum ersten Mal seit Beginn seiner Karriere musste er Matsuda recht geben: Nichts war so gefährlich wie die Missachtung von Protokollen. Wenn sich Kuroko tatsächlich im Gebäude befand, dann verstieß er gegen sämtliche Protokolle des gesunden Menschenverstandes. Er litt nicht an Klaustrophobie, doch Kagami konnte in seinem Atemschutzgerät deutlich hören, wie holprig er nach Luft schnappte. Dass die Sicht an einem solchen Ort eingeschränkt war und zusätzlich durch die Maske beeinflusst wurde, war ebenfalls nicht neu. Dennoch kam er sich vor wie ein Pferd, dem man Klappen aufgesetzt hatte. Während er sich, mit drei weiteren Feuerwehrangehörigen, vorsichtig seinen Weg durch den rauchigen Gang bahnte, versuchte Kagami angestrengt zu lauschen. Das Knistern des Feuers und Knacken der in sich zusammenfallenden Möbel waren trügerische Geräusche, die ihn immer wieder Hoffnung schöpfen ließen. Doch egal, in welchen Raum er spähte – Kuroko war nicht da. „Kuroko! Hey, Kuroko!“, donnerte Kagami so laut wie möglich. „Hörst du mich? Antworte mir, verdammt!“ Je tiefer sie vordrangen, desto mehr Schweiß lief über seine Schläfen und seinen Nacken. Sie hatten nicht viel Zeit, denn es konnte jeden Augenblick etwas zusammenbrechen und ihnen den Weg versperren – im schlimmsten Fall konnte ihnen sogar buchstäblich die Decke auf den Kopf fallen. Kagami hatte allen aus ihrem kleinen Rettungsteam Kurokos Aussehen kurz und knapp beschrieben, doch er machte sich nichts vor: Er war es, der die Augen aufsperren musste. Das Risiko, dass man Kuroko einfach übersah, war zu hoch. Sich das Blinzeln verweigernd, bis seine Augen schmerzhaft zu brennen begannen, drang Kagami hinter Matsuda in den Musiksaal ein. Das in der Ecke stehende Klavier stand in Flammen, genauso wie der gesamte Rest des Raumes. „Kein Durchgang!“, hörte er Matsuda rufen. Augenblicklich gab Kagami den anderen beiden ein Handzeichen zum Rückzug. Er hatte es gerade aus dem Türrahmen geschafft, als das polternde Geräusch von bröckelndem Putz und sich verschiebenden Balken ihm durch Mark und Bein ging. Staub wirbelte auf und ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte. Ruckartig packte ihn jemand am Kragen und zog ihn mit aller Kraft zurück. Kagami stolperte und landete unsanft auf dem Boden, doch sein Kopf ruckte sofort wieder in die Höhe – die Tür, durch die er eben noch gegangen war, war vollkommen verschüttet. „Captain!“, rief er krächzend und rappelte sich hektisch auf. „Captain!“ Es war unmöglich, die Antwort zu hören, selbst wenn es eine gab. Panik legte sich wie Blei über seine Beine, die zu zittern begannen. Kagami zuckte zusammen, als plötzlich seine Wechselsprechanlage ein Störgeräusch von sich gab. Sofort löste er sie von seiner Hüfte und drückte auf den Empfangsknopf. „Captain?“ Endlose Sekunden lang war nur das knackende Geräusch zu hören, doch dann durchflutete Kagami von einer Sekunde auf die andere pure Erleichterung. „Matsuda hier. Eingeschüttet, keine Verletzungen. Mission fortsetzen.“ Die Worte kamen abgehackt und schnell. Die Verbindung war wackelig und konnte jeden Augenblick wieder reißen. Das Gefühl kehrte in Kagamis Beine zurück. Das, was er tun musste, legte sich langsam, wie ein Puzzle, in seinem Kopf zusammen. Um sich zu beruhigen, atmete er tief aus. Mit einer grimmigen Entschlossenheit im Blick, die von seiner Schutzmaske geschluckt, aber auch aus seiner Stimme herauszuhören war, drehte er sich zu seinen Kameraden um. „Holt den Captain hier raus. Ich gehe allein weiter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)