Kein Ausweg - Wenn dir nicht einmal mehr die Sterne leuchten von irish_shamrock (Winterwichteln 2018) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Keuchende Laute hallten durch die mondlose Nacht. Absätze von Stiefeln klapperten über den, von Pflastersteinen besetzten, Boden, während der Lärm der Stadt näher kam. Der Puls dröhnte ihr in den Ohren, das Herz wummerte ihr in der Brust. Ihr blieb keine Zeit, sich nach der Uhrzeit zu erkunden. Der Überlebenswille trieb sie voran. Adrenalin schoss ihr durch die Adern. - Ein Rausch, doch mangelte es jenem Gefühl an Leichtigkeit. Kälte labte sich in ihrem zitternden Körper, Atemwolken flohen ihr von den Lippen. Längst waren ihr die Beine schwer, die Füße schmerzten. Endlich erhob sich der Dschungel vor ihr. Blinkende Lichter, von Reklametafeln und Scheinwerfern herrührend. Stimmen, lachend, fluchend. Das Ziel so nah. Nur wenige Meter trennten sie noch von der Fülle an Musik, Passanten, die durch die Nacht zogen und dem Hupen der Taxen. Tränen der Erleichterung nahmen ihr die Sicht. Ein erstickter Laut, dann war auch ihr Leben genommen. Und niemand nahm Notiz von dem blutrünstigen Treiben in der verlassenen Gasse. Kapitel 1: 1 ------------ Ein heller Schrei durchbrach die Nacht und ließ die Ruhe enden. Melina O'Sullivan schreckte aus einem Traum auf, der sie über Wochen hinweg heimsuchte. Schweiß rann ihr über den Rücken, pappte ihr das blonde Haar strähnig an die Stirn. Ihr Blick suchte das kleine Zimmer ab, doch war noch alles an Ort und Stelle. Das hastige Getrappel von nackten Füßen, die über den Laminatboden hetzten, erregte ihre Aufmerksamkeit. Melina wappnete sich bereits für den sorgenvollen Blick, den man ihr binnen weniger Sekunden zuteilwerden ließ. Sie wandte den Kopf zur Zimmertür und wurde nicht enttäuscht. Unaufgefordert wurde sich Zutritt zu ihrem Reich verschafft. »Lina – ich kann nicht mehr. Das muss aufhören!« Im Schein des Flurlämpchens erhob sich Everly Hughes. Mitbewohnerin, beste Freundin, treue Seele. Der Atem ging ihr schwer, doch der Blick, aus ihren blauen Augen heraus, war nicht, wie vermutet, von Sorge durchsetzt. Kummer zierte das Gesicht der brünetten New Yorkerin. »Hast du die Tabletten genommen?« Everlys Stimme war leise, selbst noch, als sie sich langsam in den Raum drängte, um auf dem großen Bett Melinas einen Platz zu finden. Melina jedoch schüttelte den Kopf. »Die machen nicht abhängig« Everly versuchte sich an einem schwachen Lächeln. »Ich weiß, dass dir das die größte Sorge bereitet.« »Ist mir bekannt«, antwortete Melina mit Schwäche in der Stimme, die ihr bis auf die Knochen nachhallte. Doch sie war eiligst darum bemüht, ihrer Freundin die beängstigende Situation zu erleichtern. So nahm die junge Frau all ihren Mut zusammen, und versuchte sich an Zuversicht. »Und wer, außer dir, käme so günstig an Pillen heran?« Everly schnaubte knapp. »Die sind auf Naturbasis, keine Chemie.« »Sagte die Chemikerin«, dass sich Melina diesem kleinen Scherz bediente, ließ den Puls der jungen Frau allmählich in gemäßigten Takten schlagen. Schweigen legte sich über sie, keine sprach ein Wort. Nach einer Weile jedoch, und dem tiefen Ringen nach Atem Melinas, sah sich Everly in der Pflicht, die Stille zu durchbrechen. »Wo war es dieses Mal?« Nach einer ausgiebigen Dusche, und neuer Bekleidung, schlurfte Melina ins Wohnzimmer, wo bereits das neue Nachtlager auf sie wartete. Den Dank für die Fürsorge, und das Mühen Everlys, wusste sie kaum in Worte zu fassen. Dass diese die wirren und verwirrenden Abende und Nächte ertrug, ohne zu urteilen, oder zu tadeln, ließ Melina nicht selten das Herz schwer werden. »Mach dir keinen Kopf, Lina«, hatte sie ihr gesagt. »Dafür sind Freunde doch da!« Langsam trat Melina auf das Sofa zu, während Everly, die Beine im Schneidersitz verknotet, im Sessel daneben verharrte und an dem süßlichen Getränk nippte, dessen Dämpfe sich kräuselnd zur Zimmerdecke erhoben. »Du musst morgen früh raus, geh' ins Bett.«, orderte Melina, doch die Mitbewohnerin schüttelte widerstrebend den Kopf. »Erst, wenn ich die heiße Schokolade ausgetrunken habe.«, gebot Everly ihr. Ein Schnalzen der Zunge folgte, ehe Melina unter die Daunendecke kroch. »Dein Allheilmittel, ich weiß. Aber du hast heute schon genug für mich getan, Evie.« »Ich weiß«, das Grinsen auf ihren Lippen, zauberte Everly Grübchen in die Wangen. »Ich bleibe, bis ich damit fertig bin und sicher sein kann, dass du ohne Vorkommnisse wieder eingeschlafen bist!« Jenen Worten wusste Melina nichts mehr hinzuzufügen. Sie gab nach und tat, als fiele ihr das Aufbleiben schwer. Ihre Augen mochten geschlossen sein, doch die Gedanken jagten sie noch immer. Das Knacken der verspannten Schultern ließ Melina leise aufstöhnen. Gern hätte sie sich wieder in ihr Bett zurückgezogen, denn die alte Couch war ihr mehr als unangenehm, doch da Kissen, Laken und Decke benetzt von ihrem Albtraum waren, blieb ihr keine andere Option, als mit dem Sofa vorliebzunehmen. Everly war bereits auf den Beinen und die Begrüßung fiel recht knapp aus, da diese auf dem Sprung schien. »Tut mir leid, aber du weißt ja -«, verkündete sie hastig, langte nach Mantel und Schal. »Ich bin heute Abend wieder da, und mach dir keine Gedanken mehr!« Mit diesen Worten verließ Everly die Wohnung und hetzte, wie an jedem Arbeitstag, in Richtung U-Bahn davon. Ein tiefer Seufzer verließ Melinas Lippen. Auch für sie wurde es allmählich Zeit, sich wieder auf den Ernst des Lebens vorzubereiten. Und der verhieß hektisches Treiben in der New Yorker Vorweihnachtszeit. Als sie vor einem dreiviertel Jahr die Stelle bei Macy's, in der Schmuckabteilung, antrat, hätte ihr doch bewusst sein müssen, dass die Arbeit, in einem der größten Warenhäuser der Welt, mit allerlei Stress und anderen Unannehmlichkeiten behaftet war. Doch bisher hatte sie sich tapfer geschlagen, bekam gutes Geld und hatte neue Gesichter zu ihren Bekanntschaften hinzugefügt. Sowie Melina die morgendliche Routine beendet hatte, überprüfte sie nochmals ihr Antlitz im Badezimmerspiegel. Der Versuch, die dunklen Ringe unter den verquollenen Augen zu kaschieren, war ihr wider Erwarten geglückt. Everly wäre ihr sicherlich nicht böse, dass ein paar Tropfen der teuren Foundation den Weg in ihr Gesicht fanden. Da sie nur selten Make-up benutzte, war das Gefühl, das die Schminke auf ihrer Haut hinterließ, maskenhaft, beinahe unangenehm. Doch es half nichts! Tief zog Melina die Luft in ihre Lungen und wandte sich von dem Abbild ab. Der Weg führte sie in die Küche, wo der Rest des bereits abgekühlten Café au lait darauf wartete, in aller Eile hinuntergestürzt zu werden. Melinas Blick wanderte zur Uhr, die über die Spüle angebracht war und erschrak. Ein lautstarker Fluch verließ ihre Lippen, während sie ebenso nach Mantel und Tasche griff, um mit flinken Schritten das Haus zu verlassen. Gerade, als ihre Finger die Klinke umschlossen und sich die Tür nur einen spaltbreit öffnete, erschrak sie. »Sind Sie Melina O'Sullivan?« In ihr Blickfeld schoben sich zwei Polizeibeamte. Mit offenem Mund starrte Melina zu den Männern auf, kaum fähig, zu atmen, geschweige denn, einen geraden Satz herauszubringen. Einzig ein schwaches Nicken gelang ihr. »Miss O'Sullivan, wir sind Detective Williams und Archer, vom New Yorker Police Department, und wir hätten ein paar Fragen an Sie. Können wir hereinkommen?« Cord Williams, der das Wort an sie gerichtet hatte, hielt ihr Marke und Ausweis entgegen, während der andere Beamte die Vorstellung nur schweigend abnickte. Der Mund wurde ihr trocken, doch Melina tat einen Schritt zurück und ließ die Polizisten eintreten. Der Gedanke, ob die Wohnung ein ordentliches, aufgeräumtes Erscheinungsbild bereithielt, stellte sich ihr nicht. Der Schock, dass die örtliche Polizei vor ihrer Tür stand, ließ sie starr verharren. Wo war Everly, wenn man sie brauchte?! – Doch Hilfe konnte Melina nun nicht mehr erwarten. Zittrig rang sie nach Luft und spürte den musternden Blick des jungen Polizisten auf sich ruhen. Cord Williams schien kaum älter als sie, und hatte offenbar Praxiserfahrung nötig, weshalb man ihm den mürrisch und prüfend dreinblickenden Archer zur Seite stellte. »Miss O'Sullivan -« Ein Zucken durchfuhr sie, beim Klang des eigenen Namens. Irritiert blinzelte Melina, schluckte die Angst herunter. »Keine Sorge, wir haben nur ein paar Fragen«, erinnerte sie Detective Williams und trat an ihr vorbei. Kapitel 2: 2 ------------ Klappernde Laute hallten von der Küche zu den Beamten herüber. Melina gab sich große Mühe, das Geschirr unbeschadet ins Wohnzimmer zu balancieren, doch das Zittern in ihren Händen machte es ihr mehr als schwer, Furcht und Angst zu verbergen. »Bitte, verzeihen Sie, ich -«, hob sie an und stellte die letzte, der beiden zuvor gebrühten Tassen Kaffee, vor Detective Williams ab. »Ich habe selten, nie eigentlich, Probleme mit der Polizei.« Der Blick Archers folgte ihr und selbst dann blieb er noch an Melina haften, als diese den uniformierten Männern gegenüber Platz nahm. »Habe ich vergessen, einen Strafzettel zu bezahlen?« Ein kleines, irritiertes Kichern verirrte sich von ihren Lippen. »Das kann gar nicht sein, denn ich habe gar kein -« Melina hielt inne, als der Ältere ihr mit einem Handzeichen gebot, nicht weiterzusprechen. »Miss O'Sullivan -«, begann Detective Archer, dessen dunkler Bariton ihr die Knochen vibrieren ließ. »O'Sullivan – ist das schottisch?« »Irisch«, preschte Melina vor, doch dann besann sie sich rasch. »Es ist irisch, Sir. Mein … mein Urgroßvater stammte aus Tullamore und ist vor gut einhundert Jahren nach Amerika gekommen.« Ihre letzten Worte gingen in einem Murmeln unter. »Tullamore – die mit dem Whisky?«, hakte Archer nach, während Melina nur mit einem flüchtigen Zucken der Schultern und einem knappen Nicken bejahte. »So, so ...«, ließ der Ältere verlauten, als sich Williams in der Pflicht sah, das leichte Geplänkel, mit einem Räuspern, zu unterbinden. »Miss O'Sullivan, der Grund unseres Erscheinens ist folgender: Kennen Sie eine Gabriella Sumners?« Nun spürte Melina den Blick Detective Williams' auf sich. Schweigend schüttelte sie den Kopf. »Ganz sicher?« Diese Art des Nachhakens kannte Melina von den Krimiserien, deren begeisterter Fan sie war. Vielleicht war es nicht ratsam, doch nun war es an ihr, den Männern vor sich mit einer skeptischen Miene zu begegnen. »Ich kenne keine Gabriella Sumners«, gestand sie wahrheitsgemäß. »Miss O'Sullivan -«, begann Williams abermals. »Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber warum sagen Sie mir nicht einfach den Grund für Ihr Kommen und weshalb ich, zum ersten Mal, zu spät an meinem Arbeitsplatz erscheinen werde?!« Ihr forsches Bitten um Klarheit, ließ die buschig-graue Augenbraue Archers zum schwindenden Haaransatz wandern. »Gabriella Sumners wurde vor zwei Tagen ermordet.« Die Information Archers nahm Melina schweigend zur Kenntnis. »Miss Sumners hatte das bei sich«, fuhr Williams fort und schob eine, in einer Plastiktüte verpackte, Visitenkarte über das blanke, helle Holz des Küchentisches. Das Logo erkannte Melina sofort. Macy's »Wir haben diese Karte bei der Ermordeten gefunden. Und Ihr Name ist auf der Rückseite vermerkt«, mischte sich Archer ein. »Sie haben ihr eine Nachricht hinterlassen?« »Sie – ich … wie?« Melina spürte, wie ihr das Blut vom Hals aufwärts in die Wangen kroch. »Ich hatte ihr nur gesagt, dass sie den Ring zurückgeben könne, wenn er ihrer Tochter nicht gefiel.« Verzweiflung ließ ihr die Stimme beben. »Wie kann all das -?« »Haben Sie ihr diese Karte gegeben?« Melina sah auf und wandte abermals das Haupt von einer Seite zur anderen. »Wir können das auch auf dem Revier besprechen, Miss«, bot Williams an. »Ich kenne Sie nicht. Sie ist – war, eine Kundin. Diese Karten liegen im gesamten Gebäude aus. Jede Abteilung – wir müssen, zur Kundenbindung ...« Melina schluckte. »Bitte ich, ich habe nichts getan und ich weiß nicht, wie mein Name auf diese Visitenkarte kommt.« »Miss, wir haben uns im Vorfeld ein wenig schlau gemacht. Sie sind nie auffällig geworden und scheinen eine gute Bürgerin zu sein. Dennoch wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn Sie, trotz allem, für eine Aussage sobald wie möglich bei uns erscheinen. Jedes Detail ist wichtig und womöglich ist es der Aufregung und des Schocks geschuldet, dass Sie ein wenig durcheinander sind.« Williams Lippen versuchten sich an einem zuversichtlichen Lächeln, doch dieses erreichte die Augen des jungen Polizisten nicht. Krächzend rang Melina nach Atem, versprach jedoch zeitnah aufs örtliche Revier zu kommen, um ihre Aussage zu wiederholen. Als die Beamten zum Aufbruch riefen, kreisten ihr noch immer die Gedanken wild durch den Kopf. »Verzeihen Sie, aber … wie ist Miss Sumners gestorben?« In all der Flut an Informationen war es ihr völlig entgangen, nach dem Tathergang zu fragen. Archer und Williams tauschten ein Blick. Erst, als der Ältere mit einem knappen Nicken seine Zustimmung signalisierte, zog Williams Fotos aus der Innentasche seiner Jacke. Der Schrecken riss nicht ab. Dort lag sie, Gariella Sumners, blutüberströmt, in einer Gasse. Ihr Lebenssaft hatte den Asphalt getränkt, ließ diesen pechschwarz glitzern. So viel Grausamkeit ließ Melina den Magen winden. Ihr war, als habe man sie mit Eiswasser übergossen. Detective Williams räusperte sich zum wiederholten Male. »Es war kein Raubmord, auch Vergewaltigung können wir, bis zum jetzigen Zeitpunkt, ausschließen.« »Wer … wer tut so etwas?!« Die eigenen Worte ließen Melina erschaudern. »Das versuchen wir herauszufinden«, erklärte Williams. »Einen … schönen Tag noch, Miss O'Sullivan.« Mit einem synchronen Kopfnicken verabschiedeten sich die Polizeibeamten. Unter zitternden Fingern schloss Melina die Tür. Im Flur hörte sie noch, wie Archer das Wort an seinen jungen Kollegen richtete: »Der hast du aber einen gehörigen Schrecken eingejagt. Du hättest ihr die Bilder nicht zeigen sollen. Ich sollte dich dafür melden!« »Sie haben dem zugestimmt und ich nur meinen Job gemacht«, nuschelte Williams. In der daraufhin auftretenden, kleinen Pause schien es, als zucke dieser die Schultern, denn dann fuhr er fort: »Halten Sie sie für verdächtig?« »Jeder ist verdächtig, merk' dir das, Greenhorn. Egal ob jung, weiblich, ledig – oder was auch immer. Niemand ist sicher, wir werden sie im Auge behalten«, murrte Archer und mit dem Einrasten der Haustür, waren die Detectives verschwunden. Noch immer spürte Melina die kalte, eisige Faust, die sich um ihren Magen schloss. Mit einer raschen Kehrtwende war sie dem Flur entkommen und hatte gerade noch rechtzeitig das Badezimmer erreicht, bevor sie sich in der Toilettenschüssel erbrach. »Himmel, Schätzchen, die siehst ja heute zur Abwechslung genauso aus, wie ich mich fühle!« Mit einem trägen Lächeln nahm Melina die Worte ihrer Vorgesetzten entgegen. Es hatte sie wahrlich Anstrengung gekostet, sich, nach dem Besuch der Beamten, aufzuraffen und den Weg zur Arbeit anzutreten. Auf der Fahrt von Chelsea in Richtung Midtown war Melina versucht, der Anspannung Herr zu werden, doch dieses Unterfangen war ihr, ganz offensichtlich, nicht gelungen. Nur mit Mühe ließ sie den musternden Blick von Chefin und Kolleginnen über sich ergehen. »Es, es tut mir leid, Carla«, nuschelte Melina entschuldigend. Carla Mountgomery betrachte die junge Frau eingehend. »Ist alles in Ordnung?« Sowie Melina bejahte, wandte sich die Herrin über Schmuck und Uhren den anderen Damen zu: »Also dann, meine Lieben. Weitermachen, hopp hopp! In drei Wochen ist Weihnachten und wir haben noch eine Menge Glitzer und Glamour an den Mann zu bringen.« Carla hatte die Hände in die Hüften gestemmt, sodass die Knöpfe des teuren Blazers beinahe drohten, ihrem Dekolleté ein wenig Luft zum Atmen zu verschaffen. »Wir reden später, Kleines«, verkündete sie und scheuchte Melina in den Trakt mit den Umkleidemöglichkeiten. Ein tiefer Seufzer verließ ihr die Lippen, sobald das helle Licht der Neonröhren sie begrüßte. Von den fünfzehn Spinden, die in diesem kleinen Raum aufgereiht waren, war der zweitletzte ihr vorbehalten. »Mel?« Melina zog sich soeben den Pullover über den Kopf, als sie eine ihr bekannte Stimme vernahm. »Mel, bist du fertig? Kann ich reinkommen?« »Nei-«, doch da schob sich der Eindringling bereits durch die Tür. »Mick! Verdammt noch mal, verschwinde! Ich bin noch nicht fertig.« »Oh, Sorry, tut mir leid, ich dachte nur, dass du ...«, hastig wandte sich der junge Mann in Richtung Tür, verharrte jedoch weiterhin in der Umkleidekabine. »Ah, schon gut«, knirschte Melina die Augen verdrehend und schlüpfte in die blütenweiße Bluse. Rasch waren die kleinen Druckknöpfe geschlossen, ehe sie sich daran machte, die schwere Jeans von den Beinen zu schieben. »Wehe, du drehst dich jetzt um!« Das Grinsen auf dem Gesicht des Kollegen konnte sie nicht sehen, ebenso entging ihr, dass Mick tatsächlich ein wenig schmulte und ihre Verrenkungen mit Freude und leicht geröteten Wangen betrachtete. Als er ein Keuchen vernahm, gepaart mit den ratschenden Lauten eines sich schließenden Reißverschlusses, wandte sich Mick sofort nach Melina um. »Mel, du … bist heute ziemlich spät dran«, begann er ohne Umschweife, trat auf sie zu und ließ sich, dicht neben ihr, auf der kleinen Holzbank nieder. Melina ließ sich nicht beim Glätten des schwarzen, knielangen Rocks beirren, obschon sie auf ein Gespräch mit Michael Bobbins, in diesem Augenblick, gern verzichtet hätte. Sie mochte Michael, doch seine Avancen waren ihr mehr als lästig. Er war ein netter Kollege und guter Kerl, aber für etwas Festes fehlte ihr das Interesse. Dass er dennoch ihre Nähe suchte, obwohl sie ihm bereits mehr als einmal zu verstehen gab, dass sie ihn einzig als Freund schätzte, wusste Melina nie ganz zu deuten. Auch Männer konnten die Diva mimen, oder sich eines Verhaltensmusters bedienen, das bisweilen manische Züge annahm, doch Mick schien ihre Gleichgültigkeit ganz ordentlich zu verkraften, oder er ignorierte diese geflissentlich. »Was ist passiert? Hast du verschlafen?« Sein leises Lachen, ließ Melina herumfahren. Mick befand sich auf Augenhöhe mit ihrem Hintern. Ein lautloser Seufzer verließ ihre Lippen, dann tat sie, wie Carla nur Minuten zuvor, eine scheuchende Bewegung die ihm verdeutlichen sollte, an die Arbeit zugehen. Der Tag zog sich zäh und langweilig dahin. Auch wenn ihr Hektik guttat, war Melina froh darüber, dass nur wenige Kunden ihre Aufmerksamkeit verlangten. So fand sie ein wenig Zeit, über den Besuch der Ordnungshüter, am Morgen, nachzudenken. Detectives, das bedeutete Kriminalpolizei. Noch immer war ihr schauerlich zumute. Ein Mord, der unweigerlich mit ihr in Verbindung gebracht wurde? Als Carla, am späten Nachmittag, das Wort mit ihr suchte, begannen Melina die Fingerspitzen zu kribbeln. Schwer schluckte sie an dem Kloß im Hals, als Mrs. Mountgomery ihr den Stuhl vor dem großen Schreibtisch anbot. Carla schwieg und betrachtete die junge Untergebene mit prüfendem Blick. Melina hielt den Kopf gesenkt, außer Stande, die Bilder aus dem Kopf zu verbannen. »Was ist los, Melina?«, verlangte Carla zu erfahren. Melina zuckte zusammen und sah auf. »Bitte, es, es tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor. Morgen, da -« Doch Carla gebot ihr, zu schweigen. »Du bist eine zuverlässige Mitarbeiterin, ich werfe dich nicht raus, wenn das deine Sorge ist.« »Die größte«, japste Melina, presste jedoch sogleich die Lippen fest aufeinander. »Willst du mir erzählen, was passiert ist?« Carla hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und das Kinn auf die zusammengefalteten Finger drapiert. »Heute Morgen«, begann Melina nach langem Zögern. Tief und zittrig rang sie nach Atem, doch ihre Chefin zeigte sich geduldig. »Zwei Beamte haben mich heute Morgen zu Hause abgefangen. Jemand ist … eine Frau wurde ermordet und ...« Carla schnappte nach Luft und griff sich ans Herz. »Du meine Güte, Himmel.« Melina spürte, wie sich ihre Zähne in die Unterlippe gruben. »Du, du hast doch wohl nicht -?« Was auch immer Carla annahm, es kränkte sie. »Ein Mord?« Tränen schossen ihr in die Augen, ehe sich Melina abwandte und schwieg. »Schätzchen, es ist ja wohl sonnenklar, dass du nichts damit zu tun hast!« Auch wenn Carla es gut mit ihr meinte, waren deren Worte alles andere als tröstlich. »Und die Beamten kamen zu dir? Dann warst du ein bisschen später als sonst bei der Arbeit, na und?« Melina verspürte den Drang, laut ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, doch sie riss sich zusammen. »Sie haben eine Karte gefunden, eine Visitenkarte von hier. Und irgendjemand hat … hat meinen Namen darauf geschrieben.« Carla blinzelte, als Melina ihre Stimme wiederfand. »Deinen Namen? Aber wozu?« Die hellen Augenbrauen ihrer Chefin zogen sich argwöhnisch zusammen. »Und die Frau? Kanntest du sie?« »Sie war eine Kundin, wollte einen Ring für ihre kleine Tochter kaufen. Ich habe wirklich keine Ahnung, wer sie war und warum ausgerechnet sie ...«, etwas ließ ihr den Rest des Satzes brechen. Schwer sog Carla die muffige Luft des kleinen Büros in ihre Lungen. »Melina, es ist nur … verständlich wenn du dir eine Woche frei nimmst.« »Nein, warum?! Ich kann arbeiten, wirklich. Das mit der Polizei kommt nicht wieder vor!«, hastig wollte Melina dem Angebot widersprechen, doch die Erklärungsversuche tat Carla mit einem leichten Wenden des Kopfes ab. »Ruh' dich aus, und komm' nur her, wenn du dich wirklich wieder fit fühlst«, empfahl die Chefin ihr. »Aber, so kurz vor Weihnachten? Ich kann nicht, Mrs. Mountgomery.« Mit großen, wässrigen Augen sah Melina zu Carla auf. »Mrs. Mountgomery ist meine Mutter, Schätzchen. Und auch wenn ich hier bereits in der dritten Generation arbeite, bin ich immer noch ein Mensch. Und selbst, wenn ihr es mir nicht glaubt, habe ich irgendwo, in diesem Glanzkörper, so etwas wie Gefühle versteckt, die ich zwar nicht immer zur Schau stelle, aber sie sind da. Und du, Schätzchen, gehst jetzt nach Hause und ruhst dich aus!« Diesem Vortrag hatte Carla Mountgomery nichts mehr hinzuzufügen. Als Melina, entkräftet und müde, aber dennoch erleichtert, dass sie das Geschehene mit jemandem teilen konnte, das Büro verließ, wartete jemand, lässig an der gegenüberliegenden Wand lehnend, auf sie. »Wow, ein Mord? Echt krass!« Melina schmälerte die Augen und betrachtete Mick mit einem erbosten Blick, der ihm weitere Kommentare verbot. »Für deine Lauschattacken wirst du irgendwann, hoffentlich, zur Rechenschaft gezogen!« Die fauchenden Worte, die ihr über die Lippen kamen, klangen ungewohnt in seinen Ohren. »Es tut mir leid, ich wollte nicht lauschen, wirklich nicht. Ich mache mir nur Sorgen um dich, und weil du mir vorhin nicht geantwortet hast und mir aus dem Weg gegangen bist, da dachte ich mir schon, dass etwas nicht stimmt«, versuchte Michael erneut ein Gespräch zu beginnen. »Es tut mir leid, Mick, aber ich gehe jetzt nach Hause. Es ist, wie du sicherlich mitbekommen hast, alles mit Carla abgesprochen.« Erschöpfung nagte an ihr. Melina musste feststellen, dass die teure Foundation keinen vierundzwanzig-stündigen Halt versprach. »Soll ich dich nach Hause bringen?« Michael trat ohne Umschweife sofort an ihre Seite, doch Melina wandte den Kopf, zwang ihre Lippen zu einem Lächeln und verneinte. So schlurfte sie in Richtung Umkleideraum und ließ ihren anhänglichen Kollegen im Gang zurück. Kapitel 3: 3 ------------ Melina hielt mit dem Beziehen ihres Bettes inne, als sie das Klimpern von Schlüsseln vernahm. »Lina?« Everlys Stimme wehte in sanften Tönen durch die Wohnung. Ihre Schritte waren langsam, beinahe vorsichtig. Die Anspannung fiel von ihr ab, sobald Everlys Blick auf die Gesuchte fiel. »Hier steckst du. Ist alles in Ordnung? Deine – Nachricht ...« Doch Melina wandte leicht den Kopf und ließ den duftenden Bettbezug sinken. »Entschuldige, dass ich dir erst so spät Bescheid gesagt habe.« Everly wischte die gefallenen Worte mit einem Wink beiseite. Melina spürte, wie ihr die Mundwinkel leicht zuckten. Der stummen Aufforderung Everlys folgend, verließ sie ihr Schlafgemach. Der Weg führte sie von der Küche ins warme und einladende Wohnzimmer. Doch noch immer behielt Melina ihre Gedanken bei sich. Sie würde Everly die Zeit einräumen, die es brauchte, sich zu ordnen und ein offenes Ohr für sie bereitzuhalten. Bevor sich Everly in den alten Sessel fallen ließ, zog es sie nochmals in die Küche. Gläser klirrten leise. Melina spitzte die Ohren und bemerkte die typischen Laute einer sich öffnenden und wieder schließenden Kühlschranktür. Fast geräuschlos tapste Everly über das Laminat, kehrte in den Wohnbereich zurück und platzierte eine Flasche Weißwein, sowie zwei Gläser, auf den kleinen Couchtisch. »Keine Schokolade?« Melinas helle Brauen hüpften gen Norden. Everly zog die Unterlippe zwischen die Zähne, ehe sie den Kopf von links nach rechts wandte. »Nein, ich glaube, wir brauchen heute Abend etwas Stärkeres als das.« »Also, erzähl' mir alles!«, wieder schraubte sie sich in den Sessel, winkelte die Beine an und nippte an dem Glas Wein, ehe Everly das Gesicht verzog. »Warum haben wir den eigentlich noch?«, verlangte sie mit Blick auf die Flasche gerichtet. Beide waren den Genüssen alkoholischer Getränke nicht sehr zugeneigt und dass diese einsame Flasche ihr Dasein in den Tiefen des Kühlschranks fristete, war Everly selbst geschuldet. Der edle Tropfen war einem Präsentkorb der vorjährigen Weihnachtsfeier beigelegen und fortan kühl und dunkel gelagert. Da Melina nichts dazu beizutragen hatte, wandte sich die junge Frau erneut an sie. »Waren die zwei wenigstens heiß?« Das amüsierte Lächeln auf den Lippen, sollte Melina aus der Reserve locken, und zu Everlys Überraschung glückte es ihr. »Everly!«, empört kräuselte Melina die Nase. »Ich meine es ernst. So ein schicker Typ in Polizeiuniform ...« Everlys Gedanken drohten abzuschweifen. »Nein, es waren nur zwei ordentlich gekleidete Herren, die in diesem Pfuhl der Sünde und des Boshaften für Recht und Ordnung sorgen.«, erklärte Melina entrüstet und belustigt zugleich. Everlys erhobene Augenbraue ließ Melina leise kichern. »Offenbar hast du viel Zeit gehabt, deinen Kopf in irgendwelche zwielichtige Romane zu stecken. Oder hast du dir etwa, während meinerAbwesenheit, wieder einmal zu viel Criminal Intent angesehen?« Aus dem Kichern ihrer Mitbewohnerin wurde ein befreites Auflachen, doch die Heiterkeit Melinas verebbte schnell. Everly bemerkte den Sinneswandel, da ihre Miene binnen weniger Sekunden von erheiternd auf betroffen umsprang. »Was ist passiert? Was wollte die Polizei von dir?« Die Nachricht über den Tod einer Fremden löste bei allen, die diese Neuigkeit aufnahmen, ganz offenbar ein und dieselbe Reaktion aus. Wie Mrs. Mountgomery nur wenige Stunden zuvor, hatte auch Everly sichtlich Mühe, Schock und Argwohn auseinanderzuhalten. Melina wich dem tadelnden, prüfenden Blick ihrer Freundin aus, dennoch wusste sie, dass Everly zu den letzten Personen gehörte, die ihr eine solche Tat zutraute. Schwer waren ihr die Worte von den Lippen gewichen, doch Melina würde ihr jedes noch kleine Detail berichten, was das Gespräch mit den Beamten anbelangte. Den grauenerregenden Anblick der Leiche versuchte Melina auszusparen. Einzig, dass man ihr Einblick in das Bildmaterial gewährt hatte, berichtete sie. Schweigend hatte Everly den Vorkommnissen gelauscht, vermochte sich jedoch, ebenso wie Melina, keinen Reim auf Tat, Tathergang oder Täter machen. »Ich bringe dir Morgen etwas Starkes mit, zur Beruhigung«, verkündete Everly und leerte das Glas Wein innerhalb eines Wimpernschlages. »Und mir auch!« »Was soll ich jetzt tun?« Hilflos sah Melina, von ihren im Schoß ruhenden Händen, auf. »Geh', wie von den Polizisten verlangt, aufs Revier und mach' deine Aussage. Du hast nichts verbrochen, dir nichts vorzuwerfen, Lina.« Everlys Aufmunterung quittierte Melina mit einem sparsamen Lächeln. Everly ließ knapp ihre verspannten Knochen knacken. »Okay, Lina, sieh' zu, dass du ins Bett kommst!« Doch diese verharrte reglos. »Ich habe Angst. Was wenn -«, begann sie und suchte Everlys Blick. »Lina, deine Träume haben absolut nichts damit zu tun!«, fiel Everly in die beängstigenden Gedanken Melinas ein. »Und wenn doch? Sie wurde in einer Gasse gefunden. Einer Gasse«, das letzte Wort drang hohl und spitz aus ihrer Kehle hervor. »Lina, bitte, krieg' jetzt keinen hysterischen Anfall!«, beschwor Everly sie, um einen möglichen Ausbruch abzuwenden. Doch was vermochten Worte gegen eine Flut an Emotionen ausrichten? »Gabriella Sumners wurde in einer Gasse entdeckt!« Melina presste jene Tatsache zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Lina, das war vor zwei Tagen« Everly hob abwehrend die Hände. »Dein Traum, von letzter Nacht, kann nicht -« »Und was ist … mit den anderen?« Plötzlich wurde die Miene Melinas sanft, ergeben. »Sie hatte eine Tochter, verstehst du? Ein kleines Mädchen, einen Mann. Sie hatte eine Familie.« Ihr Schluchzen durchbrach die aufgewühlte Atmosphäre, während stumme Tränen ihre geröteten Wangen hinabrollten. »Eine Familie«, wimmerte Melina und spürte ein jähes Zittern, das ihren gesamten Körper in Beschlag nahm. »Wie die anderen ...« »Lina, bisher gab es keinerlei Anhaltspunkte, dass deine Träume etwas mit -«, hob Everly an. »Etwas mit dem möglichen Verschwinden von Frauen zu tun hätten.« »Dann … dann war es nicht sie«, hauchend krochen ihr die Worte die Kehle empor. »Versteh' doch, Evie! Diese Träume, sie sind -« »Was? Was sind sie? Vorahnungen? Warnungen? Hilferufe?« Die Stimme Everlys zierten weder Spott, noch Besorgnis, oder Schrecken. Unruhe traf es eher. Melina sackte auf dem Sofa zusammen, fuhr sich mit bebenden Händen über das Gesicht und strich das strähnige, blonde Haar zurück. Tief sog Everly die Luft ein. »Lina, Süße, hör' mal. Du weißt, dass ich bei allem, was du tust, hinter dir stehe«, sagte sie, bog ihre Lippen zu einem erzwungenen Lächeln hinauf. »Aber wie lang begleiten dich diese Träume bereits? Seit deinem siebten Geburtstag, richtig?« Schweigend nickte Melina. »Begleiten? Wohl eher heimsuchen.« Ein abfälliges Schnauben unterstrich ihre wütenden Worte. »Ich bin es so leid.« »Dann such' dir Hilfe.« Everlys Miene wurde ernst. »Und damit meine ich keinen Psychiater! Irgendwo, in dieser verdammten Stadt, muss es doch jemanden geben, wie -« »Was?«, ein hohes, hohles Lachen entkam Melinas Lippen. »Einen Geistlichen? Einen Schamanen?« Everly hob pikiert eine Augenbraue empor. »He, du bist die mit der verheißungsvollen und regen Fantasie.« Auf Everlys Rat hin, genehmigte sie sich zwei Baldrian-Pillen, die sie noch in der Hausapotheke fand, und die ihr hoffentlich Ruhe und Schlaf versprachen. Ein sauberes, frisch bezogenes Bett, Tabletten und die Wohlfühlatmosphäre ihres Zimmers sollten ihr eine angenehme Nacht verschaffen. Und tatsächlich waren die Stunden von einer Traumlosigkeit erfüllt, die Melina so sehr herbeisehnte. Doch wie sollten die raren Minuten in Dunkel und Schweigen gegen ein Leben voller Angst ankämpfen? Everlys Worte, gepaart mit den Erinnerungen ihrer Kindheit, lotsten sie in einen Nebel, der Alles und Nichts für sie bereithielt. In der Nacht des einunddreißigsten Oktober, sieben Jahre nach ihrer Geburt, hatten sich ihr die Träume zum ersten Mal offenbart. Kleine, versteckte Botschaften. Illusionen, Fantasie, Hirngespinste, die mit dem Alter deutlicher, klarer wurden. Sie hatte all das nicht gewollt. Wollte nicht sehen, nicht erkennen, was geschah, oder noch geschehen sollte. Menschen wurden geboren, und wenn ihnen nur ein Wimpernschlag blieb, so lebten sie. Doch zu leben war schwer, für die einen mehr, für andere weniger. Leben bedeutete Kampf. Ein Krieg um Tränen, Freude, Lachen, Wut, Missverständnisse ... Und wenn der Augenblick des Abschieds gekommen war, ob erzwungen, selbst gewählt oder durch des Zufalls Hand, blieb immer etwas zurück. Liebende, Trauernde, Erinnerungen, gut wie schlecht. Immer glitten ihr die glücklichen, positiven Versionen durch die Finger, waren nicht zu fassen und es blieb nur die Finsternis, die Zerrissenheit zurück. Dennoch gab es Nächte, in denen sie nichts sah, nichts spürte. Sobald sich Melina der Hoffnung ergab, diesen Erscheinungen entkommen zu sein, brachen diese wieder über sie herein. Nicht brachial, nicht mit Wucht. Schleichend, sich fast schmeichelnd annähernd. Stets aufs Neue befand sie sich mit Verlust, Angst und Tod auf Kollisionskurs, sah das Unaussprechliche und ihr blieb jegliche Rettung verwehrt. Es gelang ihr nicht, sich jemandem anzuvertrauen, nicht einmal ihrer Familie und auch nicht einem Fremden, der irgendwo, irgendetwas studiert hatte und sich zu der Meinung herabließ, ihr helfen zu können. Die Angst vor Spott und Unverständnis wurzelte tief. So hatte Melina gelernt, ihre Lippen zu verschließen und ihr Schicksal anzunehmen. Zu oft war sie auf dem Grat zum Wahnsinn balanciert. Als die Träume an ihrem vierzehnten Geburtstag schwanden, erfasste Melina eine nie dagewesene Erleichterung. Es gelang ihr, sich wieder auf die Schule zu konzentrieren, gute Noten zu schreiben und einen passablen Abschluss ihr Eigen zu nennen. Sieben Jahre Stille, dann kehrten die Visionen zurück. Weitere Jahre waren von Qual und Leid erfüllt. Obschon ihre Träume schwächer und undurchsichtiger wurden, blieb die Angst bestehen, jederzeit vom Grauen erfasst zu werden. Und nun, da sie bereits einunddreißig Lenzen zählte, waren ihre Nächte nicht immer aufgewühlt, doch wenn dies geschah, dann umso drastischer. Sie stand jenen Augenblicken haltlos, machtlos gegenüber. Die Betäubung mit pflanzlichen Mitteln half nur mäßig. Doch in den letzten Nächten war etwas geschehen, etwas, dass sich ihr nicht erklärte: Sie folgte einer jungen Frau durch eine Gasse hindurch. Hörte das bebende Herz in den Ohren hämmern, fühlte das Brennen in der trockenen Kehle. Wieder und immer wieder … Es gelang ihr nie, Kontrolle über den Verlauf der Ereignisse auszuüben. Sie war kein Zuschauer. Sie war das Opfer. Starr blickte Melina zur Zimmerdecke hinauf, doch diese schwieg sich aus. Kein Hinweis, der ihr Erklärung bot. Erst, als der Morgen von Neuem graute, und die Wirkung der Pillen nachließ, ergab sie sich dem Unvermeidbaren. Everlys Lippen waren zu einem zaghaften, aber aufrichtigen Lächeln gebogen, als ihr Melina auf dem Weg ins Bad begegnete. »Guten Morgen. Und, konntest du ein wenig schlafen?« Schweigend nickte Melina die besorgten Worte Everlys ab. Sie rieb sich die restliche Nacht aus den Augen, und vernahm das raue Kratzen ihrer übernächtigten Stimme, als sie zusprechen begann: »Evie, ich – ich habe nachgedacht. Über das, was du gestern gesagt hast.« Diese zog eine dunkle Augenbraue empor. Der Blick, den sie ihrer Mitbewohnerin schenkte, war vorsichtig und von leichtem Argwohn durchsetzt. »Das, mit den Hilferufen«, erklärte Melina und die skeptische Miene Everlys hellte sich auf. »Ich hoffe, dass du dir deswegen aber nicht die halbe Nacht um die Ohren geschlagen hast?« Der kleine Tadel entfloh ihren Lippen, noch ehe sich Everly dessen gewahr wurde. »Keine Sorge, nicht nur deswegen.« Melinas Erwiderung stellte die einstige Chemie-Studentin jedoch nicht zufrieden. Schwer und tief seufzte Everly auf. »Es tut mir leid, dass ich dich ständig damit reinziehe«, betreten senkte Melina den Blick. »Lina!«, warnend linste Everly zu ihr auf. »Lass' den Blödsinn! Wir finden eine Lösung.« Dann glitt ihr Blick in Richtung Badezimmer. »Wolltest du heute aufs Revier?« Das zerknirschte Bejahen ihrer Frage genügte Everly, die sich an einem aufmunternden heben der Mundwinkel versuchte. Sie tat einen Schritt beiseite und ließ Melina die gefliesten Räumlichkeiten betreten. Kapitel 4: 4 ------------ Ihr Weg führte sie zum Hauptquartier des NYPD, nach Park Row, Downtown. Die dunklen Wolken, die sie bereits am Morgen begrüßten, schienen sich durch den jungen Vormittag zu ziehen. Der Dezember war ihr, neben November und Januar, immer einer der schlimmsten Monate. Dunkel, kalt, verregnet oder verschneit. Die Welt schien in dieser Zeit wie verwandelt, auch wenn das Weihnachtsfest ihr stets das Herz wärmte und ein Lächeln auf die Lippen schickte. Nun jedoch kroch Melina durch die Straßen, kehrte der U-Bahn den Rücken und erreichte das Gebäude, welches der City Hall, dem New Yorker Rathaus, gegenüber lag. Und obschon sich die Sehenswürdigkeiten wie der Broadway, die St. Paul’s Chapel oder gar die Brooklyn Bridge den Rang abliefen und um die Touristen buhlten, galt all ihre Aufmerksamkeit und Konzentration einzig diesem einen Vorhaben. Schwer schluckte Melina an dem Kloß der Angst in ihrer Kehle. »Ich hätte anrufen sollen«, murmelte sie und hielt für einen kleinen Moment inne. Vor ihr erhob sich ein großes, würfelartiges Gebäude. Davor war ein kleiner Anbau platziert. Der Schriftzug »WELCOME TO POLICE HEADQUARTERS« zierte den oberen Bereich dessen. Ebenso bemerkte Melina den, in gelben Lettern bezeichnete, »VISITORS ENTRANCE« - den Besuchereingang. Zittrig rang sie nach Luft, nicht wissend, ob dies die korrekte Stelle war, an der sie sich melden musste. Sie war eine Besucherin, jedoch keine Touristin. Scheu blickte sie sich um. Doch immer, wenn Hilfe benötigt wurde, war keine Seele zu erblicken. Ein kleines, frustriertes Knurren entwand sich ihr. »Kann ich Ihnen helfen, Miss?« Melina zuckte kaum merklich zusammen und wandte sich zu der freundlichen Stimme um. Sie hatte die kleine Polizistin gar nicht bemerkt. Offenbar war das lautlose Anschleichen eine Disziplin, die diese Frau mit Bravour gemeistert hatte. Das dunkle Haar hatte die Beamtin, deren karamellfarbenen Wangen vom Dezemberwind bereits gerötet waren, unter der Police-Kopfbedeckung versteckt. Die braunen Augen wanderten musternd über Melina hinweg. Doch als diese bejahend nickte, wurde die angespannte, abschätzende Miene Police Officer J. Perez', wie das kleine Messingschild auf der Uniform verwies, weicher. »Ich suche Detective Williams und Archer«, brachte Melina hervor. Die Lippen der Polizistin hoben sich zu einem Lächeln, das weiße Zähne entblößte. »Nun Miss, das hier ist der Eingang für die Touristen«, erklärte Officer Perez, während ein kleines Lachen ihres Worte umwehte. »Ja, das, habe ich mir auch gedacht«, gab Melina kleinlaut zu. »Wenn Sie ein richtiges Anliegen vorzubringen haben, dann müssen Sie zum Haupteingang. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.« Officer Perez trat an ihr vorbei und Melina folgte auf dem Fuße. Sie gab es ungern zu, doch sich zu orientieren fiel ihr nicht immer leicht. Nach wenigen Schritten hatte Officer Perez sie vor einen weiteren, aus einer Glasfront bestehenden Eingang geführt. Der Anblick des »POLICE HEADQUARTER« hätte ihr, aus der Nähe, den Atem verschlagen, doch Melina war um Haltung bemüht. Eine schmale, eckige, jedoch dünne Säule drängte sich ihr in den Weg. Ein schwarzer, runder Kreis, beschriftet mit weißen Buchstaben, hielt die Adresse des Hauptquartiers bereit: ONE POLICE PLAZA Ein Seufzer verließ ihre Lippen. »Gar nicht so schwer, hm?« Perez' Frage gelangte an ihre Ohren. Melina jedoch bejahte schmallippig. »Vielen Dank, für Ihre Hilfe, Officer.« Melina war versucht, eiligst der Kälte zu entkommen, die der Morgen mit sich führte. Officer Perez schenkte ihr abermals ein Lächeln, folgte ihr jedoch ins Gebäude hinein. Verwundert blinzelte Melina, als sie die Frau hinter sich bemerkte. »Es ist kalt und ich wollte mich ein wenig aufwärmen«, schweigend nickte Melina die Erklärung der Beamtin ab. »Wenn Sie Hilfe brauchen, ich bin gleich dort drüben, beim Kaffeeautomat.« Mit einem knappen Winken wandte sich Officer Perez zum Gehen, deutete jedoch noch auf den Empfangstresen, hinter dem eine ältere Dame verharrte, den Blick mürrisch auf den Computer vor sich gerichtet. Melina zwang ihre Mundwinkel gen Norden und trat auf die Frau zu, deren Finger hastig über die Tastatur flogen. Dass sie den halben Vormittag damit zubrachte, auf die Detectives zu warten, behagte ihr ganz und gar nicht. Auch hatte Melina die unwirsche Art von Empfangsdamen immer für ein Klischee gehalten, doch Agnes McClafy belehrte sie eines Besseren. »Sie hätten anrufen sollen!«, hatte Mrs. McClafy gezischt und weiter auf den Computer eingehackt. »Dummes Ding!« Melinas wich vor Schreck zurück. »Nicht Sie!«, knurrte die Empfangsdame und hob den Blick vom Bildschirm. »Es tut mir sehr leid, aber diese Höllenmaschine treibt mich seit heute Morgen in den Wahnsinn. Ich kann Ihnen jetzt nicht helfen.« »Gibt es ein Problem, Aggy?« Officer Perez trat an sie heran und beugte sich über den Tresen. Mrs. McClafy seufzte, rollte auf dem Stuhl zurück und rieb sich die Schläfen. »Für dich immer noch, Misses Aggy!« Die Lippen Officer Perez' bogen sich zu einem Grinsen. »Hast du es schon mal mit einem Neustart versucht?« Eine Augenbraue schoss böse und pfeilschnell zum rötlich gefärbten Haaransatz der Dame hinauf. »Meine liebe Juanita, ich sitze hier fast länger an diesem Tisch, als du auf der Welt bist! Erzähl' mir also nichts von einem Neustart. Das Ding ist kaputt!« »Entschuldigung«, hob Melina an. »Ich kann leider nichts für Ihr technisches Problem, aber ich -« Sie verstummte sofort, als sie der eisige Blick Mrs. McClafys traf. »Sie möchte zu Detective Williams und Archer«, erklärte Officer Perez. Tief und geräuschvoll rang Mrs. McClafy nach Atem. »Da müssen Sie in die dritte Etage, Morddezernat!« »Ich begleite Sie«, bot sich Officer Perez, vor Tatendrang sprühend, an. »Morddezernat, wie spannend! Haben Sie was ausgefressen?« Verblüfft klappte Melina der Mund auf, doch sie schüttelte hastig den Kopf. »Diese Jugend«, murrte Mrs. McClafy. »Und was mache ich jetzt mit diesem vermaledeiten Computer?!« »Frag George«, flötete Officer Perez und schob Melina in Richtung Fahrstühle davon. »Sie sehen ein bisschen blass aus«, bemerkte Officer Perez, als beide das stählerne Gefährt bestiegen. »Ich mag keine Fahrstühle«, druckste Melina und spürte bereits, wie sich ihr der Magen drehte. »Oh, warum haben Sie denn nichts gesagt? Dann hatten wir die Treppe -« Die Augenbrauen Perez' schoben sich fragend, vielleicht sogar mitfühlend, zusammen. Doch weitere Worte blieben aus, da sich der Lift in Bewegung setzte. Mit einem Pling wurden die Fahrgäste entlassen. »Sie müssen den Flur herunter«, sagte Officer Perez. Dankend nahm Melina den Hinweis entgegen und stolperte auf schwachen Beinen den Gang entlang. Auch hier gab es einen kleinen Empfangsbereich, der von einem hochgewachsenen Beamten besetzt wurde. »Guten Morgen«, versuchte Melina das Eis, mit einer höflichen Begrüßung, zu brechen. Auch dieser Mann steckte in der typischen New Yorker Polizei-Klufft. Das Schild auf seiner Brust besagte, dass es sich bei ihm um einen O. Tolliver handelte. Als Tolliver aufsah, fuhr Melina fort: »O'Sullivan mein Name, ich würde gern Detective Williams und Archer sprechen.« »Und worum geht es?« Die Stimme des Mannes, den Melina grob auf Mitte vierzig schätzte, war geschmeidig, behielt jedoch einen leichten, skeptischen Unterton, während er ihren Namen auf einem Besucherbogen vermerkte. »Um eine Zeugenaussage«, murmelte Melina und wurde von Tolliver auf einen der Stühle verwiesen, die dem Tresen gegenüber standen. Melina biss sich auf die Lippen. Anders, als erwartet, wuselten hier Beamte durch die Flure. Stimmen und Gespräche wurden laut und verklangen. »Fast, wie im Fernsehen.« Melina reckte den Hals, um den Beamten nachzusehen, ehe sie den Blick von Officer Tolliver auffing, der sie belustigt, jedoch unverhohlen musterte. Skepsis und Argwohn schienen hier Einstellungskriterien zu sein, oder aber O. Tolliver war ein sehr vorsichtiger, misstrauischer Mann. »Die Detectives befinden sich momentan in einer Besprechung. Sie hätten anrufen sollen.« Den Rat und die Erkenntnis nahm Melina mit einem Augenrollen entgegen und bedankte sich mit einem knappen Lächeln. »Ich bin wohl nicht der Erste, der Ihnen das sagt, hm?« Die Mundwinkel Tollivers hoben sich grinsend. Melina schwieg, nahm sich die Freiheit heraus, aufzustehen und ein wenig den Gang zu erkunden. Auf und ab lief sie den schmalen Flur, unter den wachsamen Augen Tollivers. Fotos rahmten die Wände, doch nicht nur freudige Ereignisse säumten den Weg. Zeitungsausschnitte, Bilder des Grauens, sollten an die Gräueltaten erinnern, die diese Stadt täglich erfuhr. Melina verharrte vor einem Artikel aus dem Jahre 1929. Kaum vorstellbar, dass sich so etwas beinahe unversehrt hatte auffinden lassen, doch die Schlagzeile ließ ihr den Atem stocken: Schandtat in Midtown – Blutleere Leiche gefunden Noch ehe sie den ersten Abschnitt beendet hatte, rief man nach ihr. Melina wandte sich um und erkannte die zwei Herren, deren Erscheinen sie, seit dem unerwünschten Besuch am gestrigen Morgen, erwartet hatte. »Miss O'Sullivan« Es war Detective Archer, der das Wort ergriff und Melina mit einem knappen Kopfnicken begrüßte. Dann wandte er sich an den Mann hinter dem Tresen. »Oliver, könnten Sie uns eine Kanne Kaffee bringen lassen?« Melina neigte den Kopf, ehe ein kleines Lächeln ihre Lippen umspielte. »Sie heißen Oliver Tolliver? - Ein schweres Los, hm?« Doch dieser zuckte nur stumm die Schultern. Ein Räuspern lenkte die Aufmerksamkeit aller auf Detective Williams. Schweigend bedeutete er ihr, ihm in eines der Zimmer zu folgen. Zu Melinas Missfallen, war der Raum so gar nicht wie ein Verhörzimmer eingerichtet, das sie aus den Serien kannte. »Stimmt etwas nicht, Miss O'Sullivan?«, hakte Williams nach. »Das ist aber nicht wie bei Law & Order oder Criminal Intent«, gab sie mit dünner Stimme zu. Ein Schnauben durchbrach das Gespräch. Archer war ihnen gefolgt und zog soeben einen Stuhl zurecht, auf dem Melina Platz nahm. »Miss O'Sullivan -«, begann Archer, und wurde von ihr unterbrochen. »Bitte sagen Sie mir nicht, dass ich hätte anrufen sollen. Ich weiß, dass ich mich hätte anmelden müssen, aber -« Leise Verzweiflung mischte sich unter die gefallenen Sätze. Verdutzt blinzelte Archer, nickte jedoch abgehackt. »Wie schön, dass wir uns darüber jetzt im Klaren sind.« Hart presste Melina die Lippen aufeinander. »Fürs nächste Mal, behalten Sie dieses Vorhaben einfach im Hinterkopf. Nichtsdestotrotz sind wir froh, über Ihre Entscheidung, sich an uns zu wenden.« Die Worte Detective Archers klangen heruntergeleiert und einstudiert. »Sie wären also bereit, eine Aussage zu tätigen, richtig?« Williams wandte sich an sie und Melina bejahte mit einem schweigsamen Nicken, dennoch konnte sie nicht bestreiten, dass ihr ein wenig unheimlich zumute war. Archer trat neben sie und brachte einen kleinen Rekorder zum Vorschein. »Wir werden Ihre Aussage aufnehmen müssen.« Abermals bejahte Melina und berichtete von jenem Arbeitstag in der Schmuckabteilung, versuchte sich gezielt an das Zusammentreffen mit der Verblichenen zu erinnern und jene Bilder, so getreu wie möglich, aufzuzeigen. »Sie zahlte und verließ dann unser Haus. Also, das nehme ich an. Wir sind ja nur ein kleiner Abschnitt Macy's'.«, endete Melinas Stellungnahme des Tattages bezüglich. »Und Sie wissen nicht, wie die Visitenkarte in die Hände der Toten gelangte?«, hakte Williams nach. »Diese Karten liegen im gesamten Gebäude aus. Ich vermute, sogar auf den Toiletten.« Melina zuckte mit den Schultern. »Nun gut, aber Ihren Namen haben Sie nicht darauf geschrieben, ist das korrekt?«, fuhr der junge Beamte fort und Melina schüttelte den Kopf, verneinte jedoch, da ihre Worte noch immer auf eine Tonspur gebannt wurden. »Miss O'Sullivan«, hob Archer an. »Wären Sie bereit, uns eine Schriftprobe zu geben?« »Ja, sicher«, stimmte Melina dem Anliegen zu. »Gut.« Archer tauschte einen Blick mit Williams, der eine der Schubladen des Schreibtisches öffnete und Block und Bleistift ans Tageslicht brachte. »Dann möchte ich, dass Sie Ihren vollständigen Namen, Adresse und Geburtsdatum hier vermerken, in Schreibschrift und in Druckbuchstaben.« Ihre Finger langten nach dem Schreibblock. Am rechten, oberen Rand, erkannte sie das Polizeilogo. Der Stift kratzte unangenehm über die Linien des Blattes, doch Melina war um Sorgfalt und um eine alltägliche Handschrift ihrerseits bemüht. »Fertig.« Mit diesen Worten schob sie das Schriftstück Williams zu. Die beide Beamten beäugten das Ergebnis. »Geben Sie das jetzt zur Schriftanalyse?«, fragte Melina und schämte sich beinahe für die Bewunderung, die in jeder Silbe mitschwang. »Unsere Graphologen werden sich damit befassen«, erläuterte Williams. »Allerdings ist selbst für den bloßen Betrachter erkennbar, dass die Schriften einander nicht ähnlich sind.« Nun war es Detective Williams, der ihr die Visitenkarte erneut vor Augen führte. Die Buchstaben auf der Rückseite, die mit ihrem Namen versehen war, waren abgehackt und schienen in aller Eile auf dem festen Papier verewigt worden zu sein. Die Falten, die sich in ihre Stirn gruben, ließen die Beamten jedoch aufmerksam werden. »Ist Ihnen diese Schrift bekannt?«, fragte Archer, der sie scheinbar ganz genau beobachtete. »Nein.« Melina schüttelte den Kopf. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich bei dieser Lüge in ihr aus. Doch so schnell, wie jener Schauer über sie hinweggefegt war, war sie wieder bei Sinnen. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, warum sollte ausgerechnet -? Melina scheuchte diesen Gedanken eiligst beiseite. »Ich möchte helfen«, brachte sie ohne Umschweife hervor. »Mit Ihrer Aussage ist uns bereits geholfen«, gab Detective Archer zur Antwort. »Nein, ich möchte richtig helfen.« Wieder tauschten Archer und Williams einen Blick. »Ihr Eifer in allen Ehren, aber das hier ist Polizeiarbeit. Sobald wir neue Erkenntnisse gewonnen haben, melden wir uns bei Ihnen. Bis dahin, Miss O'Sullivan.« Williams erhob sich und reichte ihr die Hand zum Abschied. Archer tat es ihm gleich, jedoch geleitete dieser sie noch bis zur Tür. »Die Ermittlungen laufen bereits auf Hochtouren, Miss O'Sullivan«, sagte er. Skepsis zierte ihr Gesicht. »Bin ich verdächtig?« »Nein, Miss O'Sullivan. Wären Sie verdächtig, dann hätten wir dieses Gespräch nicht in diesem Büro geführt«, gab Archer zu. »Also gibt es diese Verhörräume doch.« Melina hatte Mühe, ihre Aufregung, Begeisterung zu zügeln. »Wie meinen?« Archers buschige Augenbrauen verbogen sich. »Diese Räume, mit dem Spiegel, wo die Zeugen – Ach, schon gut, vergessen Sie einfach mein Gebrabbel«, eiligst winkte sie ihre Worte beiseite. »Sie scheinen ja sehr interessiert zu sein. Das ist positiv, dennoch sollten Sie bedenken, Miss O'Sullivan, dass dies hier kein Wischiwaschi mit Kameras und Drehbuch ist. Es geht um Mord. Reale Fälle. Und glauben Sie mir, Sie möchten weder auf der einen, noch auf der anderen Seite des Spiegels stehen!« Mit einer geleitenden Geste Archers, war Melina aus dem Zimmer verbannt. Die Beamten benötigten drei Tage, um den Entschluss zu fassen, eine Zivilistin in die Angelegenheiten mit einzubinden. Immer wieder mahnte Archer davor, eine scheinbar Unbeteiligte mit Informationen zu füttern, die jenseits jeglicher Vorstellungskraft lagen. Doch vielleicht würde diese Tatsache genügen, Melina O'Sullivan von der abstrusen Idee abzubringen, sich einmischen zu wollen. Den meisten Menschen war es unangenehm, einer Vorladung zur Wache nachzukommen, geschweige denn, als mögliche Zeugen in Erscheinung zu treten. Und dieser Frau schien es nicht weniger zu behagen. Dennoch glaubte Franklin Archer, in all seinen Dienstjahren, die Menschen einschätzen zu können. Ein Vorteil, jedoch auch eine Gratwanderung. Zu viel des guten Glaubens war stets mit Enttäuschungen behaftet. »Ich behaupte nicht, dass sie lügt.« Noch immer hörte er die Worte seines Kollegen, sobald Melina O'Sullivan dem Büro entschlüpft war. »Oh, das tut sie, Williams.« Archer war in seiner Meinung unumstößlich. »Vielleicht verheimlicht sie nur etwas.« Archer schnaubte bei Williams Aussage und in ihm reifte schon beinahe Mitgefühl für diesen jungen, unerfahrenen Beamten heran. »Auch das schließe ich nicht aus«, stimmte er jedoch unweigerlich zu. »Junge, du musst lernen, dass nicht jedes hübsche Mädchen frei von Sünde ist. Meistens sind das die aller Schlimmsten.« Und nun saßen die beiden Detectives tatsächlich in einem Raum, der denen, in den Serien, in Nichts nachstand. Kalt, starr, mit dem Nötigsten ausgestattet. Ein Metalltisch, drei Stühle. Ein Einwegspiegel, auf den O'Sullivan angespielt hatte, hinter diesem Zeugen und Angehörige vor den Blicken des Beschuldigten geschützt waren und jedes Wort mitanhören durften. Eine Lampe, deren Schein direkt auf den kargen Tisch fiel. »Sie wollen sie ärgern.« Dass Williams leise, aber belustigt schnaubte, ließ selbst Archer grinsen. »Tun wir nicht alles, um unsere Fälle aufzuklären?«, fragte Archer und war um einen kühlen Ton bemüht. »Du glaubst, sie verschweigt uns etwas?« Bejahend nickte Williams. »Ich würde nicht so weit gehen, Sie zum Täterkreis zu zählen, allerdings hat mich ihr plötzliches Stocken, während der Aussage, stutzig gemacht. Und vielleicht haben wir ja Glück.« Achtlos zuckte Cord Williams die schmalen Schultern. »Glück und Polizeiarbeit?«, grunzte Archer. »So etwas gibt es nicht!« Sowie Melina erneut bei Mrs. McClafy vorstellig wurde, begrüßte diese sie jedoch viel freundlicher, als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Einen knappen Anruf später, hielt bereits ein Officer auf sie zu, der sie, durch die marmorne Eingangshalle hindurch, an den Fahrstühlen vorbei, in einen Gang führte. Alles wirkte nüchtern, abgeklärt, die Wände kahl, der Boden mit Linoleum ausgelegt. Ein älterer Mann, in Hausmeisterkleidung, kam ihnen entgegen. Grüßend tippte der Officer, dessen Namen Melina nicht so schnell erblicken konnte, an die Polizeimütze und marschierte weiter. Melina folgte ihm. Als er vor einer dunkelgrauen Tür stehenblieb, stoppte auch Melina. Er streckte die Finger nach der Klinke aus, öffnete und ließ Melina eintreten. Erst im Vorbeigehen erhaschte sie einen Blick auf seinen Namen: T. Collins Dieser schloss, nachdem Melina inmitten des Raumes stand, die Tür. Sie war mit sich allein. Als Detective Williams nach ihr schicken ließ, nahm sie an, dass die Polizei zu neuen Erkenntnissen gekommen sei, die man ihr in seinem Büro mitteilte. Doch nun? Sie sah sich um. Das Raum war schmal und es ließ sich nichts erblicken, bis auf eine weitere Tür und einen Spiegel. Sie trat an diesen heran und fand nur Dunkelheit vor. Da Collins recht wortkarg schien und ihr keine Mitteilung machte, wann die Beamten den Weg zu ihr fanden, beschlich Melina ein merkwürdiges Gefühl. Dass man sie warten ließ, behagte ihr nicht, doch umso erleichterter war sie, als die Tür von Neuem geöffnet wurde. Archer, Williams und eine ihr fremde Frau erschienen. Diese wurde ihr als Doktor Christina Townsend, Pathologin, vorgestellt. Schweigend begrüßte Melina die Anwesenden. »Miss O'Sullivan.« Archer trat an ihr vorüber und öffnete die andere Tür. Als er den Lichtschalter betätigte, entflammte sich der Leuchter flackernd. »Bitte.« Ungläubig schoben sich ihr die Augenbrauen zusammen, doch Melina folgte der auffordernden Geste. Ihr verschlug es den Atem, dann suchte sie Archers Blick, doch dessen Miene blieb ausdruckslos. »Also haben Sie doch so einen Raum.« Melina reckte ihr Kinn, während sich ein überlegenes Grinsen auf ihre Lippen stahl. »Wir dachten, wir erweisen Ihnen einen Gefallen, wenn Sie für uns dasselbe tun«, sagte Williams und ließ sich auf einem der zwei Stühle nieder, ehe er Melina den einzelnen Platz an der Wand zuwies. Ihr kribbelten die Fingerspitzen, doch Melina mahnte sich zur Ruhe, obschon ihr der Atem keuchend ging und sie die Hitze ihrer entflammten Wangen bemerkte. Wären nicht so viele Schaulustige vor Ort, hätte sie vor Freude und Aufregung gejuchzt. Ihr Blick wanderte zum Spiegel, der jedoch nichts von dem Vorraum preisgab. Sie sah einzig das Antlitz aller Versammelten. »Miss O'Sullivan.« Es fiel Melina schwer, den Blick von all dem abzuwenden, auch wenn eine solche Situation für jeden anderen womöglich als beklemmend empfunden wurde. Da nun auch Detective Archer ihr gegenüber Platz nahm, bemerkte Melina, dass für Doktor Townsend keine Möglichkeit bestand, sich setzen zu können. »Keine Panik«, winkte diese ab, als sie Melinas fragenden Blick bemerkte. »Es dauert nicht lang.« Melina schluckte und wandte sich wieder den Beamten zu. Williams zog eine Akte hervor. Wo er dieses Dokument versteckt hielt, war ihr völlig entgangen. Die Mappe war schmal, folglich konnte diese nicht allzu viele Informationen bereithalten. Die Anspannung war den Beteiligten dennoch anzumerken. »Miss O'Sullivan, es hatte den Anschein, als sei die Karte, die meine Kollegen bei der Ermordeten fanden, mit Absicht dort platziert worden«, begann Detective Williams und lehnte sich in dem Stuhl zurück, während seine Augen nach einer Regung in ihrer Körpersprache suchten und Melina enttäuschte ihn nicht. »Wie?« Ein hoher, keuchender Laut verließ ihr die Lippen. »Wir wollten sicher gehen, dass wir uns nicht verstricken, deshalb haben wir Ihnen diese Information vorenthalten. Wir wollten Sie damit weder verdächtigen, noch in Schwierigkeiten bringen, geschweige denn ...«, fuhr Williams fort, doch Archer unterbrach ihn. »Ihnen Angst einjagen, Miss. Das liegt uns fern, wir sind da, um zu helfen.« Schwach nickte Melina die Worte Archers ab. Freundlicher Weise gab man ihr die nötige Zeit, das Gehörte aufzunehmen. »Platziert? Was soll das bedeuten?« Ihr Blick huschte von Williams, zu Archer, und von diesem zur Pathologin. »Wir glauben, dass es sich dabei keinesfalls um einen Zufall handelt, Miss«, sagte Archer. »Weder, was die Tat, noch was das Ablegen von möglichen Beweisen anbelangt, die auf Sie zurückzuführen wären.« »Ich, ich verstehe nicht, was -?«, verdattert blinzelte Melina. »Offenbar möchte jemand gezielt den Fokus auf Sie lenken, Miss O'Sullivan«, gab Williams preis. »Aber, warum?« Hilflosigkeit hatte ihre Arme um sie geschlungen. »Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir, in diesem Punkt, völlig ratlos sind«, knirschte Archer. Melina sackte auf dem Stuhl zusammen. »Sie meinen, jemand wollte mir die Tat in die Schuhe schieben? Warum?« Schweigend sahen die Polizeibeamten einander an. »Und Sie wollten mir keine Angst machen!« Melina lachte auf, höhnisch und bitter. »Dann bin ich jetzt also doch verdächtig? Heißt es nicht immer, der Täter kehre stets an den Ort des Verbrechens zurück?« »Miss O'Sullivan«, versuchte Detective Williams, den aufkommenden Sturm zu besänftigen. »Was glauben Sie? Warum sollte ich einer fremden Frau, die für ihre kleine Tochter nach einem Geschenk sucht, nach dem Leben trachten?« Wut wallte in ihr auf, da Melina keinerlei Erklärung mehr parat hatte. »Wir glauben Ihnen, Miss.« Archer erhob sich von seinem Platz und winkte Doktor Townsend herüber. »Zumindest, was den Teil mit dem Mord betrifft. Aber wir wissen, dass Sie uns etwas verheimlichen.« Wieder öffneten sich ihr die Lippen, doch nicht ein Laut kam daraus hervor. Mit einem Kopfnicken wies Archer die Ärztin an, eine weitere Mappe vorzulegen. »Die Obduktion«, erklang die Stimme Doktor Townsends, »der Leiche ergab, dass diese völlig blutleer zurückgelassen wurde.« »Blutleer?« Melina hörte die Worte wie Gift aus ihrem Mund kriechen. »Was wollen Sie damit sagen?« »Nun, Miss, dass der Körper Gabriella Sumners nicht einen Tropfen Blut mehr in sich hatte«, erklärte Franklin Archer mit einer Ruhe in der Stimme, die ihr erneute Schauer durch den Körper jagte. Kapitel 5: 5 ------------ Melina wusste kaum, auch nur eine Silbe vorzutragen. Sie starrte zu der Pathologin auf, als habe diese ihr gerade berichtet, dass Schweine fliegen konnten. »Blutleer? Das ist doch Blödsinn!«, zischte Melina, all ihrer Fassung beraubt. »Und was ist das in der Gasse? Auf den Bildern? Ist das etwa kein Blut?« Archer ließ die Zunge schnalzen, blieb jedoch die Ruhe selbst. »Das, was wir im ersten Moment für Blut hielten, war ein Gemisch aus Wasser, Maisstärke und Kreide, mit Zuckercouleur versetzt. All das bekommt man in jedem, herkömmlichen Supermarkt.« »Ich verstehe gar nichts mehr«, gab Melina entkräftet zu. »Chemie, Miss O'Sullivan. Man muss allerdings kein ausgebildeter Chemiker sein -«, begann Williams und wurde jäh unterbrochen, da Doktor Townsend sich vernehmlich räusperte. »Oder Chemikerin«, verbesserte er sich hastig, »um ein solches Gemisch herzustellen.« »Und was heißt das im Klartext?« Beinahe hätte Melina verwirrt aufgelacht, doch sie wusste, dass die speziellen Gefängniszellen für ebenso spezielle Leute, nicht weitab waren. »Das bedeutet, dass man uns auf eine falsche Spur locken wollte«, erklärte Archer. »Kein Raub, keine Vergewaltigung. Selbst die Papiere trug die Tote noch bei sich. Das Einzige, was ihr abhanden kam, war der Lebenssaft.« Unglauben zierte ihr Gesicht. »Und was wollen Sie mir damit sagen? Dass es so etwas wie Vampirismus gibt? Das ist unmöglich!« »Es liegt außerhalb unserer Vorstellungskraft, aber es als unmöglich abzutun, wäre ein Fehler, ein ganz fataler Fehler sogar!«, sagte Detective Williams. »Und wie hat der Mörder es dann angestellt?« Entrüstet warf Melina die Hände in die Luft, ehe in ihren nachfolgenden Worten leichte Ironie mitschwang. »Hat er sie gebissen und dann den Rest mit Nadeln, Schläuchen und diesen komischen Beuteln für später aufgehoben und mitgenommen?« »Aber genauso war es, Miss O'Sullivan.« Detective Archer trug das Offensichtliche kühl und emotionslos vor. Keuchend rang Melina nach Luft und schüttelte ungläubig den Kopf. »Dieses ganze Prozedere würde Stunden dauern!« Die Beamten jedoch schwiegen sich aus. »Wurden denn Einstiche gefunden?«, fragte sie an die Ärztin gewandt. Diese nickte knapp, tauschte jedoch mit den Männern einen besorgten Blick, der Melina nicht entging. »Die Einstiche waren laienhaft, deshalb … konnten die Kollegen beim Eintreffen, im ersten Moment, keine andere Aussage machen. Für einen Junkie war sie zu gepflegt, es konnten auch keine Drogen nachgewiesen werden und der Umgang mit der Nadel war ihr definitiv nicht geläufig«, erklärte Doktor Townsend. »Die Spuren zeigten sich erst in der Pathologie. Es war eine Finte, genau wie diese, vermeintlich dilettante Blutspur, die sich jedoch als äußerst raffiniert erwies. So lenkte der Täter den Fokus auf das Äußerliche.« Doktor Townsend öffnete die Akte und deutete auf ein Foto, das Gabriella Sumners auf dem kalten Stahl des Autopsie-Tisches zeigte. Ein Tuch bedeckte den Oberkörper, das die intimen Stellen der Toten jedoch verhüllte. Allerdings fiel der Blick aller Anwesenden auf die zwei Punkte, die sich schwarz-bläulich auf ihrem rechten Oberschenkel abzeichneten. »Dort befindet sich die Arteria femoralis, die Oberschenkelarterie«, fuhr die Ärztin fort. »Wird diese verletzt, tritt der Tod innerhalb von Minuten ein.« Die Männer schienen ungerührt, doch Melina glaubte zu erkennen, dass Detective Williams ein wenig blasser um die Nase wurde. Doktor Townsend bemerkte den drängenden Blick Archers, und schloss die Akte eilig. »Und nun zu Ihnen, Miss O'Sullivan«, begann der Ältere. »Sie sagen uns jetzt, warum Sie gelogen haben!« Sie wusste nicht, ob die Detectives ihr ihre Geschichte glaubten. Und unter anderen Umständen hätte Melina niemand anderem davon erzählt. »Sie wollen mir also weismachen, dass es Vampire in New York City gibt?«, knurrte sie nach einer Weile der eisernen Stille. Archer und Williams blieben wortkarg, auch Christina Townsend musste wahrlich mit der Erkenntnis kämpfen, die jegliches Verstehen übertraf. Als die Drei jedoch Melinas Frage mit einem einstimmigen Nicken beantworteten, sah sich diese bereit, ihnen Vertrauen zu schenken. In dem Wissen, dass man das Gespräch aufzeichnete, ob durch Kameras oder andere Gerätschaften, erklärte sich Melina O'Sullivan dazu bereit, ihr Schicksal zu teilen. Sie berichtete von ihrem Urgroßvater, und wie dieser, in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, von Irland nach Amerika übersiedelte. Sie hielt sich jedoch nicht mit den Details ihrer Ahnen auf. Einzig, dass sie Ende der achtziger Jahre das Licht der Welt erblickte und seit ihrem siebten Lebensjahr von Träumen gequält wurde, die sie an ihrem klaren Verstand zweifeln ließen. »Glauben Sie, Sie haben so etwas wie hellseherische Fähigkeiten?«, verlangte Doktor Townsend zu wissen. »Ich weiß es nicht«, gestand Melina und blickte auf, die in ihrem Schoß ruhenden, Hände. »Ich weiß nur, dass ich sie sehe.« »Sie?«, hakte Archer nach. »Sie meinen, Sie haben Gabriella Sumners gesehen?« »Nein«, gab Melina zu und hob den Kopf, um die Beamten anzusehen. »Es … ist nicht direkt sehen, es ist mehr … erleben, so, als wäre ich dabei.« »Als Täter?« Melina spürte den abwartenden Blick Detective Williams auf sich. »Nein«, knurrte sie und sah mit zorngeschwängerter Miene zu Williams herüber. »Ich spüre ihre vor Angst schlagenden Herzen, das Brennen in den Kehlen. Ich höre ihre Schreie, fühle das Zerren und Zittern an den Stimmbändern, doch kommt nicht ein Laut daraus hervor. Ich bin in den dunklen Gassen, über mir ein sternloser Himmel und nicht einmal der Mond leuchtet. Ich renne, werde getrieben, gejagt. Und dann ...« Melina war es gleich, ob sich ihre Stimme überschlug. Diese Männer wollten die Wahrheit, und die bekamen sie. »Und dann?«, fragte Archer, nach dem Melina eine Pause eingelegt hatte, um Atem zu schöpfen. »Dann sterbe ich«, erklärte sie. Zu Melinas Überraschung blieb das Gelächter aus. Ihre Befürchtungen, man sperre sie sofort in eine Gummizelle, schienen sich, in diesem Moment, noch nicht zu bewahrheiten. »Und Sie haben diese Träume seit Ihrem siebten Geburtstag?«, bekräftigend nickte Melina die Frage Doktor Townsends ab. »Waren Sie schon bei -?« »Sie meinen, ob ich mir psychologische Hilfe gesucht habe oder bei einem Priester war? Glauben Sie wirklich, ich würde dann jetzt noch vor Ihnen sitzen?« Melina unterstrich ihre sarkastische Aussage mit dem Heben einer Augenbraue. »Touchè, Miss O'Sullivan.« Die Lippen Detective Archers kräuselten sich amüsiert. »Sie wollen doch den Täter finden, richtig? Es bringt Ihnen also nichts, mich als Verrückte abzustempeln, meine Herren, und die Dame.« Melinas Blick huschte zu Doktor Townsend, die die junge Frau jedoch interessiert musterte. »Oh, ich stemple Sie nicht als verrückt ab«, gebot ihr Christina Townsend mit erhobenen, abwehrenden Händen. »Dafür ist das alles hier viel zu tricky.« Verstehend nickte Melina. »Haben Sie diese Träume denn täglich?« Die Ärztin neigte den Kopf. »Ich versuche sie Mithilfe von Tabletten einzudämmen, aber glauben Sie mir, Ihnen verginge garantiert auch die Lust, jeden dritten Tag Bettwäsche und Nachthemd wechseln zu müssen«, murmelte Melina. Als Detective Archer geräuschvoll die Luft einzog, richtete sich Melinas Fokus wieder auf diesen aus. Plötzlich bemerkte sie, dass Williams offenbar den Raum verlassen hatte. »Wo-?«, begann Melina, doch Archer schüttelte knapp den Kopf. »Er ist sofort wieder da«, gebot er ihr, doch Melina schluckte vernehmlich. »Miss O'Sullivan, keine Panik. Wir sind ebenso an der Lösung des Falles interessiert, wie Sie. Williams holt nur ein paar Akten. Es könnte nur eine Weile dauern, da diese im Archiv verstauben.« Misstrauen spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider. »Wenn Sie mich in eine Zwangsjacke stecken, kriegen Sie den Täter nie«, zischte sie, doch nun hallte ein Lachen durch das Verhörzimmer, tief und grollend. Nachdem man ihr freundlicher Weise einen Kaffee anbot, genehmigte sich auch Detektive Archer eines dieser koffeinhaltigen Heißgetränke, während Doktor Townsend zu einem Hagebuttentee nicht Nein sagte. Das Warten wurde den Dreien jedoch zu lang, sodass sich die Ärztin von Melina und dem Beamten verabschiedete. Allerdings verlangte sie, immer auf den neuesten Stand gebracht zu werden, doch dasselbe riet ihr Archer ebenso. Nach weiteren Minuten und einem Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk, gebot Archer ihr, ihm zu folgen. So traten sie wieder auf den Flur hinaus. »Unser Archiv ist eigentlich nicht weit von hier«, murrte Archer und zog grübelnd die Stirn in Falten. »Lassen Sie uns mal nachsehen, was meinen jungen, ambitionierten Kollegen davon abhält, uns zu beehren.« Wortlos kam Melina seiner Aufforderung nach. Sie verließen den Gang und Melina erkannte die Eingangshalle wieder, die die Zwei nun durchschritten. Knapp erhaschte sie einen Blick auf die Uhr, die über dem Empfangstresen leise tickte und deren Zeiger bereits auf kurz vor zwölf verwiesen. Mrs. McClafy hob den Blick, den Melina mit einem zaghaften Lächeln erwiderte. »Es ist uns streng untersagt, Zivilisten in unser Archiv zu lassen, Miss O'Sullivan«, brummte Archer, als er sie durch die verschlungenen Wege des Hauptquartiers führte. »Dann warte ich draußen?« Ihre Frage quittierte er schnaubend. »Auf gar keinen Fall«, sagte Detective Archer. »Wir, also Detective Williams, und ich, und all die anderen kleinen Arbeitsbienen, wären Ihnen jedoch sehr verbunden, wenn Sie das Stöbern in unseren Archiven nicht unbedingt an die große Glocke hängen würden. Wenn Sie verstehen ...« »Ja«, gab Melina knapp zurück. Vor einer Tür hielt Archer inne. Einzig ein kleines Schild auf der rechten Seite beschrieb jene Räumlichkeiten als Archiv. Sowie Archer sie eintreten ließ, spürte Melina ein jähes Zittern. »Ist alles in Ordnung, Miss O'Sullivan?«, fragte der Detective, der ihr Zögern bemerkte. »Mir ist ein wenig flau im Magen«, gestand Melina. »Das ist normal, oder leiden Sie an Klaustrophobie?«, hakte Archer, der Vorsicht halber, nach. »Nein, wenn dem so wäre, dann hätten Sie mich gar nicht erst in dieses Verhörzimmer sperren können«, murrte sie und verspürte abermals ein leichtes Brennen auf den Wangen. »Meiner Begeisterung zum Trotz!« Kopfschüttelnd ließ Archer ihr den Vortritt. Der Duft von Metall und Staub hing in der Luft, ebenso ein leicht modriger Geruch. »Vor Jahren gab es hier einmal einen Wasserschaden.« Archers Stimme hallte durch den hiesigen Raum. »Hoffen wir, dass das, was wir suchen, nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde.« »Archer?« Detective Williams trat zwischen zwei Regalen hervor und erschreckte Melina so sehr, dass dieser ein spitzer Schrei entfuhr. »Du brauchst eindeutig zu lange, Greenhorn«, schnaubte der Ältere. »Und, bist du fündig geworden?« Mit einem knappen Nicken deutete Williams auf den schmalen Gang, aus dem er gekommen war. »Kommen Sie Archer und Sie auch, Miss O'Sullivan!« Auf einem Tisch waren Akten über Akten gestapelt. Williams umriss knapp die Geschichte des Hauptquartiers, ebenso berichtete er von dem Wasserschaden, den Archer zuvor erwähnt hatte. »Die Aufzeichnungen beginnen mit dem Umzug an diesen Ort«, erklärte Williams. »Und wir müssen jetzt jedes Jahr durchforsten? Ginge das mittels Internet nicht schneller?«, fragte Melina. »Nun, Miss, da haben Sie nicht Unrecht, allerdings wurde unser Archiv nur bis in die 50er Jahre digitalisiert, alles, was davor war, finden Sie hier«, fuhr Detective Williams fort. »Es ist schon eine gefühlte Ewigkeit her«, bemerkte Archer und besah sich die ersten Akten. »Doch mein Großvater erzählte mir davon, dass es um die Jahrhundertwende zu vermehrten Morden kam.« »Ihr Großvater?« Melina neigte den Kopf. »War er auch Polizist?« Archers Lippen verbogen sich zu einem stolzen Grinsen, ebenso schwoll ihm die Brust. »Ich entstamme einer Familie von Polizisten, Miss O'Sullivan.« »Aber das wäre, wie die Nadel im Heuhaufen zu suchen«, murrte Williams. »Schließlich gibt es jeden Tag blutige Verbrechen.« Melina hielt sich vornehm zurück, pflichtete dem jungen Detective jedoch im Stillen bei. »Wo befinden sich die Aufzeichnungen von und um das zwanzigste Jahrhundert?«, fragte sie stattdessen. Archer deutete hinter sich. »Oh«, keuchte Melina auf und spürte, wie ihr sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. »Das ist – aber eine Menge!« Hinter Archers Rücken erstreckten sich raumhohe Regale, angefüllt mit Kartons. Leitern sollten das Herankommen erleichtern, doch Melina wurde schon allein bei dem Gedanken daran, auf eine Leiter zu steigen, schwarz vor Augen. Sie wankte leicht, war jedoch bemüht, standhaft zu bleiben. »Wollen Sie sich setzen? Die Luft kann einem hier ganz schöne Kopfschmerzen bereiten«, sagte Detective Williams und bot ihr einen der beiden Stühle an, die an dem Tisch verweilten. »Gut, dann machen wir uns mal an die Arbeit.« »Aber haben Sie nicht noch andere Fälle, die einer Lösung bedürfen?«, fragte Melina. »Momentan, Miss O'Sullivan, besteht unser Fall aus einem Irren, der Frauen das Blut aussaugt. Was meinen Sie, was Vorrang hat?«, vernahm sie Archers Stimme. Dieser hatte sich bereits eine der Leitern geschnappt und die oberen Fächer erkundet. Melina seufzte auf, nahm die erste Akte vom Stapel und wühlte sich durch die Geschichte New Yorks. So verfuhren die Beamten, mit Melina im Schlepptau, die nächsten zwei Tage, doch diese versprachen keinen Erfolg. »Bekommen Sie eigentlich Zuschläge, wenn Sie das Wochenende im Archiv verbringen?«, fragte Melina und schloss das soeben gesichtete Dokument. »Sie meinen, weil heute Samstag ist?«, hakte Williams nach und Melina zuckte bejahend mit den Schultern. »Miss O'Sullivan, wie haben Sie in den letzten Nächten geschlafen?« Verdutzt blinzelte Melina über seine Neugierde. »Nicht gut. Ich bin selten ausgeruht, nach einer Nacht, in der ich durch die Straßen gehetzt werde.« »Nehmen Sie Tabletten?«, verlangte Detective Williams zu wissen. »Verhören Sie mich, oder flirten Sie mit mir? Ich kann Ihr Vorhaben leider nur schlecht einschätzen, wenn ich mit einem Bein in der Klapsmühle stehe«, knurrte sie, doch die Lippen des jungen Mannes bogen sich zu einem Lächeln. »Weder noch, Miss O'Sullivan«, gab Williams zurück. »Hey, ihr beiden.« Melina reckte den Hals, während sich Williams gezwungen sah, sich nach seinem Kollegen umzudrehen. Archer trat an sie heran und warf ihnen eine Akt vor die Nase. Die ersten Seiten ergaben nichts, dann jedoch entfuhr Melina ein aufgeregtes Keuchen. »Was?«, verlangte Detective Williams zu wissen. »Dieser Artikel hängt bei Ihnen auf dem Flur an der Wand. Sie hatten die Informationen direkt vor der Nase!«, knurrte Melina unwirsch. Archer und Williams überflogen die Zeilen, die von einer Tat sprachen, die den jüngsten Ereignissen nicht unähnlich war. Eine Frau, Anfang dreißig, ledig, wurde tot in einer Gasse entdeckt. Die Polizei sprach von einem Tierangriff, doch auf dem Bild, das die Schlagzeile untermauerte, ließ sich, dank der damaligen Fotografie, nicht sonderlich viel ersehen. Das brauchten sie auch nicht, denn die Aufzeichnungen der ermittelnden Beamten bestärkten den Verdacht, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um ein Tier handelte, das sein Opfer blutleer zurückließ. »Ihr wurde die Kehle aufgerissen«, las Detective Williams vor, hob den Kopf und suchte Archers Blick. »Womöglich, um eine falsche Spur zu legen?« »Möglich«, raunte Archer, schüttelte jedoch den Kopf. »Kaum zu glauben, dass das, was wir aus Filmen oder Büchern kennen sollen, wahrhaftig existiert.« Seine Worte hingen schwer wie Blei in der Luft. Wie in den letzten Abenden zuvor, schärften ihr die Detectives noch immer ein, Stillschweigen über den Fall zu bewahren. Des Weiteren sollte Melina alles Ungewöhnliche zu Papier bringen, das ihr auffiel. Insbesondere sollte sie dabei auf ihre Träume achten, ob diese nicht irgendeinen Hinweis lieferten, der diesem Schrecken ein Ende bereitete. Träge schleppte sie sich von der U-Bahnstation nach Hause. Dass die Ringe unter ihren Augen immer dunkler wurden, betrachtete Everly mit großer Sorge und Melina war sich gewiss, dass sie in wenigen Minuten abermals in den Genuss ihres besorgten Blickes kam. Everly wusste zwar um die Freistellung Melinas, doch was diese den Tag über trieb, entzog sich ihrer Kenntnis und die Lippen Melinas blieben versiegelt. Dabei wäre es eine solche Erleichterung, Everly von der stetigen Suche nach Hinweisen zu erzählen. Melina seufzte und kramte in der Jackentasche nach ihren Schlüsseln. Sowie die Haustür aufgesperrt war, zerrten ihre Beine sie wie von selbst in die Wohnung hinauf. Ein schönes, heißes Bad, vielleicht ein Tee. Doch auf die Pillen, die Everly ihr gab, würde Melina verzichten, auch wenn die furchtbaren Träume wieder zu ihr kämen. Ihr war nie wohl bei dem Gedanken, sich mit Tabletten in den Schlaf zu wiegen. Zwar hatten auch die Baldrian-Pillen geholfen, doch das, was Everly ihr anbot, schien die Visionen nur noch zu bekräftigen. Als Melina den oberen Absatz erreichte, hielt sie, aus einem Impuls heraus, inne. Ihr Blick huschte über den Gang, doch wirkte alles friedlich. Langsam näherte sie sich der Wohnung und stutzte. Die Tür war einen kleinen Spalt geöffnet, und Kratzer verrieten, dass sich jemand an dem Schloss zu schaffen gemacht hatte. Melina stupste mit dem Fuß gegen das Holz, die Tür schwang leicht auf und wurde jedoch von einem Gegenstand blockiert, der ein weiteres Öffnen verhinderte. Schwer schluckte sie. »Evie?«, rief Melina in die Wohnung hinein und war versucht sich durch die schmale Ritze zwischen Tür und Rahmen zu quetschen. »Everly? Wo steckst du, Everly Hughes? Ich bin zu Hause.« Doch die Wohnung blieb stumm. Erst, als es Melina gelang, in den Flur zu schlüpfen, entfuhr ihr ein gellender Schrei. Kapitel 6: 6 ------------ Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht davon. Vor dem Haus hatten sich die Nachbarn versammelt. Jene, mit denen die Frauen in gutem Kontakt standen, beteuerten Melina, wie leid ihnen die Situation täte. Noch immer schlugen ihr die Zähne klappernd aufeinander. Mitfühlende Blick, liebevolle Gesten, doch nichts konnte über den Schrecken hinweghelfen, der ihr den Körper beben ließ. Blut – So viel Blut. »Miss O'Sullivan.« Melina hob den Kopf und erblickte, zu ihrer Erleichterung, ein bekanntes Gesicht. Detective Archer trat an sie heran, während seine Kollegen, die Melina völlig unbekannt waren, einen stummen Gruß in ihre Richtung schickten und sich von Peter Dwight, ihrem direkten Nachbarn, hinauf zur Wohnung bringen ließen, um Spuren zu sichern. »Was ist passiert?«, fragte Archer und bemerkte sofort, dass die Frau vor sich, einem Nervenzusammenbruch nahestand. »Mel? Mel, ich bin da, keine Sorge.« Michael Bobbins hielt auf sie zu. Sowie Mick vor ihr stand, sank sie ihm in die Arme und entließ all die Anspannung in einem herzzerreißenden Schrei. »Und Sie sind?« Archers Blick ging prüfend über den jungen Mann, der sich ihm als guten Freund und Arbeitskollegen Melinas vorstellte. Dieser hatte ganz offensichtlich Mühe, das Gleichgewicht zuhalten, doch etwas, in den Augen des Mannes verriet Archer sofort, dass diesem die Situation nicht unangenehm war. »Bobbins?« Archers buschige Augenbraue hob sich gen Norden und er nahm sich vor, diesen Namen im Hinterkopf zu behalten. »Dein Anruf kam so überraschend. Was ist passiert?«, fragte Michael mitfühlend und Melina gab ihm, mit schwacher Stimme, Antwort. Archer spitzte die Ohren, tat jedoch, als würde er die Umgebung inspizieren. »Ich, ich weiß es nicht. Ich kam vorhin nach Hause und bemerkte Kratzer an unserer Wohnungstür. Ich rief Evie, doch sie meldete sich nicht. Irgendetwas versperrte mir den Zugang zur Wohnung, und als ich endlich in den Flur trat, da lag Evie auf dem Boden. Blut ...«, krächzte Melina. »Überall.« »Miss O'Sullivan, leider werden wir Ihre Wohnung bis auf Weiteres nicht freigeben können. Sie dürfen das Nötigste herausholen, doch bleibt Ihre Wohnung, nach bisherigem Kenntnisstand, ein Tatort. Können Sie irgendwo unterkommen?« Archers Stimme war rational und routiniert. Er musterte das Gespann vor sich, jedoch lag sein Fokus nicht auf Miss O'Sullivan, sondern auf ihrem Freund und dessen weiteres Handeln. »Sie kann bei mir bleiben. Hörst du, Mel? Du darfst gern ein paar Tage zu mir ziehen, ich schlafe auf der Couch«, bot sich Michael an. »Dann wissen Sie ja, wo Sie unterkommen können«, schloss Detective Archer. »Ich, ich muss zu Evie«, stotterte Melina und sah sich suchend nach dem Hauseingang um. »Morgen Mel, morgen früh fahren wir ins Krankenhaus.« Bobbins sprach ruhig auf sie ein, doch Melina wandte den Kopf. »Nein«, widersprach sie und stemmte sich plötzlich stur gegen die schützende Umarmung. Sie entwand sich seinen Armen und suchte Archers Blick. Dieser zuckte die Schultern und begleitete die junge Frau zur Wohnung hinauf. Gern hätte Archer das Wort an sie gerichtet, stattdessen verfiel er in Schweigen, als er Melina, und deren Freund, im Wagen, quer durch New York, zum Lenox Health, nach Greenwich Village, chauffierte. Rasch hatte sie ein paar ihrer Habseligkeiten in eine Tasche geworfen und noch in aller Eile eine weitere für ihre Mitbewohnerin gepackt. Es war beängstigend und erstaunlich zugleich, wie funktional ein Mensch in Krisenzeiten werden konnte. Leider ließ sich diese Tatsache nicht pauschalisieren. Andere wären in Apathie verfallen, Melina O'Sullivan besaß jedoch die Kühnheit, den Kollegen entgegen zu treten und diese aus dem Schlafzimmer ihrer Freundin zu verbannen. »Sie stellen hier sowieso alles auf den Kopf, aber jetzt bitte ich Sie, nur für fünf Minuten, unsere Privatsphäre zu respektieren!« Ihre Worte hinterließen Eindruck, sodass sich die Beamten auf dem Flur zusammenpferchten. Obschon die Erschöpfung an ihr nagte, behielt Melina die Augen offen. Sie hatte den Kopf an Michaels Schulter gelegt und sah die Lichter der Stadt an sich vorüberziehen. Im Rückspiegel betrachtete Archer den jungen Mann, dessen mausbraune Haare ihm bis auf die Schultern reichten. Er war kein Sportass, dass hatten ihm Händedruck und Körperspannung verraten. Ein Kollege? Ein guter Freund? Möglich, doch irgendetwas war seltsam an diesem Kerl. Vielleicht war es die Art, wie er mit O'Sullivan umging. Beschützend, umsorgend, dennoch störte ihn etwas. Die Augen, die bewundernd, fast flehend um ihre Anerkennung buhlten. Oder doch die distanzierte Umarmung, von der sich Bobbins womöglich mehr erhoffte, sich jedoch zur Zurückhaltung zwang? Archer lenkte den Mercedes auf den Parkplatz, der den Besuchern vorbehalten war. Das weiße Gebäude wirkte freundlich, sollte den Patienten ein gutes Gefühl vermitteln und Hilfe versprechen. Archer ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Er langte nach der tiefroten Reisetasche, doch schon war Melina an seiner Seite und griff nach dem grauen Zwilling. »Ich werde hierbleiben«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage, die ihm auf den Lippen lag. »Aber -«, protestierte ihre Begleitung. Melina ignorierte Michaels Einwand und reichte Archer dankend die Hand zum Abschied. »Melden Sie sich, wenn es Ihnen besser geht, Miss O'Sullivan«, sagte Archer und nickte Bobbins zu. »Das werde ich, vielen Dank, Detective. Und grüßen Sie Williams von mir.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und steuerte den Eingang des Krankenhauses an. Erst blieb Mick sprachlos zurück, dann spurtete er ihr hinterher. Archer schüttelte den Kopf, stieg ins Auto und fuhr davon. Zu Melinas Missfallen, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie an Informationen gelangte, die Everlys Zustand beschrieben. Die Frau am Empfang riet ihnen, am nächsten Tag wiederzukommen, doch Melina blieb beharrlich. »Auf der Intensivstation?«, entlockte sie der Dame, die mit zerknirschter Miene bejahte. Mit einem knappen Kopfnicken bedeutete sie Mick, sich an der Tafel zu orientieren. »Miss, Sie dürfen nicht -«, rief man ihnen nach, doch Melina ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Aus dem Schock, ihre beste Freundin, Mitbewohnerin im Flur liegend vorzufinden, blutend – nein, blutüberströmt, wurde allmählich Wut. Mit jedem Schritt, den sie der Station näher kam, flackerte das finstere Gefühl mehr und mehr in ihr auf. »Mel, der Aufzug?«, meinte Michael und hatte alle Mühe, ihrem Tempo gleichzukommen. »Nein«, widersprach Melina harsch. »Wo ist die Station?« »Im fünften Stock«, gab Mick, bemerkenswert rasch, zur Antwort. »Nimm du den Lift, ich gehe! Vielleicht habe ich mich dann ein wenig abgeregt«, knurrte sie und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. »Vielleicht aber auch nicht!« Unschlüssig blieb Michael zurück, blickte von den Fahrstühlen, zu den Stufen. Bevor die Tür zufiel, hastete der junge Mann ihr nach. Schwer ging ihr der Atem. Melina spürte ihr rasendes Herz, als wolle es ihrer Brust entspringen. »Mel?« Mick war direkt hinter ihr. Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Schon gut, ich bin nur nicht mehr in Form, das ist alles. Los, weiter!« Die Stufen waren flach, jedoch zahlreich. Umso erleichterter war sie, als eine blaue fünf auf die richtige Etage verwies. Als die Tür leise hinter ihnen ins Schloss fiel, galt es, sich erneut umzusehen. Zu beiden Seiten bot sich jedoch ein und dasselbe Bild. Ein langer Gang, von dem nur ab und zu eine weitere Tür abging. Der Geruch von Desinfektionsmitteln, und anderen Chemikalien, hing in der Luft und das vereinzelte Flackern der Neonröhren würde ihr, im Laufe der Zeit, den Nerv rauben. Melina wandte sich nach rechts, fand jedoch keinen Empfangsbereich vor. Mick blieb an der Tür zum Treppenhaus zurück und wartete, bis Melina nach ihm rief. Da sie erneut an ihm vorbei hetzte, neigte er den Kopf und folgte ihr. Nach wenigen Schritten erreichten sie eine Theke, hinter der eine Frau mittleren Alters die Monitore überwachte. »Verzeihen Sie?«, begann Melina mit verblüffend zaghafter Stimme. Die Dame sah auf und schmälerte die Augen. »Was haben Sie hier zu suchen? Die Besuchszeit ist längst vorbei, und Sie dürften gar nicht hier sein!« »Ich – wir, suchen Everly Hughes, sie -« Die Worte brachen ihr plötzlich, es schien, als fiele der Schock von Neuem über sie her. Die Nachtschwester betrachtete erst Melina prüfend, dann glitt ihr Blick zu Michael, ehe sie den Kopf schüttelte. Melinas Augen wurden groß. »Nein«, entwich es ihr keuchend. »Nein, bitte nicht! Nein.« »Beruhigen Sie sich, Miss. Sie ist hier, ihre Vitalzeichen sind wieder stabil. Trotzdem darf niemand zu ihr«, erklärte die Dame. »Sie sollten nach Hause fahren. Wenn es Miss Hughes besser geht, wird Sie morgen in ein separates Zimmer verlegt.« »Brauchen Sie etwas? Ich … ich habe ihre Sachen hier«, meinte Melina und hielt Everlys Reisetasche empor. »Sind Sie ihre Mitbewohnerin?«, fragte die Dame, und Melina ließ ein wortloses Nicken erkennen. »Lassen Sie die Tasche hier. Wir werden uns um Miss Hughes kümmern. Sie ist bei uns in guten Händen. Fahren Sie nach Hause.« Doch Melina schüttelte vehement den Kopf. »Wir haben hier leider nur begrenzte Möglichkeiten, Verwandte unterzubringen, wenn Sie verstehen, Miss.« Die Lippen der Stationsschwester formten sich zu einem mitfühlenden Lächeln. »Komm, Mel.« Mick war an sie herangetreten, legte ihr einen Arm um die Schulter. »Vielen Dank.« Langsam schlurften sie dem Ausgang entgegen. Melina wusste nur noch, dass ihr der kalte Wind eines neuen Dezembermorgens entgegenschlug, sobald sie das hellerleuchtete Krankenhaus verließen. Alles andere war verschwommen, seicht, undurchsichtig. Dass Michael nach einem Taxi rief, das beide zu seiner Wohnung brachte, dass er sie die Stufen hinaufschleppte und sie auf dem Sofa absetzte, drang nur vage zu Melina durch. Er bot ihr Tee an, doch sie verneinte. Michael erklärte sich bereit, sie in seinem Bett schlafen zu lassen, doch auch dieses Angebot schlug Melina aus. Sie konnte nicht schlafen, sie würde nicht schlafen, nicht, solang der Zustand Everlys nicht eindeutig geklärt war. So saß sie, schweigsam, auf der Couch, hatte nicht einmal einen Blick für die Einrichtung der Wohnung übrig. Unschlüssig trat Mick von einem Bein aufs andere, scheinbar hilflos und nicht wissend, wie er ihrem aufgewühlten Gemüt Abhilfe schaffte. Er nahm neben ihr Platz, besaß jedoch so viel Anstand, ihr nicht näherkommen zu wollen. Mick legte ihr eine Wolldecke um die Schultern, ehe er, irgendwann gegen zwei Uhr, in sein Bett kroch. Als endlich der Morgen graute, ging ihr Blick zum Fenster. Keine Sonne streckte ihre Fühler aus, dennoch wusste Melina, dass es Zeit war. Sie suchte das Badezimmer auf, wusch sich das Gesicht und betrachtete ihr sich im Spiegel. Die letzten Stunden zeigten sich mehr als deutlich. Doch Unruhe trieb sie an. Rasch war die morgendliche Routine beendet. Melina suchte nach einem Zettel und Stift und wurde in der Küche fündig, da auf der Arbeitsplatte ein kleiner Schreibblock lag. Sie wollte nicht schnüffeln, doch das, was auf dem Papier vermerkt war, brachte ihr erneute Schauer. Diese Buchstaben. Eiligst war die Notiz abgerissen und den der Hosentasche verwahrt. Wenn Michael dies auffiel, würde sie sich mit einer Ausrede aus der Affäre ziehen können. Tief sog Melina die Luft in ihre Lungen, sammelte sich und schrieb ihm eine knappe Nachricht, dass sie auf dem Weg zum Krankenhaus sei. Schleichend durchquerte sie die Zimmer, in denen sie verweilt hatte, schnappte die graue Tasche, langte nach der Jacke und verließ, bemüht lautlos, die Wohnung. Zu ihrem Ärgernis wusste Melina nicht einmal, in welchem Stadtteil New Yorks sie sich befand. Sie streifte durch die Straße, fand einen Starbucks und genehmigte sich einen, dieser überteuerten Kaffees, sowie einen Blaubeermuffin, ehe ihr Blick auf eine nahegelegene U-Bahnstation fiel. Melina fuhr bis zur 14 Street Station, hetzte an den Passanten vorbei, erklomm die Stufen und erreichte das Tageslicht. Das Lenox Health rückte näher, sodass sie nur noch wenige Schritte von Everly trennten. Die Türen glitten lautlos auf, und Melina sah sich mit der selben Hektik konfrontiert, die ihr erst vor wenigen Stunden begegnet war. Am Empfang erblickte sie jedoch eine andere Person. Sie trat an den Herren heran und erkundigte sich nach ihrer Mitbewohnerin. Dieser sagte ihr jedoch, dass Everly Hughes noch immer auf der Intensivstation lag. »Möchten Sie wirklich warten?«, fragte er. »Miss Hughes wird, wenn dem so sein sollte, allerdings erst gegen elf Uhr auf ein anderes Zimmer verlegt.« »Ich kann warten, vielen Dank.« Melinas Lippen bogen sich zu einem freundlichen, wenn auch erschöpften Lächeln. »Miss, Sie können sich auch in der Cafeteria ein wenig ausruhen. Sie ist gleich den Flur runter. Folgen Sie einfach der dunkelgrünen Linie.« Erst jetzt bemerkte Melina, dass die Wege zu den Stationen und anderen Bereichen des Hauses, durch bunte Striche gekennzeichnet waren. Abermals sprach sie dem Helfer ihren Dank aus und folgte der Linie in das Bistro. Melina saß bei ihrem dritten Kaffee, sah Schwestern und Ärzte an sich vorüberziehen und Angehörige von Patienten, die nicht weniger erschöpft dreinblickten, als sie selbst. Um ihre Nervosität zu übertünchen, war ein weiterer Kaffee wohl nicht von Vorteil. Angespannt grub sie die Zähne in die Unterlippe. Melinas Blick glitt von der Uhr, die über der Ausgabe hing, auf ihr Mobiltelefon im Wechsel. Ein Briefumschlag blinkte bereits seit einer gefühlten Stunde immer wieder auf, doch sie ignorierte das Drängen. Je länger die Zeiger dahin krochen, desto mehr rissen diese an ihrem Nervenkostüm. Allmählich bekam Melina das Gefühl, dass die Zeit sie ärgern wolle und die tickenden Zeiger rückwärts gingen. Als sie sich endlich dazu entschloss, die Nachricht, die beharrlich aufleuchtete, anzusehen, reifte in ihr der Wunsch, es lieber nicht getan zu haben. Natürlich war es Michael, der ihren Zettel gefunden hatte und sich, nach Feierabend, auf den Weg hierher machte. Obschon sie dankbar für seine Hilfe und sein Mühen war, überkam sie erneute Unruhe, was ihren Arbeitskollegen betraf. Doch noch war sie zu aufgeregt, um den Detectives ihre Sorge mitzuteilen. Melina wusste ja nicht einmal, wie weit die Ermittlungen vorangeschritten waren und wann Everly und sie wieder zurück nach Hause durften. Gegen zehn Uhr entschied Melina, dass es dringend notwendig war, sich die Beine zu vertreten. Sie raffte ihre Habseligkeiten zusammen und verließ die Cafeteria in Richtung Ausgang. Regen hatte eingesetzt und den Tag so grau beginnen lassen, wie der vorherige geendet hatte. Unter dem Vordach zum Haupteingang hielt Melina inne, langte nach ihrem Handy und wählte die Nummer von Carla Mountgomerys Büro. Es dauerte nicht lang, da nahm die Chefin, höchstpersönlich, das Telefonat entgegen. Nach einem kurzen Umreißen der letzten Tage, berichtete Melina von den vergangenen Stunden. »Kleines, ich weiß. Michael hat uns erzählt, was geschehen ist.« Innerlich grollte Melina ihm, da nun die gesamten Kollegen über den Vorfall im Bilde war. »Es geht bei dir momentan alles drunter und drüber, Schätzchen. Ruh dich aus, wir schaffen das auch ohne dich, obwohl es alles andere als einfach ist.« Den Nachsatz Carlas begleitete ein kleines, liebevolles Lächeln, das Melina sehr wohl heraushörte. »Pass auf dich auf!« Dann war ein monotones Tuten zu vernehmen und der Anruf galt als beendet. Grübelnd starrte Melina auf das Display, ehe sie sich dafür entschied, einen weiteren Anruf zu tätigen. Detective Archer zeigte sich überraschend erfreut über das Lebenszeichen ihrerseits. »Ich würde ein detailliertes Gespräch auf der Wache vorziehen«, sagte er. »Nehmen Sie es mir übel, wenn ich mich erst einmal um Everly kümmern möchte?«, fragte Melina und schluckte an dem Kloß in ihrem Hals. »Nein, natürlich nicht, Miss O'Sullivan. Allerdings wäre ein sehr zeitnahes Zusammentreffen wohl für uns alle von Vorteil«, gab der Beamte zu bedenken. »Detective, jetzt machen Sie mir Angst«, keuchte sie und sah sich nach allen Seiten um, ob nicht jemand Fremdes ihre Worte belauschte. »Sie haben auch allen Grund dazu, Miss O'Sullivan. Seien Sie vorsichtig.« Mit diesen Worten war auch dieses Telefonat zum Schweigen gebracht. Wie ein Tiger im Käfig wanderte Melina den, in hellem Gelb gestrichenen, Gang entlang. Everly war, wie von der Nachtschwester vorhergesagt, auf eine andere Station und in einem Einzelzimmer untergebracht worden. Doch den Raum betreten, hatte man ihr untersagt, da zwei Ärzte und drei Schwestern die Patientin nochmals einer Untersuchung unterzogen. Als man sie endlich zu Everly ließ, war es bereits Mittag, doch Hunger verspürte Melina nicht. Sie betrat den Raum und fuhr beim Klang der Gerätschaften zusammen. Ein Piepen hier, ein anderer Ton da. Eine Schwester war über die junge Frau gebeugt und nahm ihr ein paar Schläuche ab. Eine Kanüle steckte in Everlys Arm, deren Versorgung mit einem Tropf gewährleistet wurde. Ein Clip am Zeigefinger maß den Sauerstoffgehalt im Blut. Klebeelektroden lugten aus dem Nachthemd hervor und zeichneten Herz- und Pulslinien auf den Monitor. Melina besah sich die Infusion in dem Beutel, die tropfend den Weg durch den durchsichtigen Schlauch nahm. »Schmerzmittel«, erklärte die Krankenschwester, die sich ihr als Irine vorstellte. »Wissen Sie – ich meine, wissen Sie Genaueres?«, zögerlich drang Melina die Frage von den Lippen. Irine sah knapp zu Everly, die zu schlafen schien, und langte dann, über das Bett hinweg, nach Melinas Hand. Der Griff war energisch, ebenso der Blick der Frau, die sich ungefähr im gleichen Alter ihrer Mutter befand, schoss es Melina ein. »Kommen Sie!«, knurrte die Krankenschwester fordernd und führte Melina ans andere Ende des Zimmers, wo diese ihr, unter flüsternden Worten, den Zustand ihrer Freundin beschrieb. Melina hatte Mühe, dem Fachjargon zu folgen, doch Irine versuchte sich an einfachen Umschreibungen. Frakturen im Gesicht, das Nasenbein gebrochen, ebenso zwei Rippen, da man ihr in die Seite getreten haben musste. Hämatome an Beinen und Armen, zu allem Übel gehörte auch noch ein massiver Blutverlust, den man ihr durch eine Stichverletzung zugefügt hatte. Doch zum Glück wurden lebenswichtige Organe, wie durch ein Wunder, verschont. Alle Kraft entwich ihr, sodass Melina sich nicht länger auf den Beinen halten konnte. »Sie ist über den Berg, Miss«, sagte Irine, doch etwas ihren Augen sagte Melina, dass es schlimmer hätte ausgehen können. »Das ist allerdings höchst ungewöhnlich, denn solche Verletzungen … Ihr Leben hing wirklich am seidenen Faden.« Der Blick der Schwester glitt zu Everly. »Sie kann selbstständig atmen, essen, aber sie braucht Ruhe, keine Aufregung. Miss Hughes hatte Glück, im Unglück.« Schwach nickte Melina und setzte sich, bedingt ihrer wackeligen Knie, auf einen Stühle, die den Besuchern vorbehalten waren. »Der Notarzt erzählte, dass sie von ihrer Mitbewohnerin gefunden wurde. Das sind Sie, richtig?«, fragte Irine und wieder konnte Melina nur mit einer schwachen Geste bejahen. »Das war Rettung in letzter Sekunde, Miss. Nur Minuten später wäre es mit ihr, aufgrund des Blutverlustes, zu spät gewesen.« Knapp wandte sich Melina von dem Gehörten ab. Alles schien wie ein Gewitter über sie herzufallen. Worte, Umschreibungen, die Laute, die vom Krankenbett herüberwehten. »Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.« Eiligst hatte Irine das Zimmer verlassen, doch Melina hockte noch immer auf dem Stuhl und starrte, unter verschwommenem Blick, zu ihrer Freundin herüber. Melina saß an ihrem Bett und langte nach den kalten Fingern Everlys. Unter flatternden Lidern erwachte diese und war versucht, die geschundenen, aufgeplatzten Lippen zu einem Lächeln zu biegen. Der Gipsverband auf ihrer Nase, schien ihr jedoch ganz und gar nicht zu gefallen. Ein krächzender Laut war zu hören, doch Melina wandte hastig den Kopf und legte sich den Zeigefinger an die Lippen, um Everly zu bedeuten, still zu sein. Irine erschien im Zimmer, reichte Melina das versprochene Glas Wasser und hielt auch eine Schnabeltasse für Everly bereit, die versucht war, missbilligend das Gesicht zu verziehen. »Machen Sie langsam, Mädchen. Sie haben eine Menge durchgemacht«, sagte Irine und trat ans Fußende des Bettes heran, um nochmals das Krankenblatt zu überprüfen. Sowie die Sichtung beendet war, ließ Irine die Frauen allein zurück. »Wa-?«, krächzte Everly und Melina sah sich gezwungen, das Geschehene nicht länger verschweigen zu können. Die blutigen Details hingegen, ließ sie aus. »Ruh' dich aus, ich … bleibe heute Nacht hier, komme, was da wolle!« Um ihre Worte zu untermauern, nickte Melina bekräftigend. Am späten Nachmittag erschien Michael in der Tür. Das Gespräch der beiden verebbte jäh, als ihre Blicke auf den jungen Mann fielen, der einen Blumenstrauß mit sich führte. »Es tut mit leid Mick, dass ich heute Morgen so früh -«, hob Melina an und erwiderte die Umarmung seinerseits dennoch herzlich. »Was? Du meinst, als du dich so mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht hast?«, ein leises Lachen entfloh ihm, das jedem anderen zeigen sollte, dass es ihn nicht störte, dass Melina sang-und klanglos getürmt war. Everly zuckte kaum merklich zusammen, als sie dem Blick des Freundes begegnete. Dies entging Melina jedoch. »Wenn du jetzt hier bist, dann sei so gut, und pass' bitte kurz auf Evie auf, ich muss ganz dringend wohin.« Melinas Finger krallten sich bittend in seine Jacke. »Klar, kein Problem.« Mick schenkte ihr ein freudiges Lächeln. »Ich bringe dir auch einen Kaffee mit«, flötete sie wandte sich bereits zum Gehen. »Lina«, krächzte Everly und diese sah sich nochmals nach ihrer Freundin um. Melina neigte den Kopf, bemerkte jedoch, dass plötzlich etwas dem strahlenden Blau ihrer Augen das Funkeln genommen hatte. Melina zwang ihre Mundwinkel zu einem aufbauenden Lächeln. »Ich bin gleich wieder da. Mick passt so lange auf dich auf.« Everly öffnete die Lippen, doch nicht ein Laut kam daraus hervor. Schwach nickte sie und war darum bemüht, den jungen Mann kein weiteres Mal anzusehen. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich Melinas, doch das Drängen ihrer Blase trieb sie auf den Flur hinaus. Mick wandte sich Everly zu, ließ sich auf den nun freien Stuhl sinken und besah sich die junge Frau mit amüsiertem Grinsen. Kapitel 7: 7 ------------ Eine merkwürdige Stille hatte sich über den Raum gelegt, als Melina ins Patientenzimmer zurückkehrte. Flüsternd berichtete Michael, dass Everly vor Erschöpfung, während er ihr vom stressigen Tag bei Macy's erzählte, einfach die Augen zugefallen seien. Wieder trat sie an das Bett heran und haschte nach den klammen Fingern. Ihr Blick wanderte zu dem Monitor, doch es war keine Veränderung ersichtlich. »Mick, ich -«, begann Melina, hielt den Fokus jedoch ganz auf Everly. »Ich werde heute Nacht hierbleiben.« »Ist okay«, gab dieser knapp zurück. »Wirklich, Mel, ich nehme dir deine Flucht heute Morgen nicht übel.« »Ich bin – das war keine Flucht«, versuchte Melina zu vertuschen, doch Michaels Gesicht sprach Bände. »Ich verstehe, dass du, nach all dem, was gestern geschehen ist, durch den Wind bist. Das ist wirklich nicht verwunderlich.« Dass er sich einsichtig und verständnisvoll zeigte, entkräftete ihr das mulmige Gefühl. »Danke«, keuchte Melina leise, trat auf ihn zu und schloss Mick in die Arme. »Danke, dass du da warst und für dein Verständnis.« »Kein Problem, Mel. Auch wenn der Umgang mit dir nicht immer einfach ist, ich bin für dich da«, liebevoll tätschelte er ihr den Rücken. »Ich kann bleiben, wenn du möchtest?« Dass ihr ein Ruck durch den Körper ging, versuchte Melina mit einem schniefenden Laut zu überspielen. »Das ist wirklich lieb, aber … ich denke, dass ich mich erst einmal allein um Everly kümmern kann. Sollte ich jedoch deine Hilfe brauchen, melde ich mich.« Knapp glitt sein Blick über sie, doch dann ließ Michael von ihr ab. Fahrig griff er nach seiner Jacke, schlüpfte in diese hinein. »Ich komme morgen wieder, wenn ich darf?« »Aber natürlich«, verwirrt lachte Melina auf. Michael betrachtete erst Melina, dann sah er zu Everly herüber, ehe er die Lippen hart aufeinander presste und das Zimmer verließ. Erleichtert keuchte Melina auf. Als die neue Nachtschwester erschien, wollte sich Melina zu Erklärungen über ihr Bleiben hinreißen lassen, doch Sandy, wie Melina die junge, gerade erst examinierte Krankenschwester nennen durfte, winkte ab. »Irine ist meine Tante«, klärte sie die verdutzt blinzelnde Melina auf. »Sie hat mir alles berichtet.« »Ärztliche Schweigepflicht?« Melinas Augenbraue hob sich skeptisch. »Krankenblatt«, grinste Sandy und klopfe auf das Plastikbrett, auf dem die Unterlagen mit einem Klipp angebracht waren. »Keine Panik, Miss. Sie dürfen bleiben, allerdings haben wir kein Bett für Sie.« Melina schüttelte den Kopf. »Kein Problem, ich nehme den Stuhl.« »Oder die andere Hälfte des Bettes.« Beim Klang jener schwachen Worte, waren die Blicke der Frauen sofort auf Everly gerichtet. »Ist Mick weg? Wie spät ist es?« »Zwanzig Uhr siebenundfünfzig«, murmelte Melina. »Oh, so spät schon?«, heiser war ihr die Stimme. »Halt lieber die Klappe, Hughes!«, schnaubte Melina. »Du sollst dich schonen.« »Sind Ihre Eltern informiert?«, wandte sich Sandy an Everly. »Ich habe sie angerufen. Sie wohnen in Riverdale«, gestand Melina und bemerkte, wie Sandy fragend den Kopf schief legte. »New Jersey.« »Aha, dann haben sie es ja nicht weit. Die paar Meilen.« Wieder winkte Sandy ab und wandte sich zum Gehen. »Sollten Sie etwas brauchen, klingeln Sie ruhig.« »Vielen Dank.« Mit einem letzten Lächeln in Richtung Nachtschwester, ließ sich Melina wieder an Everlys Seite nieder. Melina war versucht, wach zu bleiben, doch die letzten Tage hatten sie beinahe restlos aufgezehrt. Everly schlief, hatte sich ein paar Tropfen mehr des Schmerzmittels genommen, während Melina, mit dem Kopf auf den verschränkten Armen, es sich an der Herzseite ihrer Freundin, mehr schlecht als recht, gemütlich machte. Die Augenlider wurden ihr schwer, und auch wenn der Besuch der Schwester erst eine Viertelstunde her sein mochte, kam ihr dies wie eine halbe Ewigkeit vor. Gedanken rasten ihr durch den Kopf, krampften ihr das Herz. Sie brauchte Ruhe, und diese nun mehr denn je. Noch wehrte sie sich vehement gegen das übermächtige Gefühl, doch einen Ausweg gab es nicht. Der Puls hämmerte ihr in den Ohren, das Blut rauschte ihr durch den zitternden Leib. Ihre Schritte hallten auf dem nassen Asphalt wider, während sie über Pfützen hinweg sprang und um ihr Leben kämpfte. Ihr Verfolger war ihr dicht auf den Fersen. Er war schnell, übermenschlich, hatte nichts Natürliches, nichts Humanes mehr an sich. Sie spürte seinen fauligen Atem im Nacken. Er wollte sie – wollte ihr Blut, ihr Leben. Sie hob den Blick. Diese Jagd war anders, als die vorherigen. Der Mond, so voll, als sende er sein Licht in die finstersten Ecken. Sterne, hoch über ihr, erhellten das Dunkel, flimmerten, flackerten, begleiteten den Vater der Nacht. Sie leuchteten und erlöschen, flitzten über den nächtlichen Himmel, als wären auch sie Beute. Zitternd presste sie ein letztes Mal noch die Luft in ihre Lungen, ehe sie sich dem Unvermeidbaren stellte. »Lina!« Everlys Stimme drang an ihre Ohren, klar, deutlich und ließ nichts von Schwäche erkennen. Ihr schmerzten die Knochen, auch der Kopf pochte ihr. »Lina!«, rief Everly alarmiert. Erschrocken fuhr Melina aus dem Traum auf, doch die Perspektive, die sich ihr bot, war anders. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt! Mach' das nie, nie wieder, hörst du!« Everlys Versuch, ihr böse zu sein, verlor sich in den krächzenden Lauten, die diese von sich gab. »Mein Kopf, verfick- Wo bin ich?« Melina setzte sich auf und hielt sich die Stirn. »Auf dem Fußboden in meinem Zimmer«, krähte Everly. »Das ist nicht dein Zimmer«, knirschte Melina. »Ich bin im Krankenhaus, Dummchen. Und jetzt schwing' deinen Hintern vom Boden auf den Stuhl!« Everlys Blick ließ jedoch mehr Sorge, als Zorn erkennen. Mühselig hievte sich Melina auf ihren Platz zurück. »Was hast du gesehen?«, verlangte Everly zu wissen. »Jetzt guckt nicht so. Ich habe allen Grund dazu, zu erfahren, was da vor sich geht, wenn du hier schon so einen Radau veranstaltest. Du kannst froh sein, dass ich nicht nach der Schwester geklingelt habe!« Ein Stöhnen entfloh Melinas Lippen. »Ich warte«, krächzte Everly erneut. »Sterne«, gab Melina zerknirscht zur Antwort. »Ja, kann ich mir denken. Du bist immerhin vom Bett gefallen«, murrte die Patientin. »Nein, Evie, ich meine Sterne. Richtige Sterne. Sternschnuppen, und … den Vollmond«, gestand Melina. »Oh.« Everlys Augen wurden groß. »Das … das ist neu, hm? Das mit den Sternen und so?« Schwach, aber wahrheitsgetreu bejahte Melina. »Sonst war alles dunkel, keine funkelnden, blinkenden Lichter, kein Mond, nie.« »Lina, wenn ich dir helfen kann, irgendwie ...«, hob Everly an, doch Melina schenkte ihr ein knappes Lächeln. »Werd' schnell wieder gesund, Evie. Ich kann die Miete schließlich nicht allein bezahlen!« Ein leises, aber befreites Lachen erhellte in der Nacht. Ungern ließ Melina ihre Freundin allein zurück. Doch als Everlys Eltern ins Zimmer stürmten, war ihr dies Anlass genug, Everly - und sich selbst, eine Pause zu gönnen. Bis zum Nachmittag, und einer erneuten Begegnung mit Michael, blieb ihr noch genügend Zeit. Und diese würde Melina nutzen, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Ihre Füße trugen sie wieder nach Park Row. Sie begrüßte die alte Empfangsdame und wollte sich gerade den Treppen zuwenden, als man sie erfolgreich davon abhielt. »Miss O'Sullivan.« Detective Archer und Williams fingen sie gerade noch rechtzeitig ab. Die Begrüßung fiel jedoch kühl und knapp aus. Etwas war im Busch, das spürte Melina. Sie folgte den Männern, doch dieses Mal waren sie fernab von Archiv oder Verhörraum. Nicht einmal das Büro der Beamten wurde angesteuert, stattdessen führte man Melina in die tiefen Gefilde der Keller. »Doktor Townsend wird sich freuen, Sie noch lebendig zu sehen«, ließ Williams verlauten. Melina tauschte einen Blick mit Archer, doch dessen Miene blieb, wie sooft, ausdruckslos. »Was ist passiert?«, verlangte Melina zu wissen, doch die Beamten schwiegen. Der Bereich der Pathologie war so, wie Melina es erwartet hatte: Kalter Stahl, geflieste Wände, die Räume, beinahe wie ein Schaukasten aufgebaut, um den Studenten das Sezieren toter Körper zu lehren. Archer klopfte gegen eine Glasscheibe. Dahinter erkannte Melina Doktor Townsend, die mit der Pflege und Wartung des Besteckes beschäftigt schien. Ihr freundliches Lachen wirkte, in dieser Umgebung, ein wenig befremdlich und fehl am Platze. Christina Townsend verließ den, wie ein Operationssaal aufgebauten, Raum und zupfte sich die Nitrilhandschuhe von den Fingern, die eiligst in einem Müllbehälter landeten. Sie wusch sich die Hände, ehe sie auf den Gang zu den Ermittlern und der Zivilistin hinaus trat. »Kollegen.« Doktor Townsend nickte Archer und Williams zu. »Miss O'Sullivan.« Wieder hoben sich ihre Lippen zu einem Lächeln. »Ich bin froh, Sie zu sehen.« Melina tauschte einen Blick mit Williams, der grinsend mit den Schultern zuckte. »Wir haben Neuigkeiten, Miss O'Sullivan«, sagte die Pathologin und bedeutete der kleinen Gruppe, ihr zu folgen. Schwer schluckte Melina an dem Brocken, der sich, bei diesem Anblick, in ihrer Kehle verbarrikadierte. Die Leichenhalle, wie Doktor Townsend, überflüssiger Weise, erklärte. Es war kalt, unangenehm, und der Geruch verursachte ihr ein Gefühl der Übelkeit, obwohl nichts an Chemie oder Verwesung erinnerte. »Bevor wir die Toten an die Bestattungshäuser übergeben, werden sie hier aufbewahrt.« Fachmännisch verwies die Ärztin auf die großen Kühlschränke, die an einer Wand aufgereiht standen. »Diese guten Kollegen waren nicht billig, aber wir können bis zu sechsundsiebzig Körper einlagern, das war den Preis allemal wert!« »Sie sind mir ein bisschen blass um die Nase, Miss O'Sullivan«, bemerkte Archer mit einem leicht spöttischen Schnauben. »Ach ja? Ist mir gar nicht aufgefallen?« Zitternd rang Melina nach Luft und spürte ihren Magen rumoren. »Wir sind gleich fertig, Miss O'Sullivan«, versuchte Doktor Townsend die Situation ein wenig zu mildern. Dass diese nun zielstrebig auf einen der großen Kühlschränke zuhielt, machte Melina diesen Moment nicht erträglicher. Ein eisiger Hauch schlug der Ärztin entgegen, ehe sie nach einer der Schubladen griff und diese, mit einem ratschenden Laut, aufzog. Kälteschwaden umhüllten den toten Körper, der nun zum Vorschein kam. »O'Sullivan, wollen Sie rausgehen?«, bellte Archer und amüsierte sich scheinbar so prächtig über das Leiden der jungen Frau, dass ihm die Höflichkeit für einen kurzen Moment abhanden kam. »Miss Sumners«, sagte Doktor Townsend. Die Beamten traten näher, doch Melina musste sich wahrlich zwingen, es ihnen gleichzutun. Da lag sie, auf dem kalten Stahl, noch immer vom leichten Dampf der Minusgrade umgeben. »Warum? Warum zeigen Sie uns das?«, verlangte Melina mit schwacher Stimme zu wissen. »Weil unser Täter scheinbar eine Vorliebe für Oberschenkel hegt«, berichtete die Ärztin reserviert und nüchtern. »Wie meinen Sie das, Doktor?«, fragte Williams und zuckte zusammen, als Gabriella Sumners wieder in den kalten Tiefen des Schrankes verschwand. »Kommen Sie, lassen Sie uns an einen wärmeren Ort gehen.« So schritt Doktor Townsend voran, während sich Melina sputete, nicht die Letzte im Raum zu sein. »Keine Angst, wir vergessen Sie schon nicht«, lachte Archer auf. Ihr war noch immer unwohl, selbst dann noch, als sich die Vier im Büro der Ärztin zusammendrängten. Die Einrichtung war, wie Doktor Townsend selbst, nüchtern und sehr spartanisch. »Keiner kommt freiwillig hierher, und wenn, dann nur, wenn er entweder bereits tot ist, oder etwas über einen Toten zu wissen wünscht.« Mit diesen Worten ließ sie sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. Mechanisch nickte das Trio den Ausspruch ab. »Sie sind mir ja ein paar schöne Detectives«, hob die Ärztin an. »Wie dem auch sei, wir haben etwas herausgefunden. Meine Herren, Miss O'Sullivan, bitte.« Freundlicher Weise wies Doktor Townsend auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch. Es waren genau drei. Schweigend nahmen die Anwesenden Platz. Archer war der erste, der einen schmalen Ordner vorlegte. Dieser war Melina abermals völlig entgangen. Mit bunten Fähnchen waren einzelne Seiten markiert. »Seit unserem letzten Zusammentreffen«, begann er und räusperte sich, »sind uns mehr und mehr Indizien aufgefallen, die sich, wie ein Muster, durch die Jahre ziehen.« »Ein Muster?«, hakte Melina nach und reckte den Hals, um einen Blick auf die Dokumente werfen zu können. »Erst schien es, als suche der Täter seine Opfer wahllos aus«, fuhr Williams seinem Kollegen dazwischen. »Meist waren es junge Frauen. Unauffällig. Nicht besonders hübsch, und auch nicht sonderlich gebildet. Ab und zu vielleicht dann doch mal eine Ausnahme. Allerdings waren die Morde zu Beginn nicht sonderlich gut vertuscht.« »Mit zunehmendem Fortschritt, sei es in der Medizin, oder der Kriminologie, musste sich unser Freund jedoch ein paar Raffinessen einfallen lassen«, sagte Doktor Townsend. »Ich verstehe wieder einmal kein Wort«, seufzte Melina. »Alle neun Jahre, so scheint es«, hob Archer ein weiteres Mal an, »geht etwas in ihm durch. Dass Menschen verschwinden, ist eine Tatsache, die nicht abzustreiten ist. Ganz egal, wo auf der Welt, doch das, was hier vor unseren Augen geschieht, grenzt beinahe schon an Perfidi. Wir werden verhöhnt.« »Also geht es hier um verletzten Polizeistolz?« Melina schüttelte den Kopf. »Ich bitte Sie!« »Miss O'Sullivan, um es kurz zu machen: Diese Tat, so, wie sie in aller Grausamkeit stattfand, ereignet sich in einem neun Jahresrhythmus hier bei uns. Der Zeitungsartikel -«, Archer schlug die Mappe auf und verwies auf eine Kopie des Artikels, »ist von 1929. Um 1938 wurde ebenfalls eine junge Frau ermordet und auf bestialische Weise derart verstümmelt, dass weitere Untersuchungen es den Kollegen unmöglich machten, diese nach blutleeren Überresten zu untersuchen. Und das Muster zieht sich fort. 1947, 1956, 1965.« Während Archer sprach, verwies ein Fähnchen nach dem anderen auf die Taten, deren Ähnlichkeiten nun nicht länger abzustreiten waren. »1974, 1983, 1992, 2001, 2010, 2019.« Bei der letzten Zahl schluckte Melina und krächzte röchelnd nach Luft. Unweigerlich huschte ihr Blick durch den Raum, auf der Suche nach einem Kalender, doch Doktor Townsend war schneller. »Hier, Liebes«, sagte sie und Melina bemerkte das unschöne, peinliche Brennen auf den Wangen. »Das heißt, es ist vorbei? Wir haben 2019. In wenigen Tagen ist Silvester, dann wäre doch bestimmt erst einmal Schluss damit, oder?« Melina suchte eiligst die Blicke der Polizisten, doch niemand gab ihr eine Antwort. »Er mordet nur ein einziges Mal, das aber in einem Abstand von neun Jahren«, warf Detective Williams ein. »Hinzu kommt«, Doktor Townsend erhob sich aus ihrem Drehstuhl, »dass der Täter zwar clever und raffiniert vorgeht, allerdings weisen seine Methoden auch eine gewisse Schludrigkeit auf. Er hegt eine Vorliebe für Schenkel, wie ich Ihnen bereits berichtet habe. Dies schließt jedoch nicht aus, dass er nicht auch andere Stellen bevorzugt. Es sind solche, an denen das meiste Blut durch den Körper fließt.« »Wie den Hals?«, fragte Melina und erntete ein schwaches Nicken seitens der Ärztin. »Es war ihm bisher immer gelungen, die Mädchen entweder so zu massakrieren, dass ihre Identität nicht geklärt werden konnte, oder er legte falsche Spuren. So viel zur Cleverness«, seuzte die Ärztin. »Und da diese Taten in einem großen Abstand geschahen, sahen wir auch keine große Veranlassung, all dem nachzugehen«, murrte Detective Archer. »Da musste erst diese kleine Irin mit der Visitenkarte auftauchen.« »Hey, ich bin Amerikanerin!«, fauchte Melina verteidigend. »So viel zur Schlampigkeit des Täters«, merkte Doktor Townsend an. »Nicht unbedingt«, erhob Williams das Wort. »Sie hat etwas damit zu tun.« »Ich kann Sie hören, Williams, denn ich sitze genau neben Ihnen«, knurrte Melina, während sich Archers Lippen zu einem Grinsen bogen. Dann schreckte Melina auf und alle anwesenden fuhren vor Schreck zusammen. »Tun Sie das nie wieder, O'Sullivan!«, herrschte die Ärztin und griff sich ans Herz. »Es, es tut mir leid, aber … ich ...«, haspelte Melina und wühlte in der Hosentasche ihrer Jeans nach dem Zettel. »Was ist das?«, verlangte Williams zu wissen. »Ein Zettel, Williams, das sieht man doch«, schnaubte Archer. Melina faltete das Schriftstück ordentlich auseinander und platzierte es inmitten des Tisches. »Ich glaube es ja nicht! Wo haben Sie das her, Miss O'Sullivan?«, verlangte der ältere Beamte zu wissen und Melina spürte ihr schlagendes Herz, das ihr den Hals hinaufkroch. Die Worte Archers konnte sie kaum verstehen, so schnell bellte er in den Hörer des Telefons. Doktor Townsend hatte sich wieder in den Drehstuhl sinken lassen und betrachtete den Kollegen, wie dieser nach Informationen über Michael Bobbins verlangte. Williams wurde damit betraut, die Notiz an die Graphologie-Abteilung weiterzureichen, und das so schnell wie möglich. »Wurden denn keine Fingerabdrücke bei Miss Sumners gefunden?« Dass sie erst jetzt diese Frage stellte, war Melina ein wenig peinlich. »Kein Einziger, Miss O'Sullivan«, erklärte die Ärztin. »Die Gute war sauber. Ich sagte es bereits, unser Täter ist ziemlich schlau.« Melina erschauderte. »Glauben Sie, er begann damit, die Indizien zu manipulieren, als man um 1929 herum, die blutleere Leiche fand?« »Schon möglich«, räumte Doktor Townsend ein, ließ jedoch nur ein schwaches Zucken der Schultern erkennen. Wieder gruben sich ihre Zähne in die Unterlippe. Michael Bobbins, ihr Kollege und guter Freund sollte tatsächlich der einzig Verdächtige sein, die einzige Spur, die den Beamten zur Verfügung stand? »Erzählen Sie uns etwas über Mister Bobbins!«, verlangte Archer, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Nun war es an Melina, mit den Schultern zu zucken. »Ich kenne ihn erst, seit dem ich bei Macy's arbeite. Er arbeitet, wie ich, in der Schmuckabteilung.« »Ziemlich seltsame Berufswahl, für einen Mann, der scheinbar eine Menge Interesse an Ihnen hat«, murrte Archer und Doktor Townsend lauschte dem Ping-Pong-Spiel, das sich vor ihren Augen auftat. »Er ist ein guter Verkäufer, aber meistens hält er sich im Hintergrund und poliert den Schmuck«, erklärte Melina bereitwillig. »Wenn Sie auf die paar Dates hinauswollen, die ich mit ihm hatte, dann muss ich Ihnen leider mitteilen, Detective, dass ich ihm stets freundlich aber bestimmend zu verstehen gab, dass sich mein Interesse nur auf unsere Freundschaft besinnt.« »Und das hat er ihnen, natürlich und ganz der Gentleman, abgenommen?«, dass Archer so tief bohrte, gefiel Melina nicht. »Detective Archer«, hob diese an. »Miss O'Sullivan, vielleicht ist es Ihnen, in all der Aufregung der vergangenen Tage, nicht aufgefallen, doch ich habe, in all meinen Dienstjahren, schon die eine oder andere unerfüllte Liebe zu Gesicht bekommen. Und Bobbins ist ein Paradebeispiel für einen verschmähten Liebhaber, der sich an jedes Ihrer Worte, an jede Geste klammert, wie ein Ertrinkender an einem Floß«, erklärte Archer ruhig. Melina blieb der Mund offen stehen. »Im Übrigen, Miss O'Sullivan, haben auch die Spuren in Ihrer Wohnung bisher zu keinem Ergebnis geführt. Leider konnten wir noch nicht feststellen, ob etwas entwendet wurde, geschweige denn, Miss Hughes zum Tathergang befragen.« Archer erhob sich. »Das, was gesehen ist, tut mir sehr leid, Miss O'Sullivan. Denken Sie nicht von mir, dass ich ein herzloses Arschloch bin.« Doktor Townsend grunzte auf seine gefallenen Worte hin, doch Archer ließ sich nicht beirren. »Ich bin ein Arschloch, aber nicht herzlos. Doch auch in Ihrer Wohnung ließen sich keine Fingerabdrücke finden. Was sagen Sie jetzt, Miss O'Sullivan? Auch von der Tatwaffe fehlt jede Spur. Zwar weisen die Kratzer an der Tür auf einen typischen Einbruch hin, doch wir hegen den Verdacht, dass diese schnell, und vor allem erst nach der Tat, dort angebracht wurden.« Melina starrte Wortlos zu dem Mann auf. »Alles spricht dafür, dass Miss Hughes den Täter kannte. Nun ist meine Frage an Sie: Sind Miss Hughes und Mister Bobbins einander bekannt?« Ein knappes Kopfnicken bestätigte Archer in seinem Verdacht. »Kennen sich die beiden bereits länger?« »Ich, ich weiß es nicht, Detective. Nein, ich … ich glaube nicht«, murmelte Melina. »Als ich Evie Mick vorstellte, war es, als würden sich zwei Fremde zum ersten Mal begegnen.« Archers Blick verriet, dass Melinas Aussage ihn nicht zufriedenstellte. »Aber, gestern, im … im Krankenhaus«, fuhr sie fort und hielt, in ihren Erinnerungen gefangen, inne. »Reden Sie weiter!«, forderte Archer, während Doktor Townsend das Gespräch mit Interesse verfolgte. »Evies Verhalten war plötzlich so seltsam und auch ich hatte ein Gefühl, als wäre etwas aus den Fugen geraten, sobald Mick im Raum stand. Als ich nur kurz auf die Toilette ging, und wiederkam, da schien Evie eingeschlafen zu sein, doch Michael, er - er benahm sich nicht weniger eigenartig. Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen«, wimmerte Melina. Doktor Townsend erhob sich, ging um ihren Schreibtisch herum zu dem einzigen Schränkchen, das neben dem anderen Mobiliar den kleinen Raum füllte, zog eine der Türen auf und holte drei Gläser, sowie eine Flasche Scotch hervor. Sie goss jedem von ihnen zwei Fingerbreit ein und reichte Melina den Tumbler. »Hier, Schätzen. Immer runter damit!« »Scotch?« Verblüffung zierte Archers Miene. »Was glauben Sie wohl, wie ich diese ganzen Toten sonst aushalte?«, schnaubte die Ärztin. »Wehe, Sie verpetzen mich, Archer, dann sehen wir uns beide in der Leichenhalle wieder und dann will ich sehen, wer von uns beiden zuerst aus dem Schubfach gezogen wird.« Doktor Townsends Humor ließ Melina ins Glas prusten. Als Williams endlich wieder in die Kellerräume zurückkehrte, offenbarte sich ihm ein Bild des kaum Fassbaren: Archer, Townsend und O'Sullivan lachten aus vollem Halse, doch der Grund für ihre Heiterkeit erschloss sich ihm nicht. Auf dem kleinen Schreibtisch der Ärztin verweilten drei Gefäße, sowie eine halbleere Flasche TAMDHU. »Archer«, knurrte Williams. »Wir haben ein Ergebnis.« Abrupt verebbte das Gelächter, nicht einmal ein Beben war noch zu bemerken. »Jetzt spucken Sie es doch endlich aus!«, verlangte Doktor Townsend, deren leuchtend rote Wangen ihr ein jüngeres Erscheinungsbild verliehen. »Die Schriftproben sind identisch«, erklärte Detective Williams. »Wir konnten auch zwei Fingerabdrücke nehmen.« Melina spürte den Blick des Beamten auf sich und zog den Kopf ein. »Ihre Fingerabdrücke haben wir selbstverständlich außer Acht gelassen, Miss.« »Ich gratuliere, Williams, endlich eine Spur!«, grölte Archer ungewohnt feierlich. »Allerdings«, fuhr Williams fort, »tritt der Name Michael Bobbins recht häufig in Erscheinung und zu unserem Missfallen sind die Fingerabdrücke von dem Mister Michael Bobbins, nach dem wir fahnden, in keiner Datenbank vorhanden. Weder in unserer, noch in denen der Nachbarstaaten.« »Und was heißt das?«, verlangte Melina, nun hellhörig geworden, zu wissen. »Dass Ihr Michael Bobbins nicht auffindbar ist, Miss O'Sullivan«, knurrte Archer. »Er ist ein Geist.« Kapitel 8: 8 ------------ Es dauerte ein wenig, bis die Worte Archers bis zu ihrem Verstand vordrangen. »Ein Geist? Das ist ja wohl ein Witz!«, fauchte Doktor Townsend. Melina war dankbar, dass die Ärztin zu dem selben Schluss kam, wie sie. »Es muss Blutproben, Gewebeproben geben. Irgendetwas. Er existiert, sonst hätten weder Sie, noch Miss Hughes oder Miss O'Sullivan je ein Wort mit ihm wechseln können«, empörte sich Doktor Townsend. »Dass er existent ist, Doktor Townsend, darin besteht kein Zweifel. Ich habe mit ihm gesprochen, ihm die Hand geschüttelt.« Archer ließ die Zunge schnalzen. »Dennoch ist es merkwürdig. Was sagen die Ergebnisse sonst noch? Er muss doch Schulen besucht haben? Was ist mit seinen Eltern?« »Wir sind dran, Archer«, murrte Williams und spürte, wie ihm die Ohren glühten, da ihn ein Gefühl überkam, das ihn schwer an seine ersten Jahre auf der Polizeiakademie erinnerte. Scham, Unwissenheit, Unfähigkeit. »Dann spucken Sie mal in die Hacken, Williams!« Archers Stimme schwoll bedrohlich an, für seinen jungen Kollegen das Zeichen, sich hastig davonzumachen. Dann wandte er sich wieder an Melina. »Hat er Ihnen gegenüber vielleicht mal seine Familie, Verwandte oder andere Freunde erwähnt?« Diese verneinte und durchforstete ihre grauen Zellen, doch blieb auch dieses Unterfangen ohne Ergebnis. »Ich bin so … so dämlich!«, keuchte Melina auf. Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. »Ich muss telefonieren, ginge das?« Doktor Townsend zuckte die schmalen Schultern und überließ ihr den Hörer. »Es tut mir leid, Melina, aber die Chefin ist bereits im Feierabend«, sagte man ihr am anderen Ende der Leitung. Zu ihrem Glück hatte Amber Kingston den Anruf angenommen. »Ist Michael noch da?«, fragte Melina und fing den bohrenden Blick Detective Archers auf. »Nein«, gab Amber zurück. »Der ist, witziger Weise, mit Carla losgezogen.« »Danke, Amber.« Melina versuchte freundlich zu klingen, doch die Zeit mahnte sie zur Eile. »Ist doch kein Problem.« Melina konnte sich bildlich vorstellen, wie Amber soeben das Telefonkabel um ihren Finger wickelte. »Kann ich dir vielleicht helfen, brauchst du etwas?« »Nein, vielen Dank«, wieder biss sich Melina auf die Lippen. »Wann kommst du denn wieder? Ist irgendwie komisch, seit du nicht mehr hier bist«, gestand Amber ihr. »Komisch? Ich bin doch erst eine knappe Woche weg«, ein leises Lachen begleitete Melinas Worte. »Ja, schon, aber … Wie soll ich's sagen? Alle benehmen sich seltsam. Und besonders Mick.« Melina konnte sich irren, doch etwas, in der Stimme Ambers, klang nach Schwärmerei. »Mick?« Wieder fing Melina den Blick des Beamten auf. »Ja, er … kam heute Morgen hier rein, total verändert. Komische Klamotten, okay, du weißt, ich steh' auf Typen in Lederjacke, aber auch die Haare, weißt du?«, flötete ihre Kollegen und Melina spürte Anspannung in sich aufwallen. »Am, hör' mal, ich … ich hab' es ein wenig eilig«, gängelte Melina auf einen Abschluss des Gesprächs hin. »Du meldest dich aber wieder, ja?«, fragte Amber. »Bis dann ...« Noch ehe Melina einen Abschiedsgruß formulieren konnte, war es still. Unter zitternden Fingern legte Melina den Hörer zurück und sah auf. »Doktor Townsend, hätten Sie noch einen Scotch für mich?« »Nach diesem Gespräch, brauchen wir den wohl alle«, gab die Ärztin seufzend zurück. Ruhelos tigerte Melina über den Flur. Ihr Blick hatte, nach dem Telefonat mit Amber Kingston, und einem erneuten Glas der bernsteinfarbenen, brennenden Flüssigkeit, eiligst einen Zeitmesser gesucht. Es ließ ihr keine Ruhe, dass Michael, mit Carla Mountgomery im Schlepptau, durch die Straßen zog. Warum mit Carla? Ahnte er etwa, dass die Polizei nach ihm suchte? Oder war ihm vielleicht die fehlende Notiz auf dem Block aufgefallen? Immerhin hatte sie den Papierfetzen nicht in den Müll geworfen. »Beruhigen Sie sich, Schätzchen! Sie machen mich ja ganz nervös«, murrte Doktor Townsend. »Ich mache mir Sorgen um Carla«, erklärt Melina. »Carla? Sie meinen doch wohl nicht, Carla Mountgomery?« Die Ärztin beäugte Melina kritisch. »Doch, sie ist meine Chefin«, sagte Melina wahrheitsgemäß. »Ich war mir nicht sicher. Aber als ich Macy's und Schmuckabteilung hörte, hätte es mir eigentlich wie Schuppen von den Augen fallen müssen«, kicherte Doktor Townsend. »Oh, Sie kennen sie?« Die bange Miene der jungen Frau, erhellte sich. »Wir sind beide zusammen zur Schule gegangen. Sie ist ein wenig jünger als ich, aber -«, sinnierte die Ärztin, doch weiteres Schwelgen in Erinnerungen war den beiden Damen nicht länger vergönnt. Polizisten hetzten an ihnen vorbei. »Oje, da scheint etwas passiert zu sein.« Doktor Townsend reckte den Hals. Als ein weiterer Beamter ihren Weg kreuzte, lauschte die Ärztin aufmerksam, da das Funkgerät des jungen Mannes verheißungsvoll knisterte. »Zentrale, wir haben wir einen 187«, war eine verzerrte, weibliche Stimme zu vernehmen. »Uhh, Mord, das klingt nach Arbeit«, frohlockte die Pathologin. Melina konnte, über so viel Eifer, nur den Kopf schütteln. »Miss O'Sullivan.« Melina zuckte zusammen, als Detective Williams auf sie zuhielt. »Es gibt ein Problem.« »Sie scheinen ja ein richtiger Unglücksbringer zu sein, Schätzchen«, murmelte die Ärztin, doch zierte Kummer ihr Gesicht. »Schade, ich hätte sie besuchen sollen, jetzt ist es zu spät.« Melina schämte sich ihrer Tränen nicht. Beide Frauen saßen auf den Stühlen im Eingangsbereich des Polizeihauptquartiers. Doktor Townsend strich Melina beruhigend über den Rücken, auch wenn dieser nicht weniger zum Heulen zumute war. »Ich – ich will das alles nicht mehr!«, wimmerte Melina und barg ihr Gesicht in den Händen. »All diese Frauen, Evie und jetzt … Carla. Ich, ich verstehe das alles nicht.« »Sssch.« Melina spürte die schützende Umarmung der Ärztin. Langsam wog Doktor Townsend die junge Frau in ihren Armen hin und her. »Wissen Sie, wann ich das letzte Mal eine Frau im Arm gehalten habe?« »Nein«, krächzte Melina. »Meine Tochter«, gestand Christina Townsend. »Vor drei Jahren, als sie ging.« Melina hob den Kopf und sah zu der Ärztin auf. »Sie ist tot?« »Pff, nein, wo denken Sie hin?«, grunzte Doktor Townsend. »Sie ist mit diesem Schweinepriester nach Alaska durchgebrannt, und von dort nach Kanada, über was-weiß-ich-wohin. Hat inzwischen wohl zwei Kinder, aber was weiß ich schon darüber?« »Das tut mir leid«, beklommen senkte Melina den Blick. »Ach was«, schnaubte die Ärztin bemüht fröhlich und zuckte mit den Schultern. »Das Leben ist dazu da, Fehler zu machen. Entweder lernt man aus ihnen, oder nicht.« Melina presste die Lippen aufeinander. Ein Räuspern ließ sie sich aus der mütterlichen Umarmung herauswinden. Detective Williams und Archer erschienen und letzterer wirkte, zum ersten Mal, dass es ihr auffiel, wahrlich erschüttert. »Genickbruch. Einfach den Hals umgedreht, als würde man eine Karotte durchbrechen«, sagte er knapp und Melina erfasst ein grausiger Schauer. »Aber es … hat den Anschein, dass es nur dabei geblieben ist.« »Ihre Schilderungen sind stets blumig, Detective«, knurrte Doktor Townsend. »Haben Sie Respekt und Anstand etwa in der kleinen Schachtel unter Ihrem Bett versteckt?« Archer ignorierte den bissigen Kommentar der Kollegin. »Und was machen wir jetzt?« Melina erhob sich und baute sich vor den Polizisten auf. »Sollen noch mehr Unschuldige sterben, wegen diesem ...« Doch es gelang ihr nicht, den Satz zu beenden. Da sie nun über genügend Empfang verfügte, vibrierte ihr Telefon und zeigte einen Anruf an. Melina hielt den Beamten das Handy entgegen, wo ein einziger Name aufleuchtete. Mick »Gehen Sie ran!«, fauchte Williams energisch. Melina tat ihm den Gefallen. »Mick? Mick? Wo bist du? Ist etwas passiert? Bist du schon bei Evie? Ich komme ein wenig später.« Anerkennend nickten Archer, Williams und Doktor Townsend über solch ein schauspielerisches Naturtalent. »Mel? Mel – du musst herkommen, ich … ich brauche deine Hilfe!« Panik und Angst ließ sich aus der Stimme Michaels heraushören. »Mick, wo -?«, begann Melina von Neuem, dann jedoch änderte sich etwas, sodass ihr das Blut in den Adern gefror. »Melina«, diese fuhr zusammen, da Michaels Stimme wie die eines anderen klang, dennoch war sie sich sicher, dass es noch immer Michael Bobbins war, der am anderen Ende der Leitung zu ihr sprach. Selten nannte er sie bei ihrem richtigen Namen, nicht einmal Lina brachte er über die Lippen. Die Aufmerksamkeit der Beamten ruhte auf ihr. Jede Geste, jeder Blick, jedes Zucken. »Ich will, dass du zu mir kommst, Melina. Heute Nacht.« Der Befehlston gefiel ihr ganz und gar nicht. »Nun verzieh' deine wunderschönen Lippen nicht zu einer Schmollschnute, Liebes. Und lass' deine Wachhunde, wo sie sind. Komm' allein! Ich beobachte dich Melina.« Dann war die Verbindung unterbrochen. Kalte Angst kroch ihr durch den Leib. »Hat er gesagt, wo er Sie treffen will?« Melina begegnete dem strengen Blick Archers mit Trotz. Plötzlich war das böse Gefühl verschwunden, da ihr Handy einen piependen Laut von sich gab. »Eine SMS? Los, aufmachen!«, forderte Archer mit Nachdruck. »Ihr barscher Ton gefällt mir nicht, Detective!«, fauchte Melina und versuchte, unter klammen Fingern, die Nachricht zu öffnen. »Was soll das sein? Das sind nur Zahlen!« Verzweiflung machte sich in ihr breit. Angespannt trampelte Melina von einem Bein aufs andere. Dass Michael womöglich jede ihrer Bewegungen verfolgte, ließ das Geschwür in ihrem Magen mit jeder Minute wachsen. Williams nahm ihr das Telefon aus der Hand und zog die Stirn in Falten. »Vielleicht Koordinaten? Straßen? Längen- und Breitengrade?« »Na dann auf, Williams! Besorgen Sie sich Zettel und Stift und checken Sie das, aber pronto!« Dem Befehl seines älteren Kollegen kam Williams eilig nach. »Finden Sie nicht, dass Sie ihn ziemlich durch die Gegend scheuchen?«, knurrte Melina. »Lassen Sie das mal meine Sorge sein, Miss O'Sullivan«, gebot Archer ihr. »Zeig' mal her, Schätzchen!«, forderte die Pathologin. »Aus dem Weg Archer, oder haben Sie die Kühlkammer schon vergessen?« Murrend übergab der Detective das Mobiltelefon an die Ärztin. »Hm?«, murmelte Doktor Townsend. »Sternenkonstellationen.« »Wie?«, fragten Melina und Detective Archer wie aus einem Mund. »Na, Astronomie. Sterne? Diese funkelnden Dinger oben am Himmel, wenn es dunkel wird?«, gab die Ärztin zurück, während ihr ratlose Gesichter entgegenblickten. Ein schweres Seufzen war zu hören, als Christina Townsend die Augen verdrehte. »Was? Heute Nacht ist nicht nur Vollmond, es werden auch Sternschnuppen zusehen sein. Und das relativ zahlreich. Man nennt diesen Meteorstrom auch die Geminiden.« »Woher, zum Geier, wissen Sie das?«, herrschte Detective Archer und die Ärztin wischte sich lässig seine Spucketröpfchen von der Wange. »Google, Wikipedia – und ich lese täglich mein Horoskop«, erklärte die Pathologin ungerührt. »Sternschnuppen?«, hakte Melina nach. »Ja, ganz genau, Schätzchen«, die Mundwinkel der Ärztin hoben sich leicht. »Wie, wie in meinem Traum?«, keuchte sie auf. »Miss O'Sullivan! Hatten wir uns nicht geeinigt, dass Sie alles, was Ihnen merkwürdig vorkommen mag, zu Papier bringen?«, knurrte Detective Archer. »Ich hatte diesen Traum gestern Nacht, was hätte ich denn tun sollen?«, zischte Melina. »Aufschreiben?!« Archer starrte von Melina zur Pathologin im Wechsel. »Schätzchen, ganz langsam, und lassen Sie uns aus der Schusslinie treten. Wer weiß, was noch passiert?« So dirigierte Doktor Townsend die beiden in eine sichere Ecke. Archer rieb sich die Schläfen, murrende Laute krochen ihm über die Lippen. »Was tut er da?«, fragte Melina. »Keine Ahnung, Yoga? Oder er brabbelt irgendein Mantra?«, riet Doktor Townsend. Detective Williams' Recherche ergab nichts, keine Koordinaten, keine Straßen, nicht einmal Gassen. Ihnen fehlte die Zeit, um die Zahlen noch der Dechiffrierabteilung zu übergeben. Doktor Townsends Vorschlag jedoch, erfreute sich bei Williams großer Begeisterung. Leider verfügte das NYPD über keine Stelle, die sich mit Astronomie befasste. »Kennen Sie nicht jemanden, der jemanden kennt?«, hakte Melina nach. »Uns sitzt die Zeit ein wenig im Nacken. Ich könnte mich natürlich auch auf offener Straße anbieten?« Archer stieß ein Grunzen aus. »Es wäre aber eine Möglichkeit«, gab Williams zu bedenken. »Bist du übergeschnappt, Junge?«, herrschte Archer. »Sie ist eine Zivilistin und geht bestimmt nicht in den Tod! Zumindest nicht, während meiner Schicht.« »Hallo«, rief eine fröhliche Stimme, die die Anwesenden irritiert blinzeln ließ. Alle Blicke richteten sich auf die junge Frau, die das Quartett neugierig musterte. »Officer Perez?« Melina schoben sich die Augenbrauen zusammen, als sie die Polizistin erkannte. »Ich war ein wenig neugierig, was diesen kleinen Menschenauflauf anbelangt. Kann ich helfen? Gibt es Probleme?« Die freundliche Art Officer Perez' war Balsam für die erhitzte Situation. »Klar«, gab Doktor Townsend vor. »Wenn Sie sich mit Astronomie beschäftigen?« Ein helles Lachen erfüllte die kleine Nische. »Nun, ich nicht, aber Mrs. McClafy«, gestand die Polizistin. Geschlossen marschierte die Gruppe auf die Empfangsdame zu. »Hey Aggs«, grinste Officer Perez. Agnes McClafy beäugte die Traube mit kritischem Blick. »Kann ich etwas für Sie tun? Sie alle?« »Agnes«, nickend grüßte Doktor Townsend. »Ah, Tina. Na, wie läuft das Geschäft? Ordentlich zu tun, hm?«, giggelte Mrs. McClafy. »Aggy, wir brauchen deine Hilfe«, Officer Perez beugte sich verschwörerisch ihr herüber. »Es geht um Astronomie.« Dass Agnes McClafy für dieses Thema sofort entflammte, erleichterte den Beteiligten die Situation erheblich. Eiligst ließ diese die Finger über die Tasten schweben. »Endlich funktioniert dieses Ding wieder tadellos«, verkündete sie stolz und warf einen Seitenblick auf Melina, die sich zu einem Lächeln zwang. Agnes ließ sich das Handy geben und schien genau zu wissen, wo sie suchen musste. Es war nicht gelogen, dass es Webseiten für fast jede Lebenslage gab. Rasch waren die Zahlen, mit denen ganz offensichtlich nur ein Astronom etwas anzufangen wusste, in den Rechner eingegeben. Binnen weniger Sekunden war das Ergebnis ausgespuckt. »Astronomie war mein Hauptfach, aber da sich mit dem Sternegucken, sofern man nicht gerade ein Astrophysiker ist, kein Geld verdienen lässt, musste ich mich umorientieren. So, einen Augenblick, da haben wir es ja schon«, erklärte Mrs. McClafy beiläufig. Sowie der Drucker das Resultat freigab, langte sie danach und reichte es weiter. »Und, was heißt das jetzt genau?«, fragte Perez. »Mal sehen, was wir da haben?«, sagte Agnes, schnappte sich einen Stift und wuselte mit diesem auf dem Papierfetzen herum. Chealsea Piers Melina schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, den Tränen nahe. »Natürlich!« »Was heißt natürlich?!«, verlangten die Detectives zu wissen. »Chelsea Piers«, wiederholte Melina mit zitternder Stimme. »Ich wohne in Chelsea und ...« »Und?«, nun waren es die Frauen, die neugierige Blicke tauschten. »Dieser verdammte Mistkerl! In den Studios, an den Piers, wurden Folgen von Law & Order und Criminal Intent gedreht. Dieser Mistsack kennt mich besser, als ich dachte!«, fluchte Melina ungehalten. »Ich liebe Law & Order«, schwärmte Officer Perez. »Pfff, CSI, definitiv«, gebieterisch verschränkte Doktor Townsend die Arme vor der Brust. »Meine Damen, bitte«, versuchte Detective Williams einer möglichen Diskussion aus dem Wege zu gehen. »Wir haben dafür keine Zeit.« Bekümmert senkte Melina den Blick. Vermutlich käme sie nie wieder in den Genuss, sämtliche Staffeln Criminal Intent, oder Law & Order anzusehen. »Was ist hier überhaupt los?« Agnes McClafy schien sich zwar nicht an der Debatte, welche Krimiserie die bessere sei, beteiligen zu wollen, doch einen Grund für das Anbringen ihrer Kenntnisse verdiente sie alle mal. »Mrs. McClafy, Sie haben uns, der Stadt New York, nein vielleicht sogar dem ganzen Land, heute womöglich einen Staatsdienst erwiesen.« Verdattert blinzelte diese zu Detective Archer auf. »Wir werden auf Ihre Hilfe zurückkommen, aber jetzt bleibt uns keine Zeit für weitere Erklärungen.« »Mmh, Detective, Sie können ja auch in nett«, gurrte die Pathologin, doch da brach das Trio bereits auf. Rasch jagte Detective Archer den alten Mercedes durch die Straßen. Sie hatten einen Treffpunkt, zwar keinen genauen, doch wenn sie Melinas Worten Glauben schenkten, dann käme es bei den Studios zur endgültigen Begegnung. Und die junge Frau stand zwischen den Fronten. »Sie gehen allein, Miss O'Sullivan«, sagte Archer. »Wir sind in Ihrer Nähe. Nur Sie wissen, was Bobbins verlangt.« Schweigend nahm Melina ihr Todesurteil an. »Der Mond zieht auf.« Detective Williams sah den Trabanten über die Lagerhallen steigen. »Oh, eine Sternschnuppe.« Kälte breitete sich in dem Wagen aus, als Melina, unter zitternden Fingern, die Tür öffnete und wieder zuwarf. Auf wackeligen Beinen ging sie die schwach beleuchtete Nebenstraße entlang. »Ich will mir gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl sein muss«, murmelte Archer verdächtig ruhig, während er die junge Frau nicht aus den Augen ließ. »Verraten und verkauft, und uns sind die verdammten Hände gebunden«, stimmte ihm Williams unweigerlich zu. Melina schlang die Arme um ihren fröstelnden Leib. Erst ein Mal hatte sie die Piers besucht, sogar an einer Führung durch die Studios teilgenommen. Dass man ihr diese Erinnerung nun so kalt- und unbarmherzig nehmen, und durch etwas viel Schrecklicheres ersetzen wollte, ließ ihr bitte Galle die Kehle hinauf schießen. »Sie ist weg«, sagte Archer. Verstehend nickte Williams. Beide langten nach den Türgriffen, entstiegen dem Wagen und folgten dem Lamm zur Schlachtbank. Immer wieder huschten verglühende Gesteinsbrocken über den Dezemberhimmel. Melinas Blick wandte sich hinauf zum Firmament. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihr die Lippen, während ihre Augen den vollen, runden Mond erfassten. »Es war schön hier«, hauchte sie in die Nacht hinein, während ihr Atem in Wölkchen aufstieg. Träge wurden ihre Schritten. Jedes Rühren der Muskeln klammerte sich ans Leben. Wer trat schon freiwillig seinem Henker entgegen? Das Geräusch einer umstürzenden Tonne erschreckte die junge Frau so sehr, dass ihr ein spitzer Schrei entfuhr. Ein Schatten flitzte an den Gebäuden vorbei. Erleichtert rang Melina nach Luft. »Dämliches Vieh!«, grollte sie der Katze. Doch das, was dann ihre Ohren erfasste, ließ ihr Herz für einen Schlag sein Tun vergessen. Ein Fauchen, Krächzen, Flehen, dann herrschte Stille. Kein Laut war mehr zu vernehmen. Der nasse Betonboden schien sämtliche Töne zu schlucken. So sah Melina die Gestalt nicht, die sich ihr näherte. Erst im Schein einer Laterne bemerkte sie den Fremden. »Du bist gekommen.« Melina fuhr zusammen. Es war Michael, ganz eindeutig. Doch sie fand ihren Freund nicht in dem Mann, der sich nun mehr in ihr Blickfeld schob. »Mick? Was – was ist passiert?« Zaghaft waren ihre Worte, als der Jäger lautlos auf seine Beute zuhielt. »Melina, Melina, ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben.« Michaels säuselnde Schmeicheleien straften seinen Auftritt Lüge. Prüfend besah sich Melina jenes Schauspiel, das einer Farce glich: Er mochte sein Äußeres verändert haben, auch sein Gang war nicht länger schleichend oder wirkte gar träge. Und doch blieb etwas Fahriges, Unglückliches zurück, das ihm, in der Zeit, die sie einander kannten, stets anhaftete. »Warum wolltest du mich sehen?« Klar und deutlich drang die Frage zwischen ihren Lippen hervor. »Stell' dich nicht dumm, meine Liebe Melina. Wir beide wissen, warum du hier bist. Du, und diese Polizeischnüffler«, gab Michael ungerührt zurück und streckte die Finger nach ihrem Gesicht aus. »Hatte ich dir nicht gesagt, dass du allein herkommen sollst? Das solltest du, Melina.« Zittrig rang sie nach Atem, jede Sehne ihres Körpers zum Reißen gespannt, sobald seine kühlen Finger nach ihr haschten. Instinktiv wich Melina vor ihm zurück. Seine Mundwinkel zuckten, als Michael ihre Bewegung bemerkte. »Du hast Angst, vor mir?« Sein Auflachen erfüllte die Stille. »Aber Mel, du brauchst dich nicht vor mit zu fürchten, ich tue dir nichts.« Melina ließ Vorsicht wallten. »Du traust mir nicht. Immer noch nicht.« Ein trauriges, mitleidiges Lächeln umflatterte seine Lippen. »Und das hast du auch wahrscheinlich nie. Du bist ein schlaues Mädchen, Melina.« Michael trat einen weiteren Schritt auf sie zu. »Ich höre dein Herz. Es pocht wie vom Wahnsinn getrieben. Ein herrlicher Klang, findest du nicht?« »Nein«, widersprach sie. »Es kriecht dir die Kehle hinauf. Selbst wenn dieser grauenhafte Schal deinen schönen Hals versteckt. Ich kann es spüren, Melina.« Ein Gemisch aus Drohung und Faszination breitete sich in jeder gefallenen Silbe aus. »Dein Herz.« Michael neigte den Kopf. Ein trügerische, wohlwollende Geste, die Melina abermals zur Achtsamkeit rief. »Ich möchte nicht, dass du Angst verspürst, Melina. Deine Furcht kränkt mich. Ich dachte, wir wären Freunde?« »Wir sind Freunde, Mick. Ich begreife nur nicht, warum -?«, hob sie an, doch Michael fiel ihr ins Wort. »Dich zu so einer späten Stunde hierher zu locken, war natürlich nicht eine meiner besten Ideen. Ich wollte dir mein neues Ich präsentieren. Gefalle ich dir nicht?«, verlangte er zu wissen. »Jetzt schau' doch nicht so kritisch. Zu jeder Freundschaft gehört auch manchmal eine Veränderung.« Abermals glitt ihr Blick über ihn hinweg. Von dem schulterlangen, mausbraunen Haar zu einem modischen Kurzhaarschnitt, auch war der schwere Mantel, den er trug, von teurem Material. Melina verspürte ein knappes Aufflackern von Interesse, doch würde dies nie die tieferen Gefühle hervorrufen können, die sich Michael erhoffte. Wieder zuckten ihm die Mundwinkel amüsiert. »Schade, Melina. Ich habe dich nie für eines dieser oberflächlichen, dummen Mädchen gehalten. Allerdings genügt es nur einer kleinen Änderung des Optischen, um einen Menschen attraktiver zu machen.« Ein Seufzen seinerseits erklang. »Es ist bedauerlich, dass diese Welt, in all den Jahren, nichts dazugelernt hat.« Melina schwieg. »Gut«, räumte Michael ein. »Genug von diesem Geplänkel.« Nervös trat er auf der Stelle, griff sich ins Haar und ließ die ihr bekannte Zerstreutheit erkennen, ehe er fort fuhr: »Mel, ich brauche wirklich deine Hilfe.« Sie schmälerte die Augen. »Und wobei?« »Nun, nicht direkt deine Hilfe. Weißt du, Hilfe ist nicht das richtig Wort ...«, druckste Michael in dem Wissen, dass es ihr widerstrebte, ihm den rettenden Strohhalm zu verwehren. Wartend gruben sich ihre Zähne in die Unterlippe, um ein Klappern zu verhindern. Ihre Finger krümmten sich in den Taschen der Jacke zusammen, während Melina registrierte, dass ihr Mobiltelefon in dem weichen, warmen Futter verharrte. »Ich habe Mist gebaut, großen Mist sogar«, gestand Michael. »Mick, warte kurz«, bat sie tat, als vibriere das Handy und zog es aus der Tasche. Das Display leuchtete auf, als ihre Fingerspitzen darüber fuhren. Everly hatte ihr einst eine Diktiersoftware empfohlen. Aus Jux hatte sich Melina erbarmt und diese, in ihren Augen, unnütze Funktion auf das Smartphone geladen. Dass ihr jene, bereits in Vergessenheit geratene, App nun vielleicht das Leben rettete, wagte Melina zu bezweifeln. Doch wenn die Vermutungen der Polizei korrekt waren, dann … »Everly«, log Melina und zwang ihre Lippen zu einem Lächeln. »Ich schreibe ihr schnell, dass es später wird.« Misstrauen zierte sein Gesicht. Michael streckte die Hand aus und entwand das Telefon ihren Fingern so rasch, dass Melina nur blinzeln konnte. Protest wallte in ihr auf, doch als Michael den Gesprächsverlauf ihrer Mitbewohnerin erblickte, reichte er das Handy zurück. Das Licht erlosch und das Smartphone verschwand wieder in der Jackentasche. »Entschuldige«, murmelte sie und versuchte sich an einem beschwichtigenden Lächeln, doch Michaels Miene war undurchschaubar. »Was für einen Mist hast du -?« Er legte ihr einen Zeigefinger auf die Lippen und gebot ihr, zu schweigen. »Mel, du … bist eine der wichtigsten Personen in meinem Leben und ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.« Ein knappes, stilles Kopfnicken war zu erkennen, während sich ein erleichtertes Lächeln auf seinem Gesicht zeigte. Unvorbereitet erfasste sie seine feste Umarmung. Melina spürte einen eisigen Hauch, als Michael sie erreichte. »Du wirst mir helfen?« Hoffnung flackerte in seinen Worten auf, doch dann begann sich der Spieß von Neuem zu drehen. »Das ist fantastisch, Mel. Aber dann bist du doch dümmer, als ich dachte.« Das, was soeben an ihre Ohren gelangte, sollte ihr eine Warnung sein. Melina schluckte an dem Kloß in ihrer Kehle. »Ich brauche nicht viel. Nur dich, und ein bisschen ...«, raunte Mick und vergrub das Gesicht an ihrem Hals, wühlte sich durch die Schichten des wollenen Schals, bis seine Lippen eine freie Stelle fanden und er die Wärme ihres Körpers empfing. Tief sog er ihren Duft in seine Lungen. Ein brummender, genießerischer Laut wallte in ihm auf. »Ich rieche Angst, Scham und Abscheu«, heiter entschlüpften die Worte seinen Lippen. »Alle duften sie so, wenn ich ihnen zu nahe komme.« »Mick«, keuchte Melina verzweifelt und versuchte sich, aus der Umklammerung zu befreien. »Keine Angst Mel, dich behalte ich.« Sanft war seine Stimme, während er ihr großes Unheil prophezeite. »Du bist etwas Besonderes.« »Geh' weg von ihr, du Mistkerl!« Irritiert blinzelte Melina, als sie der barsche Ton erreichte. Doch es war nicht Archer, der diese Szenerie unterband. Detective Williams nährte sich ihnen mit gezogener Waffe. Zeitlupengleich wandte Mick den Kopf in die Richtung des Polizisten. »Ah, da sind Sie ja, Detective. Und, wo ist Ihr Partner? Sie sind zu zweit. Sie sind immer zu zweit, ich habe Sie an ihr gerochen.« »Miss O'Sullivan, gehen Sie weg von ihm!«, verlangte Williams energisch. Ein spitzer Schrei quoll Melina zwischen den Lippen hervor, als sich Michael, innerhalb eines Wimpernschlages, hinter ihr befand, einen Arm um ihren Bauch schlang, den anderen an ihrer Kehle hielt. Ein Reißen und Zerren, das ihr die Luft nahm, dann traf Kälte auf ihre erhitzte, ungeschützte Haut. Seine eisigen Finger umschlossen ihren Hals, eine willkommene Linderung für das Martyrium, das Melina soeben erleiden musste. Der Schal hing ihr in Fetzen von den Schultern, bis er gänzlich auf den nassen Asphalt traf. »Das wird nichts, Detective«, lachte Michael auf. Ein krächzender Laut entkam Melina, da sein Griff keinerlei Sanftheit erkennen ließ. »Sssch, Liebes, keine Panik.« »Lassen Sie sie gehen, Bobbins!« Die Forderung des jungen Beamten schlug fehl. »Verdammt noch mal, Bobbins, sie läuft ja schon blau an. Lassen Sie sie los!« »Das kann ich nicht«, brachte Michael jammernd hervor, schmiegte sich an ihren Hals und richtete seinen Blick fest auf den Gegner. »Sie ist Teil eines großen Plans. Noch ist es ihr nicht bewusst, doch Melina wird Dinge vollbringen, die Ihren kümmerlichen, unterbelichteten Verstand bei weitem übersteigen.« »Was reden Sie da für einen gequirlten Blödsinn? Großer Plan?« Williams war um Sachlichkeit und Beherrschung bemüht, dennoch schien es Taktik zu sein, den Feind zu hinterfragen und ins Lächerliche ziehen zu wollen. Michael ließ den Beamten sprechen, behielt jedoch seine Umgebung wachsam im Auge. »Wir sind Ihnen auf die Schliche gekommen, Bobbins«, fuhr Williams fort. »Wir wissen, was Sie getan haben.« Ein bellendes Lachen durchschnitt die Luft wie ein Peitschenhieb. »Sie wissen gar nichts, nicht einmal das kleinste Bisschen«, höhnte Michael. »Sie haben Gabriella Sumners getötet, und Carla Mountgomery.« Bei den Worten des Detectives rang Melina nach Luft. Michael schenkte ihr einen Seitenblick, die Lippen zu einem Grinsen verzogen. »Ach Mel, als wenn du das nicht längst wüsstest. Ohne dich wären diese Dreckskerle doch gar nicht erst hier. Deine schauspielerischen Darbietungen sind nicht gerade filmreif.« »Bobbins, lassen Sie Miss O'Sullivan einfach gehen«, versuchte es Williams erneut. »Der Kerl nervt, hm?«, brummte Michael und erneute ein zustimmendes Schnauben Melinas. »Haben Sie Beweise, Detective? Irgendeine Spur? Haare, Fingerabdrücke? Hautpartikel?« Williams blinzelte. »Haben wir!« Michael grunzte belustigt. »Sie lügen. Sie haben nichts, in keinster Weise. Nicht ein Fitzelchen, nicht einen Anhaltspunkt. Oh, oh, Detective, ich könnte Sie wegen Verleumdung verklagen.« »Versuchen Sie's«, provozierte Williams. »Unsere Nachforschungen werden die Anschuldigungen gegen Sie untermauern. Sie haben keine Chance auf einen fairen Prozess. Also stellen Sie sich!« »Sind Sie taub, Detective?«, spottete Michael abermals. »Ich zähle bis drei«, hob Williams an. »Und dann? Wollen Sie mich erschießen?«, kicherte Michael. »Ihr Mut und Ihr Bereitschaftswille sollten geehrt werden, sollten Sie das hier überleben.« »Eins.« Auch wenn ihm die Stimme schwankte, war Cord Williams um Standhaftigkeit in Wort und Tat bemüht. Michael verdrehte die Augen, verstärkte jedoch den Druck um Bauch und Hals Melinas. »Zwei.« Er würde schießen. Er konnte schießen. Ihm, und allen Beteiligten, war bewusst, dass es sich bei diesem Mann um keinen Unschuldigen handelte. Die Indizien sprachen eindeutig gegen Bobbins. Ihm zitterten die Finger am Abzug. »Verdammt noch mal, jetzt lassen Sie sie gehen!«, brüllte Williams auf. »Hören Sie auf, mit diesem Quatsch! Oder wollen Sie, dass zwei unbescholtene Zivilisten wegen Ihrer Unfähigkeit draufgehen?«, riet Michael ihm, dann wandte er sich wieder Melina zu. »Hab' keine Angst, Mel. Dieser gemeine Polizist wird uns nichts tun.« »Drei.« Williams' Zeigefinger krümmte bedrohlich sich um den Abzug der GLOCK 17. »Ich werde immer verrückt nach dir sein, auch wenn du mich immer wieder abweisen wirst.« So begehrenswert Michaels Worte auch klingen mochten, hatten diese nichts mit aufrichtigen Gefühlen gemein. Ein Schuss löste sich, durchbrach die Stille und ließ Melina zusammenfahren. Ein zweiter folgte. Michaels Gesicht glich einer Fratze, die mehr und mehr ins Groteske abglitt. Doch statt zusammenzubrechen, bäumte er sich ein letztes Mal zu einem grandiosen Finale auf. Ihr Aufschrei hallte durch die Nacht. Ein eisiger Hauch umwehte ihren stocksteifen Leib, den Michael noch immer umklammert hielt. »Archer!«, bellte Detective Williams, doch von seinem Kollegen fehlte jede Spur. »Archer, verdammt noch mal!« Irritiert blinzelte der Beamte, geschockt über sein Tun und die Tatsache, dass Michael Bobbins, auf den er soeben schoss, noch quicklebendig schien. Das Blut aus der Wunde, die ihm Williams beigebracht hatte, war längst versiegt. Dort, wo sich, in esoterischen Kreisen und dem Hinduismus bekanntlich, das dritte Auge befand, klaffte nun ein Loch. Ein hohes, Angst erfüllendes Lachen kroch ihm die Kehle empor. Spott und Hohn, erbrachen sich in einem Würgen. »Ihr miesen Wichser!«, krächzte Michael und schmiegte sein kaltes Gesicht an Melinas Wange. »Sie nehmen dich mir nicht weg, Mel, sie nicht!« Doch diese war zu keiner Regung fähig. Panik hatte sie in ihren Fängen, das klopfende Herz war ihr ohrenbetäubend. Sie wusste, dass seinen Opfern dasselbe widerfahren war. Sie hatte jeden Augenblick, jeden Wimpernschlag gespürt. Melina wusste, wie es war, zu sterben. Kapitel 9: 9 ------------ Ein wildes Fauchen drang aus seiner Kehle hervor. Blut rann ihm aus dem Einschussloch über Nase und Wangen. Melina vernahm das Splittern von Knochen, hörte das Brechen, als die Kugeln den Schädel durchschlugen. Sie spürte den heißen Lebenssaft, der auch ihr nunmehr an der Wange haftete, klebrig, metallisch. Ihr drehte sich der Magen um. Sie hasste den Anblick von Blut. »Perfekter Schuss, Detective«, lobte Michael mit rauer Stimme. »Sie haben diese Scheißakademie bestimmt mit Bestnoten verlassen.« Williams zitterte am ganzen Leib. Die GLOCK 17 hüpfte bedrohlich, als ihm der Schock in die Glieder fuhr. »Wie ich sehe, sind Sie nicht überrascht«, lachte Mick auf. »Nun, wenn Sie es nicht sind, bin ich es auch nicht. Das ist gut für mich, so muss ich es Ihnen nicht noch lang und breit erklären.« »Mick?«, fiepte Melina schwach. »Oh, Liebes, verzeih'. Ich war ein wenig abgelenkt. Dein kleiner Polizisten-Freund hat versucht mich umzubringen.« Leise, beinahe, als spreche er zu einem Kind, richtete Michael seine Worte an sie. »Im Ernst, Detective Williams? Mit einer Waffe?« Melina nahm all ihren Mut zusammen. »Mick, was soll das alles? Warum ich?« »Mel, Liebes«, säuselte Michael. »Wer, wenn nicht du?« »Warum tust du mir das an?« Ihr Wimmern sollte ihm das Herz erweichen. »Ich liebe dich, du wirst mein sein, für immer und ewig«, schnurrte Michael und drängte sich ihr abermals entgegen. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Das, was hier geschah, konnte nicht real sein. Ihr gegenüber stand Williams, der zu keiner Regung fähig schien. Wo Archer steckte, vermochte sie nicht einmal erahnen. Das, was Michael vorgab zu sein –? Welche Kreatur überlebte zwei Kopfschüsse? Ihr Blick ging zum flimmernden Firmament hinauf. Sternschnuppen, überall. Sie fielen vom Himmel, wie unheilvolle Boten. Melina brauchte Klarheit, etwas, an dem sie festhalten konnte. Ein Gerüst, dass unerschütterlich war. »Ah«, seufzte Michael zufrieden. Es war ihm nicht entgangen, dass ihr Fokus auf etwas anderes, als ihn, gerichtet war. »Sieh' dir das an. Ist das nicht ein traumhafter Anblick? Und ist es nicht wunderbar, dass du und ich, dass wir diesen Moment gemeinsam erleben können?« Melina riss sich von den Sternen los und starrte zu Williams herüber. All ihre Muskeln spannten sich an, doch obschon Michael von den fallenden Sternen abgelenkt schien, war sein Griff unerbittlich. »Ich habe Fragen«, laut und deutlich war ihre Stimme zu hören. Detective Williams löste sich aus der versteiften Haltung, ebenso wandte sich Michael ihr wieder zu. »Was sollte das mit der Visitenkarte?«, verlangte Melina zu wissen. »Sie sollte dir zeigen, dass ich an dich denke, dich beschütze.« Ein kichernder Laut entkam ihm. Dass Melina sein Handeln nicht nachvollziehen konnte und dieses infrage stellte, ließ ihn schnaubend den Kopf schütteln. »Dann beschütz' mich – vor dir!«, bat Melina. Sein Lachen klirrte ihr durch den Körper. »Warum musste Miss Sumners sterben? Sie hat mir nichts getan.« Melina spürte, dass sich auch Michael kurz versteifte. »Sie war eine Diebin«, knurrte er dicht an ihrem Ohr. »Hat das Diamant-Collier einfach mitgenommen, diese böse, böse Frau. Dann wäre der Verdacht auf dich zurückgefallen, weil diese Kameras überall versteckt sind. Und die alte Mountgomery hätte dich gefeuert und dich mir weggenommen. Aber das wusste ich zu verhindern. Ich nahm ihr die Kette ab und legte sie, unbemerkt, am nächsten Morgen, wieder zurück. Ich platzierte die Karte, mit deinem Namen, in der Hoffnung, dass du die Botschaft verstehst. Aber dann kam mir dieses Polizeipack in die Quere, schnüffelte überall herum.« »Du glaubst doch nicht wirklich, dass eine Leiche, in einer Gasse, nicht unbemerkt bleibt?«, leichter Spott schwang ihr in der Stimme mit. »Ich wollte sie fortschaffen, das wollte ich wirklich. Ich wusste, dass du sie sehen würdest.« Angewidert von seinen Worten, verzog Melina das Gesicht und war versucht, sich von ihm wegzudrehen, da ihr sein Atem Übelkeit verschaffte. »Und Carla?«, brüchig wich ihr jene Frage von den Lippen. »Sie war im Weg. Sie hätte dich gefeuert, versteh' das doch, Liebes.« Verzweiflung mischte sich unter seine Worte. »Außerdem hat war sie eine Gefahr für meine Identität.« »Weshalb?« Melina schluckte. Abermals schwenkte ihr Blick kurz zu Williams, doch dieser war plötzlich verschwunden. »Deine kleinen Polizisten-Freunde stecken ihre Nasen ganz gern zu tief in den Dreck, mein Herz. Sie hätten keine Aufzeichnungen über mich gefunden, und das hätte sie noch stutziger gemacht.«, erklärte Michael, der ihr Suchen sehr wohl bemerkte. »Und was ist mit Evie?« Heiße Tränen flossen ihr über die vom Blut verkrusteten Wangen. »Hm, das … war ein Versehen. Nicht böse gemeint.«, versuchte Michael die Situation ein wenig zu mildern. »Versehen?«, keuchte Melina atemlos. »Versehen? Du hättest sie fast umgebracht!« »Na na, Liebes, nicht aufregen, das ist nicht gut für dein Herz«, riet er ihr mit entschuldigendem Augenaufschlag. »Meine beste Freundin liegt im Krankenhaus!« Die Fassungslosigkeit verschlug ihr beinahe den Atem. »Auch unsere kleine Everly ist nicht der Sonnenschein, für den du sie hältst.« Michael verzog betrübt das Gesicht. »Die Pillen, die sie dir gibt, vergiften deinen schönen Körper. Du fühlst dich schlecht, wenn du sie deine Kehle hinabwürgst, habe ich recht?« Wieder schmiegte er seine klebrig-blutige Wange an ihr Gesicht. »Deine Visionen werden dadurch nur noch schlimmer. Aber -« Michael lachte klar und hell auf. »Ich sollte unserer kleinen Evie danken, immerhin hat sie dich so zu mir gebracht.« »Wie -?« Melina blieben die Worte im Halse stecken. »Es war so leicht, sich bei ihr einzuschmeicheln und dafür zu sorgen, dass mein Plan aufgeht«, erklärte er bereitwillig. »Plan?«, knirschte Melina. »Meine Spuren zu verwischen. Evie ist eine hervorragende Chemikerin. Sie half mir, die Polizei zu verwirren.«, sagte Michael, als sei die Mittäterschaft ihrer besten Freundin nichts Besonderes. Melina schwieg, biss sich auf die Lippen, bis sie Metall schmeckte. »Sie ist ein schlaues Mädchen, so gewieft. Hat mir geholfen, dieses Pseudoblut herzustellen, verstehst du?«, bittend sah Michael zu ihr auf, doch Melina schnaubte nur. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, als Michael, mit ihr, herumwirbelte. »Dreckiges Polizisten-Pack«, fauchte er. »Kehre nie einem Bullen den Rücken, denn du weißt nie, wann ihm der Finger juckt.« Archer schmälerte den Blick. Melina wollte Erleichterung verspüren, doch blieb ihr dieses Gefühl verwehrt. »Meinen Ohren entgeht nichts«, höhnte Michael, die Lippen zu einem einladenden Grinsen verbogen. »Sie und Miss O'Sullivan waren gerade im Gespräch, da wollte ich nicht stören, indem ich Ihnen eine weitere Kugel verpasse. Das sehen Sie mir doch sicherlich nach, Bobbins.« Archer blieb auf Abstand, während sich Williams zu ihm gesellte. »Zwei von der Sorte, wie ich es dir gesagt habe, Liebes«, gurrte Michael. »Lassen Sie sie gehen«, verlangte Archer in saloppem Ton, anders, als Williams die vielen Male zuvor. »Und ich sage Ihnen, wie auch Ihrem unterbelichteten Partner vorhin, dass das nicht geschehen wird«, erwiderte Mick. »Sie kommt mit mir.« »Und wo soll es hingehen? Nach Transsylvanien?«, spottete Archer in ungewohnt gutgelaunter Stimmung. Pikiert verzog Michael das Gesicht. »Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus. Mel bleibt bei mir! Nicht wahr, Liebes? So ist es doch.« »Miss O'Sullivan scheint das aber gar nicht recht zu sein«, entgegnete Detective Archer. Mick verdrehte die Augen. »Sie wollen Zeit schinden, nicht wahr?« Melina schrie auf, als Michael nach ihr langte, und ihr den Kopf so bog, dass er einen hervorragenden Zugang auf ihre Halsschlagader erhielt. Alarmiert stürzten die Beamten auf sie zu. »Keinen. Schritt. Weiter.«, knurrte Michael, die Detectives mit zornigem Blick taxierend. »Was wollen Sie von ihr?«, fragte Archer. »Sie ist mein Geschenk«, erklärte Mick einnehmend. »Er hat sie mir versprochen.« Archer stieß ein Grunzen aus. Melina entfuhr ein wimmernder Laut. »Was soll das alles, warum ich?« »Ahhh«, krächzte Michael verärgert. »Immer diese abscheulichen Fragen. Warum? Weshalb? Was soll das alles? Du hast eine Gabe, Liebes.«, knurrte Michael drängend. »Sagen wir, sie ist ein Familienerbstück und mein Meister wird hoch erfreut sein, wenn ich dich ihm präsentiere. Aber hab' keine Angst, meine Liebe. Du wirst bei mir bleiben. Ich darf dich behalten.« »Du redest Schwachsinn!«, zischte Melina und bäumte sich auf, um gegen ihn zu bestehen. »Das Blut einer Druidin soll der höchste Genuss sein«, frohlockte Michael und ließ sich ihr nicht einen Augenblick zur Flucht. »Einer was?« Melina blinzelte verwundert. »Ich bin keine Druidin, du Vollidiot.« Michaels Lachen hallte durch die Nacht. »Aber du siehst und fühlst, all jene, die dich seit deiner Kindheit quälten.« »Wen meinst du?« Schock und Schrecken ließen sie vor Angst zittern. Seine Lippen kräuselten sich zu einem wissenden Grinsen. »Die Toten, mein Herz. Sie kommen zu dir, auf der Suche nach Hilfe.« »Hast du sie?« Schweigend nickte Williams die Worte seines Partners ab. »Und Sie glauben, dass das funktioniert? Ich meine -«, begann Detective Williams dennoch. »Immer positiv denken, Junge. Und ich hoffe für dich, dass du nicht schon wieder einen Blackout bekommst, wenn du diesem Kerl gegenüber stehst!«, knurrte Archer und zuckte ruckartig mit dem Kopf. »Du weißt, dass diese Bastarde schwer zufassen sind.« Unter bebenden Fingern ersetzte Williams die restlichen zwölf Vollmantelgeschosse durch versilberte Patronen. »Was ist da drin?«, hakte Williams nach. »Diese Kugeln, mein Junge, sind aus einem sehr alten Holz. Jede einzelne Patrone wurde in einen Sud aus Sagenkraut getaucht und mit einer Silberlegierung ummantelt. Das sollte diesen blutsaugenden Scheißern endlich den Rest geben«, knurrte Archer und scheuchte Williams in jene Richtung davon, in die auch Melina gegangen war. »Hey, Greenhorn!« Williams hielt inne und wandte sich zu seinem Lehrmeister um. »Was?« »Das ist deine Bewährungsprobe, lass' sehen, ob meine Bemühungen nicht umsonst waren.«, beschwor ihn der Detective. Williams nahm den Blick von der Waffe und ließ diesen blutsaugenden Scheißer, wie Archer ihn nannte, wieder in den Fokus seiner Mission rücken. Noch immer schien sich Melina O'Sullivan gegen die Vorstellung zu wehren, dass das, was ihr in der Kindheit widerfahren und ihr ein stetiger Begleiter war, eine Ursache habe, die weiterreichender schien, als sich ein kümmerlicher Mensch vorzustellen vermochte. »Wie viel Schuss hast du noch?«, verlangte Archer zu wissen. »Drei und zwölf«, war die knappe Antwort. »Schieß'!«, befahl Archer. »Drei Mal.« »Aber -« Williams haderte mit sich. »In die Luft, oder -?« Archer wand den Kopf von einer Seite zur anderen, griff nach der Waffe und feuerte drei Mal in die Luft, dann reichte er die GLOCK 17 an Williams zurück. Erschrocken fuhr Melina zusammen. Noch immer hing sie halb den Armen ihres Peinigers. »Na, na, na, hörst du das, Liebes? Offenbar gieren die Herren Polizisten nach Aufmerksamkeit.«, erheitert lachte Michael auf. »Haben Sie etwa schon ihre gesamte Munition verschossen? Dann seien Sie so freundlich, und lassen von meiner Geliebten und mir ab.« Archer ließ ein Schnalzen der Zunge erklingen, zeigte sich wenig überrascht und verharrte auf sicherer Distanz. »Denk' an die Sauerei. Also, wenn du getroffen hast, dann hol' das Mädchen so schnell wie möglich daraus.« Keuchend rang Williams nach Luft, bejahte nickend und zielte. Was die Beamten mit einander besprachen, entzog sich ihrer Kenntnis. Dass Detective Archer in den Nachthimmel schoss, ließ Unverständnis bei Melina zurück. Die Waffe wechselte erneut den Besitzer. Williams' Schießkünste waren beachtlich, doch als sich die GLOCK 17 wieder in seinen Händen befand, erinnerte sie sich daran, wie verängstigt, beinahe versteinert Williams gewesen war. Michael lachte spottend. »Wirklich, Archer? Sie überlassen es dem Welpen?« »Ich sagte ihm, es handle sich, in diesem Fall, um eine erneute Bewährungsprobe. Euch auf die Schliche zukommen ist leider nicht mehr ganz so einfach.«, entgegnete Archer. Verwundert blinzelte Melina. »Hörst du das, Liebste? Jetzt wollen Sie uns doch trennen.«, schnaubend wandte sich Michael an die junge Frau, dann blickte er abermals zu den Beamten. »Trifft mich auch nur eine Kugel, dann ist eure Hoffnung zunichte gemacht.« »Ich dachte, ihr braucht sie?«, hakte Williams nach. »Oh, der kleine Jäger mit der großen Klappe«, ereiferte sich Michael. »Natürlich brauchen wir sie. Mel und all die anderen werden bei unserer Auferstehung von großem Nutzen sein.« Jäger, Auferstehung, Druiden? Ihr schwirrte der Kopf und dies war nicht nur der unbehaglichen Neigung ihres Körpers geschuldet. »Williams, dann erschießen Sie mich«, rief Melina ihm zu. Michaels prustendes Lachen erfüllte ihre Ohren, dann spürte Melina, wie er ihren Leib wieder in die Vertikale hievte. »Das würde dir gefallen, nicht wahr, mein Herz? Oh, er könnte dir diesen Wunsch erfüllen, doch wären meine Zähne schneller in deinem Hals versenkt, als sein Finger am Anzug ist!« »An meinem Blut ist nichts Besonderes, nicht mal die Blutgruppe! A negativ.«, raunzte Melina. »Allmählich habe ich diese Faxen satt!« »Irisches Temperament«, grunzte Detective Archer. »Ach, halten Sie die Klappe und helfen Sie mir! Williams ist dazu offensichtlich nicht in der Verfassung!«, fauchte Melina, da Besagter noch immer reglos blieb. Doch der Schuss fiel schneller, als Melina erwartete. Langsam sog sie die kalte Luft in ihre Lungen. Ihre Augen wanderten zum Vollmond hinauf, dann presste etwas ihr den Odem aus dem Leib. Zwei Gestalten hielten auf sie zu, während die dritte von ihr abließ und die Dunkelheit sie endlich in ihre Arme schloss. Ein dumpfes Pochen, ein Herzschlag, ein Puls. Licht – Woher? Waren die leuchtenden Sterne, die vom Himmel fielen, nicht der dunklen Vorzeichen genug? War dies ihr Ende? Das Ende von allem? Die Lider hoben sich flatternd und blinzelten sich ins Leben zurück. Das Piepen der Monitore wurde ihr unerträglich. Schmerz – wenn auch nur leicht, überfiel sie wie ein Donnergrollen. Melina wandte den Kopf zur rechten Seite. Sie presste die Lippen zusammen. Detective Williams saß an ihrem Bett, hatte auf einem der Besucherstühle Platz genommen, die Arme verschränkt und hielt die Augen geschlossen. Hypnotisch wippte er leicht nach vorn und dann wieder in die Ausgangsposition zurück. Er schien unversehrt. Das leise Quietschen der sich öffnenden Tür ließ Melina zur Pforte herübersehen. Archer erschien, mit einem Becher Kaffee in der Hand. Schweigend nickte er ihr zu und hob die Mundwinkel zu einem sparsamen Lächeln. »Wie geht es Ihnen, Miss O'Sullivan?«, fragte Archer, ohne Rücksicht auf seinen schlummernden Partner. Melina schob die Augenbrauen fragend zusammen. Sie öffnete die Lippen, doch kam nur ein krächzendes Wimmern daraus hervor. Wortlos reichte Archer ihr ein Glas Wasser. Sowie das lauwarme Nass ihre Kehle hinabrann, gelang es ihr wieder, Worte zu finden. »Sie wollen wissen, was passiert ist, hm? Und warum Sie hier, in einem Krankenhaus liegen?«, räuspernd und ächzend ließ sich der Beamte auf den Stuhl zu ihrer Linken nieder. Melina schwieg und gönnte sich einen weiteren Schluck des abgestandenen, muffig-schmeckenden Mineralwassers. Auffordernd nickte sie. »Williams«, bellte Archer und verschränkte die Arme vor der bärenhaften Brust. Dieser schreckte auf. »Sie sind ein ganz, ganz furchtbarer Mensch«, knurrte Melina. »Ah, Miss O'Sullivan«, spie Williams heiter aus. Misstrauisch beäugte Melina den Kriminologen. »Williams, ganz ruhig!«, mahnte Archer. Melinas Blick huschte von einem zum anderen. »Haben Sie schmerzen?«, fragte Williams noch immer aufgekratzt. »Das ist gut.« »Wie bitte?!«, empörte sich Melina. Archer verdrehte die Augen. »Ich hätte das Ding ohne dich durchziehen sollen, Junge.« Verwirrung zierte ihr Gesicht. Melina hievte sich auf und schlug die Decke bis zu den Knien zurück. Alles an ihr schien unverändert, bis die unbedachte Bewegung einen stechenden Schmerz in ihrem linken Oberarm hinterließ. Sie besah sich den Verband, der, für ihren Geschmack, recht fest gebunden war. »Sagen Sie mir jetzt endlich, was passiert ist? Welchen Tag haben wir? Was ist mit Mick?«, fauchte sie. »Es ist Donnerstag. Sie sind seit drei Tagen hier. Nach so einer Dröhnung ist das aber auch nicht verwunderlich, dass Sie vollkommen weggetreten sind«, hob Archer an. Melina verzog das Gesicht. »Was für eine Dröhnung? Könnten wir, bitte -« »Miss O'Sullivan«, fuhr der Beamte fort. »Michael Bobbins ist tot.« Ihr wich jegliche Farbe aus dem Gesicht. Archer zauberte eine Akte hervor und schlug diese auf. Ein Passbild prangte am oberen, rechten Rand, das mit einer Büroklammer fixiert wurde. Darauf zusehen war ein Mann um die vierzig Jahre, mit kahlrasiertem Kopf. Grimmig blickte er in die Kamera, die Kleidung, ein orangefarbener Overall, bestätigte Melina in ihrer Ahnung, dass es sich dabei um einen Gefängnisinsassen handelte. »Aber, aber, wie -?«, verdattert blinzelte Melina. »Sie, Sie haben gesagt, dass es viele Michael Bobbins gibt.« »Oh ja«, grunzte Williams. »Die gibt es wirklich. Allerdings nur einen, mit der Identifikationsnummer, die Ihr Michael Bobbins bei Macy's vorgelegt hat.« Melina schüttelte den Kopf, um ihre Ratlosigkeit zu unterstreichen. »Miss O'Sullivan. Der, der sich als Michael Bobbins ausgab, ist nicht der, den wir gefunden haben. Dieser Michael Bobbins, wurde am 07. 09. 1979 in Altoona, Pennsylvania geboren«, erklärte Archer und deutete auf den Gefangenen. »Um es kurz zu machen: Ihr Michael Bobbins ist vieles. Ein Lügner, ein Dieb, mit gestohlenem Namen, mit gestohlener Ausweisnummer. Aber ich kann Ihnen auch sagen, was er nicht ist.« Auffordernd nickte Melina in Archers Richtung. Dieser ließ ein lässiges Zucken der Augenbrauen erkennen. Eine Geste, die so viel bedeutete wie: Du hast es so gewollt, Schätzchen »Mister Bobbins ist kein Mensch, er ist ...«, begann Archer von Neuem. »Ein Vampir? Wa- Wirklich?«, spottend und fassungslos nahm Melina die Antwort auf. »Und das ist kein Scherz?« Tief sog Archer die Luft in seine Lungen. »Miss O'Sullivan, Detective Williams und ich gehören einer Gruppierung an, die sich auf das Jagen und Vernichten solcher Kreaturen spezialisiert hat.« »Was? Eine Spezialeinheit?«, schnaubend schüttelte Melina den Kopf. »Sie wollen mir also weismachen, dass die New Yorker Polizei Vampire jagt? Sie sind Kriminalbeamte, keine Vampirjäger.« »Frauen.« Archer verdrehte die Augen. »Sie wollen immer einen Beweis. Machen Sie die Binde ab! Dann haben Sie Ihren Beweis.« Melina verzog verdrießlich den Mund, tat sich und dem Beamten jedoch den Gefallen. Der Stuhl zu ihrer Rechten schabte unangenehm über das Linoleum, als sich Detective Williams erhob. Er gesellte sich neben Williams, gespannt darauf, die Reaktion der jungen Frau zu beobachten. »Vielen Dank, für Ihre Hilfe. Lernt man in Ihrer Organisation nicht den Bedürftigen, Frauen und Kindern zu helfen?«, zischte Melina und hatte endlich die Klammer gelöst, die den Mull zusammenhielt. Umständlich wickelte sie den Verband von ihrem Arm. Allmählich wurde ihr leichter ums Herz und der Druck, der auf jener Partie lastete, verringerte sich und verschwand. »Was zum?!« »Sie hatten recht, Archer«, sagte Williams und deutete auf das kleine Mal, das die Kugel auf der Haut Melinas hinterlassen hatte. »Es wird nicht einmal eine Narbe zurückbleiben, seien Sie unbesorgt.« »Unbesorgt? Sie haben auf mich geschossen!«, keuchte Melina auf. »Und was hat mich dann so aus den Schuhen gehauen?« »Das Geschoss, welches unweigerlich Bekanntschaft mit Ihnen gemacht hat, war eine Spezialanfertigung unserer Einheit und ist eigens für die Tötung von Vampiren vorgesehen. Bei Menschen bewirkt sie lediglich eine Art Trance-Zustand. Eine Benommenheit, die sich alsbald legt. Bei Ihnen jedoch, da Ihr Blut eine gewisse Magie beherbergt, sorgt es für einen etwa 72-stündigen Zustand vollkommener Ruhe«, erklärte Archer. »Sie glauben tatsächlich an diesen Quatsch, hm? Vampire, Druiden … Was ist mit Zombies? Und Werwölfe?«, schnaubte Melina. »Waren Sie schon auf Haiti?«, fragte der Detective. Melina schüttelte den Kopf. »Dort wird noch immer Voodoo betrieben. Das, was Sie aus den Filmen kennen, hat mit diesen Praktiken nicht einmal im Ansatz etwas gemein, dennoch gibt es sie. Streichen Sie also diese »Gehirne-fressenden« Fanatiker aus Ihrem Gedächtnis. Sie wissen, dass Hollywood nicht weit weg ist.« Williams schnaubte amüsiert. Melina musste diese Informationen erst einmal auf sich wirken lassen. Sie lehnte sich in dem Bett zurück und verschränkte die Arme. »Und Ihre Organisation tut was noch mal genau?« »Wir jagen Vampire«, sagte Williams wahrheitsgemäß. »Und was habe ich damit zu tun?«, fragte Melina. Erleichtert stieß Williams einen Seufzer aus. »Wie gut, dass Sie fragen -« »Williams!«, knurrte Archer warnend. Doch dann gebot er seinem Kollegen, weiterzusprechen. »Sie erzählten uns, dass Ihre Vorfahren aus Irland stammen«, doch noch ehe Melina sein Anliegen bejahen konnte, fuhr Williams fort: »Jedem Clan, jeder Familie, stand ein Druide zur Seite. Es ist unübersehbar, dass irisches Blut durch Ihre Adern fließt.« Ein leises Lachen mischte sich unter die gefallenen Worte Williams'. »Nun, diese Geschichte ist fast so alt, wie Welt selbst. Seit Vampire, eine Art blutsaugende Mutation der Menschheit, auf Erden wandeln, gab es Zauberer, so genannte Derwydd, die die Macht besaßen, jene Kreaturen zu bezwingen. Vampire und Druiden stehen also miteinander in Verbindung.« Irritiert blinzelte Melina, auch Archer schüttelte schnaubend das ergraute Haupt. »Williams«, seufzte er theatralisch. »Wenn Sie sagen, dass Druiden, also alte, irisch-gälisch-christliche Gelehrte, die Vampire bekämpfen, warum gibt es sie dann noch?« Wieder blickte Melina von einem zum anderen. »Vampire sind gerissen, und haben mit der Zeit ein Talent entwickelt, das es ihnen ermöglicht, unerkannt durch die Welt zugehen«, sagte Williams. »Sie sind gewissermaßen wahre Meister der Tarnung. Wir vermuten auch, dass sie gelernt haben, mit wenig Nahrung auszukommen, was es unseren Leuten schwerer macht, sie aufzuspüren.« »Und was ist mit den Druiden?«, hakte Melina nach. »Ihnen sind die Fähigkeiten abhanden gekommen, sich gegen diese Kreaturen zur Wehr zusetzen. Viele haben ihre Kräfte mit den Jahren eingebüßt oder gänzlich verloren. Wenn es nichts mehr zu verteidigen und zu bekämpfen gibt, bedarf es keiner Funktion mehr«, erläuterte Archer ungerührt. »Aber es gibt sie noch. Nur sind diese Hexenmeister rar gesät und haben es, ganz offensichtlich, versäumt, ihren Nachfahren die alten Praktiken beizubringen.« »Und Sie glauben, allen Ernstes, dass ich ...«, hob Melina an. »Es scheint nicht verwunderlich, dass man Ihnen nichts von Ihrem Schicksal erzählt hat. Sie stellen alles und jeden infrage. Aber das scheint ein Teil Ihrer ungestümen Persönlichkeit zu sein«, meinte Archer schulterzuckend. Melinas Wangen begannen zu glühen. »Sie wissen gar nichts über mich, oder wie es mir ergangen ist! Wenn man als Verrückte abgestempelt wird, nur weil man von Träumen verfolgt wird.« »Gut«, räumte Archer ein. »Haben Sie jetzt, nach diesem Vorfall, das Gefühl, von allem befreit zu sein? Dass sich Ihr Schicksal erfüllt hat und Sie unbeschwert Ihr kleines Leben weiterführen können?« »Unbeschwert?«, höhne Melina und sah zu dem Detective auf. »Unbeschwert, nach allem, was geschehen ist? Dass ich einen Freund, meine Chefin und beinahe meine beste Freundin verloren habe? Nein, Detective Archer, ein solches Gefühl ist mir fremd!« »Wären Sie bereit, uns zu helfen?«, fragte Williams, da ihm das Gespräch zwischen Archer und O'Sullivan heikel erschien. »Helfen, wobei?«, knurrte Melina, den wütenden Blick auf Archer gerichtet. »Dem Vampir-Problem. Uns ist bewusst, dass das eine Menge Verantwortung ist«, sagte Detective Williams. »Und natürlich sind wir um Ihr Wohl besorgt.« »Natürlich sind Sie das«, gab Melina mit unbeteiligter Miene zurück. »Sieht er das ebenso?« Mit einem knappen Nicken deutete sie auf den alten, brummigen Beamten. »Oh, Sie wären eine große Hilfe und Bereicherung für unser Team.« Williams suchte Archers Blick, der wortlos, den Mund mürrisch verzogen, seine Zustimmung gab. »Und wie nennt sich Ihre Gruppe? Special-Task-Force-Vampyre-Slayer? Oder schlicht: BUFFY?« Melinas Mundwinkel hoben sich zu einem herausfordernden Grinsen. »Oh, Sie haben also doch schon von uns gehört?«, fragte Williams. Archers Lachen hallte durch das Zimmer. »Hey, was ist eigentlich mit meinen Sachen? Also denen, die ich bei mir hatte? Und wie genau war das mit Michael? Haben Sie etwas von Evie gehört und können wir irgendwann wieder in unsere Wohnung zurück?«, hastig wichen ihr die Fragen von den Lippen. »Alles zu seiner Zeit, Miss O'Sullivan«, sagte Archer nur. Wie Melina von Detective Williams erfuhr, diente das Verletzen ihrerseits ihrem eigenen Schutz. Michael Bobbins war, wie von den Beamten, bestätigt, ein Vampir, der sich einer falschen Identität bemächtigt hatte. Alter und Herkunft ließen sich nicht bestimmen, doch dank der Tonaufnahmen Melinas, waren sie dem Meister, den Michael erwähnte, einen kleinen Schritt näher gekommen. Wie viele solcher Meister noch existent waren, konnte nicht einmal die Spezialeinheit eindeutig beziffern. Wie lang sich der Vampir, der sich Michael Bobbins nannte, bereits in New York aufhielt, war unklar. Dass diese Kreatur für die neuesten Morde, sowie jene in der Vergangenheit, verantwortlich gewesen war, ließ sich an dem Muster festmachen, das den Beamten, dank Melinas Hilfe, endlich zu einer Lösung verhalf. Die Art und Weise, wie der Täter vorgegangen war, ließ sich nicht von der Hand weisen. Bobbins selbst trug, durch sein Geständnis, dazu bei. Die Morde an Gabriella Sumners und Carla Mountgomery wurden als gelöst eingestuft. Auch wenn sich Melina unzufrieden über den Ausgang zeigte. Es gab einen Täter, nur saß dieser, dessen ID sich Mick bemächtigt hatte, bereits in Haft, und würde für die Verbrechen, die er nicht begangen hatte, auch nicht belangt werden können. So viele Frauen waren diesem Mann, über Jahrzehnte hinweg, zum Opfer gefallen. Noch immer fragte Melina nach dem Grund für die Fehde zwischen Vampiren und diesen mystischen, alten Zauberern, deren Ahnenreihe sie angehörte, doch von deren Kräften und Zauber ihr nie etwas berichtet wurde. Eine Antwort blieb ihr verwehrt. Everly und sie trennten nur zwei Etagen und sieben Zimmertüren von einander. Die Untersuchungen der Wohnung der beiden Frauen wurden, seit dem Tod Michael Bobbins, eingestellt. Somit konnten Melina und Everly, sobald es ihnen erlaubt war, das Krankenhaus zu verlassen, wieder in den Alltag zurückkehren. Lang lag Melina noch wach, als die Polizisten längst gegangen waren. Sie rief sich Archers Worte, über den Verlauf der Nacht, in Erinnerung. Als Williams auf sie zielte und ihren Oberarm traf, war Melina, gefangen in ihrem Schock, zusammengesunken. Michael ließ nur widerstrebend von ihr und raste, wie in blinder Wut getrieben, auf die Beamten zu. Die Fänge, wie Archer die spitzen Eckzähne nannte, zu einer wilden Grimasse gefletscht. Er wirkte wirr, das Loch auf seiner Stirn schien verheilt, doch das Blut klebte noch immer an ihm. Williams schoss. Ein Mal, zwei Mal und verfehlte die Bestie, die sich geradewegs auf seinen alten Partner stützte. Fünf weitere Kugeln wurden abgefeuert. Dann fiel die menschliche Hülle in sich zusammen. Qualmend und von den restlichen Kugeln durchsiebt, fing das, was einst ein schlagendes Herz besaß, Feuer und verbrannte im Verglühen der Sterne. Sie wollte nicht einschlafen. Sie weigerte sich, bei den Gedanken, die sie überkamen, auch nur an Ruhe zu denken. So schlug Melina abermals die Decke zurück, legte sich einen Pullover um die Schultern, langte nach dem Gestände des Tropfes und schlurfte mit diesem aus dem Zimmer. Zaghaft klopfte es an der Tür. Everly zog die Augenbrauen zusammen, doch als Melina den Raum betrat, hellte sich die Stimmung der jungen Frau merklich auf. Auch wenn ihr das, was geschehen war, nicht weniger Sorge und Kummer bereitete. Melina hatte das Gespräch mit ihrer besten Freundin auf einen anderen Zeitpunkt vertagt, doch dieser schien nun unweigerlich gekommen. Melina rollte ihren Tropf an das Bett heran und ließ sich auf den Platz zu Everlys Linken nieder. »Hey?«, fragte Everly, deren Stimme allmählich wieder an Kraft gewann. Noch immer waren ihr die Blessuren anzusehen. Doch die lilafarbenen Flecken schimmerten seit ein paar Tagen in einem dunklen Grün. »Hattest du auch das Hähnchen zu Mittag? Grauenhaft, ungenießbar.« Melina schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich weiß, warum du hier bist. Auch wenn du mir nicht gerade viel Zeit gelassen hast, über alles nachzudenken, Lina«, gestand Everly und vermied es, Melina anzusehen, denn das Muster auf der blütenweißen Bettdecke erschien ihr mit einem Male viel interessanter. »Ich wollte das alles nicht, wirklich, du musst mir glauben, Lina!«, brüchig wichen ihr die Worte von den Lippen. Melina schwieg und forderte stumm nach weiteren Informationen. »Wir, wir kannten uns bereits von der Uni und waren nur ein paar Mal aus«, begann Everly, räusperte sich knapp und berichtete dann weiter: »Mick hatte, für einen Jungen seines Alters, gute Manieren, war charmant, klug und belesen. So, als habe er bereits die halbe Welt bereist. Er konnte erzählen, fesselnd, fast wie ein Buch. Doch dann, irgendwann, brach der Kontakt ab und ich hörte eine ganze Weile nichts mehr von ihm. Bis vor etwa einem Jahr, da nahm er wieder Kontakt zu mir auf. Der alten Zeiten wegen, natürlich ...« Everly verdrehte die Augen. »Er sagte, er arbeite bei Macy's, und dass sie dort ständig neue Leute suchen ...« »Hast du mir deshalb die Stelle bei Macy's empfohlen?«, fragte Melina. Schwach nickte Everly. »Es tut mir so unendlich leid.« »Wusste er, wer ich bin?«, verlangte Melina zu wissen. »Nein, ich … ich habe ihm nur erzählt, dass du einen Job suchst. Und … vielleicht ist mir ein Mal herausgerutscht, dass du … dieses kleine Problem mit dem Schlafen hast, mit diesen Träumen. Ich habe es als unwichtig empfunden, Lina.« Wortlos nahm Melina das Gesagte zur Kenntnis. »Bitte, ich – Ich konnte doch nicht ahnen, dass er sich als Psychopath entpuppt.« »Das konnte wohl niemand. Ich auch nicht, Evie«, gestand Melina und Everly schenkte ihr ein kleines, bekümmertes Lächeln. »Er, er hat mir Angst gemacht, weißt du. Als du das Zimmer verlassen hast, da … ich weiß nicht mehr genau, was er tat, aber …« Tränen fielen der jungen Apothekerin von den Wangen. »Mick hat mir gedroht.« »Ich weiß, Evie«, betroffen nickte Melina. »Er war wie besessen«, erschrocken über ihre Worte, suchte Everly die Zustimmung in Melinas Augen. Stille legte sich über den Raum. Für eine Weile sprach keine der Frauen ein Wort. Nur das Ticken des kleinen Reiseweckers, den Everlys Eltern ihr mitgebracht hatten, war zu hören. »Ich darf morgen nach Hause«, sagte Melina leise und zwang ihre Lippen zu einem flüchtigen Lächeln. »Das ist gut.« Everly schluckte an dem Kloß in ihrem Hals. »Es tut mir leid, Lina.« »Ich würde jetzt gern Schwamm drüber sagen, aber das … wäre gelogen«, eröffnete Melina ihr. Schweigend nahm Everly ihre Mitschuld an. »Verzeihst du mir, irgendwann?« »Nur, wenn du mich mit diesem Zeug versorgst, das sich durch meine Adern windet«, stöhnte Melina. »Du meinst isotonisches Natrium-Chlorid? Du trinkst doch Tequila, hat das mit dem Salz nicht den selben Effekt?« Eine dunkle Augenbraue hüpfte belustigt zum brünetten Haaransatz. »Ich glaube nicht«, grübelnd tippte sich Melina mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Aber wenn du wieder rauskommst, dann gibt es eine Tequila-Party, verstanden, Fräulein?« Everlys Lachen wehte durch das Zimmer, auch wenn ihre Heiterkeit durch vereinzelte, schmerzvolle Laute Unterbrechung fand. »Und was machst du, wenn du wieder zu Hause bist?« »Den Job bei Macy's kann ich wohl vergessen«, sagte Melina und zuckte die Schultern. »Du hast dich doch sowieso nie damit wohlgefühlt. Dein Genörgel über die Kundschaft war manchmal nicht leicht zu ertragen«, räumte Everly ein. »Ich schwenke vielleicht um«, gestand Melina. »Umschwenken?« Everly neigte fragend den Kopf. »Ja«, sagte Melina knapp. »Polizeiarbeit scheint ganz witzig zu sein.« Everly ließ ein bewunderndes Nicken erkennen. »Und irgendwie muss ich doch meine Miete bezahlen.« Ihren Worten folgte ein Zwinkern. »Du weißt, dass du das nicht brauchst, da diese Wohnung sowieso mir gehört und du nur die Hälfte der nicht benötigten Miete zahlst, weil du dir nichts zu Schulden kommen lassen willst.« Everly verdrehte die Augen. Melina kicherte, jedoch musste sie sich mit einer neuen Zukunft arrangieren, die ihr Leben von Grund auf verändern würde. Epilog: Epilog -------------- Ein Tropfen rann das alte, metallene Rohr hinab und landete sanft, jedoch stetig, in der Pfütze, die sich bereits seit längerem dort gebildet hatte. Ein Lied, ein Rhythmus, doch ließ es die Atmosphäre nicht zu, diesem Reigen zu lauschen, da Schreie der Qual, Laute der Pein die feuchte, schmutzige Luft erfüllten. Orangefarbenes Licht, das von einer einzelnen Glühbirne herrührte, flackerte im plötzlich aufkommenden Hauch des Windes. »Mikael hat versagt, Herr.« Eine dunkle Gestalt tauchte aus den Schatten auf und fiel vor seinem Gebieter auf die Knie. »Das hat er. Es ist bedauerlich, dass wir uns all die Jahre mit ihm abmühen mussten.«, kratzend und krächzend war die Antwort, die aus der Finsternis erklang. »Was sollen wir tun, Herr? Die Druidin konnte entkommen. Und diese schmutzigen Polizisten -«, der Fremde spie jene Worte aus, als seien sie ihm wie Gift im Mund. »Was ihr tun sollt, fragst du?« Kalte, bleiche Finger, krallten sich um die Armlehnen des Thrones, dessen Sockel einst aus den Gebeinen seiner Feinde geformt worden war. »Findet sie! Sie, und die anderen. Bringt sie mir, alle! Aber lasst sie leben. Wir wollen unsere Rache genießen und so lang von ihnen kosten, bis der letzte Tropfen ihre armseligen Leiber verlässt.« »Ja, Herr.« Der lederne Mantel bauschte hinter dem Fremden auf, als dieser mit schnellen Schritten seinen Gebieter verließ. Die U-Bahn näherte sich ratternd, doch der Zug rauschte durch die für seine Zwecke geschaffenen Gänge und trennte den Fremden vom Rest der menschlichen Welt. Die Zeit der Auferstehung war gekommen. Sein Herr, seine Brüder und Schwestern - Sie alle würden sich erheben und an der Vielfalt des Angebotes laben, das sich ihnen so unwissend darbot. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)