Kein Ausweg - Wenn dir nicht einmal mehr die Sterne leuchten von irish_shamrock (Winterwichteln 2018) ================================================================================ Kapitel 7: 7 ------------ Eine merkwürdige Stille hatte sich über den Raum gelegt, als Melina ins Patientenzimmer zurückkehrte. Flüsternd berichtete Michael, dass Everly vor Erschöpfung, während er ihr vom stressigen Tag bei Macy's erzählte, einfach die Augen zugefallen seien. Wieder trat sie an das Bett heran und haschte nach den klammen Fingern. Ihr Blick wanderte zu dem Monitor, doch es war keine Veränderung ersichtlich. »Mick, ich -«, begann Melina, hielt den Fokus jedoch ganz auf Everly. »Ich werde heute Nacht hierbleiben.« »Ist okay«, gab dieser knapp zurück. »Wirklich, Mel, ich nehme dir deine Flucht heute Morgen nicht übel.« »Ich bin – das war keine Flucht«, versuchte Melina zu vertuschen, doch Michaels Gesicht sprach Bände. »Ich verstehe, dass du, nach all dem, was gestern geschehen ist, durch den Wind bist. Das ist wirklich nicht verwunderlich.« Dass er sich einsichtig und verständnisvoll zeigte, entkräftete ihr das mulmige Gefühl. »Danke«, keuchte Melina leise, trat auf ihn zu und schloss Mick in die Arme. »Danke, dass du da warst und für dein Verständnis.« »Kein Problem, Mel. Auch wenn der Umgang mit dir nicht immer einfach ist, ich bin für dich da«, liebevoll tätschelte er ihr den Rücken. »Ich kann bleiben, wenn du möchtest?« Dass ihr ein Ruck durch den Körper ging, versuchte Melina mit einem schniefenden Laut zu überspielen. »Das ist wirklich lieb, aber … ich denke, dass ich mich erst einmal allein um Everly kümmern kann. Sollte ich jedoch deine Hilfe brauchen, melde ich mich.« Knapp glitt sein Blick über sie, doch dann ließ Michael von ihr ab. Fahrig griff er nach seiner Jacke, schlüpfte in diese hinein. »Ich komme morgen wieder, wenn ich darf?« »Aber natürlich«, verwirrt lachte Melina auf. Michael betrachtete erst Melina, dann sah er zu Everly herüber, ehe er die Lippen hart aufeinander presste und das Zimmer verließ. Erleichtert keuchte Melina auf. Als die neue Nachtschwester erschien, wollte sich Melina zu Erklärungen über ihr Bleiben hinreißen lassen, doch Sandy, wie Melina die junge, gerade erst examinierte Krankenschwester nennen durfte, winkte ab. »Irine ist meine Tante«, klärte sie die verdutzt blinzelnde Melina auf. »Sie hat mir alles berichtet.« »Ärztliche Schweigepflicht?« Melinas Augenbraue hob sich skeptisch. »Krankenblatt«, grinste Sandy und klopfe auf das Plastikbrett, auf dem die Unterlagen mit einem Klipp angebracht waren. »Keine Panik, Miss. Sie dürfen bleiben, allerdings haben wir kein Bett für Sie.« Melina schüttelte den Kopf. »Kein Problem, ich nehme den Stuhl.« »Oder die andere Hälfte des Bettes.« Beim Klang jener schwachen Worte, waren die Blicke der Frauen sofort auf Everly gerichtet. »Ist Mick weg? Wie spät ist es?« »Zwanzig Uhr siebenundfünfzig«, murmelte Melina. »Oh, so spät schon?«, heiser war ihr die Stimme. »Halt lieber die Klappe, Hughes!«, schnaubte Melina. »Du sollst dich schonen.« »Sind Ihre Eltern informiert?«, wandte sich Sandy an Everly. »Ich habe sie angerufen. Sie wohnen in Riverdale«, gestand Melina und bemerkte, wie Sandy fragend den Kopf schief legte. »New Jersey.« »Aha, dann haben sie es ja nicht weit. Die paar Meilen.« Wieder winkte Sandy ab und wandte sich zum Gehen. »Sollten Sie etwas brauchen, klingeln Sie ruhig.« »Vielen Dank.« Mit einem letzten Lächeln in Richtung Nachtschwester, ließ sich Melina wieder an Everlys Seite nieder. Melina war versucht, wach zu bleiben, doch die letzten Tage hatten sie beinahe restlos aufgezehrt. Everly schlief, hatte sich ein paar Tropfen mehr des Schmerzmittels genommen, während Melina, mit dem Kopf auf den verschränkten Armen, es sich an der Herzseite ihrer Freundin, mehr schlecht als recht, gemütlich machte. Die Augenlider wurden ihr schwer, und auch wenn der Besuch der Schwester erst eine Viertelstunde her sein mochte, kam ihr dies wie eine halbe Ewigkeit vor. Gedanken rasten ihr durch den Kopf, krampften ihr das Herz. Sie brauchte Ruhe, und diese nun mehr denn je. Noch wehrte sie sich vehement gegen das übermächtige Gefühl, doch einen Ausweg gab es nicht. Der Puls hämmerte ihr in den Ohren, das Blut rauschte ihr durch den zitternden Leib. Ihre Schritte hallten auf dem nassen Asphalt wider, während sie über Pfützen hinweg sprang und um ihr Leben kämpfte. Ihr Verfolger war ihr dicht auf den Fersen. Er war schnell, übermenschlich, hatte nichts Natürliches, nichts Humanes mehr an sich. Sie spürte seinen fauligen Atem im Nacken. Er wollte sie – wollte ihr Blut, ihr Leben. Sie hob den Blick. Diese Jagd war anders, als die vorherigen. Der Mond, so voll, als sende er sein Licht in die finstersten Ecken. Sterne, hoch über ihr, erhellten das Dunkel, flimmerten, flackerten, begleiteten den Vater der Nacht. Sie leuchteten und erlöschen, flitzten über den nächtlichen Himmel, als wären auch sie Beute. Zitternd presste sie ein letztes Mal noch die Luft in ihre Lungen, ehe sie sich dem Unvermeidbaren stellte. »Lina!« Everlys Stimme drang an ihre Ohren, klar, deutlich und ließ nichts von Schwäche erkennen. Ihr schmerzten die Knochen, auch der Kopf pochte ihr. »Lina!«, rief Everly alarmiert. Erschrocken fuhr Melina aus dem Traum auf, doch die Perspektive, die sich ihr bot, war anders. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt! Mach' das nie, nie wieder, hörst du!« Everlys Versuch, ihr böse zu sein, verlor sich in den krächzenden Lauten, die diese von sich gab. »Mein Kopf, verfick- Wo bin ich?« Melina setzte sich auf und hielt sich die Stirn. »Auf dem Fußboden in meinem Zimmer«, krähte Everly. »Das ist nicht dein Zimmer«, knirschte Melina. »Ich bin im Krankenhaus, Dummchen. Und jetzt schwing' deinen Hintern vom Boden auf den Stuhl!« Everlys Blick ließ jedoch mehr Sorge, als Zorn erkennen. Mühselig hievte sich Melina auf ihren Platz zurück. »Was hast du gesehen?«, verlangte Everly zu wissen. »Jetzt guckt nicht so. Ich habe allen Grund dazu, zu erfahren, was da vor sich geht, wenn du hier schon so einen Radau veranstaltest. Du kannst froh sein, dass ich nicht nach der Schwester geklingelt habe!« Ein Stöhnen entfloh Melinas Lippen. »Ich warte«, krächzte Everly erneut. »Sterne«, gab Melina zerknirscht zur Antwort. »Ja, kann ich mir denken. Du bist immerhin vom Bett gefallen«, murrte die Patientin. »Nein, Evie, ich meine Sterne. Richtige Sterne. Sternschnuppen, und … den Vollmond«, gestand Melina. »Oh.« Everlys Augen wurden groß. »Das … das ist neu, hm? Das mit den Sternen und so?« Schwach, aber wahrheitsgetreu bejahte Melina. »Sonst war alles dunkel, keine funkelnden, blinkenden Lichter, kein Mond, nie.« »Lina, wenn ich dir helfen kann, irgendwie ...«, hob Everly an, doch Melina schenkte ihr ein knappes Lächeln. »Werd' schnell wieder gesund, Evie. Ich kann die Miete schließlich nicht allein bezahlen!« Ein leises, aber befreites Lachen erhellte in der Nacht. Ungern ließ Melina ihre Freundin allein zurück. Doch als Everlys Eltern ins Zimmer stürmten, war ihr dies Anlass genug, Everly - und sich selbst, eine Pause zu gönnen. Bis zum Nachmittag, und einer erneuten Begegnung mit Michael, blieb ihr noch genügend Zeit. Und diese würde Melina nutzen, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Ihre Füße trugen sie wieder nach Park Row. Sie begrüßte die alte Empfangsdame und wollte sich gerade den Treppen zuwenden, als man sie erfolgreich davon abhielt. »Miss O'Sullivan.« Detective Archer und Williams fingen sie gerade noch rechtzeitig ab. Die Begrüßung fiel jedoch kühl und knapp aus. Etwas war im Busch, das spürte Melina. Sie folgte den Männern, doch dieses Mal waren sie fernab von Archiv oder Verhörraum. Nicht einmal das Büro der Beamten wurde angesteuert, stattdessen führte man Melina in die tiefen Gefilde der Keller. »Doktor Townsend wird sich freuen, Sie noch lebendig zu sehen«, ließ Williams verlauten. Melina tauschte einen Blick mit Archer, doch dessen Miene blieb, wie sooft, ausdruckslos. »Was ist passiert?«, verlangte Melina zu wissen, doch die Beamten schwiegen. Der Bereich der Pathologie war so, wie Melina es erwartet hatte: Kalter Stahl, geflieste Wände, die Räume, beinahe wie ein Schaukasten aufgebaut, um den Studenten das Sezieren toter Körper zu lehren. Archer klopfte gegen eine Glasscheibe. Dahinter erkannte Melina Doktor Townsend, die mit der Pflege und Wartung des Besteckes beschäftigt schien. Ihr freundliches Lachen wirkte, in dieser Umgebung, ein wenig befremdlich und fehl am Platze. Christina Townsend verließ den, wie ein Operationssaal aufgebauten, Raum und zupfte sich die Nitrilhandschuhe von den Fingern, die eiligst in einem Müllbehälter landeten. Sie wusch sich die Hände, ehe sie auf den Gang zu den Ermittlern und der Zivilistin hinaus trat. »Kollegen.« Doktor Townsend nickte Archer und Williams zu. »Miss O'Sullivan.« Wieder hoben sich ihre Lippen zu einem Lächeln. »Ich bin froh, Sie zu sehen.« Melina tauschte einen Blick mit Williams, der grinsend mit den Schultern zuckte. »Wir haben Neuigkeiten, Miss O'Sullivan«, sagte die Pathologin und bedeutete der kleinen Gruppe, ihr zu folgen. Schwer schluckte Melina an dem Brocken, der sich, bei diesem Anblick, in ihrer Kehle verbarrikadierte. Die Leichenhalle, wie Doktor Townsend, überflüssiger Weise, erklärte. Es war kalt, unangenehm, und der Geruch verursachte ihr ein Gefühl der Übelkeit, obwohl nichts an Chemie oder Verwesung erinnerte. »Bevor wir die Toten an die Bestattungshäuser übergeben, werden sie hier aufbewahrt.« Fachmännisch verwies die Ärztin auf die großen Kühlschränke, die an einer Wand aufgereiht standen. »Diese guten Kollegen waren nicht billig, aber wir können bis zu sechsundsiebzig Körper einlagern, das war den Preis allemal wert!« »Sie sind mir ein bisschen blass um die Nase, Miss O'Sullivan«, bemerkte Archer mit einem leicht spöttischen Schnauben. »Ach ja? Ist mir gar nicht aufgefallen?« Zitternd rang Melina nach Luft und spürte ihren Magen rumoren. »Wir sind gleich fertig, Miss O'Sullivan«, versuchte Doktor Townsend die Situation ein wenig zu mildern. Dass diese nun zielstrebig auf einen der großen Kühlschränke zuhielt, machte Melina diesen Moment nicht erträglicher. Ein eisiger Hauch schlug der Ärztin entgegen, ehe sie nach einer der Schubladen griff und diese, mit einem ratschenden Laut, aufzog. Kälteschwaden umhüllten den toten Körper, der nun zum Vorschein kam. »O'Sullivan, wollen Sie rausgehen?«, bellte Archer und amüsierte sich scheinbar so prächtig über das Leiden der jungen Frau, dass ihm die Höflichkeit für einen kurzen Moment abhanden kam. »Miss Sumners«, sagte Doktor Townsend. Die Beamten traten näher, doch Melina musste sich wahrlich zwingen, es ihnen gleichzutun. Da lag sie, auf dem kalten Stahl, noch immer vom leichten Dampf der Minusgrade umgeben. »Warum? Warum zeigen Sie uns das?«, verlangte Melina mit schwacher Stimme zu wissen. »Weil unser Täter scheinbar eine Vorliebe für Oberschenkel hegt«, berichtete die Ärztin reserviert und nüchtern. »Wie meinen Sie das, Doktor?«, fragte Williams und zuckte zusammen, als Gabriella Sumners wieder in den kalten Tiefen des Schrankes verschwand. »Kommen Sie, lassen Sie uns an einen wärmeren Ort gehen.« So schritt Doktor Townsend voran, während sich Melina sputete, nicht die Letzte im Raum zu sein. »Keine Angst, wir vergessen Sie schon nicht«, lachte Archer auf. Ihr war noch immer unwohl, selbst dann noch, als sich die Vier im Büro der Ärztin zusammendrängten. Die Einrichtung war, wie Doktor Townsend selbst, nüchtern und sehr spartanisch. »Keiner kommt freiwillig hierher, und wenn, dann nur, wenn er entweder bereits tot ist, oder etwas über einen Toten zu wissen wünscht.« Mit diesen Worten ließ sie sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. Mechanisch nickte das Trio den Ausspruch ab. »Sie sind mir ja ein paar schöne Detectives«, hob die Ärztin an. »Wie dem auch sei, wir haben etwas herausgefunden. Meine Herren, Miss O'Sullivan, bitte.« Freundlicher Weise wies Doktor Townsend auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch. Es waren genau drei. Schweigend nahmen die Anwesenden Platz. Archer war der erste, der einen schmalen Ordner vorlegte. Dieser war Melina abermals völlig entgangen. Mit bunten Fähnchen waren einzelne Seiten markiert. »Seit unserem letzten Zusammentreffen«, begann er und räusperte sich, »sind uns mehr und mehr Indizien aufgefallen, die sich, wie ein Muster, durch die Jahre ziehen.« »Ein Muster?«, hakte Melina nach und reckte den Hals, um einen Blick auf die Dokumente werfen zu können. »Erst schien es, als suche der Täter seine Opfer wahllos aus«, fuhr Williams seinem Kollegen dazwischen. »Meist waren es junge Frauen. Unauffällig. Nicht besonders hübsch, und auch nicht sonderlich gebildet. Ab und zu vielleicht dann doch mal eine Ausnahme. Allerdings waren die Morde zu Beginn nicht sonderlich gut vertuscht.« »Mit zunehmendem Fortschritt, sei es in der Medizin, oder der Kriminologie, musste sich unser Freund jedoch ein paar Raffinessen einfallen lassen«, sagte Doktor Townsend. »Ich verstehe wieder einmal kein Wort«, seufzte Melina. »Alle neun Jahre, so scheint es«, hob Archer ein weiteres Mal an, »geht etwas in ihm durch. Dass Menschen verschwinden, ist eine Tatsache, die nicht abzustreiten ist. Ganz egal, wo auf der Welt, doch das, was hier vor unseren Augen geschieht, grenzt beinahe schon an Perfidi. Wir werden verhöhnt.« »Also geht es hier um verletzten Polizeistolz?« Melina schüttelte den Kopf. »Ich bitte Sie!« »Miss O'Sullivan, um es kurz zu machen: Diese Tat, so, wie sie in aller Grausamkeit stattfand, ereignet sich in einem neun Jahresrhythmus hier bei uns. Der Zeitungsartikel -«, Archer schlug die Mappe auf und verwies auf eine Kopie des Artikels, »ist von 1929. Um 1938 wurde ebenfalls eine junge Frau ermordet und auf bestialische Weise derart verstümmelt, dass weitere Untersuchungen es den Kollegen unmöglich machten, diese nach blutleeren Überresten zu untersuchen. Und das Muster zieht sich fort. 1947, 1956, 1965.« Während Archer sprach, verwies ein Fähnchen nach dem anderen auf die Taten, deren Ähnlichkeiten nun nicht länger abzustreiten waren. »1974, 1983, 1992, 2001, 2010, 2019.« Bei der letzten Zahl schluckte Melina und krächzte röchelnd nach Luft. Unweigerlich huschte ihr Blick durch den Raum, auf der Suche nach einem Kalender, doch Doktor Townsend war schneller. »Hier, Liebes«, sagte sie und Melina bemerkte das unschöne, peinliche Brennen auf den Wangen. »Das heißt, es ist vorbei? Wir haben 2019. In wenigen Tagen ist Silvester, dann wäre doch bestimmt erst einmal Schluss damit, oder?« Melina suchte eiligst die Blicke der Polizisten, doch niemand gab ihr eine Antwort. »Er mordet nur ein einziges Mal, das aber in einem Abstand von neun Jahren«, warf Detective Williams ein. »Hinzu kommt«, Doktor Townsend erhob sich aus ihrem Drehstuhl, »dass der Täter zwar clever und raffiniert vorgeht, allerdings weisen seine Methoden auch eine gewisse Schludrigkeit auf. Er hegt eine Vorliebe für Schenkel, wie ich Ihnen bereits berichtet habe. Dies schließt jedoch nicht aus, dass er nicht auch andere Stellen bevorzugt. Es sind solche, an denen das meiste Blut durch den Körper fließt.« »Wie den Hals?«, fragte Melina und erntete ein schwaches Nicken seitens der Ärztin. »Es war ihm bisher immer gelungen, die Mädchen entweder so zu massakrieren, dass ihre Identität nicht geklärt werden konnte, oder er legte falsche Spuren. So viel zur Cleverness«, seuzte die Ärztin. »Und da diese Taten in einem großen Abstand geschahen, sahen wir auch keine große Veranlassung, all dem nachzugehen«, murrte Detective Archer. »Da musste erst diese kleine Irin mit der Visitenkarte auftauchen.« »Hey, ich bin Amerikanerin!«, fauchte Melina verteidigend. »So viel zur Schlampigkeit des Täters«, merkte Doktor Townsend an. »Nicht unbedingt«, erhob Williams das Wort. »Sie hat etwas damit zu tun.« »Ich kann Sie hören, Williams, denn ich sitze genau neben Ihnen«, knurrte Melina, während sich Archers Lippen zu einem Grinsen bogen. Dann schreckte Melina auf und alle anwesenden fuhren vor Schreck zusammen. »Tun Sie das nie wieder, O'Sullivan!«, herrschte die Ärztin und griff sich ans Herz. »Es, es tut mir leid, aber … ich ...«, haspelte Melina und wühlte in der Hosentasche ihrer Jeans nach dem Zettel. »Was ist das?«, verlangte Williams zu wissen. »Ein Zettel, Williams, das sieht man doch«, schnaubte Archer. Melina faltete das Schriftstück ordentlich auseinander und platzierte es inmitten des Tisches. »Ich glaube es ja nicht! Wo haben Sie das her, Miss O'Sullivan?«, verlangte der ältere Beamte zu wissen und Melina spürte ihr schlagendes Herz, das ihr den Hals hinaufkroch. Die Worte Archers konnte sie kaum verstehen, so schnell bellte er in den Hörer des Telefons. Doktor Townsend hatte sich wieder in den Drehstuhl sinken lassen und betrachtete den Kollegen, wie dieser nach Informationen über Michael Bobbins verlangte. Williams wurde damit betraut, die Notiz an die Graphologie-Abteilung weiterzureichen, und das so schnell wie möglich. »Wurden denn keine Fingerabdrücke bei Miss Sumners gefunden?« Dass sie erst jetzt diese Frage stellte, war Melina ein wenig peinlich. »Kein Einziger, Miss O'Sullivan«, erklärte die Ärztin. »Die Gute war sauber. Ich sagte es bereits, unser Täter ist ziemlich schlau.« Melina erschauderte. »Glauben Sie, er begann damit, die Indizien zu manipulieren, als man um 1929 herum, die blutleere Leiche fand?« »Schon möglich«, räumte Doktor Townsend ein, ließ jedoch nur ein schwaches Zucken der Schultern erkennen. Wieder gruben sich ihre Zähne in die Unterlippe. Michael Bobbins, ihr Kollege und guter Freund sollte tatsächlich der einzig Verdächtige sein, die einzige Spur, die den Beamten zur Verfügung stand? »Erzählen Sie uns etwas über Mister Bobbins!«, verlangte Archer, nachdem er das Telefonat beendet hatte. Nun war es an Melina, mit den Schultern zu zucken. »Ich kenne ihn erst, seit dem ich bei Macy's arbeite. Er arbeitet, wie ich, in der Schmuckabteilung.« »Ziemlich seltsame Berufswahl, für einen Mann, der scheinbar eine Menge Interesse an Ihnen hat«, murrte Archer und Doktor Townsend lauschte dem Ping-Pong-Spiel, das sich vor ihren Augen auftat. »Er ist ein guter Verkäufer, aber meistens hält er sich im Hintergrund und poliert den Schmuck«, erklärte Melina bereitwillig. »Wenn Sie auf die paar Dates hinauswollen, die ich mit ihm hatte, dann muss ich Ihnen leider mitteilen, Detective, dass ich ihm stets freundlich aber bestimmend zu verstehen gab, dass sich mein Interesse nur auf unsere Freundschaft besinnt.« »Und das hat er ihnen, natürlich und ganz der Gentleman, abgenommen?«, dass Archer so tief bohrte, gefiel Melina nicht. »Detective Archer«, hob diese an. »Miss O'Sullivan, vielleicht ist es Ihnen, in all der Aufregung der vergangenen Tage, nicht aufgefallen, doch ich habe, in all meinen Dienstjahren, schon die eine oder andere unerfüllte Liebe zu Gesicht bekommen. Und Bobbins ist ein Paradebeispiel für einen verschmähten Liebhaber, der sich an jedes Ihrer Worte, an jede Geste klammert, wie ein Ertrinkender an einem Floß«, erklärte Archer ruhig. Melina blieb der Mund offen stehen. »Im Übrigen, Miss O'Sullivan, haben auch die Spuren in Ihrer Wohnung bisher zu keinem Ergebnis geführt. Leider konnten wir noch nicht feststellen, ob etwas entwendet wurde, geschweige denn, Miss Hughes zum Tathergang befragen.« Archer erhob sich. »Das, was gesehen ist, tut mir sehr leid, Miss O'Sullivan. Denken Sie nicht von mir, dass ich ein herzloses Arschloch bin.« Doktor Townsend grunzte auf seine gefallenen Worte hin, doch Archer ließ sich nicht beirren. »Ich bin ein Arschloch, aber nicht herzlos. Doch auch in Ihrer Wohnung ließen sich keine Fingerabdrücke finden. Was sagen Sie jetzt, Miss O'Sullivan? Auch von der Tatwaffe fehlt jede Spur. Zwar weisen die Kratzer an der Tür auf einen typischen Einbruch hin, doch wir hegen den Verdacht, dass diese schnell, und vor allem erst nach der Tat, dort angebracht wurden.« Melina starrte Wortlos zu dem Mann auf. »Alles spricht dafür, dass Miss Hughes den Täter kannte. Nun ist meine Frage an Sie: Sind Miss Hughes und Mister Bobbins einander bekannt?« Ein knappes Kopfnicken bestätigte Archer in seinem Verdacht. »Kennen sich die beiden bereits länger?« »Ich, ich weiß es nicht, Detective. Nein, ich … ich glaube nicht«, murmelte Melina. »Als ich Evie Mick vorstellte, war es, als würden sich zwei Fremde zum ersten Mal begegnen.« Archers Blick verriet, dass Melinas Aussage ihn nicht zufriedenstellte. »Aber, gestern, im … im Krankenhaus«, fuhr sie fort und hielt, in ihren Erinnerungen gefangen, inne. »Reden Sie weiter!«, forderte Archer, während Doktor Townsend das Gespräch mit Interesse verfolgte. »Evies Verhalten war plötzlich so seltsam und auch ich hatte ein Gefühl, als wäre etwas aus den Fugen geraten, sobald Mick im Raum stand. Als ich nur kurz auf die Toilette ging, und wiederkam, da schien Evie eingeschlafen zu sein, doch Michael, er - er benahm sich nicht weniger eigenartig. Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen«, wimmerte Melina. Doktor Townsend erhob sich, ging um ihren Schreibtisch herum zu dem einzigen Schränkchen, das neben dem anderen Mobiliar den kleinen Raum füllte, zog eine der Türen auf und holte drei Gläser, sowie eine Flasche Scotch hervor. Sie goss jedem von ihnen zwei Fingerbreit ein und reichte Melina den Tumbler. »Hier, Schätzen. Immer runter damit!« »Scotch?« Verblüffung zierte Archers Miene. »Was glauben Sie wohl, wie ich diese ganzen Toten sonst aushalte?«, schnaubte die Ärztin. »Wehe, Sie verpetzen mich, Archer, dann sehen wir uns beide in der Leichenhalle wieder und dann will ich sehen, wer von uns beiden zuerst aus dem Schubfach gezogen wird.« Doktor Townsends Humor ließ Melina ins Glas prusten. Als Williams endlich wieder in die Kellerräume zurückkehrte, offenbarte sich ihm ein Bild des kaum Fassbaren: Archer, Townsend und O'Sullivan lachten aus vollem Halse, doch der Grund für ihre Heiterkeit erschloss sich ihm nicht. Auf dem kleinen Schreibtisch der Ärztin verweilten drei Gefäße, sowie eine halbleere Flasche TAMDHU. »Archer«, knurrte Williams. »Wir haben ein Ergebnis.« Abrupt verebbte das Gelächter, nicht einmal ein Beben war noch zu bemerken. »Jetzt spucken Sie es doch endlich aus!«, verlangte Doktor Townsend, deren leuchtend rote Wangen ihr ein jüngeres Erscheinungsbild verliehen. »Die Schriftproben sind identisch«, erklärte Detective Williams. »Wir konnten auch zwei Fingerabdrücke nehmen.« Melina spürte den Blick des Beamten auf sich und zog den Kopf ein. »Ihre Fingerabdrücke haben wir selbstverständlich außer Acht gelassen, Miss.« »Ich gratuliere, Williams, endlich eine Spur!«, grölte Archer ungewohnt feierlich. »Allerdings«, fuhr Williams fort, »tritt der Name Michael Bobbins recht häufig in Erscheinung und zu unserem Missfallen sind die Fingerabdrücke von dem Mister Michael Bobbins, nach dem wir fahnden, in keiner Datenbank vorhanden. Weder in unserer, noch in denen der Nachbarstaaten.« »Und was heißt das?«, verlangte Melina, nun hellhörig geworden, zu wissen. »Dass Ihr Michael Bobbins nicht auffindbar ist, Miss O'Sullivan«, knurrte Archer. »Er ist ein Geist.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)