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Kein Ausweg - Wenn dir nicht einmal mehr die Sterne leuchten

Winterwichteln 2018
von

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6

Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht davon. Vor dem Haus hatten sich die Nachbarn versammelt. Jene, mit denen die Frauen in gutem Kontakt standen, beteuerten Melina, wie leid ihnen die Situation täte.

Noch immer schlugen ihr die Zähne klappernd aufeinander. Mitfühlende Blick, liebevolle Gesten, doch nichts konnte über den Schrecken hinweghelfen, der ihr den Körper beben ließ.

Blut – So viel Blut.

»Miss O'Sullivan.« Melina hob den Kopf und erblickte, zu ihrer Erleichterung, ein bekanntes Gesicht. Detective Archer trat an sie heran, während seine Kollegen, die Melina völlig unbekannt waren, einen stummen Gruß in ihre Richtung schickten und sich von Peter Dwight, ihrem direkten Nachbarn, hinauf zur Wohnung bringen ließen, um Spuren zu sichern.

»Was ist passiert?«, fragte Archer und bemerkte sofort, dass die Frau vor sich, einem Nervenzusammenbruch nahestand.

»Mel? Mel, ich bin da, keine Sorge.« Michael Bobbins hielt auf sie zu. Sowie Mick vor ihr stand, sank sie ihm in die Arme und entließ all die Anspannung in einem herzzerreißenden Schrei.

»Und Sie sind?« Archers Blick ging prüfend über den jungen Mann, der sich ihm als guten Freund und Arbeitskollegen Melinas vorstellte. Dieser hatte ganz offensichtlich Mühe, das Gleichgewicht zuhalten, doch etwas, in den Augen des Mannes verriet Archer sofort, dass diesem die Situation nicht unangenehm war.

»Bobbins?« Archers buschige Augenbraue hob sich gen Norden und er nahm sich vor, diesen Namen im Hinterkopf zu behalten.

»Dein Anruf kam so überraschend. Was ist passiert?«, fragte Michael mitfühlend und Melina gab ihm, mit schwacher Stimme, Antwort. Archer spitzte die Ohren, tat jedoch, als würde er die Umgebung inspizieren.

»Ich, ich weiß es nicht. Ich kam vorhin nach Hause und bemerkte Kratzer an unserer Wohnungstür. Ich rief Evie, doch sie meldete sich nicht. Irgendetwas versperrte mir den Zugang zur Wohnung, und als ich endlich in den Flur trat, da lag Evie auf dem Boden. Blut ...«, krächzte Melina. »Überall.«

»Miss O'Sullivan, leider werden wir Ihre Wohnung bis auf Weiteres nicht freigeben können. Sie dürfen das Nötigste herausholen, doch bleibt Ihre Wohnung, nach bisherigem Kenntnisstand, ein Tatort. Können Sie irgendwo unterkommen?« Archers Stimme war rational und routiniert. Er musterte das Gespann vor sich, jedoch lag sein Fokus nicht auf Miss O'Sullivan, sondern auf ihrem Freund und dessen weiteres Handeln.

»Sie kann bei mir bleiben. Hörst du, Mel? Du darfst gern ein paar Tage zu mir ziehen, ich schlafe auf der Couch«, bot sich Michael an.

»Dann wissen Sie ja, wo Sie unterkommen können«, schloss Detective Archer.

»Ich, ich muss zu Evie«, stotterte Melina und sah sich suchend nach dem Hauseingang um.

»Morgen Mel, morgen früh fahren wir ins Krankenhaus.« Bobbins sprach ruhig auf sie ein, doch Melina wandte den Kopf.

»Nein«, widersprach sie und stemmte sich plötzlich stur gegen die schützende Umarmung. Sie entwand sich seinen Armen und suchte Archers Blick.

Dieser zuckte die Schultern und begleitete die junge Frau zur Wohnung hinauf.
 

Gern hätte Archer das Wort an sie gerichtet, stattdessen verfiel er in Schweigen, als er Melina, und deren Freund, im Wagen, quer durch New York, zum Lenox Health, nach Greenwich Village, chauffierte.

Rasch hatte sie ein paar ihrer Habseligkeiten in eine Tasche geworfen und noch in aller Eile eine weitere für ihre Mitbewohnerin gepackt. Es war beängstigend und erstaunlich zugleich, wie funktional ein Mensch in Krisenzeiten werden konnte. Leider ließ sich diese Tatsache nicht pauschalisieren. Andere wären in Apathie verfallen, Melina O'Sullivan besaß jedoch die Kühnheit, den Kollegen entgegen zu treten und diese aus dem Schlafzimmer ihrer Freundin zu verbannen.

»Sie stellen hier sowieso alles auf den Kopf, aber jetzt bitte ich Sie, nur für fünf Minuten, unsere Privatsphäre zu respektieren!« Ihre Worte hinterließen Eindruck, sodass sich die Beamten auf dem Flur zusammenpferchten.

Obschon die Erschöpfung an ihr nagte, behielt Melina die Augen offen. Sie hatte den Kopf an Michaels Schulter gelegt und sah die Lichter der Stadt an sich vorüberziehen. Im Rückspiegel betrachtete Archer den jungen Mann, dessen mausbraune Haare ihm bis auf die Schultern reichten. Er war kein Sportass, dass hatten ihm Händedruck und Körperspannung verraten. Ein Kollege? Ein guter Freund? Möglich, doch irgendetwas war seltsam an diesem Kerl. Vielleicht war es die Art, wie er mit O'Sullivan umging. Beschützend, umsorgend, dennoch störte ihn etwas. Die Augen, die bewundernd, fast flehend um ihre Anerkennung buhlten. Oder doch die distanzierte Umarmung, von der sich Bobbins womöglich mehr erhoffte, sich jedoch zur Zurückhaltung zwang?

Archer lenkte den Mercedes auf den Parkplatz, der den Besuchern vorbehalten war. Das weiße Gebäude wirkte freundlich, sollte den Patienten ein gutes Gefühl vermitteln und Hilfe versprechen. Archer ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Er langte nach der tiefroten Reisetasche, doch schon war Melina an seiner Seite und griff nach dem grauen Zwilling.

»Ich werde hierbleiben«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage, die ihm auf den Lippen lag.

»Aber -«, protestierte ihre Begleitung. Melina ignorierte Michaels Einwand und reichte Archer dankend die Hand zum Abschied.

»Melden Sie sich, wenn es Ihnen besser geht, Miss O'Sullivan«, sagte Archer und nickte Bobbins zu.

»Das werde ich, vielen Dank, Detective. Und grüßen Sie Williams von mir.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und steuerte den Eingang des Krankenhauses an. Erst blieb Mick sprachlos zurück, dann spurtete er ihr hinterher. Archer schüttelte den Kopf, stieg ins Auto und fuhr davon.
 

Zu Melinas Missfallen, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie an Informationen gelangte, die Everlys Zustand beschrieben. Die Frau am Empfang riet ihnen, am nächsten Tag wiederzukommen, doch Melina blieb beharrlich.

»Auf der Intensivstation?«, entlockte sie der Dame, die mit zerknirschter Miene bejahte.

Mit einem knappen Kopfnicken bedeutete sie Mick, sich an der Tafel zu orientieren.

»Miss, Sie dürfen nicht -«, rief man ihnen nach, doch Melina ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.

Aus dem Schock, ihre beste Freundin, Mitbewohnerin im Flur liegend vorzufinden, blutend – nein, blutüberströmt, wurde allmählich Wut. Mit jedem Schritt, den sie der Station näher kam, flackerte das finstere Gefühl mehr und mehr in ihr auf.

»Mel, der Aufzug?«, meinte Michael und hatte alle Mühe, ihrem Tempo gleichzukommen.

»Nein«, widersprach Melina harsch. »Wo ist die Station?«

»Im fünften Stock«, gab Mick, bemerkenswert rasch, zur Antwort.

»Nimm du den Lift, ich gehe! Vielleicht habe ich mich dann ein wenig abgeregt«, knurrte sie und stieß die Tür zum Treppenhaus auf. »Vielleicht aber auch nicht!«

Unschlüssig blieb Michael zurück, blickte von den Fahrstühlen, zu den Stufen. Bevor die Tür zufiel, hastete der junge Mann ihr nach.

Schwer ging ihr der Atem. Melina spürte ihr rasendes Herz, als wolle es ihrer Brust entspringen.

»Mel?« Mick war direkt hinter ihr.

Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Schon gut, ich bin nur nicht mehr in Form, das ist alles. Los, weiter!«

Die Stufen waren flach, jedoch zahlreich. Umso erleichterter war sie, als eine blaue fünf auf die richtige Etage verwies.
 

Als die Tür leise hinter ihnen ins Schloss fiel, galt es, sich erneut umzusehen. Zu beiden Seiten bot sich jedoch ein und dasselbe Bild. Ein langer Gang, von dem nur ab und zu eine weitere Tür abging. Der Geruch von Desinfektionsmitteln, und anderen Chemikalien, hing in der Luft und das vereinzelte Flackern der Neonröhren würde ihr, im Laufe der Zeit, den Nerv rauben.

Melina wandte sich nach rechts, fand jedoch keinen Empfangsbereich vor. Mick blieb an der Tür zum Treppenhaus zurück und wartete, bis Melina nach ihm rief. Da sie erneut an ihm vorbei hetzte, neigte er den Kopf und folgte ihr.

Nach wenigen Schritten erreichten sie eine Theke, hinter der eine Frau mittleren Alters die Monitore überwachte.

»Verzeihen Sie?«, begann Melina mit verblüffend zaghafter Stimme.

Die Dame sah auf und schmälerte die Augen. »Was haben Sie hier zu suchen? Die Besuchszeit ist längst vorbei, und Sie dürften gar nicht hier sein!«

»Ich – wir, suchen Everly Hughes, sie -« Die Worte brachen ihr plötzlich, es schien, als fiele der Schock von Neuem über sie her.

Die Nachtschwester betrachtete erst Melina prüfend, dann glitt ihr Blick zu Michael, ehe sie den Kopf schüttelte.

Melinas Augen wurden groß. »Nein«, entwich es ihr keuchend. »Nein, bitte nicht! Nein.«

»Beruhigen Sie sich, Miss. Sie ist hier, ihre Vitalzeichen sind wieder stabil. Trotzdem darf niemand zu ihr«, erklärte die Dame. »Sie sollten nach Hause fahren. Wenn es Miss Hughes besser geht, wird Sie morgen in ein separates Zimmer verlegt.«

»Brauchen Sie etwas? Ich … ich habe ihre Sachen hier«, meinte Melina und hielt Everlys Reisetasche empor.

»Sind Sie ihre Mitbewohnerin?«, fragte die Dame, und Melina ließ ein wortloses Nicken erkennen. »Lassen Sie die Tasche hier. Wir werden uns um Miss Hughes kümmern. Sie ist bei uns in guten Händen. Fahren Sie nach Hause.«

Doch Melina schüttelte vehement den Kopf.

»Wir haben hier leider nur begrenzte Möglichkeiten, Verwandte unterzubringen, wenn Sie verstehen, Miss.« Die Lippen der Stationsschwester formten sich zu einem mitfühlenden Lächeln.

»Komm, Mel.« Mick war an sie herangetreten, legte ihr einen Arm um die Schulter. »Vielen Dank.«

Langsam schlurften sie dem Ausgang entgegen.
 

Melina wusste nur noch, dass ihr der kalte Wind eines neuen Dezembermorgens entgegenschlug, sobald sie das hellerleuchtete Krankenhaus verließen. Alles andere war verschwommen, seicht, undurchsichtig. Dass Michael nach einem Taxi rief, das beide zu seiner Wohnung brachte, dass er sie die Stufen hinaufschleppte und sie auf dem Sofa absetzte, drang nur vage zu Melina durch.

Er bot ihr Tee an, doch sie verneinte.

Michael erklärte sich bereit, sie in seinem Bett schlafen zu lassen, doch auch dieses Angebot schlug Melina aus. Sie konnte nicht schlafen, sie würde nicht schlafen, nicht, solang der Zustand Everlys nicht eindeutig geklärt war.

So saß sie, schweigsam, auf der Couch, hatte nicht einmal einen Blick für die Einrichtung der Wohnung übrig. Unschlüssig trat Mick von einem Bein aufs andere, scheinbar hilflos und nicht wissend, wie er ihrem aufgewühlten Gemüt Abhilfe schaffte.

Er nahm neben ihr Platz, besaß jedoch so viel Anstand, ihr nicht näherkommen zu wollen. Mick legte ihr eine Wolldecke um die Schultern, ehe er, irgendwann gegen zwei Uhr, in sein Bett kroch.

Als endlich der Morgen graute, ging ihr Blick zum Fenster. Keine Sonne streckte ihre Fühler aus, dennoch wusste Melina, dass es Zeit war.

Sie suchte das Badezimmer auf, wusch sich das Gesicht und betrachtete ihr sich im Spiegel. Die letzten Stunden zeigten sich mehr als deutlich. Doch Unruhe trieb sie an. Rasch war die morgendliche Routine beendet. Melina suchte nach einem Zettel und Stift und wurde in der Küche fündig, da auf der Arbeitsplatte ein kleiner Schreibblock lag.

Sie wollte nicht schnüffeln, doch das, was auf dem Papier vermerkt war, brachte ihr erneute Schauer. Diese Buchstaben. Eiligst war die Notiz abgerissen und den der Hosentasche verwahrt. Wenn Michael dies auffiel, würde sie sich mit einer Ausrede aus der Affäre ziehen können. Tief sog Melina die Luft in ihre Lungen, sammelte sich und schrieb ihm eine knappe Nachricht, dass sie auf dem Weg zum Krankenhaus sei.

Schleichend durchquerte sie die Zimmer, in denen sie verweilt hatte, schnappte die graue Tasche, langte nach der Jacke und verließ, bemüht lautlos, die Wohnung.
 

Zu ihrem Ärgernis wusste Melina nicht einmal, in welchem Stadtteil New Yorks sie sich befand. Sie streifte durch die Straße, fand einen Starbucks und genehmigte sich einen, dieser überteuerten Kaffees, sowie einen Blaubeermuffin, ehe ihr Blick auf eine nahegelegene U-Bahnstation fiel.

Melina fuhr bis zur 14 Street Station, hetzte an den Passanten vorbei, erklomm die Stufen und erreichte das Tageslicht. Das Lenox Health rückte näher, sodass sie nur noch wenige Schritte von Everly trennten.

Die Türen glitten lautlos auf, und Melina sah sich mit der selben Hektik konfrontiert, die ihr erst vor wenigen Stunden begegnet war. Am Empfang erblickte sie jedoch eine andere Person. Sie trat an den Herren heran und erkundigte sich nach ihrer Mitbewohnerin. Dieser sagte ihr jedoch, dass Everly Hughes noch immer auf der Intensivstation lag.

»Möchten Sie wirklich warten?«, fragte er. »Miss Hughes wird, wenn dem so sein sollte, allerdings erst gegen elf Uhr auf ein anderes Zimmer verlegt.«

»Ich kann warten, vielen Dank.« Melinas Lippen bogen sich zu einem freundlichen, wenn auch erschöpften Lächeln.

»Miss, Sie können sich auch in der Cafeteria ein wenig ausruhen. Sie ist gleich den Flur runter. Folgen Sie einfach der dunkelgrünen Linie.« Erst jetzt bemerkte Melina, dass die Wege zu den Stationen und anderen Bereichen des Hauses, durch bunte Striche gekennzeichnet waren. Abermals sprach sie dem Helfer ihren Dank aus und folgte der Linie in das Bistro.

Melina saß bei ihrem dritten Kaffee, sah Schwestern und Ärzte an sich vorüberziehen und Angehörige von Patienten, die nicht weniger erschöpft dreinblickten, als sie selbst. Um ihre Nervosität zu übertünchen, war ein weiterer Kaffee wohl nicht von Vorteil. Angespannt grub sie die Zähne in die Unterlippe. Melinas Blick glitt von der Uhr, die über der Ausgabe hing, auf ihr Mobiltelefon im Wechsel. Ein Briefumschlag blinkte bereits seit einer gefühlten Stunde immer wieder auf, doch sie ignorierte das Drängen. Je länger die Zeiger dahin krochen, desto mehr rissen diese an ihrem Nervenkostüm. Allmählich bekam Melina das Gefühl, dass die Zeit sie ärgern wolle und die tickenden Zeiger rückwärts gingen.

Als sie sich endlich dazu entschloss, die Nachricht, die beharrlich aufleuchtete, anzusehen, reifte in ihr der Wunsch, es lieber nicht getan zu haben. Natürlich war es Michael, der ihren Zettel gefunden hatte und sich, nach Feierabend, auf den Weg hierher machte. Obschon sie dankbar für seine Hilfe und sein Mühen war, überkam sie erneute Unruhe, was ihren Arbeitskollegen betraf.

Doch noch war sie zu aufgeregt, um den Detectives ihre Sorge mitzuteilen. Melina wusste ja nicht einmal, wie weit die Ermittlungen vorangeschritten waren und wann Everly und sie wieder zurück nach Hause durften.

Gegen zehn Uhr entschied Melina, dass es dringend notwendig war, sich die Beine zu vertreten. Sie raffte ihre Habseligkeiten zusammen und verließ die Cafeteria in Richtung Ausgang. Regen hatte eingesetzt und den Tag so grau beginnen lassen, wie der vorherige geendet hatte. Unter dem Vordach zum Haupteingang hielt Melina inne, langte nach ihrem Handy und wählte die Nummer von Carla Mountgomerys Büro.

Es dauerte nicht lang, da nahm die Chefin, höchstpersönlich, das Telefonat entgegen. Nach einem kurzen Umreißen der letzten Tage, berichtete Melina von den vergangenen Stunden.

»Kleines, ich weiß. Michael hat uns erzählt, was geschehen ist.« Innerlich grollte Melina ihm, da nun die gesamten Kollegen über den Vorfall im Bilde war.

»Es geht bei dir momentan alles drunter und drüber, Schätzchen. Ruh dich aus, wir schaffen das auch ohne dich, obwohl es alles andere als einfach ist.« Den Nachsatz Carlas begleitete ein kleines, liebevolles Lächeln, das Melina sehr wohl heraushörte. »Pass auf dich auf!«

Dann war ein monotones Tuten zu vernehmen und der Anruf galt als beendet.

Grübelnd starrte Melina auf das Display, ehe sie sich dafür entschied, einen weiteren Anruf zu tätigen.

Detective Archer zeigte sich überraschend erfreut über das Lebenszeichen ihrerseits.

»Ich würde ein detailliertes Gespräch auf der Wache vorziehen«, sagte er.

»Nehmen Sie es mir übel, wenn ich mich erst einmal um Everly kümmern möchte?«, fragte Melina und schluckte an dem Kloß in ihrem Hals.

»Nein, natürlich nicht, Miss O'Sullivan. Allerdings wäre ein sehr zeitnahes Zusammentreffen wohl für uns alle von Vorteil«, gab der Beamte zu bedenken.

»Detective, jetzt machen Sie mir Angst«, keuchte sie und sah sich nach allen Seiten um, ob nicht jemand Fremdes ihre Worte belauschte.

»Sie haben auch allen Grund dazu, Miss O'Sullivan. Seien Sie vorsichtig.« Mit diesen Worten war auch dieses Telefonat zum Schweigen gebracht.
 

Wie ein Tiger im Käfig wanderte Melina den, in hellem Gelb gestrichenen, Gang entlang. Everly war, wie von der Nachtschwester vorhergesagt, auf eine andere Station und in einem Einzelzimmer untergebracht worden. Doch den Raum betreten, hatte man ihr untersagt, da zwei Ärzte und drei Schwestern die Patientin nochmals einer Untersuchung unterzogen.

Als man sie endlich zu Everly ließ, war es bereits Mittag, doch Hunger verspürte Melina nicht. Sie betrat den Raum und fuhr beim Klang der Gerätschaften zusammen. Ein Piepen hier, ein anderer Ton da.

Eine Schwester war über die junge Frau gebeugt und nahm ihr ein paar Schläuche ab. Eine Kanüle steckte in Everlys Arm, deren Versorgung mit einem Tropf gewährleistet wurde. Ein Clip am Zeigefinger maß den Sauerstoffgehalt im Blut. Klebeelektroden lugten aus dem Nachthemd hervor und zeichneten Herz- und Pulslinien auf den Monitor. Melina besah sich die Infusion in dem Beutel, die tropfend den Weg durch den durchsichtigen Schlauch nahm.

»Schmerzmittel«, erklärte die Krankenschwester, die sich ihr als Irine vorstellte.

»Wissen Sie – ich meine, wissen Sie Genaueres?«, zögerlich drang Melina die Frage von den Lippen.

Irine sah knapp zu Everly, die zu schlafen schien, und langte dann, über das Bett hinweg, nach Melinas Hand. Der Griff war energisch, ebenso der Blick der Frau, die sich ungefähr im gleichen Alter ihrer Mutter befand, schoss es Melina ein.

»Kommen Sie!«, knurrte die Krankenschwester fordernd und führte Melina ans andere Ende des Zimmers, wo diese ihr, unter flüsternden Worten, den Zustand ihrer Freundin beschrieb.

Melina hatte Mühe, dem Fachjargon zu folgen, doch Irine versuchte sich an einfachen Umschreibungen.

Frakturen im Gesicht, das Nasenbein gebrochen, ebenso zwei Rippen, da man ihr in die Seite getreten haben musste. Hämatome an Beinen und Armen, zu allem Übel gehörte auch noch ein massiver Blutverlust, den man ihr durch eine Stichverletzung zugefügt hatte. Doch zum Glück wurden lebenswichtige Organe, wie durch ein Wunder, verschont.

Alle Kraft entwich ihr, sodass Melina sich nicht länger auf den Beinen halten konnte.

»Sie ist über den Berg, Miss«, sagte Irine, doch etwas ihren Augen sagte Melina, dass es schlimmer hätte ausgehen können. »Das ist allerdings höchst ungewöhnlich, denn solche Verletzungen … Ihr Leben hing wirklich am seidenen Faden.« Der Blick der Schwester glitt zu Everly. »Sie kann selbstständig atmen, essen, aber sie braucht Ruhe, keine Aufregung. Miss Hughes hatte Glück, im Unglück.«

Schwach nickte Melina und setzte sich, bedingt ihrer wackeligen Knie, auf einen Stühle, die den Besuchern vorbehalten waren.

»Der Notarzt erzählte, dass sie von ihrer Mitbewohnerin gefunden wurde. Das sind Sie, richtig?«, fragte Irine und wieder konnte Melina nur mit einer schwachen Geste bejahen. »Das war Rettung in letzter Sekunde, Miss. Nur Minuten später wäre es mit ihr, aufgrund des Blutverlustes, zu spät gewesen.«

Knapp wandte sich Melina von dem Gehörten ab. Alles schien wie ein Gewitter über sie herzufallen. Worte, Umschreibungen, die Laute, die vom Krankenbett herüberwehten.

»Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.« Eiligst hatte Irine das Zimmer verlassen, doch Melina hockte noch immer auf dem Stuhl und starrte, unter verschwommenem Blick, zu ihrer Freundin herüber.
 

Melina saß an ihrem Bett und langte nach den kalten Fingern Everlys. Unter flatternden Lidern erwachte diese und war versucht, die geschundenen, aufgeplatzten Lippen zu einem Lächeln zu biegen. Der Gipsverband auf ihrer Nase, schien ihr jedoch ganz und gar nicht zu gefallen.

Ein krächzender Laut war zu hören, doch Melina wandte hastig den Kopf und legte sich den Zeigefinger an die Lippen, um Everly zu bedeuten, still zu sein.

Irine erschien im Zimmer, reichte Melina das versprochene Glas Wasser und hielt auch eine Schnabeltasse für Everly bereit, die versucht war, missbilligend das Gesicht zu verziehen.

»Machen Sie langsam, Mädchen. Sie haben eine Menge durchgemacht«, sagte Irine und trat ans Fußende des Bettes heran, um nochmals das Krankenblatt zu überprüfen. Sowie die Sichtung beendet war, ließ Irine die Frauen allein zurück.

»Wa-?«, krächzte Everly und Melina sah sich gezwungen, das Geschehene nicht länger verschweigen zu können. Die blutigen Details hingegen, ließ sie aus.

»Ruh' dich aus, ich … bleibe heute Nacht hier, komme, was da wolle!« Um ihre Worte zu untermauern, nickte Melina bekräftigend.

Am späten Nachmittag erschien Michael in der Tür. Das Gespräch der beiden verebbte jäh, als ihre Blicke auf den jungen Mann fielen, der einen Blumenstrauß mit sich führte.

»Es tut mit leid Mick, dass ich heute Morgen so früh -«, hob Melina an und erwiderte die Umarmung seinerseits dennoch herzlich.

»Was? Du meinst, als du dich so mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht hast?«, ein leises Lachen entfloh ihm, das jedem anderen zeigen sollte, dass es ihn nicht störte, dass Melina sang-und klanglos getürmt war. Everly zuckte kaum merklich zusammen, als sie dem Blick des Freundes begegnete. Dies entging Melina jedoch.

»Wenn du jetzt hier bist, dann sei so gut, und pass' bitte kurz auf Evie auf, ich muss ganz dringend wohin.« Melinas Finger krallten sich bittend in seine Jacke.

»Klar, kein Problem.« Mick schenkte ihr ein freudiges Lächeln.

»Ich bringe dir auch einen Kaffee mit«, flötete sie wandte sich bereits zum Gehen.

»Lina«, krächzte Everly und diese sah sich nochmals nach ihrer Freundin um. Melina neigte den Kopf, bemerkte jedoch, dass plötzlich etwas dem strahlenden Blau ihrer Augen das Funkeln genommen hatte.

Melina zwang ihre Mundwinkel zu einem aufbauenden Lächeln. »Ich bin gleich wieder da. Mick passt so lange auf dich auf.«

Everly öffnete die Lippen, doch nicht ein Laut kam daraus hervor. Schwach nickte sie und war darum bemüht, den jungen Mann kein weiteres Mal anzusehen. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich Melinas, doch das Drängen ihrer Blase trieb sie auf den Flur hinaus.

Mick wandte sich Everly zu, ließ sich auf den nun freien Stuhl sinken und besah sich die junge Frau mit amüsiertem Grinsen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Futuhiro
2019-02-14T19:11:21+00:00 14.02.2019 20:11
Ich finde es halb gut und halb schade, daß du nicht beschrieben hast, was Melina in ihrer Wohnung nun im Detail gefunden hat. Die Fakten "Blut" und "Krankenwagen" geben genug her, um der Fantasie selber freien Lauf zu lassen.
Ihre fest entschlossene Art, mit der sie sich ihren Weg zur Intensivstation bahnt, kommt auf jeden Fall sehr glaubhaft und verständlich rüber. Man kann sich gut in sie reinversetzen. ^_^

> Die Nachtschwester betrachtete erst Melina prüfend, dann glitt ihr Blick zu Michael, ehe sie den Kopf schüttelte.
--> Der Satz hatte echt Schock-Faktor. :D Ich dachte im ersten Moment auch, Evie wäre tot. Und dann noch Melinas Reaktion darauf. Ich habe beim Lesen vor Spannung an den Fingernägeln gekaut, ehrlich. XD

Als sie den Notizzettel mit Micks Handschrift gefunden (und wiedererkannt) hat, war ich ja derwegen arg am Zweifeln. Ich dachte, das ist dermaßen offensichtlich, daß es einfach nicht sein kann. Das ist bestimmt bloß eine Finte, das klärt sich bestimmt noch auf, dachte ich.

> Schwach nickte sie und war darum bemüht, den jungen Mann kein weiteres Mal anzusehen.
--> Und schon wieder dachte ich "Naaaaaa~ Das kann nicht sein, das wäre zu offensichtlich. Das muss andere Erklärungen dafür geben." So irrt man sich. XDDD
Das ist auch eine Kunst, dem Leser die Wahrheit auf dem Silbertablett zu präsentieren und ihn trotzdem zweifeln zu lassen. :D

Ich finde es übrigens auch ganz spannend, daß bei dir jeder noch so kleine Hintergrund-Charakter einen Namen hat. Ich selber versuche das ja immer zu vermeiden, weil ich glaube, zu viele Namen verwirren den Leser und die könne sich eh keiner merken. Aber bei dir merke ich gerade, daß es doch gar nicht so "overloaded" ist wie ich immer dachte. Und es steigert die Spannung. Bei Charakteren, die einen Namen bekommen, geht man automatisch erstmal davon aus, daß sie für die Story nochmal von Bedeutung sein werden, und versucht sich intensiver und aufmerksamer zu merken, was es mit ihnen auf sich hatte. Über Namenlose liest man doch eher flüchtig hinweg.
*Memo: merken!!!*

Immerhin war es eine echte Erleichterung, daß Everly trotz des ganzen Dramas und der langen Ungewissheit nun doch über den Berg ist. ^^

So, und jetzt muss ich mich für heute leider entschuldigen. Ich kommentiere morgen weiter. :)
Antwort von: irish_shamrock
17.02.2019 13:13
Leider ist es mir nicht vergönnt, detaillierte Beschreibungen von Schauplätzen zu schreiben, ohne mich selbst daneben legen zu wollen, und mich zu erbrechen. Viel Blut, falsche Spuren, das muss genügen ^^°
Zumal "der Fantasie freien Lauf lassen" hier wieder den Kopf ins Kapitel steckt :)

Ja, ich mag solche Szenen. "Schock" - "och nö", und dann ist doch alles gut.
Tjahaha, so sollte das ja auch sein, und es wäre ja echt unnötig und langweilig, wenn ich dir den Spaß nehme, weiterzugrübeln, was Mick für eine zwielichtige Person ist :)

Nicht jeder Charakter, der einen Namen bekommt, taucht auch wirklich noch einmal auf. Aber "namenlose Charaktere" sind nicht unbedingt meine Schiene.
Selbst bei meinen "HP"-Geschichten kriegt jeder Charakter einen Namen, ich habe ganze Listen voller Schüler und Lehrer, und natürlich mache ich mir selbst bei den Nebenfiguren Gedanken.

Was Everly betrifft und eigentlich die ganze Geschichte im Allgemeinen:
Ich habe WEDER medizinische, noch kriminologische Kenntnisse. Wenn also so richtig schön stümperhaft klingt, ist das nicht beabsicht, es ist einfach nur Unwissenheit. Und ich freue mich über jeden Ratschlag, wie ich es, trotz eingehender Recherche, besser machen kann.

Danke für deine Worte :) ♥
Antwort von: Futuhiro
17.02.2019 13:58
> Was Everly betrifft und eigentlich die ganze Geschichte im Allgemeinen:
> Ich habe WEDER medizinische, noch kriminologische Kenntnisse.

--> Davon merkt man beim Lesen nichts, wenn man nicht zufällig selber Mediziner ist. Mir (als selber Laie) kommt es jedenfalls gut recherchiert vor. ^^


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