Brother's Keeper von Morwen ================================================================================ Brother's Keeper ---------------- Es war wie immer eine Verkettung unglücklicher Umstände, die ihn in seine missliche Lage gebracht hatte. Es war der 23. Dezember 1989 und in Albuquerque, New Mexico, herrschten für diese Jahreszeit ungewöhnlich milde Temperaturen. Das hinderte die lokale Bevölkerung allerdings nicht daran, ihre Häuser und Gärten mit Lichterketten und billigen Plastikrentieren zu schmücken, und jeder zweite Radiosender der Stadt schien Jingle Bells in all seinen Versionen in Dauerschleife zu spielen. Auch Sam war früh aufgestanden, um im vorweihnachtlichen Einkaufschaos noch die ein oder andere Kleinigkeit zu besorgen. Dabei war sein Blick auf den Motorradhelm im Schaufenster eines der Geschäfte gefallen, und er hatte an sein Versprechen an Nate denken müssen, ihm noch vor der Grenze einen vernünftigen Helm zu besorgen – eines der vielen Dinge, die er seinem kleinen Bruder in seinem grenzenlosen Optimismus versprochen hatte. Ein kurzer Blick auf das Preisschild hatte ihn aufseufzen lassen, ein zweiter Blick in den vor Menschen schier überquellenden Laden hatte ihn allerdings auf eine fixe und gewagte Idee gebracht... Und Sam wäre damit durchgekommen – in seiner Motorradjacke, den Helm unter dem Arm, den er mit einer Selbstverständlichkeit trug, als hätte er ihn schon immer besessen, hatte ihn niemand auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt –, hätte sich im letzten Moment nicht ein älterer Herr vor ihm aufgebaut und entrüstet gerufen: „Ich habe genau gesehen, was du gemacht hast, Junge!“ Wie sich herausgestellt hatte, war der alte Mann zwar kein ausdauernder Läufer, die hiesigen Ordnungshüter jedoch schon. Sam wäre ihnen vielleicht entkommen, hätten ihm nicht so verdammt viele Leute im Weg gestanden. Und nun saß er hier, in einer zwei mal zwei Meter großen Zelle, und starrte Löcher in die Luft. Sie ließen ihn schon seit drei Stunden schmoren; drei Stunden, in denen er weder mit einem Polizisten hatte sprechen, noch seinem kleinen Bruder eine Nachricht hatte zukommen lassen können. Nate würde sich mittlerweile Sorgen machen, daran bestand für Sam kein Zweifel. Als er schließlich das Geräusch von Schlüsseln hörte, war er darum in Sekundenschnelle auf den Beinen und presste das Gesicht gegen die Stäbe. „Hey“, rief er. „Hallo! Kann ich mit jemandem sprechen?“ Einen Moment später kam ein Polizist in Sicht. Er hatte einen beachtlichen Bauch und sein Haupt zierte ein Kranz schütterer, grauer Haare. „Was willst du?“, fragte er mit gelangweilter Stimme. Sam schluckte eine bissige Antwort hinunter und entgegnete stattdessen: „Wie lange soll ich noch hierbleiben?“ Der Polizist kratzte sich das stoppelige Kinn. „Über die Feiertage finden keine Verhandlungen statt, also vermutlich noch mindestens bis zum 26. Dezember.“ „So lange noch?!“ Sam starrte ihn ungläubig an. Er konnte Nate nicht drei Tage allein lassen, erst recht nicht zu dieser Jahreszeit. „Aber... aber es ist Weihnachten!“, fügte er etwas hilflos hinzu. „Tja“, meinte der Polizist nur schulterzuckend. „Daran hättest du vielleicht denken sollen, bevor du etwas gestohlen hast.“ Sam schloss die Augen. Er hatte nicht das Geld, um sich gegen Kaution freizukaufen, und Nate erst recht nicht. Nate. Was sollte er ihm nur sagen? Und wovon sollte sein kleiner Bruder in den nächsten Tagen leben? Sie hatten den Großteil ihres Geldes für das Motelzimmer am Rande der Stadt ausgegeben und der Rest befand sich in Sams Besitz. Falls Nate auch Geld hatte, dann konnte es nicht viel sein. Zumindest konnte er sich mit dem Gedanken beruhigen, dass sie das Zimmer für eine Woche im Voraus bezahlt hatten, sein Bruder würde also zumindest nicht auf der Straße landen. Dennoch. Es war Weihnachten und Sam würde nicht da sein. Nichts würde diese Tatsache entschuldigen. Sam sah resigniert zu dem Polizisten auf. „Wenn ich mich recht erinnere, steht mir ein Anruf zu“, sagte er. Sam kehrte dem Polizisten, der ihn zur Telefonkabine begleitet hatte, den Rücken zu, bevor er nach dem Hörer griff und nach kurzem Zögern die Nummer des Motels eingab. Er hatte keine Wahl; auf anderem Wege konnte er Nate nicht erreichen. Unter dem Namen Drake hatte er bislang noch keinen Eintrag im Strafregister, darum hoffte er, dass die Polizei seine Hintergründe nicht allzu genau unter die Lupe nehmen würde. Sollten die Beamten herausfinden, dass sein einziger Begleiter sein minderjähriger Bruder war, würden sie seine Fähigkeit, sich um ihn zu kümmern, in Frage stellen, und Nate im schlimmsten Fall dem Staat übergeben, der ihn wieder nur ins Kinderheim stecken würde. „Riverside Motel, Albuquerque“, meldete sich wenig später die Stimme der jungen Frau, die an der Rezeption arbeitete. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „M-...äh, Drake hier“, erwiderte Sam. Er hatte sich immer noch nicht ganz an das Gefühl des neuen Namens auf seiner Zunge gewöhnt. „Bitte verbinden Sie mich mit Zimmer 11.“ „Einen Moment bitte, Mr. Drake.“ Es knackte kurz in der Leitung, als er weiterverbunden wurde. Nate nahm den Hörer schon nach dem ersten Klingeln ab. „Sam?!“, rief er, bevor Sam auch nur ein Wort sagen konnte. „Nathan.“ Er stieß ein erleichtertes Seufzen aus, als er die Stimme seines kleinen Bruders hörte. Wenigstens schien er wohlauf zu sein. „Sam, wo bleibst du?“, fragte Nate. „Ist etwas passiert? Du rufst sonst nie an. Geht es dir gut?“ „Es geht mir gut, Nathan“, beruhigte Sam ihn. „Wirklich? Ich hoffe, du hast Recht“, entgegnete Nate und atmete hörbar auf. „Andernfalls werde ich dich, ich weiß nicht... bei der nächsten Gelegenheit am Kragen packen und schütteln oder so.“ „Kommt du überhaupt schon so hoch?“, fragte Sam und lachte auf. „Oh, haha“, machte Nate. „Ich denke, wir wissen beide, dass ich dich eines Tages überholen werde.“ „Träum weiter“, erwiderte Sam grinsend. Dann wurde er wieder ernst. „Hör zu, ich sitze gerade ein bisschen in der Klemme...“ Nate war für einen Moment still. „Was ist passiert?“, fragte er. Es war die Stunde der Wahrheit. Sam gab sich einen Ruck. „Ich wurde beim Stehlen erwischt“, gestand er leise. „Es war dumm und leichtsinnig und... und im Moment sitze ich auf dem Revier fest.“ „Wie lange noch?“ Sam schluckte. „Noch mindestens drei Tage.“ Für eine Weile kam keine Antwort. Auf der anderen Seite der Leitung war es so still, dass Sam sich fragte, ob Nate einfach aufgelegt hatte. Doch schließlich ertönte die Stimme seines Bruders erneut. „... ich verstehe“, erwiderte er. Er klang erstaunlich gefasst. „Es tut mir leid, Nathan.“ Sam rieb sich das Gesicht. „Wenn ich es ungeschehen machen könnte...“ „Ich weiß, Sam. Es ist schon okay.“ „Nein, ist es nicht. Ich war ein Idiot und jetzt lasse ich dich auch noch im Stich und das ausgerechnet an Weihnachten–“ „Sam“, wiederholte Nate. „Es ist okay.“ Er klang weder wütend noch enttäuscht, und irgendwie war das das Schlimmste an der ganzen Sache. „Außerdem wäre es nicht das erste Weihnachten, das ich ohne dich verbringe.“ Autsch. Sam machte eine Grimasse. Nate hatte es vermutlich nicht so gemeint, aber das bedeutete nicht, dass er die Spitze nicht verdient hatte. Er holte tief Luft. „Hör zu“, sagte er. „Das Wichtigste ist jetzt, dass du in den nächsten Tagen über die Runden kommst. Wie viel Geld hast du noch?“ „Ähh...“, machte Nate. „Einen Moment, ich muss erst in meinen Rucksack schauen.“ Er legte den Hörer beiseite und kurz darauf hörte Sam es im Hintergrund rascheln. Schließlich war Nate wieder zurück. „Also ich habe noch vier Dollar und...“ Es klimperte leise. „... dreiundsechzig Center.“ Sam fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. Nicht einmal fünf Dollar... das war nicht viel, um einen Teenager zu ernähren. „Das wird knapp“, meinte er. „Nathan, wenn du mit dem bisschen nicht zurechtkommst...“ „Hey, es ist Weihnachten“, erwiderte sein Bruder. „Ich esse in den nächsten Tagen einfach nur Schokolade, dafür reicht das Geld locker.“ „Du wirst dich nicht nur von Schokolade ernähren!“, sagte Sam entsetzt. „Ich schwöre, wenn du nicht wenigstens Toast und ein paar Äpfel kaufst...!“ Doch Nate lachte nur, und es war das wundervollste Geräusch, das er seit langem gehört hatte. Sam fiel ein Stein vom Herzen. Wenn sein kleiner Bruder nach all den Herausforderungen in den letzten Monaten noch lachen konnte, dann konnte nicht alles schlecht gewesen sein, oder...? „Mann, das war doch nur ein Witz.“ Nate musste erneut lachen. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ „Gut.“ Sam hatte noch immer Zweifel, aber er war nun etwas zuversichtlicher, dass Nate klarkommen würde. „Ich schwöre, wenn Mum wüsste, was aus uns geworden ist, würde sie im Grab rotieren...“ „Manchmal glaube ich, dass sie das schon seit der Beerdigung tut“, erwiderte Nate leise. Sam musste an das Buch mit dem weißen Einband denken, das sich im Besitz seines Bruders befand. „Wir werden sie nicht enttäuschen, Nathan“, sagte er entschieden. „Wir werden ihren Hinweisen nachgehen und Averys Schatz finden und damit das Leben finanzieren, das wir uns immer erträumt haben.“ „Was für ein Leben soll das sein?“ „Keine Ahnung.“ Sam zuckte mit den Schultern. „Eines mit einem eigenen Haus, mindestens drei Harleys und einem Swimmingpool...?“ Nate gab ein Lachen von sich. „Und den ganzen Tag Champagner?“ „Erst, wenn du volljährig bist“, erwiderte Sam. „Bis dahin gibt es höchstens Kindersekt für dich.“ „Pfff“, machte Nate. „Du verstehst keinen Spaß.“ Für einen Moment schwiegen sie beide und hingen ihren Gedanken nach. Dann stieß Sam ein Seufzen aus. „Ich muss leider Schluss machen, Nathan“, sagte er. Der Polizist, der neben der Tür der Kabine saß, warf ihm schon seit einer Weile ungehaltene Blicke zu. „Sobald ich wieder raus bin, werde ich unverzüglich zum Motel zurückkehren.“ Und wider besseren Wissens fügte er hinzu: „Ich verspreche es.“ „Mmh“, machte Nate. „Okay.“ „Hey“, sagte Sam. „Ich meine es ernst.“ „Ich weiß.“ Nates Stimme war ungewohnt sanft. „Das tust du immer.“ „Nathan...“ „Hey, ich bin dir nicht böse“, fuhr sein Bruder fort. „Ich weiß, dass du es versuchst, Sam. Und das ist das Wichtigste.“ Sam schluckte hart. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wer eigentlich der ältere von ihnen war. „Mach's gut kleiner Bruder.“ Er hasste, wie sentimental er plötzlich klang. „Vergiss nicht, abends die Tür abzuschließen.“ „Und nicht mit Fremden mitgehen, ich weiß. Ich kenne den Drill.“ Sam musste lächeln. „Du bist ganz schön altklug, hat dir das schon mal jemand gesagt?“ „Von wem könnte ich das bloß haben?“, erwiderte Nate und lachte auf. „... okay, Punkt an dich“, gab Sam zu. „Bis bald“, sagte Nate. „Pass auf dich auf, Sam.“ „Das werde ich.“ Dann legte er auf. Für einen Moment starrte er nur den Hörer an und fragte sich, ob er nicht zu viel von Nate verlangte, oder ob das der Punkt war, an dem er das Vertrauen und den Respekt seines Bruders endgültig verlieren würde. Doch da er keine Möglichkeit hatte, es an dieser Stelle herauszufinden, und sich nur unnötig den Kopf zerbrechen würde, wenn er das Thema nicht vorerst ruhen ließ, sammelte er sich kurz, bevor er seinen Stuhl zurückschob und aufstand. „Zeit zu gehen, Junge“, sagte der Polizist, als Sam auf ihn zutrat. „Der Transporter dürfte bald da sein.“ Der Transporter? Sam war für einen Moment verwirrt, doch dann begriff er, was der Mann hatte ausdrücken wollen. Natürlich. Niemand hatte gesagt, dass er die nächsten Tage auf dem Revier verbringen würde. Nicht, wenn die Stadt auch über ein Gefängnis verfügte. Sam biss die Zähne zusammen, während der Polizist ihn durch das Gebäude eskortierte. Was hatte er sich da nur eingebrockt. Wie sich herausstellte, war die Zelle im Gefängnis größer und komfortabler als die auf dem Revier. Zwar stand die Toilette direkt neben seinem Bett, aber Sam hatte schon Schlimmeres erlebt. Weitaus Schlimmeres. Außerdem hatte er einen Mitbewohner. Er war jung – er konnte nicht viel älter sein als Sam – hatte kurze, blonde Haare und war braungebrannt wie jemand, der gerade aus dem Sommerurlaub kam. In seiner Stimme schwang ein starker britischer Akzent mit. „Was hast du verbrochen?“, fragte er ihn am ersten Abend, nachdem sie eine Weile Smalltalk gemacht hatten. „Ladendiebstahl“, erwiderte Sam. „Du?“ „Fälschung von Dokumenten.“ Der Fremde schenkte ihm ein breites Lächeln. „Muss wohl noch an meiner Technik feilen. In den meisten Ländern werde ich ohne weitere Fragen durchgewunken, aber natürlich nicht in den guten, alten Vereinigten Staaten.“ Die Bemerkung ließ Sam die Arbeit seines Bekannten, der seinen Führerschein, sowie die Reisepässe für ihn und Nate gefälscht hatte, zum ersten Mal wirklich schätzen. Bisher waren sie damit noch überall durchgekommen und selbst die Polizisten, die ihn festgenommen hatten, hatten die Echtheit der Dokumente nicht angezweifelt. „Du bist also Fälscher?“, fragte Sam. „Nah“, entgegnete sein Mitbewohner. „Es ist mehr ein Mittel zum Zweck.“ Er zwinkerte Sam zu. „Ich bin Schatzsucher.“ Sam hielt für einen Moment den Atem an, während er den anderen überrascht anstarrte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit...? „Du verarschst mich doch“, sagte er. Sein Mitbewohner zuckte jedoch nur mit den Schultern. „Glaub, was du willst.“ Sam ließ sich auf seinem Bett nieder. Seine Augen verengten sich, als er den anderen Mann mit neuem Interesse musterte. „Wenn du tatsächlich Schatzsucher bist, was suchst du dann in den USA?“, fragte er. „Dieses Land hat keine lange Geschichte, keine versunkenen Städte voller antiker Schätze. So etwas wie die Goldmasken der Pharaonen wirst du hier nicht finden.“ „Oh, ich bin nur auf der Durchreise. Mein eigentliches Ziel liegt im Westen Afrikas.“ Sein Gegenüber tippte sich verschwörerisch an die Nasenspitze. „Mir ist jedoch zu Ohren gekommen, dass es in Albuquerque einen privaten Sammler von Antiquitäten gibt, in dessen Besitz sich ein Schriftstück befindet, das weitere Hinweise auf den Schatz enthält.“ „Tatsächlich.“ Sam musste widerwillig zugeben, dass ihn die Geschichte immer mehr faszinierte. „Ich vermute, er hat sich nicht freiwillig davon getrennt.“ Sein Mitbewohner grinste. „Du vermutest richtig, mein Freund.“ Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und ließ sich nach hinten aufs Kissen sinken. „Ich konnte allerdings genug vom Text entziffern, um herauszufinden, wo ich als nächstes hin muss“, fuhr er fort und schloss die Augen. „In drei Monaten bin ich wieder raus, dann werde ich meine Suche fortsetzen. Bis dahin ruhe ich mich aus und genieße das kostenlose Essen.“ Sam zog die Knie an den Körper und legte das Kinn darauf. „Wie ist es?“, fragte er. Der Fremde öffnete ein Auge und schielte zu ihm hinüber. „Wie ist was?“ „Dieses Leben“, sagte Sam. „Die Dinge, die man dafür tun muss, sind nicht immer legal... und oft gefährlich, vermute ich. Ist es das wert?“ Für eine Weile kam keine Antwort, als der andere Mann über die Frage nachdachte. Schließlich entgegnete er: „Der Moment, in dem du als erster Mensch seit Jahrhunderten Orte zu sehen bekommst, die die Welt für immer verloren geglaubt hat, oder tausend Jahre alte Schätze in den Händen hältst... das ist ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann.“ Seine Stimme war leise, beinahe ehrfürchtig. Er drehte Sam das Gesicht zu, ohne ihn jedoch direkt anzusehen. „Ja“, sagte er. „... ja, ich finde, das ist es wert.“ Ein Lächeln legte sich auf Sams Gesicht. „Kannst du mir mehr von deinen Abenteuern erzählen?“, fragte er. „Sicher“, erwiderte sein Mitbewohner. Dann grinste er. „Aber nur, wenn du mir deinen Namen verrätst, sonst muss ich mir selbst einen für dich ausdenken, und glaub mir, das willst du nicht.“ Sam lachte auf. „Drake“, stellte er sich dann vor und es war das erste Mal, dass er den Namen ohne Zögern aussprach. „Sam Drake.“ „Freut mich, dich kennenzulernen, Sam“, sagte der Fremde und winkte ihm von seinem Bett aus zu. „Du kannst mich Flynn nennen.“ Sam löcherte ihn in jeder freien Minute mit Fragen. Flynn hatte viel zu erzählen. Trotz seiner Jugend war er bereits um die halbe Welt gereist und hatte an mehreren Ausgrabungen und der Bergung des einen oder anderen Wracks teilgenommen. Seine Erzählungen über die Länder, die er besucht hatte, weckten in Sam den sehnsüchtigen Wunsch, all diese Orte eines Tages mit eigenen Augen zu sehen. Doch auch Flynns Berichte über seine Begegnungen mit anderen Schatzjägern, Dieben, Trickbetrügern oder modernen Piraten fesselten Sam stundenlang und er wurde nicht müde, ihm Fragen dazu zu stellen. „Was ist eigentlich mit dir?“, fragte Flynn am zweiten Abend. „Was für Pläne hat Sam Drake für die Zukunft?“ Sam schwieg eine Weile. Er hatte in seinen Unterhaltungen mit Flynn oft von seinem Bruder erzählt, aber er war vorsichtig gewesen, weder Averys Schatz noch die Notizen ihrer Mutter zu erwähnen. Er mochte Flynn, keine Frage, aber das bedeutete nicht, dass er ihm traute. Der Piratenschatz gehörte allein ihm und Nate, und er würde einen Teufel tun, die Konkurrenz darauf aufmerksam zu machen. „Zuerst werde ich mit Nathan Weihnachten nachholen“, antwortete er schließlich. „So viel bin ich ihm schuldig. Dann werden wir das Land verlassen und uns in Südamerika ein neues Leben aufbauen. Wer weiß...“ Er grinste. „Vielleicht werden wir in den nächsten Jahren die eine oder andere antike Dschungelstadt wiederentdecken.“ Flynn nickte. „Das klingt nach einem Plan.“ Er überlegte kurz. „Hey, wenn du irgendwann mal ein größeres Unternehmen in Aussicht hast, kannst du dich jederzeit bei mir melden. Ich gebe dir die Adresse, unter der du mich am ehesten erreichen kannst.“ Sam nickte. „Sehr gerne.“ Wer weiß... vielleicht war die Schatzjagd mit Flynn gar keine schlechte Idee. Zumindest würde er von den Kontakten und Erfahrungen des anderen Mannes profitieren können, auch das war schon eine Menge wert. Er war sich ganz sicher nicht zu schade, alle Optionen auszuschöpfen, wenn es Nate und ihn näher an ihr Ziel brachte. Weihnachten verging nahezu ereignislos und trotz der Umstände empfand Sam die Stimmung an dem Tag als ruhig, fast schon besinnlich. Er war den ganzen 25. Dezember über sehr still und reagierte selbst auf Flynns Versuche, ihn aufzuheitern, nur mit einem schwachen Lächeln. Aber wie sollte er auch in Festtagsstimmung kommen, wenn er wusste, dass Nate diesen Tag allein verbringen würde? Und das, nachdem Sam ihm versprochen hatte, dass sie zusammenbleiben würden, egal, was auch geschah...? „Hey“, sagte Flynn am Abend, nachdem das Licht abgeschaltet worden war. „Hey, Drake.“ Sam lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Bett und starrte zur kahlen Decke der Zelle empor. „Hmm?“ „Er wird lernen, es zu verstehen“, meinte Flynn leise. Für einen Augenblick wusste Sam nicht, wovon der andere Mann sprach. Doch dann begriff er. „Was, Nate?“, fragte er. „Was ist mit ihm?“ „Er wird verstehen, wieso du es getan hast“, entgegnete Flynn. Sam schwieg. Seine Gefühle mussten sich an diesem Tag deutlich auf seinem Gesicht widergespiegelt haben, wenn Flynn ihn so einfach hatte durchschauen können. „Das mag sein“, entgegnete er nach einer Weile. „Aber wirklich verstehen wird er es erst dann, wenn er selbst in meiner Lage ist. Und das ist die Frage, nicht wahr? Will ich, dass er jemals in meiner Lage ist?“ Flynn gab ein leises Seufzen von sich. „Ich befürchte, dass es dieses Leben mit sich bringt, manchmal auf die nicht ganz legale Art zu leben“, sagte er. „Entweder passt er seine Prinzipien daran an... oder er muss sich von dem Gedanken an die Schatzjagd verabschieden.“ Sam hätte fast gelacht. Als ob das jemals passieren würde. Und dennoch. „Manchmal frage ich mich, ob es nicht vorschnell von mir war, ihn aus seinem behüteten Leben zu reißen, egal, wie sehr er es gehasst hat.“ Seine Stimme war mit einem Mal sehr nüchtern. „So smart er auch sein mag, am Ende ist Nathan doch noch ein Kind. Und was weiß ich schon davon, wie man Kinder großzieht? Selbst wenn dieses Kind mein eigener Bruder ist...?“ Wie er es auch drehte und wendete, am Ende gelangte er mit seinen Überlegungen doch immer wieder an diesen Punkt. „Lass mich dir eine Gegenfrage stellen“, erwiderte Flynn. „Hätte er dir jemals verziehen, wenn du ohne ihn gegangen wärst?“ Sam musste nicht lange überlegen. „Niemals.“ „... da hast du deine Antwort.“ Sam rieb sich müde das Gesicht. Er wünschte, er könnte Flynns Einschätzung teilen. „Ich glaube nicht, dass es so einfach ist.“ „Vielleicht nicht“, entgegnete Flynn. „Vielleicht doch. Und vielleicht unterschätzt du deinen Bruder mehr, als dir bewusst ist.“ Sam hörte ihn in der Dunkelheit gähnen. „Aber wie dem auch sei“, sagte Flynn. „Zerbrich dir nicht zu sehr den Kopf. Du wirst ihn morgen brauchen. – Gute Nacht, Sam Drake.“ Für eine Weile hörte Sam ihn noch mit seiner Decke rascheln, dann wurde es allmählich still in der Zelle und wenig später begann der andere Mann leise zu schnarchen. Trotz seiner Müdigkeit lag Sam noch lange wach und dachte über Flynns Worte nach, bevor auch ihn schließlich der Schlaf übermannte. Die Verhandlung am nächsten Vormittag dauerte keine halbe Stunde. Die Beweislage sprach deutlich gegen ihn, und für eine Weile sah es so aus, als würde man ihm zu einem längeren Aufenthalt im Gefängnis verurteilen. Doch dann schaffte es der ihm zugeteilte Pflichtverteidiger, seine Strafe auf einen Geldbetrag und sechs Monate gemeinnütziger Arbeit zu reduzieren. Sam akzeptierte das Urteil erleichtert und ohne Protest. Da er und Nate eh nicht vorhatten, noch lange im Land zu bleiben, konnte er mit der Strafe leben. Vom Gefängnis zurück zum Motel war es ein weiter Weg und da es keine Buslinie gab, war Sam gezwungen, zu Fuß dorthin zurückzukehren. Da es sich in den letzten Tagen merklich abgekühlt hatte und eine dünne Schneedecke die Straßen bedeckte, war Sam völlig durchgefroren, als er sein Ziel schließlich erreichte. Mit klappernden Zähnen zog er den Motelschlüssel aus seiner Jackentasche und schloss die Tür des Zimmers auf, das Nate und er sich teilten. „Nathan?“, rief er, nachdem er den Schnee von seinen Schuhen geschüttelt hatte und eingetreten war. „Nathan, ich bin–“ Die Worte erstarben ihm auf den Lippen bei dem Anblick, der sich ihm bot. Das Zimmer war mehr schlecht als recht mit Tannenzweigen dekoriert, und auf dem Fensterbrett brannten mehrere, rote Kerzen, die den Raum in ein weiches Licht tauchten. Auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster stand ein halbes Dutzend weißer Plastikbehälter. Obwohl sie mit Folie abgedeckt waren, konnte Sam den Duft von gebratenem Truthahn, Kartoffeln und würziger Soße bis zur Tür riechen, und wie auf Knopfdruck begann sein Magen zu knurren. Von seinem kleinen Bruder fehlte jedoch jegliche Spur und für einen Moment war Sam felsenfest davon überzeugt, das falsche Zimmer betreten zu haben. Doch dann öffnete sich die Tür zum Bad und Nate trat in den Raum. „Sam!“ Sein Blick erhellte sich, als er seinen Bruder sah. „Du bist wieder zurück! Ich hatte gehofft, du würdest kommen, bevor das Essen kalt wird.“ Sie gingen aufeinander zu und umarmten sich kurz. „Hey, ich habe dir ein Versprechen gegeben.“ Sam lächelte. Dann deutete er zum Tisch hinüber. „Wo hast du das alles her? Hat Santa dir einen Besuch abgestattet?“ „Santa existiert nicht“, entgegnete Nate. „Das hast du mir damals gesagt. Ich kann nicht älter als vier gewesen sein.“ Sam grinste schief. „Ich war nicht immer der beste Bruder...“ Doch dann wurde er wieder ernst. „Sei ehrlich, Nathan – wie bist du an all diese Dinge gekommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das billig war.“ Nate verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe es von meinem Geld gekauft.“ „Für knapp fünf Dollar bekommt man nie im Leben so ein Festmahl“, erwiderte Sam. „Woher hast du das Geld genommen?“ Er zog bestürzt die Augenbrauen hoch. „Hast du es geklaut?“ „... was?“ Nate schien für einen Moment ernsthaft überrascht über diese Frage. „Nein!“, erwiderte er dann mit verletzter Miene. „Ich habe dafür gearbeitet!“ Jetzt war es an Sam, überrascht zu sein. „Gearbeitet?“ „Ich habe dir damals gesagt, dass ich dir beim Geldverdienen helfen würde, weißt du noch?“, fragte Nate und Sam nickte zögernd. Er erinnerte sich nur zu gut an jenen Abend. „Also dachte ich, ich gehe in die Stadt und führe ein paar von meinen alten Zaubertricks vor“, fuhr Nate fort. „Die Passanten waren sehr großzügig.“ Sam starrte ihn für einen Augenblick an, dann sackten mit einem Mal seine Schultern herab. „Du hast... Zaubertricks vorgeführt“, wiederholte er. „Ja.“ „Und die Leute haben dir Geld dafür gegeben.“ „Ja...?“ Sam konnte nicht anders; er begann zu lachen. Nate starrte ihn an, als war er sich nicht sicher, ob sein Bruder den Verstand verloren hatte. Sam ignorierte seinen Blick jedoch nur und zog ihn in seine Arme. „Ich bin so ein Idiot“, stieß er nach einer Weile hervor, bevor er abermals zu lachen begann. Und er hatte an Nate gezweifelt? Er hätte es wirklich besser wissen sollen. „Sam, ist alles in Ordnung?“, fragte sein Bruder verwirrt, als er ihn schließlich auf Armeslänge von sich schob. „Ja“, erwiderte Sam grinsend und wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Jetzt ist alles in Ordnung.“ Und nachdem sie den Tisch gedeckt und sich Essen auf die billigen Plastikteller getan hatten, die Nate besorgt hatte, warf Sam ihm über den Tisch hinweg einen langen Blick zu. „Danke, Nathan“, sagte er. „Ich meine es ernst. – Danke für alles.“ „Ist schon okay“, entgegnete Nate jedoch nur und zuckte mit den Schultern. „Du bist für mich da und ich für dich. Ist es nicht das, was Brüder tun...?“ Sam fehlten für einen Moment die Worte und es dauerte lange, bis er Nate nicht mehr anstarrte. Und als sie schließlich zu essen begannen und er Nate von seinen Unterhaltungen mit Flynn erzählte und sein Bruder ihm mit leuchtenden Augen Fragen dazu stellte... kam Sam zu der Erkenntnis, dass es das beste Weihnachten war, das er jemals hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)