Das Foto von Papa und mir von GingerSnaps ================================================================================ Kapitel 1: Das Foto von Papa und mir ------------------------------------ Ich lächle beim Anblick des alten Schwarz-Weiß-Fotos im Album. Ein Baby, gerade mal wenige Wochen auf dieser Welt, dichtes, dunkles Haar, die Augen schläfrig, schon halb geschlossen und der winzige, nackte Körper mit dem gerundeten Bäuchlein zufrieden, denn das Kind hat gerade gegessen. Die Kleine liegt auf dem Bauch eines Mannes mit schwarzem Kraushaar. Er blickt verliebt auf sie hinab und die großen, starken Hände halten sie fest und sicher. Ein vollkommener Moment! Der Mann auf dem Bild ist mein Vater und das Baby, das bin ich. Ach, kleines Mädchen, du weißt noch gar nicht, welche Reise vor dir liegt. Noch sind alle Türen offen. Du bist stark, gesund und du wirst geliebt. Das Leben hatte noch nicht die Chance, dir Wunden und Narben zuzufügen. Und du lernst den Mann, der dich festhält gerade erst kennen; diesen Mann der auch vor deiner Ankunft schon ein langes Leben gehabt hat. In diesem Leben ist er so vieles gewesen und er hat etliche Rollen gespielt. Er war ein Erstgeborener, so wie du selbst. Er war ein Junge, der bereits mit fünf oder sechs Jahren ein Erwachsener sein sollte, wie man dir erzählt hat; der damals schon geraucht hat und mit seiner Arbeit seine Familie mit ernähren musste. Das war damals, in jenem fernen Land zwischen Mittelmeer und Wüste, welches er dir und deiner Familie später zeigen wird und das irgendwie ein Teil von dir ist, den du nicht versteht, ebenso wenig wie die Sprache, die man dort spricht. Es liegt dir dennoch im Blut kleines Mädchen, egal was dein Verstand dazu sagt. Er war erst ein Soldat und später ein Kriegsgefangener, hat Folter am eigenen Leib erlebt und vielleicht hat er auch getötet hat, doch danach wirst du ihn niemals fragen. Er ist ein Mann, der zweimal alles hinter sich gelassen und in einem anderen fremden Land neu angefangen hat, während du selbst nicht einmal gern Urlaub machst und sei es nur an die Ostsee. Er war ein Ehemann. Drei Mal! Er war ein Geschäftsmann. Er war ein Spielsüchtiger. Er war auch süchtig nach Anerkennung und fand sie bei den Frauen. Bei sehr vielen Frauen. Er war ein Choleriker. Er war viel zu selten da und du hast Stunden damit zugebracht, auf das Geräusch des Schlüssels im Schloss zu warten. Oft hast du da bereits im Bett gelegen, hättest längst schlafen sollen und konntest es doch nicht, ehe du die Sicherheit seiner Gegenwart wieder gespürt hast. Das erste Samenkorn Angst hat ER damit in dein Herz gesät, erinnerst du dich, kleines Mädchen? Er war „Der Stärkste“, denn so haben ihn die Landsleute hier in der Fremde genannt und als Kind hat dich das stolz gemacht. Er war ein Rockstar, größer, greller und lauter, als das wirkliche Leben. Deinen kleinen Freundinnen hat er immer Angst gemacht, aber nicht dir. Er war so vieles in diesem Leben und bei den Geburten all´ seiner sieben Kinder stets dabei, doch eines war er selten: ein Vater! Letztes Jahr ist er von dieser Welt gegangen. Du konnte ihn gehen lassen, in dem Bewusstsein, dass er in diesem Leben nichts ausgelassen hast. Du hast ihm alles Vergeben und in Frieden weiter ziehen lassen. Du hast noch ein letztes Mal zum Abschied seine Hand gehalten und er hat sie fest gedrückt. Vielleicht hat er nicht gewusst, dass wir alle da waren, an seinem Krankenhausbett, doch der Stärkste konnte auch ganz am Ende nicht ohne Kampf gehen. Bis zuletzt haben diese großen Hände festgehalten. Und da schließt sich der Kreis, nicht wahr, kleines Mädchen? Doch von alledem weißt du noch nichts, du da auf dem Foto. Du weißt nur, dass es warm und sicher ist, wo du gerade bist. Deine Welt besteht nur aus dem Hier und Jetzt: Schlafen, kuscheln, eine saubere Windel und ein voller Bauch; mehr brauchst du nicht. Ich wäre manchmal gern noch einmal Du. Früher in deinem Elternhaus hat ganz nah bei einer Vergrößerung des Fotos von Papa und dir, welches du dir gerade anschaust, in der Schrankwand Eiche rustikal, ein anderes Bild gestanden. Der Blick deines Vaters geht darauf an deiner Mutter vorbei und richtet sich auf ein Ziel in eine unbekannte Ferne. Es ist beinahe symbolisch! Mama hingegen schaut mitten in die Kamera; die großen, hellen Augen freundlich, unschuldig und weit; der Blick so verletzlich, das man eine Decke um sie legen und von der kalten Welt abschirmen will! Er ist ihre erste große Liebe. Als sie sich treffen ist sie gerade erst vierzehn Jahre alt und er ein Mann der bereits mehrere Leben gelebt hat, mit einem Job und einer Ehefrau. Sie ist eine Schülerin, ein Mädchen, dass von Weite und Abenteuern träumt. Und so stürzt sie sich in ihr erstes! Ihre Mutter tut alles, um die beiden zu trennen, geht sogar zur Polizei, damit dieser dunkelhäutige Fremde aus ihrer beider Leben verschwindet und er die großen Hände von ihrer schönen, minderjährigen Tochter nimmt, doch es hilft alles nichts: Fünf Jahre später stehen diese Zwei dennoch vor dem Traualtar und wenige Minuten später entsteht dieses Foto von ihnen beiden. Und ein Jahr später haben sie dich, kleines Mädchen! Du bist erwünscht und sehnsüchtig erwartet. Doch es ist nicht alles so, wie es sein soll. Mama will mit ihrem Märchenprinzen ein Schloss errichten, doch Märchenprinzen gibt es nun mal nur im Märchen! Und als er ihr das Herz bricht, bricht es auch deines, kleines Mädchen. Du hast dich doch so sehr angestrengt, warst ein gutes Kind, hast alles getan, was du konntest, um sie beide glücklich zu machen! Doch eines Tages packt die Prinzessin dennoch alle Sachen und alle Kinder in Kisten und verlässt ihn; verlässt sogar die Stadt und der Papa kommt am Abend in ein verlassenes Schloss. Dieses Bild, wie er die Tür aufschließt und erkennt, dass ihr fort seid, wird dich lange nicht loslassen! Euer neues Schloss ist dann gar keines! Es ist ein finsteres Verlies, verborgen hinter der Reihenendhausfassade mit Ziergärtchen davor. Und hinter diesen Mauern lebt ein Monster, das euch alle fressen will! Den Vater siehst du nun nur noch jedes zweite Wochenende und in den Ferien und immer, wenn du in das Reihenendhaus zurück musst, macht sich eiskalte, lähmende Angst in dir breit. Nach einem Jahr entkommt ihr schließlich, doch da ist es für vieles schon zu spät. Das Monster hat euch nicht gefressen, aber sich bereits Teile von euch einverleibt! Und manche der Wunden werden nie ganz heilen. Aber diese Zeit hat auch deinen Panzer härter gemacht. Es ist wohl wahr, was man sagt: Was dich nicht tötet, macht dich stärker. Die Schule war immer hart für ein übersensibles, kleines Mädchen, doch nun trägst du einen Wolfspelz zur Tarnung. Ab jetzt wird zurück gebissen! Und du bist nun kein Kind mehr. Überraschend und wunderbar, wie das Leben nun einmal ist hat es nicht lange nach eurer Flucht etwas Wunderbares und Unerwartetes für dich in petto. Du triffst ein Mädchen, barfuß und im Sommerkleid. Ihr lacht zusammen, singt zusammen, erzählt euch eure Geheimnisse, erlebt einen Sommer voller Abenteuer, sie sagt dir etwas, was noch nie jemand zu dir gesagt hat, nämlich wie wunderbar du bist und dann folgt dein allererster Kuss. Der Mond scheint auf euch hinab und dein Herz rast wie verrückt. Ist es nicht eigenartig? Erst als ihre Lippen sich deinen nähern begreifst du, dass du das die ganze Zeit schon gewollt hast. Und wieder ist es wie im Märchen: Du bist nicht wie die anderen! Diese Erkenntnis braucht ein wenig zum reifen, aber in diesem Moment, mit diesem Kuss beginnt dein Erwachen. Du wünschst dir, dass das Mädchen im Sommerkleid den Weg mit dir bis zum Ende geht, doch das kann sie nicht! Es braucht drei Jahre, Wut, Tränen, sich trennen, sich wieder begegnen, Hoffen und Verzweifeln, ehe ihr endlich von einander lassen könnt. Du wirst dein Herz danach noch einige Male verlieren, es dir brechen lassen und halsstarrig an der Falschen festhalten. Irgendwann, du bist gerade zweiundzwanzig geworden und der Frühling in der Luft verspricht allen Lebewesen einen Neuanfang, als du SIE triffst! „Sie raucht Lucky Strike und rotzt auf die Straße!“ stellt deine Schwester amüsiert fest. Du bist so verliebt, doch rechnest mit dem Schlimmsten. Es kann gar nicht sein, dass ausgerechnet die mit dir sein will? Nicht SIE? Nicht mit DIR? Warum denn auch? Du wirst Jahre brauchen, um dem Frieden zu trauen. Und nicht nur du bist „beschädigte Ware“; sie ist es ebenso. Ihr streitet euch nächtelang, sagt gemeine, ungerechte Dinge zu einander, versöhnt euch wieder, verliebt euch auf dem Weg immer noch ein bisschen mehr, werdet gemeinsam erwachsen, kennt einander irgendwann so gut, wie euch selbst, errichtet euch ein eigenes Schloss, geht durch gute wie durch schlechte Tage, durch Krankheit und Gesundheit. Die Welt um euch herum hat sich verändert, ebenso, wie ihr selbst es getan habt und dieses Jahr werdet ihr endlich heiraten! Weil ihr es nun wollt! Weil ihr es nun dürft! Kleines Mädchen auf dem Bauch deines Vater, du hast von all´ dem noch keine Ahnung. Dein Weg wird voller Schrecken und voller Wunder sein. Wenn ich könnte, würde ich dir gern manches ersparen, dir hier und da zurufen: „Tu es nicht!“, doch selbst, wenn du mich hören könntest, du würdest es trotzdem alles noch einmal ganz genau so machen. So funktioniert dieses Spiel nun einmal! Und im Geiste mache ich heute ein neues Foto, hier in meinem Schloss, von meiner Prinzessin und von mir. Wir sind nicht mehr die Mädchen von damals. Die Züge unserer Gesichter haben sich vertieft. Das Leben hat seine Geschichte in sie geschrieben. Es steht uns gut! Wir halten uns bei den Händen. Wir lächeln einander an. Wir lassen einander nicht mehr los. Die Mitte des Weges ist erreicht. Eine lange Strecke liegt hinter uns. Eine unbekannte Route liegt noch vor uns. Wir gehen sie gemeinsam! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)