Wolkenwächter von Alligator_Jack (Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 30: ------------ Eigentlich hatte sich Ratford damit abgefunden, dass die Gefangenen von außen keine Hilfe zu erwarten hatten, und nachdem Vance endlich zugestimmt hatte, ihn bei seinen Ausbruchsplänen zu unterstützen, sah der Krieger auch keine Notwendigkeit mehr darin, von jemandem von der Oberfläche gerettet zu werden. Doch dann waren plötzlich diese drei Fremden in die Mine gestolpert und gerade, als es so aussah, als würden sie jeden Augenblick von Molas Dunkelelfen überwältigt werden, landete der Schlüsselbund klimpernd direkt vor Ratfords Füßen. Und im Bruchteil einer Sekunde warf er all seine Pläne über den Haufen und ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Bevor einer der Aufseher reagieren konnte, stürzte sich Ratford auf den rostigen Schlüsselbund. Seine wulstigen Finger pfriemelten an dem schmiedeeisernen Ring herum und in seiner Hektik entglitt er ihm gleich zweimal. Doch schließlich fand er den passenden Schlüssel zu den metallenen Schellen, die ihn fesselten, und eine Handumdrehung später fielen seine Ketten klirrend zu Boden. Ratford nahm sich keine Zeit, das Gefühl der Freiheit zu genießen. Stattdessen warf er Ahravi den Schlüsselbund zu, packte die Spitzhacke wie eine Axt und stürmte ohne zu zögern auf die Schmuggler zu, die inzwischen einen Ring um seine Befreier geschlossen hatten. Ratz war der erste, der ihn bemerkte. Er drehte sich hektisch um und fuchtelte wild mit seiner Peitsche. „Der Gefangene ist frei!“, schrie er schrill. „Die Sklaven haben die Schlüssel! Haltet sie auf!“ „Macht sie alle fertig!“, kreischte Mola in blinder Wut. Ratford fuhr wie ein Berserker zwischen die Aufseher. Er trieb sie mit wilden Schwüngen seiner Spitzhacke auseinander und in der Sturmerzhöhle brach das reinste Chaos aus. Als nächstes fielen Ahravis Ketten und die Pardelfrau reichte den Schlüssel an ihre beiden Gefährtinnen weiter. Gancielle kämpfte sich und seine Begleiter aus der Meute der zerlumpten Dunkelelfen frei, ohne einen der Schurken ernsthaft verletzen zu können. Ratz und einige weitere Aufseher rannten mit ausgerollten Peitschen durch die Mine, um die anderen Kidhara und Banashi davon abzuhalten, ihre Fesseln zu lösen. Die Sklaven, die zu schwach waren, um zu kämpfen, allen voran Vox, kauerten sich zitternd zusammen und schrien vor Angst. Und all der Lärm wurde von Molas lautem Kreischen und Fluchen übertönt. Ratz Gesicht färbte sich in einer Mischung aus Wut und Panik dunkelrot. „Überwältigt sie!“, schrie er den anderen Aufsehern zu und deutete auf Ahravi und ihre Gefährtinnen. „Tötet sie, wenn es nicht anders geht!“ Energisch stürmte er auf die Pardelfrauen zu, doch dann blieb er plötzlich stehen und klappte erschrocken den Mund auf. Wuleen hatte den Schlüsselbund in die Finger bekommen. Zwischen den Körpern der Dunkelelfen, die sich ihm in den Weg stellten, konnte Ratford sehen, wie Ratz weiß wie ein Laken wurde, als die Schellen an Wuleens Handgelenken aufsprangen. Wuleen löste in aller Seelenruhe auch die Fesseln von seinen Füßen und hob dann ruckartig den Kopf. In seinen Augen funkelte der Wahnsinn und er bleckte die Zähne, wie ein angriffslustiger Wolf, der die Lefzen hochzog. Seine Finger krümmten sich und dann stürzte er sich ansatzlos auf Ratz. Ratz versuchte nicht einmal, sich mit Wuleen anzulegen. Stattdessen drehte er sich um und lief davon, doch er war zu langsam. Schon nach wenigen Schritten hatte Wuleen ihn eingeholt, griff ihm mit einer Hand in den Nacken und stieß ihn brutal zu Boden. Wie im Wahn fiel er über ihn her und schlug immer wieder auf ihn ein, bis seine Fingerknöchel bluteten. Ratz stöhnte und wimmerte und versuchte, seinen Kopf mit seinen Armen zu schützen, doch schließlich bekam Wuleen seine Peitsche zu fassen. Er wickelte sie um Ratz‘ Hals und zog die Schlinge mit aller Kraft zu. Jetzt erst versuchte Ratz sich zu wehren. Er trommelte verzweifelt auf Wuleens Brustkorb ein, doch seine Schläge wurden immer schwächer. Seine Arme sackten kraftlos hinab und schließlich erstarb auch das letzte Zucken seines Körpers. Ratford bekam nur am Rande mit, wie Wuleen mit Ratz abrechnete. Er versuchte, sich zu den Eindringlingen durchzuschlagen, die sich, bedrängt von Molas Bande, zur Höhlenwand gekämpft hatten, wo sie sich nun energisch gegen die Dunkelelfen verteidigten. Mit einem weit ausladenden Hieb seiner Spitzhacke räumte Ratford einen Banditen aus dem Weg, der sich ihm leichtsinnigerweise entgegenstellte, doch dann trat Balam auf den Plan. Ratford bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie der Dunkelelf ihn mit einem lodernden Feuerball ins Visier nahm. Ratford duckte sich unter dem Geschoss hinweg und sah zähneknirschend zu, wie es in der rückwärtigen Wand einschlug und mit einer gewaltigen Explosion die ganze Höhle erschütterte. Kleine Steinchen und Staub rieselten von der Decke und Ratford fürchtete, dass die ganze Mine einstürzen würde, wenn Balam so weitermachte. Hilfesuchend sah er sich um und entdeckte Lazana, die verzweifelt versuchte, ihre Fesseln aufzuschließen. Farniel stand unschlüssig daneben. „Jetzt hilf ihr doch!“, brüllte Ratford den Waldelfen an. Dieser zuckte erschrocken zusammen, gehorchte aber. Sanft nahm er Lazana den Schlüssel aus den zitternden Händen und schob ihn in das Schloss ihrer Ketten. „Na endlich“, brummte Ratford und spürte im nächsten Moment, dass es wieder heiß wurde. Gerade noch rechtzeitig machte er einen Ausfallschritt zur Seite, ehe ein weiterer Feuerball Balams genau an der Stelle einschlug, an der er gerade eben noch gestanden hatte. Die Wucht der Explosion riss ihn von den Beinen und er verlor die Orientierung. Taumelnd rappelte er sich auf, stolperte und fiel wieder hin. Verschwommen konnte er erkennen, dass sich Balam für einen neuen Angriff in Stellung brachte. Die Luft zwischen seinen Handflächen entzündete sich und die Flammen ballten sich zu einer mächtigen Feuerkugel zusammen. Plötzlich schoss ein armdicker Speer aus purem Eis durch die Höhle. Er flog so dicht an Ratfords Gesicht vorbei, dass er die Kälte, die von ihm ausging, für einen Augenblick auf seiner Wange spüren konnte. Balam sah das Geschoss zu spät. Er versuchte noch, dem Eisspeer seinen Feuerball entgegenzuschleudern, um ihn in der Luft zu zerschlagen, doch er war zu langsam. Die Lanze traf ihn auf Brusthöhe, durchbohrte ihn und schleuderte ihn mehrere Meter zurück. Sein Körper überschlug sich mehrmals, bis der Eisspeer schließlich klirrend zerbrach, und der dunkelelfische Feuermagier blieb mit ausgestreckten Armen liegen. Ratford atmete auf und blickte erleichtert zu Lazana. Sie stand mit auf die Knie gestützten Armen da und auf ihrer Stirn glitzerten Schweißtropfen. Nachdem die Fesseln aus Schleierstahl ihre magischen Kräfte so lange unterdrückt hatten, kostete sie selbst ein verhältnismäßig einfacher Zauber viel Energie. Mola heulte vor Zorn, als sie Balam fallen sah. Mit einem gellenden Pfiff rief sie ihre Ratte zu sich und hetzte den räudigen Nager mit einem zitternden Fingerzeig direkt auf Ratford. Die kleinen, roten Augen der Riesenratte leuchteten boshaft, als sie ihren fetten Körper in Bewegung setzte und flink wie ein Wiesel zwischen den Beinen der kämpfenden Dunkelelfen hindurchflitzte. Mit einem angriffslustigen Piepsen sprang sie Ratford direkt aus der heulenden Meute der Banditen heraus an. Die langen, gelben Zähne des Nagers schlossen sich mit einem metallischen Knipsen nur haarscharf vor seinem Unterarm, dann krallte sich das stinkende Ungeziefer im zerschlissenen Stoff von Ratfords Tunika wieder. Die gekrümmten Klauen der Ratte bohrten sich wie kleine Widerhaken in seinen Brustkorb, als sie an seinem Körper hochkletterte und nach seinen Augen schnappte. Ihr Mundgeruch raubte Ratford den Atem und lähmte ihn für ein paar Sekundenbruchteile. Doch dann griff er der Ratte direkt in das verfilzte Nackenfell und riss sie sich vom Gesicht, bevor sie ihm ein Auge ausbeißen konnte. Die Krallen des Nagers schrammten über seine Wangen und hinterließen blutige Kratzer, doch Ratford achtete gar nicht darauf, sondern schleuderte die Ratte wuchtig zu Boden. Das stinkende Tier quiekte benommen und strampelte mit den kurzen Beinen, während Ratford die Spitzhacke schwang und sie tief in den verlausten Körper schlug. Die Ratte bäumte sich auf, als der Pickel sich quer durch ihre Rippen bohrte, und öffnete das Maul mit den fiesen Zähnen zu einem atemlosen Piepsen, dann kippte ihr Kopf zur Seite und sie rührte sich nicht mehr. Ratford zog die blutige Spitzhacke aus dem Kadaver und versetzte ihm einen verächtlichen Tritt, der die Ratte bis zum anderen Ende der Sturmerzhöhle beförderte. Molas wutverzerrte Stimme überschlug sich nun vollends. „Diese Mistkerle!“, schrie sie und schlug blindlings mit ihrem Säbel um sich. Einige ihrer Untergebenen mussten sich ducken, um nicht von ihr geköpft zu werden. „Macht sie fertig! Zieht ihnen die Haut ab! Reißt ihnen die Gedärme raus!“ Die Dunkelelfen waren bemüht, ihre Befehle in die Tat umzusetzen, doch ihre Gegner wehrten sich verbissen. Farniel und die anderen Sklaven waren dazu übergegangen, die Banditen mit Steinbrocken zu bewerfen und trieben sie so immer wieder auseinander. Ratford und Wuleen standen nun Seite an Seite und ließen jeden Banditen bitterlich büßen, der sich zu nahe an sie heranwagte. Mola kreischte sich die Seele aus dem Leib, doch sie hielt überrascht inne, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Die drei Pardelfrauen hatten sich von hinten an sie herangeschlichen. Mola zuckte reflexartig zurück, als Ahravis scharfe Krallen durch die muffige Luft schnitten. Sie trennten ihr eine rote Haarsträhne aus dem wilden Schopf und Mola revanchierte sie sich sofort mit einem wütenden Säbelhieb, dem Ahravi allerdings mit einem geschickten Sprung entging. Dann fingen die Katzendamen an, Mola zu umzingeln. Die Raserei fiel urplötzlich von Mola ab, als ihr bewusst wurde, dass sie es mit drei Gegnern gleichzeitig zu tun hatte. „Hierher!“, schrie sie gellend, während sie sich Ahravi und ihre Gefährtinnen mit wilden Säbelhieben vom Leib hielt. Ihre Augen zuckten wild hin und her, doch es war fast unmöglich, auf alle drei Pardelfrauen zu achten, die Mola mit koordinierten und geschmeidigen Bewegungen umkreisten. Die wenigen Dunkelelfen, die nicht alle Hände voll damit zu tun hatten, Wuleen und Ratford in Schach zu halten, kamen ihrer Anführerin sofort zu Hilfe. Von der Seite griffen sie die Pardel an und traktierten sie mit wilden Schwertstreichen. Kidhara und Banashi empfingen die Banditen mit ihren rasiermesserscharfen Krallen, während sich Ahravi Mola alleine stellte. Mola hob angriffslustig den Säbel und schien zu überlegen, wie sie Ahravi am besten angreifen sollte. „Mach keinen Blödsinn, Mieze“, knurrte sie drohend. „Wenn du brav zurück ins Körbchen gehst, lasse ich euch vielleicht am Leben.“ Ahravis Antwort war ein wütendes Fauchen. Sie schlug mit ihren Krallen zu, doch Mola trat geschickt einen Schritt zur Seite, brachte ihren Säbel in Position und ließ ihn mit ausladenden Bewegungen von einer Seite zur anderen schwingen. Bei jedem Hieb machte sie einen Schritt nach vorn und drängte Ahravi auf diese Weise langsam zurück. Die Pardelfrau behielt die Klinge mit ihren scharfen Augen ständig im Blick. Da packte Mola mit ihrer freien Hand urplötzlich den Dolch an ihrem Gürtel und machte blitzschnell einen Satz nach vorn. Ahravi wurde von diesem Manöver überrascht. Hektisch versuchte sie zur Seite auszuweichen und geriet dabei ins Straucheln. Sie fiel auf den Rücken, drehte reflexartig die Schulter ein und der Dolch streifte ihren Arm. Knurrend packte sie Mola, die direkt über ihr stand, beim Handgelenk und grub ihr die Klauen ins Fleisch. Mola zischte erschrocken und ließ den Dolch fallen, schwang mit der anderen Hand aber bereits ihren Säbel. Ahravi bekam den Dolch in letzter Sekunde zu fassen und hielt ihn schützend vor ihren Körper. Der geschwungene Säbel traf die schmale Klinge mit voller Wucht und schlug eine tiefe Kerbe hinein. Mola hielt überrascht und verärgert inne. Ahravi nutzte diese Gelegenheit sofort und trat ihr mit beiden Beinen ins Zwerchfell. Mola schnappte mit ersticktem Keuchen nach Luft und Ahravi sprang blitzschnell auf die Füße und rammte den Dolch direkt in Molas Brust. Die Falten auf Molas Gesicht erzitterten und sie taumelte überrascht zurück. Unkontrolliert schlug sie mit dem Säbel um sich, doch Ahravi war außerhalb ihrer Reichweite. Dann stieß sie mit der Ferse gegen eine Kante im Höhlenboden, stolperte und fiel der Länge nach hin, während ihre faltigen Gesichtszüge erschlafften. Der Aufprall ihres Leichnams war gleichbedeutend mit dem Ende des Kampfes. Zusammen mit Mola starb auch der letzte Widerstand der übrigen Banditen. Als sie ihre Anführerin fallen sahen, warfen sie ihre Waffen zu Boden und ergaben sich mit erhobenen Händen. Gancielle ließ erschöpft sein Schwert sinken und wandte sich sorgenvoll Lexa zu. Mola hatte sie mit einem Schwertstreich an der Taille erwischt und in ihrer Rüstung klaffte ein langer Riss, der sich mit ihrem Blut gefüllt hatte. Nun kauerte sie an die Felswand gelehnt auf dem Höhlenboden und betastete die Wunde mit schmerzerfülltem Blick. „Ich habe mich wohl etwas übernommen“, zischte sie und grinste gequält. „Danke für deine Hilfe. Ohne dich hätte mich diese alte Furie aufgespießt wie einen Fisch.“ „Das konnte ich nicht zulassen“, erwiderte Gancielle. „Es würde Meister Syndus bestimmt nicht gefallen, wenn seine beste Späherin einer meiner unautorisierten Einzelaktionen folgen und dabei ums Leben kommen würde.“ „Herzerwärmend“, lachte Lexa heiser. „Und ich dachte, du hättest es für mich getan.“ Gancielle wurde rot. „Das sollte nur ein Witz sein“, murmelte er verlegen. „Hat dich die Alte schlimm erwischt?“ „Es geht“, antwortete Lexa und hob kurz die Hand, um die Verletzung zu begutachten. An ihren Fingern klebte ihr eigenes Blut. „Die Wunde ist nicht besonders tief. Aber ich werde sie untersuchen lassen müssen.“ Plötzlich verfinsterte sich ihre Miene. Gancielle folgte ihrem Blick und hob überrascht die Augenbrauen. Dort, in der Öffnung des Ganges, stand Yarshuk, mit käseweißem Gesicht. Gancielle erkannte ihn sofort. Als Loronk nach Eydar gekommen war, hatte ihm Yarshuk noch als treuer Fähnrich gedient. Dann war er angeblich in den Sümpfen verschollen. Dass er jetzt in der Mine auftauchte und nicht in Ketten lag, ließ nur einen Schluss zu. Gancielle sah, wie die Lippen des Orks tonlos seinen Namen formten. Seine ängstlich aufgerissenen Augen, die überhaupt nicht zu seinem mächtigen Körperbau passen wollten, waren nicht auf das blutige Gemetzel in der Mitte der Höhle, sondern fest auf Gancielle gerichtet. „Das glaube ich jetzt nicht…“, hauchte Gancielle und machte mechanisch einen Schritt nach vorn. Yarshuk zuckte zusammen, drehte sich um und lief davon, als wäre ihm ein ganzes Rudel Warge auf den Fersen. „Verdammt!“, zischte Gancielle und nahm sofort die Verfolgung auf. „Lexa, sieh zu, dass diese Wüteriche nicht jeden dieser Halsabschneider umlegen! Ich knöpfte mir Yarshuk vor!“ Der Ork verschwand hinter einer Biegung des Ganges. Gancielle rannte ihm nach, wobei sich seine Gedanken überschlugen. Yarshuk machte mit den Banditen gemeinsame Sache, dafür war allein seine panische Flucht Beweis genug. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Loronk nicht wusste, dass sein treuester Diene noch am Leben war. Der Brigadegeneral steckte mit den Schmugglern unter einer Decke und vermutlich war er sogar der eigentliche Drahtzieher. Gancielle wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass der Ork triumphierend in seinen Gemächern saß und vorgab, nach den Vermissten zu suchen, während er sie in Wahrheit in der Mine schuften ließ, um mit Sturmerz handeln zu können. Von Anfang an war Gancielle klargewesen, dass der Brigadegeneral ein machtgieriger Widerling war, aber dass er derartig verbrecherischen Machenschaften nachging, hatte er nicht einmal im Ansatz erahnt. Blanke Wut stieg in ihm auf, als er daran dachte, dass Loronk ihn als widerspenstigen Kommandanten auf so hinterhältige Art und Weise aus dem Weg geräumt hatte. Seine Schlussfolgerungen waren logisch und ergaben Sinn, aber das reichte Gancielle nicht. Er wollte es aus Yarshuks Mund hören. Er wollte, dass ausgerechnet Loronks treuer Fähnrich die Machenschaften seines Vorgesetzten aufdeckte. Feuchte, muffige Luft empfing Gancielle, als er mit verbissenem Gesicht in die Höhle stürzte, in der sich der Sklavenverschlag befand. Ein im Fackelschein tanzender Schatten an der Wand verriet ihm, dass Yarshuk nicht durch die große Grotte flüchten wollte, sondern in den zweiten abzweigenden Gang gerannt war. Gancielle heftete sich unerbittlich auf seine Fersen. Er konnte das leise Klirren des Kettenhemds hören, das der Ork unter seinem Lederbrustpanzer trug. Yarshuk war ein stämmiger Kerl, aber das Gewicht seiner Rüstung ließ seine Kräfte schwinden. Seine Schritte wurden kaum merklich langsamer und schon bald tauchte sein breiter Rücken vor Gancielles Augen auf. Yarshuk hatte noch immer einen beträchtlichen Vorsprung. Er rannte keuchend und stöhnend vor Anstrengung durch eine riesige Höhle, in der zahlreiche Decken und Matten verteilt lagen. Hoch über ihm klaffte ein breiter Spalt im Gestein, durch den gedämpftes Tageslicht und würzig riechende Frischluft strömten. Der süßliche Duft von altem, feuchtem Holz konnte den beißenden Schnapsgestank, der wie ein betäubender Nebel in der Höhle hing, nicht einmal ansatzweise übertünchen. Yarshuks stockender, pfeifender Atem hallte gespenstisch von den Höhlenwänden wider. Gancielle konnte erkennen, dass er kurz davor war, vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Er vermisste seine Rüstung, aber in diesem Augenblick war er froh, ihr zusätzliches Gewicht nicht mit sich herumschleppen zu müssen. Yarshuk erreichte das rückwärtige Ende der großen Höhle trotzdem vor ihm. Er rettete sich in einen breiten Gang, der wieder von Fackeln erhellt wurde, und Gancielle verlor ihn wieder aus den Augen, als er um eine Tunnelwindung bog. Doch er blieb ihm auf den Fersen. Der Gang weitete sich plötzlich und endete in einer kleinen Höhle mit hoher Decke. Gancielle blieb stehen. Vor sich sah er ein alles andere als stabil wirkendes Holzgerüst. Alte Taue hielte morsche Bretter und Stützbalken zusammen, die sich zu einer Art Treppenhaus auftürmten. Über marode Stufen gelangte man von einer Plattform zum nächsten und das gesamte Gestell ragte bis unter die Höhlendecke. Dort schien ein schmaler Schacht noch weiter nach oben zu führen, denn an der Wand war eine schmale Leiter angebracht, die hinter einigen Tropfsteinen verschwand. Gancielle entdeckte Yarshuk auf der zweiten Plattform. Der Ork stützte sich mit einer Hand auf die wackelige Balustrade und warf einen gehetzten Blick über seine Schulter. Als er Gancielle sah, grunzte er und kämpfte sich weiter die Treppe nach oben. Gancielle verlor keine Zeit mehr. Gleich drei Stufen auf einmal nehmend folgte er Yarshuk, der immer wieder panisch zurückblickte. Gancielle glaubte fast, das rasende Herz des Orks zu hören, doch obwohl Yarshuk offensichtlich am Ende seiner Kräfte war, erreichte er die oberste Plattform noch vor Gancielle. Sofort stieg er auf die Leiter und schob sich unter angestrengtem Ächzen und Stöhnen nach oben. Gancielle war dicht hinter ihm. Er griff nach den dünnen Sprossen, ignorierte die Splitter, die sich in seine Handflächen bohrten, und kletterte geschickt wie ein Affe an der Leiter empor. Über Yarshuks bulligem Körper entdeckte er einen schmalen Spalt, durch den er das grüne Blätterdach der Düstermarsch sehen konnte. Kurz bevor der Ork das obere Ende der Leider erreichte, hatte Gancielle ihn eingeholt. Er streckte seinen Arm aus und packte Yarshuk an der Wade. Der Fähnrich japste erschrocken auf, doch dann wehrte er sich. Mit all seiner verbleibenden Kraft trat er nach unten und erwischte Gancielle am Ellenbogen. Gancielle verlor fast den Halt und ließ den Ork reflexartig los, dem die Angst plötzlich neue Energie zu verleihen schien. In Windeseile erklomm er die letzten Sprossen und zwängte sich durch den Spalt ins Freie. Verschlungene Wurzeln streiften seinen Rücken und auf Gancielle, der sich krampfhaft an der Leiter festhielt, rieselte Erde. Er wagte einen kurzen Blick nach unten, der ihm verdeutlichte, dass ein Sturz aus dieser Höhe nicht gut ausgehen würde. Als er den Kopf in den Nacken legte und wieder nach oben sah, tauchte für einen Moment Yarshuks gerötetes Gesicht vor ihm auf, doch es verschwand schnell wieder. Stattdessen schob sich unter dem lauten Ächzen des Orks ein großer Felsbrocken in sein Blickfeld. Gancielle riss erschrocken die Augen auf, als der schwere Klotz von Yarshuk durch die Öffnung gewuchtet wurde und dabei Erde und Grasbüschel mit sich riss. Mit einem erstickten Aufschrei ließ Gancielle die Leiter mit einer Hand los und schwang sich zur Seite. Seine Füße pendelten zur Seite und schlugen gegen die Höhlenwand. Der Felsen verfehlte ihn so knapp, dass er den Luftzug an seiner Wange spürte. Tief unter ihm durchschlug der Steinbrocken mit ohrenbetäubendem Krachen sämtliche Plattformen des Holzgestells und blieb in einem Haufen aus Splittern und Bruchstücken liegen. Das gesamte Gerüst wackelte bedenklich, blieb trotz des gewaltigen Lochs in seiner Mitte aber stehen. Gancielles Herz schlug ihm bis zum Hals und er zitterte am ganzen Leib. Mit einer Hand hing er an der Leiter und starrte ungläubig auf das Loch, dass der Felsbrocken durch den Holzturm geschlagen hatte. Um ein Haar vergaß er den Ork, den er verfolgte, doch dann ergriff er die Sprossen wieder mit beiden Händen, schwang sich auf die Leiter und zwängte sich wenige Atemzüge später durch die Öffnung. Der dichte Wald der Düstermarsch umfing ihn mit all seinem Modergeruch und Insektensurren. Das gedämpfte Rauschen der Brandung zeugte von der nahen Küste. Gancielle bemerkte, dass er sich auf dem großen Hügel am Rande der Bucht befand. Von hier war das Loch, das in die geheime Mine der Schmuggler führte, kaum zu erkennen. Es war nichts weiter, als ein im Schatten verborgener Spalt unter den gekrümmten Wurzeln einer alten Moorbirke. Zwischen ihren Blättern blitzte die Sonne hervor. Der Morgennebel hatte sich verzogen und Yarshuk war entkommen. Gancielle warf in einem Anflug von verbitterter Enttäuschung sein Schwert schwungvoll zu Boden. Er war kein Fährtensucher und ohne die nötige Fachkenntnis war es unmöglich, den flüchtigen Ork in den tiefen Wäldern der Düstermarsch zu finden. Gancielle hätte Yarshuk nur allzu gerne erwischt, aber jetzt musste er sich wohl oder übel damit abfinden, dass Loronks Fähnrich über alle Berge war. Mit einem resignierten Seufzen drehte sich Gancielle um. Der schmale Zugang unter den Wurzeln war so gut versteckt, dass es kein Wunder war, dass Lexa ihn nie entdeckt hatte. Gancielle kroch rückwärts in den Spalt hinein, tastete mit seinen Füßen nach unten, bis er die Sprossen der Leiter spürte, und kletterte langsam abwärts. Als er die oberste Plattform des Holzturms erreichte, zögerte er. Das ganze Gerüst hatte von Anfang an nicht sehr stabil ausgesehen, aber nachdem es von dem großen Felsbrocken getroffen worden war, schien es nun jeden Augenblick auseinanderzufallen. Gancielle prüfte vorsichtig, ob die oberste Plattform sein Gewicht aushielt. Er betrat sie mit beiden Füßen, ohne jedoch die Leiter loszulassen. Das alte Holz ächzte und knarrte hielt allerdings stand. Gancielle wagte es, seine Hände von den Leitersprossen zu nehmen. Ganz langsam bewegte er sich auf die marode Treppe zu. Das instabile Gestell wackelte bei jedem seiner Schritte und Gancielle hielt immer wieder die Luft an, aus Angst, das ganze Gerüst könnte schon beim kleinsten Atemzug in sich zusammenstürzen. Quälend langsam stieg er die Stufen hinunter, begleitet vom ständigen Knarzen des morschen Holzes. Als er schließlich die unterste Plattform erreichte, erbebte das gesamte Gestell. Eine dicke Planke löste sich über ihm und stürzte in die Tiefe. Mehrere Splitter folgten und dann hörte Gancielle das unheilkündende Knacken eines Balkens. Bevor das wackelige Gestell über ihm zusammenbrechen konnte, stürzte er sich mit einem beherzten Sprung über die Balustrade und landete zwei Meter tiefer auf dem Boden. Er fiel der Länge nach hin und sah, wie ein dicker Stützpfeiler einfach abknickte. Taue rissen, Holz splitterte und die oberste Plattform brach aus ihrer Verankerung. Das schwere Gerüst stürzte in die Tiefe, wobei es weitere Balken und Bretter zerschmetterte, und schließlich wankte der ganze Turm, neigte sich weit zur Seite und stürzte schließlich in einer gewaltigen Staubwolke in sich zusammen. Gancielle brachte sich hinter der Windung des Tunnels in Sicherheit, um durch die Luft fliegenden Trümmern und Holzsplittern zu entgehen. Als sich der Lärm und die Staubwolke gelegt hatten, spähte er vorsichtig um die Ecke. Von dem großen Gerüst war nur noch ein Haufen Schutt übrig. Die Leiter hoch über ihm hing zwar noch an der Wand, war nun aber unerreichbar. Der Hinterausgang wäre eine gute Möglichkeit gewesen, die Gefangenen aus der Höhle zu bringen, aber nun war ihnen dieser Weg versperrt. Gancielle rümpfte verärgert die Nase. „Hoffen wir, dass der Knucker die Bluthechte inzwischen verdaut hat und wieder Heißhunger hat“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)