Merry fucking Christmas. von Ikeuchi_Aya ================================================================================ Kapitel 1: -----------   Merry fucking Christmas. (c) Ikeuchi_Aya   „Merry Christmas everyone.“ Ein fröhlicher Festtagsspruch, der musikalisch unterlegt durch die Lautsprecher des Kaufhauses schallte, in welchem sich die ganze Stadt zu tummeln schien. Überall liefen Menschen durch die Gänge, in dicken Mänteln oder Jacken steckend, hektisch die letzten Weihnachtsgeschenke suchend. Manche standen minutenlang mit einem Artikel in der Hand vor dem Regal, schienen sich nicht einig darüber werden zu können, ob sie ihn kaufen sollten oder nicht. Kassierer, die heute, an Heiligabend, Extraschichten einlegen mussten. Keiner von ihnen hatte frei bekommen, denn neben dem Warenscannen und Geldeinnehmen mussten die Geschenke auch noch eingepackt und in Tüten ausgehändigt werden. Nicht zu vergessen die beratende Funktion, die ihnen auferlegt war. Auf jede Frage mussten sie eine Antwort haben. Für jedes Problem eine Lösung. Und mittendrin dieses Weihnachtslied: Merry Christmas everyone. „Fick dich, Weihnachten“, murmelte Carla in ihren nicht vorhandenen Bart hinein und stellte eines der heruntergefallenen Pinguinstofftiere in das Rondell zurück, wo sich seine Artgenossen befanden. Es war dreizehn Uhr. Noch eine verdammte Stunde. Eine verdammte Stunde in diesem Kaufhaus, bis sie ihr Namensschild und ihre Uniform für ganze zwei Tage ablegen und wieder Mensch sein durfte. Sie hatte in den letzten vier Wochen mehr Stunden geschoben als manch anderer. Und immer schön lächeln. Inzwischen war Carla gar nicht mehr nach Lächeln zumute und ihre Mundwinkel waren ihrem Kinn gefährlich nah gerückt. Würde ihre Teamleiterin sie so sehen, gäbe es eine Rüge, weil sie auf diesem Weg natürlich keinen Kundenfänger abgab. Und die Kunden waren oberste Priorität. „Entschuldigung, haben Sie den in Weiß?“, drang da eine weitere der blöden Fragen an ihr Ohr und die blonde Frau Mitte 20 beschloss, sie auf Platz 3 der dümmsten Fragen im Weihnachtsgeschäft zu zu ordnen. „Ist Ihnen schon mal ein weißer Pinguin begegnet?“, hätte sie am liebsten gesagt, aber stattdessen biss sie sich auf die Zunge und entgegnete zerknirschten Lächelns: „Nein, tut mir leid. Das ist die einzige Ausführung.“ Der Mann mittleren Alters, welcher sie gefragt hatte und sie um zwei Köpfe überragte, setzte eine verdrießliche Miene auf. „Oh, dann nicht.“ Zack. Der Stoffpinguin in seiner Hand landete lieblos in dem Haufen der anderen Watschler und er selbst ging von dannen. Keinen Dank. Keine Verabschiedung. Vielleicht war sie inzwischen ebenso nur ein Maskottchen, das man wie Dreck behandeln konnte? Widerwillig stopfte sie das arme Tier an seinen richtigen Platz. „Fick dich, Weihnachten“, murmelte Carla wieder, diesmal lauter. Ding – ding – ding. „Eine Durchsage an alle Kunden: Unser Kaufhaus schließt in einer halben Stunde. Bitte begeben Sie sich langsam zu den Kassen. Ich wiederhole...“ Der Countdown lief! Carla ließ den Pinguin los und in diesem Moment passierte ihr etwas, was sie im gesamten Monat gehofft hatte zu vermeiden: der Turm stürzte ein. Dreißig verdammte Watschelviecher purzelten zu Boden, machten einen Bauchklatscher oder landete auf ihre Köpfe und Hintern. Und als wäre das nicht genug, wurden sie von den hektischen Leuten auch noch in diverse Richtungen gekickt. Noch eine halbe Stunde… dann hätte sie für zwei Tage Ruhe. „Ein schönes Fest euch allen! Bis nächste Woche.“ „Ja, mach es gut! Bis nächste Woche!“ Die Kolleginnen verabschiedeten sich und verließen die Personalumkleide. Carla vermied es zu antworten und steckte ihren Kopf einfach ein bisschen tiefer in den Spind. Der Tag war ein Graus gewesen und wenn sie jetzt etwas wollte, war es schlicht und einfach ihre Ruhe. Ihre Arbeitskleidung ins obere Fach legend und das Namensschild auf diese bettend, nahm sie ihre Umhängetasche heraus und schloss die Tür, den Schlüssel einmal nach rechts umdrehend. Sie war eine der letzten, aber das störte sie nicht. „Hey Carla, was machst du die Tage über? Feierst du mit Tony?“ Oh nein … Linda. Die kleine (gefärbte) Rothaarige, die nicht verstand, dass sie nicht ihre Freundin werden wollte. Linda versuchte es stattdessen immer und immer wieder. Vermutlich solange, bis Carla irgendwann ja sagte. Darauf könnte sie aber lange warten. „Ja, so in etwa.“ „Oh, das freut mich wirklich! Ich habe ja leider immer noch keinen Freund. Ich sag dir, die letzte Verabredung war-“ „Du, ich muss mich beeilen, ja?“, schnitt ihr Carla das Wort ab und befand sich bereits an der nah gelegenen Tür. Linda war noch nicht fertig mit Anziehen, ihr fehlte noch ein Stiefel. Allein Carlas Blick auf deren Füße reichte aus, dass die Kollegin verstand: Wollte sie mit nur einem Schuh in die Kälte? „Ah, natürlich“, strahlte Linda bis über beide Ohren, „Klar. Beeil dich! Er wartet bestimmt schon auf dich! Bis zum 27. dann!“ „Ja, bis dann.“ „Und frohe Weihnachten!“ „Dir auch.“ Carla zwang sich unter ihrer monotonen Stimme ein dünnes Lächeln ab und verließ die Umkleide. Schnellen Schrittes verließ sie ebenso das Kaufhaus durch den Seiteneingang, der nur für das Personal angedacht war. Bloß nicht stehenbleiben oder lange zögern. Sie hatte keine Lust, dass sich noch weitere der Angestellten zu ihr gesellten. Sollten sie ruhig denken, dass sie deswegen so in Eile war, weil ihr Tony auf sie wartete! In Wahrheit war dies jedoch ganz und gar nicht der Fall: Tony, ihr vermeintlicher Freund, hatte ihr vor fünf Wochen eröffnet, dass er seit zwei Monaten eine Affäre hatte. Es wäre total unerwartet gewesen und er hatte es ihr auch immer sagen wollen, aber… Weiter hatte Carla ihn nicht erzählen lassen. Der eigentlich gemeinsam geplante Abend mit einem guten Essen und einer Flasche Wein endete in Rotweinflecken auf seinem Hemd und einer Delle auf Kopfhöhe an ihrer Küchenwand. Tony lebte noch, war davongekommen. Für Carla hingegen hatte das Chaos damit erst angefangen. Sie war immer noch stinkwütend, wenn sie an diesen Kerl dachte, der sich sein Gewissen hatte erleichtern wollen. Von Reue keine Spur. Und deswegen hatte sie sich auch in die Arbeit gestürzt, die sie zwar hasste, aber welche ihr wenigstens eine Möglichkeit gab, ihre angestaute Wut in Energie umzuwandeln und nicht ihre gesamte Einrichtung kaputtzuschlagen. Ihrer Stimmung hatte es aber nicht geholfen und Carla hatte gemerkt, wie überaus gereizt sie auf die kleinsten Kleinigkeiten reagierte. Wie zum Beispiel jetzt: Schnee. Der erste. Aber kein schöner Pulverschnee, sondern vereiste Kristalle, die einem am Mantel kleben blieben und ihn mit der Zeit durchnässten. Und Carla hatte einen weiten Weg durch die Stadt. Oder das: die nicht kommenden Busse. Hier am Kaufhaus verkehrte nur eine Linie und die war der Meinung wegen einer Schneeflocke komplett auszufallen. Es waren ja auch nur zwei Kilometer bis zum Bahnhof, welche sie nach einem harten Arbeitstag gerne ablief. Vielleicht war es aber auch der langsam gehende Rentner am Rollator vor ihr, der ihr den letzten Nerv raubte, als sie sich auf dem schmalen Gehweg einfach an ihm vorbei schlängeln wollte und er natürlich ausgerechnet dann ebenso zur Seite ausweichen musste. Jedenfalls bekam ihre geplatzte Hutschnur der nächstbeste Passant zu spüren, welchen sie nun bei der Schlängelaktion anrempeln musste und dabei auf eine rutschige Stelle trat, so dass sie wegknickte: „Verdammter Idiot, pass doch auf!“, schnauzte sie den Kerl an, der ebenso stolperte, sich aber noch einmal zu fangen wusste. Ihr riss die Umhängetasche von der Schulter, die daraufhin an ihrem Unterarm hängen blieb, der Inhalt sich jedoch auf dem Gehweg verteilte. „So eine Scheiße...“, fluchte Carla, ohne noch eine Sekunde auf den anderen zu achten und ihre Utensilien aufzusammeln begann: ein Kugelschreiber, eine Packung Taschentücher, … Handy. Wo war ihr Handy? Panisch sah sie sich um – kein Handy zu sehen. Hatte sie es in der Manteltasche? Nervös tasteten ihre Finger nach einem Telefon, aber fanden nichts. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! „Sorry, ist das deins?“, erklang hinter ihr eine männliche Stimme, und Carla voller Inbrunst, wollte bereits loskeifen, ob der Idiot von eben nicht schon genug hatte. Als sie allerdings zu ihm aufblickte, erkannte sie, dass er gar nicht derselbe war und verkniff sich den Kommentar. Zumal er ihr gesuchtes Telefon in der Hand hielt. „Ja… danke“, antwortete sie nickend und stand auf. Das Smartphone entgegennehmend, betrachtete sie es von allen Seiten und betätigte die Menütaste, so dass das Display ansprang und nach dem Entsperrungscode fragte. Schien in Ordnung zu sein. „Scheinst einen ziemlich abgefuckten Tag zu haben“, bemerkte der Finder schließlich nach längerer Stille und einem anschließenden Räuspern seinerseits. Carlas Augenbrauen hoben sich fragend und sie betrachtete ihren Gegenüber zum ersten Mal genauer: Er war ungefähr gleichgroß, schien normaler Statur zu sein und hatte eine dicke marineblaue Steppjacke an, unter der ein cremefarbener Schal hervorguckte. Jeanshosen, Halbschuhe. Auf dem Kopf eine ebenso marineblaue Wollmütze. Vermutlich trug er eine Glatze oder zumindest sehr kurze Haare, da keine Strähnen hervorlugten. Sein Dreitagebart machte ihn älter. Ohne wirkte er bestimmt bedeutend jünger. Gerade Nase, aber leicht eingefallene Augen. Ein Mann, der etwas ausstrahlte, aber gewiss nicht zu den auf dem ersten Blick Hübschen gehörte – so ihr Fazit. „Kann schon sein“, entgegnete Carla genervt und steckte ihren kostbaren Besitz wieder zurück in die Umhängetasche, „Danke jedenfalls.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging ein paar Schritte weiter. Genug Smalltalk. Ab nach Hause. „Hey, warte mal“, rief ihr der Fremde nach und bevor sie sich versah, hatte er sie schon eingeholt und lief an ihrer Seite. „Was soll das werden?“, machte sie einen Schritt von ihm weg und schaute missfallend drein, „Nein, ich geb' dir keine Telefonnummer oder Mailadresse.“ Der fremde Mann schien irritiert, musste dann aber fast schon schmunzeln, „Entschuldige, hatte ich auch nicht vor zu fragen.“ „Was wollen Sie dann von mir? Und hören Sie auf mich zu duzen!“ Eine weitere Angewohnheit, die Carla an den Menschen heute so hasste: Seit der IKEA-Werbung war ein jeder der Meinung auf best Buddy und dicken Freund machen zu müssen. „Ich hab mich nur gefragt… du… Sie … sind schon den ganzen Tag so schlecht drauf, dass ich mich frage, ob Sie nicht zumindest gern etwas trinken gehen würden?“ Als Carlas Mund vor Empörung aufging, erklärte sich der Mann mit einem charmanten Lächeln schnell, „Ich war vorhin im Kaufhaus, da habe ich Sie in der Spielzeugabteilung gesehen. Und nun ja...“ „Was?“ Sie hatte mürrisch dreingeschaut? Sie war miesepetrig? Wollte er ihr das etwas sagen und ihr für den heutigen Tag eins reinwürgen? „Wenn Sie mich fragen, ist es kein Wunder, dass keiner dieser Pinguine verkauft wurde.“ Oh, das hatte gesessen. Das hatte sehr gesessen. Und wenn Carla glaubte, sie konnte nicht noch schlechter drauf sein, dann hatte sie sich jetzt selbst das Gegenteil bewiesen: Auf der Stelle stehenbleibend, drehte sie sich zu dem anderen um. Sie presste fest die Lippen aufeinander, starrte ihn mit funkelnden Augen an, ehe sie tatsächlich etwas sagte: „Wissen Sie was?“, begann sie mit bebender Stimme und krampfte dabei die Hände zu Fäusten zusammen, „Solche Leute wie Sie sind der Grund, dass ich jeden Tag kotzen könnte!“ Ihre Aussage sorgte nicht für Erstaunen bei dem Fremden, sondern für einen interessierten Blick, der so viel sagte wie „Erzählen Sie ruhig weiter“. Und ja, das trumpfte ihre Wut nur auf. „Solche Leute wie Sie, die auf den letzten Drücker ihre Besorgungen machen müssen, dumme Fragen stellen und dann ohne ein Danke oder ein Tschüss wieder verschwinden. Die sich beschweren, dass sie fünf Minuten vor Schluss nicht noch durchs Kaufhaus schlendern können. Wollten Sie auch so einen beschissenen weißen Pinguin haben? Dann tut‘s mir leid! Kaufen Sie doch bei Amazon!“ Der Mann mit der Wollmütze erwiderte erst gar nichts, doch schließlich zogen sich seine Lippen von dem Schmunzeln zu einem breiteren Lächeln. Noch breiter. „Was? Was grinsen Sie so blöd?“ „Lassen Sie mich Ihnen einen Drink spendieren“, sprach er ruhig und voller Aufrichtigkeit, ja fast schon Freude in der Stimme. „Bitte was?“, war Carla nun vollkommen aus allen Wolken gefallen. Sie beleidigte ihn in allem Maße und er lud sie auf einen Drink ein? Was ging bitte in dessen Schädel vor? „Um ehrlich zu sein … ist mein Weihnachten heute auch mehr bescheiden als alles andere. Meine Freundin hat Schluss gemacht. Vor einer halben Stunde. Die Busse fahren nicht, dieser Eisschnee ist zum Kotzen und Sie beleidigen mich mit weißen Pinguinen. Also: Lassen Sie mich Ihnen einen Drink an diesen beschissenen Heiligabend spendieren.“ Die Blondine öffnete den Mund, wollte etwas entgegnen, ablehnen, aber nichts dergleichen kam ihr an Worten aus der Kehle. Sie stimmte auch nicht zu, aber es war Aufforderung genug für ihn, ihr den Arm zum Einhaken zu reichen. „Und keine Sorge: Wenn Sie wollen, können Sie mir gerne die ganze Geschichte über die Pinguine erzählen.“   * * *   „Und dann war da dieses Kind! Das stand die ganze Zeit bei den Kühen und war der festen Überzeugung, dass die lila sein müssen. Und die Mutter hat noch zugestimmt! Das ist doch bekloppt!“ Ein herzhaft lauter Lacher überkam Carla und ihr Körper schwankte dabei zurück in die Sitzlehne. Sie stellte ihren Cocktail ab und beugte sich dann vor zu Matt, welcher ihr aufmerksam und mit amüsierten Lächeln seit 40 Minuten am Stück zuhörte, „Und glaubst du, die hat locker gelassen, bis ich ihr so eine dämliche Kuh in die Hand drücken konnte? Ich hab Rosy von der Gourmet-Abteilung per Telefon zugerufen, dass sie mir so eine blöde Milka-Stoffkuh bringen soll. War mir scheißegal, ob die nur zu zehn Tafeln ausgegeben werden dürfen oder nicht. Das kauft eh keiner und wir bleiben auf den Viechern sitzen. Kind war glücklich, Mutti war glücklich und ich hatte meine Ruhe!“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch ihre schulterlangen glatten Haare. Vor ein paar Minuten hatte sie ihren streng nach hinten gelegten Zopf geöffnet und allein durch diese Tat wirkte sie auf Matt schon etwas zugänglicher. „Ich sag dir, arbeite ein Jahr in so einer Irrenanstalt und du kennst alle Menschen dieser Welt.“ „Wirklich?“, fragte ihr Gegenüber nun nach und stützte den Kopf gegen den Handrücken, „Alle Menschen?“ Er schaute sie einfach nur an und als Carla seinen forschenden Blick bemerkte, senkte sie verlegen die Lider. Sie zuckte mit den Achseln und nahm ihr Cocktailglas wieder in die Hand, um einen großen Schluck zu nehmen. „Was siehst du in mir?“, fragte er neugierig. Slurp. Carla sah ihn nachdenklich an, schlürfte erneut und setzte dann ab. „In dir? Hier?“ Sie deutete auf ihre Umgebung. Zwar hatten sie sich in einem recht bekannten Szenelokal niedergelassen, welches sich normalerweise nicht an den üblichen Festivitäten beteiligte, aber selbst in diesem war alles weihnachtlich geschmückt und im Hintergrund spielte das bekannte Lied Rock around the Christmas Tree. Lichterketten hingen an den Wänden, auf den Tischen hatte man Tannenzweige in Gläser gelegt und diese mit ein bisschen Goldfolie drapiert. Um sie herum waren viele Menschen, die es vorzogen den Heiligen Abend lieber in einer Cocktail- und Tapas-Bar als zu Hause zu verbringen. Menschen mit Weihnachtsmützen, Menschen mit hässlichen Weihnachtspullovern. Das Übliche. Carla überlegte einen weiteren Moment und schien dann trotz ihrer Angetrunkenheit wieder ernster zu werden. „Na ja, du wurdest von deiner Freundin verlassen, bist gerade ein bisschen in der Selbstmitleidsphase und versuchst dir dieses beschissene Weihnachten noch schön zu machen?“ Matt nickte leicht, aber es war unklar, ob es daran lag, dass er ihr recht gab oder ihre Antwort just akzeptierte. Dann neigte er den Kopf zur linken und zur rechten Seite und schaute erneut zu ihr auf. „Das ist es?“ „Das ist es.“ „Das ist alles?“ „Du scheinst zu nett zu sein. Und du siehst ganz okay aus.“ „Okay?“ „Ja, ganz in Ordnung. Ende.“ Matt setzte sich wieder aufrechter hin, schob seinen Longdrink zur Tischmitte und räusperte sich. Er strich sich mit der Hand über seinen Dreitagebart. Die Mütze hatte er inzwischen längst abgelegt. Tatsächlich trug er keine Glatze, aber seine Haare waren vielleicht auf drei oder fünf Millimeter getrimmt. Er lächelte. „Darf ich jetzt meine Einschätzung geben?“ Überrascht dreinschauend, machte Carla ihm mit der Hand eine auffordernde Geste. „Bitte. Du denkst also, du kennst alle Menschen?“ „Nein, aber ich arbeite als Rechtsanwaltsangestellter. Da lernt man auch einiges an Leuten kennen.“ „Nur zu, ich bin gespannt.“ Matts Augen wurden für einige Sekunden schmaler. „Analysierst du mich?“ „Das hab ich schon“, gab er zu und verschränkte daraufhin die Arme vor der Brust, „Ich nehme an … du bist 25 oder 26. Dein Make-up macht es etwas schwierig. Du legst Wert auf dein Äußeres, aber wegen deines Jobs musst du zurückstecken.“ „Wie kommst darauf?“ „Deine Haare“, deutete Matt auf ihr schulterlange Partie, „Du trägst sie oft zu einem Zopf. Sieht man an dem Knick. Du meintest vorhin nebenbei, dass dir der Kopf wehtut. Und wenn ich an die anderen Angestellten denke, habe ich dort noch nie eine mit offenen Haaren gesehen. Du fühlst dich aber so wie jetzt wohler. Das sieht man.“ Carla rutschte etwas unruhig in ihrem Stuhl hin und her. Es war ihr unangenehm, dass er solche Kleinigkeiten bemerkt hatte, die von den anderen unentdeckt blieben. Die selbst sie nicht bemerkte. „Und weiter?“ „Du bist unzufrieden mit deinem Job. Seit Tagen oder Wochen. Vielleicht von Anfang an. Und weil du hier mit mir sitzt, denk ich, das du keinen Freund hast oder eine Familie, zu der du gehen willst.“ Ihre Lippen waren zusammengepresst und sie wirkte sehr angespannt. Matt hätte mit weiteren Details fortfahren können, aber das war nichts, was er ihr sagen konnte, ohne dass er missverstanden würde: Sie war trotz ihrer leicht kantigen Gesichtszügen eine hübsche Frau: volle Lippen, eine kleine gerade Nase und große Augen, welche sie mit Lidschatten und Eyeliner schminkte. Ihre Augenbrauen, die perfekt symmetrisch ausgerichtet waren. Ihre blonden Haare, die sie ponylos trug und ihr bis zu den Schultern reichten. Ein schönes Mittelblond, welches im Licht reflektierte. Lange schmale Beine, die in der schwarzen Röhrenjeans steckten, die sie trug. Ihre ganze Figur war elegant, regelrecht filigran und doch machte sie einen sehr starken Eindruck. Matt fand es schade, dass sie allerdings so eine negative Aura versprühte. Doch war er davon überzeugt, dass sich kein Mensch zeigte ohne Mitwirken seiner Umwelt auf diese Weise zeigte. Ihr musste etwas widerfahren sein. Schlechte Erlebnisse. Und das tat ihm leid. „Jedenfalls nichts, was sich so schnell ändern lässt.“ „Mag sein“, lenkte er ebenso ein und ließ seine Analyse somit auch fallen. Ihr Treffen sollte schließlich nicht zu einer Einzeltherapie mutieren. Dafür waren sie beide nicht hier. „Na ja“, begann Carla letzten Endes und verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln, „Beschweren kann ich mich nicht. Ich hab es mir selbst ausgewählt und hey“ Sie pausierte und warf ihm einen Augenaufschlag zu, „immerhin kriege ich ein paar Drinks spendiert.“ „Davon war nicht die Rede“, wollte Matt einwenden, doch zu spät: Schon hatte sie sich das Cocktailglas hintergekippt und stellte es geräuschvoll auf die Tischplatte ab. „Und ich glaub, das reicht langsam auch“, murmelte er zu sich selbst und winkte den Kellner heran, der sich um die Gäste zu kümmern hatte. „Zahlt ihr getrennt oder zusammen?“ „Er übernimmt!“, sprach Carla wie selbstverständlich und gluckste dabei, doch im nächsten Moment wurde sie überraschend still, als Matt dem zustimmte und seine Geldbörse zückte, „Hey, das war ein Scherz!“ Trotzdem war die Rechnung nun bereits bezahlt. Günstig war der Abend für ihn nicht ausgegangen. Innerhalb von drei Stunden hatte sie ihre fünf Cocktails zum Feiertagspreis getrunken und das hinterließ bei der Blonden direkt ein schlechtes Gewissen. Selbst im betrunkenen Zustand. Als der Kellner wieder ging und dabei ihr leeres Glas mitnahm, beugte sie sich über den Tisch zu Matt und begutachtete ihn skeptisch. Warum hatte er die Rechnung überhaupt übernommen? „Das heißt jetzt aber nicht, dass ich mit dir ins Bett gehe.“ Zum ersten Mal stöhnte er wirklich genervt auf und erhob sich dann einfach von seinem Stuhl. „Das hatte ich auch nicht vor. Sieh‘s als nette Geste.“ Sie auffordernd ansehend, hatte Carla keine Chance hier noch länger zu verweilen und so musste sie murrend ebenso ihren Platz verlassen. Sie torkelte beim Aufstehen, schwankte nach vorne, aber im Gegensatz zu ihr war Matt noch nüchtern genug um sie rechtzeitig an den Armen zu stützen. „Das wird ein interessanter Heimweg.“ Fast schon beleidigt sah sie mit verfinstertem Blick zu ihm auf. „Ich bin nicht besoffen.“ „Oh doch, und nicht gerade wenig.“ „Ich bin nicht besoffen. Und außerdem...“, lallte sie ein weiteres Mal, wollte noch etwas sagen, aber ihr blieben die Worte im Halse stecken. Moment … Was hatte sie eigentlich sagen wollen? Es fiel ihr nicht ein. Das Zusammenwirken von zu wenig Essen und zu viel Alkohol plus warmer, stickiger Luft ließ sie straucheln. Ihre Umgebung begann sich leicht zu drehen. Carla wusste ja nicht einmal, wie schnell sie von ihm aus dem Lokal bugsiert wurde und wann sie dabei ihren Mantel angezogen hatte. Nur ein Kommentar blieb ihr in den Ohren hängen: „Aber weißt du was? Das heißt erst recht, dass ich nicht mit dir ins Bett gehe.“   Was sie aber noch viel mehr aus der Fassung bringen sollte, war die frische Luft sobald sie draußen standen. Mit einem Mal war ihr gar nicht mehr nach scharfen Kommentaren zumute, sondern konnte nur an eins denken: sich an der nächstbesten Ecke auszukotzen: Ihr Körper kam mit dem plötzlichen Temperatursturz und der immensen Sauerstoffzufuhr gar nicht klar. Noch weniger mit dem Restalkohol, der ihre Leber belästigte. Und zack: Schon erklangen unappetitliche Geräusche an der nächsten Mülltonne. Während sie so ihren Ballast loswurde, stand Matt mit den Händen in den Hosentaschen zwei Meter weiter, hatte ihr aus Diskretion den Rücken zugewandt. „Sicher, dass ich dir nicht die Haare zurückhalten soll?“, fragte er über die Schulter hinweg. Als ein Pärchen an ihnen vorbeiging und ein bisschen besorgt zu der sich übergebenden Dame blickte, winkte er nur ab. Wird schon wieder. „H-Halt die Klappe… urgh…“ Das war die nächste Welle. Er zuckte mit den Schultern und blickte zum inzwischen dunklen Abendhimmel auf. Nach drei weiteren Minuten schien sich ihr Magen beruhigt zu haben und Carla kam zurück. Sie sah blasser aus als vorher, aber war nun auch nicht mehr in übertrieben euphorischer Stimmung. „Wieder unter den Lebenden?“ „Ich sagte doch: Sei ruhig“, zischte sie und setzte dann ihren Weg fort. Matt schmunzelte nur und folgte ihr. „Ich bring dich heim.“ „Ist nicht nötig.“ „Ist es sehr wohl.“ „Ich hab nur etwas zu tief ins Glas geschaut.“ „Und es ist bereits dunkel.“ „Ich bin oft allein unterwegs.“ Dass sie wieder mit ihm diskutieren konnte, ließ sich wohl als Besserung ihres Zustandes bezeichnen. „Scheiß Weihnachten...“, murmelte sie erneut und richtete ihren Blick vor sich. Die Straße war wie üblich von den Laternen beleuchtet, aber auch in den Fenstern der Häuser hingen weiße und bunte Lichterketten. Hier und da ließ sich hinter den Gardinen und Vorhängen mancher Wohnungen auch der geschmückte Weihnachtsbaum sichten. Es waren nur wenige Leute auf der Straße. Die meisten verbrachten die Zeit natürlich zu Hause, im Kreis ihrer Liebsten. Carla hatte zwar die ganze Zeit die Sehnsucht nach genau dieser Behaglichkeit unterdrücken können, aber jetzt, wo sie fast als Einzige den Gehweg beschritten und sie all die heimeligen Appartements sah, stach es wie ein Messer auf sie ein. Nur zu gerne wäre sie Teil von dem allen gewesen. Nur zu gerne hätte sie wenigstens ihre Familie gesehen, aber auch das war spontan nicht möglich. Sie lebten am anderen Ende Deutschlands. Und sie waren wegen Tony, den sie nie hatten leiden können, miteinander verkracht. Im Grunde hatte Carla also auch nichts dagegen, dass Matt sie nach Hause begleitete. Das minderte die Wahrscheinlichkeit, dass sie aus Wut und Traurigkeit losheulen würde. Es war eh schon ein beschissener Tag gewesen, da wollte sie den etwas besseren Abend (wenn man das Kotzen vergaß) nicht auch noch mit so einem Mist zerstören. Den restlichen Weg liefen sie schweigend nebeneinander her. Die junge Frau erklärte nichts, sagte auch nicht, wo es lang ging. Er folgte ihr einfach. Manchmal mit etwas Versatz, manchmal fast in die falsche Richtung abbiegend, aber er beschwerte sich nicht. Schließlich kamen sie an einem elfgeschossigen Wohnblock an. Auch hier waren die meisten Fenster beleuchtet und versprachen Harmonie und Zusammensein. An der Haustür mit den vielen Namensschildchen der Klingelanlage holte sie schließlich ihren Schlüssel aus der Tasche und drehte sich daraufhin zu Matt um. „War nett“, sagte sie und sah zu ihrer neuen Bekanntschaft auf, einen Augenblick verharrend. Erneut trat Stille zwischen ihnen auf und Matt behielt es sich vor, diese nicht zu brechen. Carla zögerte eine Sekunde. „Willst du … vielleicht nicht doch mit raufkommen? Ich hab Kaffee da oder Tee. Zum Aufwärmen, bevor du weitergehst?“ Ein kleines Lächeln zuckte bei ihm auf und er legte den Kopf schief, „Wie jetzt? Ich dachte, das war keine Aufforderung?“ „Ist es auch nicht.“ „Kleiner Scherz.“ Er lachte leise in sich hinein, trat dann unschlüssig auf der Stelle und guckte schließlich zu ihr. „Ich weiß nicht, ob das so gut ist“, antwortete er ernster, „Lass es dabei heute bleiben, okay?“ Carla nickte, nicht gewohnt, dass sie eine Abfuhr bekam. Zumal sie wirklich nur einen einfachen Kaffee hatte als Revanche hatte ausgeben wollen. Vermutlich war es allerdings wirklich besser so. Es war heute alles so chaotisch… Selbst, wenn sie mit bestem Gewissen an die Sache heranging, wusste sie nicht, wie sie enden würde. Obwohl ihre Gegensätzlichkeit Annäherungen erschwerte, so hatten die beiden durchaus gemerkt, dass sie dem anderen gefielen. Ihn attraktiv fanden. Sich ein bisschen hingezogen fühlten. Sie hatten auch eine Menge gelacht und sich gut unterhalten. Vor allem aber waren sie erwachsen. Sie wussten, dass da schnell eins zum anderen führen konnte. Und da sie beide Single waren, hatten sie nichts zu verlieren. „Dann … wünsche ich dir eine gute Nacht.“ Carla machte einen Schritt auf ihn zu, so dass sie nur wenige Zentimeter von einander entfernt standen und den Atem des anderen spüren konnten. Sich zu Matt vorneigend, gab sie ihm einen zarten Wangenkuss. Nicht scheu, eher ganz direkt, aber dennoch mit genug Gefühl, dass die Stelle am Anfang der Berührung zart kribbelte. „Danke für den Abend und dass du mich begleitet hast.“ Sie löste sich wieder von ihm, vergewisserte sich noch kurz seines überraschten Gesichtsausdrucks und steckte dann den Schlüssel in die Tür, um aufzuschließen. „Ja… gute Nacht“, erwiderte Matt leise. Carla drehte sich nicht noch einmal um, sondern ging direkt weiter in den dunklen Hausflur, den Lichtschalter betätigend und dann bis zum Fahrstuhl schreitend. Er beobachtete, wie sie wartete, wie sie in den Lift stieg und sich die Türen langsam schlossen. Sich über das Gesicht streichend, wollte Matt die Hände zurück in die Jackentaschen stecken, als er mit seinen Fingern etwas Pikendes berührte. Es gab unter Druck nach und stach dennoch ganz sanft in die Fingerkuppen. Irritiert über den Fund vorsichtig zugreifend, zog er den Übeltäter hervor: ein kleiner Tannenzweig. Wann hatte er diesen denn eingesteckt? Oder besser: Wie war dieser in seine Jackentasche gekommen? Mit einem Schlag kam ihm die weihnachtliche Tischdeko in den Sinn, die sie in dem Lokal umgeben hatte. Daher also. Gewiss hatte Carla ihm diese zugesteckt. Vielleicht in dem Moment, als sie ihm den Abschiedskuss gab? Da war aber noch etwas an dem Tannenzweig, das nicht zu diesem passte: ein weißer Fetzen einer Serviette. Matt stellte sich ins Licht der nahegelegenen Straßenlaterne und faltete den Fetzen auseinander. Merry fucking Christmas. At least not alone.   Seine Mundwinkel zogen sich ganz nach oben. Er schüttelte den Kopf. Verrücktes Mädel. Aber recht hatte sie. Zumindest nicht allein. Matt machte sich nun auf den Heimweg. Vereinzelt fielen kleine Schneeflocken, welche die Erde berührten und angesichts der nächtlichen Kälte auch liegenblieben. Er hatte einen halbstündigen Fußmarsch vor sich und wenn er nicht langsam und sicher erfrieren wollte, sollte er sich beeilen. Wobei Erfrieren natürlich keine Option darstellte. Immerhin hatte er spätestens am 27. Dezember wieder im Kaufhaus zu stehen. Spielzeugabteilung. Bei den Pinguinen. Es gab nämlich jemanden, mit dem er das Ende der schrecklichen Feiertage gebührend feiern müsste. Mit weniger Alkohol und einem guten Essen. Und vielleicht, aber nur vielleicht, würde er sich danach auch zu einem Kaffee in ihrer Wohnung überreden lassen. Wenn es wieder so kalt war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)