Alles Ungesagte von Idris (Eine Geschichte über das Begehren) ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 -------------------- Es war im Dezember, als Bray den Verstand verlor. Er wurde verrückt, toll, von Sinnen, es gab keine andere Erklärung. Es war im Dezember, als es nicht mehr länger in ihm bleiben konnte und es endlich an die Oberfläche sprudelte, all das was tollkühn und unaussprechlich war. Vielleicht lag es an dem Schnee, der dieses Jahr viel zu früh, vollkommen unerwartet und in viel zu heftigem Ausmaß zu Boden fiel, und der die Straßen über den ersten Advent in einen schweren, weißen Sumpf verwandelt hatte. Vielleicht lag es an dem Schlafmangel, der sich in den letzten Wochen angesammelt hatte und seine Beherrschung zerrieb, bis nichts mehr davon übrig war. Vielleicht lag es an der verbotenen Frucht des Garten Eden, kein Apfel, aber verbotenes Zuckerwerk, das heimlich vernascht wurde. Vielleicht lag es daran, dass bald Weihnachten war, denn wenn man an Weihnachten nicht die Wahrheit sagte, wann dann? Vielleicht war es auch nichts von alledem. All das war später nicht mehr festzustellen, und es hätte auch gar keine Rolle mehr gespielt. Es begann am 5. Dezember, einem Tag, an dem Bray morgens nicht aufstehen wollte, was nicht unerheblich mit der Tatsache korrelierte, dass er erst zwei Stunden zuvor ins Bett gefallen war. Und das nach einer Nacht, über die an dieser Stelle schnellstmöglich der Mantel des Schweigens gebreitet werden sollte, zu schockierend wären die Details für den zart besaiteten Leser. „Steh auf!“ Ben rüttelte an seiner Schulter. „Wir kommen zu spät! Kümmert dich das nicht? Bray!“ Bray gab ein Geräusch von sich, das gleichermaßen zustimmend und ablehnend war. Ja, sie kamen definitiv zu spät. Nein, das kümmerte ihn nicht. Er hatte auch nicht die geringste Erinnerung wozu sie zu spät kamen. „Bray!“ Ben klang gleichermaßen verärgert und verzweifelt. Bray gab ein schläfriges Geräusch von sich und drückte sich ein Kissen über den Kopf. War das nicht einer der wenigen Vorteile, wenn man nicht mehr länger zu Hause wohnte, sondern sich eine Junggesellenwohnung mit seinem Zwilling teilte? Niemand konnte einen mehr zu allerlei unpassenden Zeiten aus dem Bett werfen. Ben, ein liebevoller Bruder durch und durch und zu brachialen Weckmethoden nicht im Stande, sah offensichtlich die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens ein und zog sich zurück. Bray fiel in einen unruhigen Schlaf, begraben unter einem Berg an Decken und Kissen. Eine halb verschwommen Erinnerung an einen Diener, der sich höflich räusperte, versuchte ihn mit Frühstück zu locken und das Zimmer erfolglos wieder verließ, blieb zurück. Es war nicht so, dass Bray generell unwillig und schlecht erzogen war, aber es war eiskalt und viel zu früh, sein Bett war sehr warm, und die letzte Nacht war wie zuvor erwähnt höchst ausschweifend und sehr lang gewesen. Seine Gliedmaßen fühlten sich so bleiern an und seine Augenlider so schwer, dass selbst die Posaunen des Jüngsten Gerichts ihn nicht aus dem Bett getrieben hätten. Nicht einmal der König von England persönlich… „Aubray“, sagte eine kühle Stimme und Bray erstarrte bis in die Zehenspitzen, so vertraut war die Stimme, so nachdrücklich der Befehl, so instinktiv der Wunsch zu gehorchen. „Steh sofort auf.“ Er stolperte so hastig auf die Beine, dass der Raum um ihn schwankte. Die Bettdecken rauschten um ihn herum zu Boden. Die Welt war grau und verschwommen und gewann erst nach und nach an Konturen. Einzig sein Gegenüber erschien so scharf gezeichnet vor ihm, als sei er wirklicher als die Wirklichkeit, so überlebensgroß und durchdringend war dessen Präsenz. Bray atmete scharf aus, als er erkannte, wer es war. Es schien als habe sein Bruder sich der unfairsten und hinterhältigsten aller Taktiken bedient, um ihn aus dem Bett zu holen, gemeiner und effektiver noch als an seine brüderliche Liebe zu appellieren. Ben hatte die Kavallerie verständigt! Hin und wieder gefällt es der Vorhersehung so viele Dinge in einen einzelnen Menschen zu packen, Dinge, die unsere geheimsten Schwächen und Sehnsüchte offenbaren, Dinge, nach denen wir uns in den dunkelsten Stunden der Nacht verzehren, dass uns bei jeder Begegnung ein wenig anders zumute wird, und dass die reine Gegenwart dieses Menschen manchmal schwer zu ertragen ist. Auch in diesem Fall war es so. Das Schicksal, welches häufig einen verqueren Sinn für Humor beweist, hatte es geschafft alle diese berauschenden, begehrenswerten, beängstigenden Dinge in genau diesen einen Menschen zu stecken, der nun vor Bray stand und finster auf ihn hinabblickte. Wer vor ihm stand, war niemand anderes als sein Cousin, der zukünftige Lord Elmsby. Wie immer war er tadellos angezogen, ein langer Mantel, hohe Stiefel, Hut und Reitgerte, alles in Schwarz. Sein Gesicht war ausdruckslos als er Bray musterte, sein Blick streifte das zerknitterte weiße Hemd, die zerzausten schwarzen Locken, die dunklen Schatten unter den Augen, und Bray war sich nur allzu deutlich bewusst, wie liederlich und schamlos er grade aussehen musste und gegen wie viele Regeln er grade verstoßen hatte. Regeln die - das musste gesagt werden! – Rowan nie offiziell aufgestellt hatte, lediglich allzu deutlich … impliziert. Aber darüber sprachen sie nicht, so wie sie auch über alles andere nicht sprachen. Und vielleicht war es genau dieses Nicht-Sprechen, was ihn zu seinem ersten Ausbruch an Wahnsinn verleitet. „Mylord“, rutschte es Bray heraus. Rowan hielt mitten in der Bewegung inne und hob die Augenbrauen. Langsam streifte er seine Handschuhe ab, einen nach dem anderen. „Mein Vater erfreut sich bester Gesundheit, es ist also höchst unpassend mich so zu nennen.“ Es war auch höchst unpassend ihn so zu nennen, weil er Brays ‚kleiner‘ Cousin war, aber das erwähnte Rowan niemals, mit keiner Silbe, als seien die drei Jahre Altersunterschiede zwischen ihnen nicht mal eine Erwähnung wert. Als wäre dieser Altersunterschied nicht die Qual, der Fluch, die Pein von Brays gesamter Existenz! Bray rieb sich mit den Handballen über die Augen, spürte nur allzu genau Rowans durchdringenden, erbarmungslosen Blick auf sich ruhen, wusste genau was er sah, welche Schwächen und welches Versagen sich ihm offenbarten, und war doch außerstande sich zu rechtfertigen. „War es das wert?“ fragte Rowan ruhig. „Was?“ „Letzte Nacht. Was auch immer du getrieben hast.“ Bray ließ die Hände sinken. „Willst du es wissen? Soll ich gestehen, Mylord?“ Es war ein Satz, der zornig hätte klingen sollen, und der, zu seinem Leidwesen doch viel mehr hoffnungsvoll klang, hoffnungsvoll und atemlos, wie eine Bitte. Eine Sekunde lang wurden Rowans dunkle Augen noch dunkler, tiefe unergründliche Seen, doch dann versteinerte sein Gesicht. „Es geht mich nichts an.“ Es war kein Widerspruch möglich, und auch keine Zustimmung, Schweigen war der einzige Ausweg, um etwas auszusprechen wofür es keine Worte gab. Bray schwieg und die Abwesenheit aller Wörter erdrückte ihn fast. Rowan schnippte mit den Fingern und es wurde ein Tablett mit Tee und Toast und Spiegelei hineingetragen, bei dessen Anblick Bray sich der Magen umdrehte. „Iss was.“ „Oh, bitte nicht.“ Er stöhnte und sank auf die Bettkante zurück. Rowan betrachtete ihn forschend. Er trat einen Schritt näher, so dass Bray seinen Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen. „Wie sieht es aus?“ ertönte Bens Stimme von der Tür her. Er war dabei seine Manschetten zuzuknöpfen. „Ist er krank oder können wir ihn mitnehmen?“ Rowan hob mit den Fingerspitzen Brays Kinn an und begutachtete seine Augen mit wissenschaftlicher Distanziertheit. Knapp und effizient berührte er Brays Stirn und fühlte seinen Puls, nichts an seinem Blick ging über berufliches Interesse hinaus (Rowan studierte Medizin), nichts an seiner Berührung verstieß gegen das normale Maß an verwandtschaftlicher Nähe, und doch... Und doch. Er vergrub die Finger im Bettlaken. Ihm schwindelte. „Verkatert“, war das vernichtende Urteil. Rowan ließ die Hände sinken, und Bray rang nach Atem. „Er kommt mit. Jamie.“ Der Kammerdiener sprang eifrig herbei und Rowan drückte ihm ein Geldstück in die Hand, dessen Wert Bray nicht erkennen konnte, aber was Jamies Augen rund wie Teller werden ließ. „Du nimmst dir heute und morgen frei“, befahl Rowan. „Besuch deine Schwester. Und du darfst vorher Toast und Spiegelei frühstücken.“ Er deutete auf das Tablett. „Ja, Sir! Vielen Dank, Sir.“ Jamie verneigte sich eifrig. „Das werde ich. Meine Schwester lässt ihre allerbesten Grüße und Wünsche ausrichten. Und - ich habe mich wirklich bemüht ihn zu wecken, Sir!“ „Ich weiß.“ Bray warf ihm einen verratenen Blick zu, den Jamie mit einem Achselzucken erwiderte. Es war klar, dass unabhängig davon wer offiziell sein Dienstherr war, Rowan in seinen Augen die höhere Instanz darstellte. Er hatte nicht einmal unrecht. Hier in ihrer Wohnung war Rowan die höchste Instanz direkt nach dem Allmächtigen. Rowan wartete bis Jamie aus dem Zimmer verschwunden war, das Tablett begeistert an seine Brust gedrückt, bevor er Bray die Tasse Tee in die Hand schob. „Trink das. Kleine Schlucke.“ Bray gehorchte. „Und wasch dich“, fuhr Rowan gnadenlos fort. „Wir werden uns gleich eine Kutsche teilen und du riechst wie eine ganze Brauerei.“ Bray nickte schweigend. „Du hast genau fünfzehn Minuten. Dann werden wir abreisen. Mit oder ohne dich. Ich werde keine Ausreden gelten lassen.“ Ein Nicken. „Sag es!“ grollte Rowan. Bray atmete aus. Ein bitteres, triumphierendes Lächeln zerrte an seinen Lippen. Sehr vorsätzlich und langsam neigte er den Kopf. „Jawohl, Mylord.“ Rowan war still. Abrupt wandte er sich ab und verließ das Zimmer. Bray schlug stöhnend die Hände vor das Gesicht. - Auch der Schnee kam ungelegen dieses Jahr. „Sehr lästig“, befand Ben mit einem Stirnrunzeln, als sie über die matschigen Straßen stapften, die Reisetasche in der Hand. „Ich kann mich nicht erinnern, dass es letztes Jahr so früh geschneit hätte. Wir hätten die Pferde nehmen sollen.“ Bray, den es ohnehin schon fröstelte, zog seinen Schal hoch über das Kinn und sehnte sich zurück nach seinem Bett. Eine Hand auf seinem Rücken dirigierte ihn durch die Menschenmenge und half ihm über Unebenheiten und Schneewehen hinweg, bis sie bei der Kutsche eingetroffen waren. Er versuchte nicht darüber nachzudenken wie selbstverständlich es sich anfühlte und wie beiläufig es geschah - und wie abrupt die Hand plötzlich entfernt wurde, als Rowan sich gewahr wurde, was er grade tat. Rowan verstaute ihr Gepäck und Ben debattierte mit dem Kutscher über die Reiseroute, während Bray nutzlos und zitternd an der offenen Tür lehnte und versuchte nonchalant auszusehen, und nicht so, als ob er gleich ohnmächtig in den Schnee sinken würde. Niemals würde er die zwölf Stunden Fahrt überstehen, die Ihnen bevorstanden. Möglicherweise sah irgendetwas in seinem Gesicht oder seiner Haltung derart elend aus, dass sogar sein unbarmherziger Cousin Mitgefühl mit ihm empfand (das oder Rowan wollte einfach keine unpässliche Verzögerung riskieren), denn plötzlich wurde eine Decke über seine Schultern gelegt. „Steig ein“, befahl er. Es klang sanfter als gewöhnlich. Bray gehorchte. Zu seiner Überraschung bot Rowan ihm die Hand an, um ihm hoch ins Innere zu helfen. Ein Teil von ihm wollte protestieren – er war 22 und Rowan war erst 19! Und er war keine Dame! – aber Rowans Hand war warm und fest und sicher, und Bray nahm die dargebotene Unterstützung an, bevor er es sich anders überlegen konnte. „Danke“, sagte er leise. Rowan nickte stumm, sichtlich unbehaglich in der Nähe eines Brays, der zahm und gehorsam war. Es war genau das, dachte Bray betäubt, als er in die Kutsche sank, es war das Weiche, Sanfte unter der uneinnehmbaren Festung, was es so schwer machte zu widerstehen. Wäre Rowan nur durch und durch kalt und gefühllos gewesen! Wie viel einfacher hätte das alles gemacht. Aber das war er nicht. Er tat nur so. Er belog die ganze Welt, genauso wie Bray es tat, denn was war ihr Schweigen, was war ihr Nicht Aussprechen anderes als das? Eine riesige Lüge, die sich höher und höher auftürmte, je länger es unausgesprochen blieb. Danach beendete Rowan die Debatte zwischen Ben und dem Kutscher kurzerhand, indem er die Route vorgab, die gefahren werden sollte, und ihrer Reise stand nichts mehr im Weg. Sie fuhren los, auf direktem Weg hinaus aus London. Wie wunderschön ist eine Kutschfahrt, wenn sie mit leichtem Gemüt und offenem Herzen getan wird. Wie ungleich schrecklich ist eine Kutschfahrt, wenn das Innere unerträglich voll ist, nicht mit Menschen und Gepäck, aber mit dem Gewicht allem Ungesagten. Endlich raus aus den beengten Straßen, öffnete sich eine weiße, strahlende Landschaft. Sonne glitzerte auf dem weißen Schnee, der wie Puderzucker über den Feldern und Baumwipfeln lag. Der Himmel war blau und die Mittagssonne tauchte alles in zartes orangefarbenes Licht. Bray fühlte sich gegen seinen Willen sehr empfänglich und über die Maßen bezaubert von so viel Schönheit. Schweigend lehnte er am Fenster und blickte nach draußen, lauschte mit einem Ohr dem leisen Gespräch zwischen seinem Bruder und seinem Cousin. Im Nachhinein wusste er nicht einmal welches der Satz war, der ihn so gereizt hatte. Ben und Rowan hatte Termine und Zeitpläne durchgesprochen, Dinge, die an Eintönigkeit kaum zu überbieten waren. Dann kam das Wetter, ebenfalls langweilig, aber dann- … Bray hob den Kopf. „Ungelegen“, wiederholte er. „Wie kann etwas so Schönes ungelegen sein?“ Das Gespräch verstummte. Überrascht sah Ben ihn an. „Nun, es beeinträchtigt den Verkehr und unsere Reisegeschwindigkeit.“ Bray blickte zu Rowan. „Siehst du das auch so?“ „Ja.“ Das war keine Überraschung und das Gespräch hätte hier beendet werden sollen. Aber die Tollheit, die heute früh von Bray Besitz ergriffen hatte, erhob einer wütenden Schlange gleich erneut ihr Haupt. Er konnte nicht anders. „Wieso ärgern dich ungelegene Dinge so?“ „Es ist einfach so.“ Rowan warf ihm einen warnenden Blick zu. „Ist es denn gleich wie schön sie sind?“ erwiderte Bray verzweifelt. „Ist es gleich wie magisch und außergewöhnlich sie sind? Werden sie sogleich verbannt zu allem Verabscheuungswürdigen, sobald sie ‚ungelegen‘ kommen?“ „Bray…“ Beruhigend legte Ben eine Hand auf sein Knie. „Du übertreibst. Niemand bestreitet, dass der viele Schnee ein sehr schönes Bild abgibt, aber…“ „Aber schöne Dinge sind nicht immer praktisch, nicht wahr?“ fragte Bray bitter. „Nicht wenn sie Pläne durchkreuzen.“ „Was redest du denn da?“ „Lass ihn“, sagte Rowan ruhig. „Er steht neben sich und weiß nicht was er sagt.“ Bray öffnete den Mund, bereit zu widersprechen, aber dann sah er Bens besorgten Blick und er brachte es nicht über sich. Er vergrub die Fingernägel in seinen Handballen. Er atmete tief durch. „Es tut mir leid“, sagte er steif. „Ich… ich stehe wirklich neben mir.“ „Das macht nichts.“ Sein Bruder, allzu schnell bereit ihm alles zu verzeihen, schenkte ihm ein Lächeln. Er wechselte die Seite und setzte sich neben Bray auf die Bank. „Es war eine hektische Zeit, wir sind alle angespannt.“ Bray nickte und ließ den Kopf auf seine Schulter sinken. Ben legte automatisch einen Arm um ihn und er schloss die Augen. Zuerst nur um Rowans Anblick zu entfliehen, aber die Erschöpfung übermannte ihn und er ließ sich von dem Rattern der Räder und den leisen Stimmen in einen unruhigen Schlaf wiegen. Kapitel 2: ----------- Vierzehn Stunden dauerte die Fahrt insgesamt, unterbrochen nur von zwei kurzen Pausen, um die Pferde zu wechseln und es war kurz nach Mitternacht als sie endlich eintrafen in Glennwilde. Die Fahrt war ein Fiebertraum, unwirklich und schwindelerregend, und am Ende fühlte Bray sich zu Tode erschöpft, und außerstande seine Eltern, die noch wach geblieben waren, angemessen zu begrüßen. Ben - guter, loyaler Ben - sprang ihm sofort bei und bot an ihn entschuldigen zu lassen, bevor er loszog, um den Vicomte über ihre Ankunft zu informieren. Rowan warf einen einzigen Blick auf ihn. „Geh ins Bett“, ordnete er an. „Morgen werde ich …“ Er stoppte abrupt. Bray hob den Kopf. Sie starrten sich an. Rowan hatte noch nie gezögert. Es war so unerhört, so ungewöhnlich, so ganz und gar nicht Rowan, dass es sich sekundenlang anfühlte als habe die Wirklichkeit einen Riss erhalten, wie ein zersprungener Spiegel, der nur noch ein verzerrtes Bild der Realität abbilden konnte. Zum ersten Mal seit langem, sah Rowan so jung aus, wie er wirklich war, nämlich 19 (Gott im Himmel…) und eine einzelne schmerzhaft verschachtelte Emotion glitt über sein Gesicht. Es dauerte einen Augenblick, aber dann verstand Bray. Oh, er verstand. Es gab kein Morgen. Sie waren nicht mehr in London. Rowan war hier nicht mehr die höchste Instanz nach Gott. Sie waren umgeben vom Wappen der Hawthornes, sie waren umgeben von Brays Familie, von Rowans Familie, von ihrer Familie. Rowan war hier tatsächlich nur noch das. Sein Cousin. Sein jüngerer Cousin. Rowan sah aus, als sei ihm das ebenfalls grade klar geworden. Das was schon in London unziemlich genug gewesen war, ging hier auf keinen Fall mehr an. Sie waren Cousins. Bray war der Ältere. Der Erwachsene von beiden. Derjenige, der es besser wusste. Wissen sollte. Hätte man ihn gefragt, er hätte nicht angeben können, welche dieser Tatsache ihm am meisten zusetzte. „Ja“, sagte er, als die lange Stille ihm die Luft zum Atmen zu nehmen drohte. „Morgen.“ Rowans Schweigen war Antwort genug. Es gab kein Morgen. Wenig später sank Bray in sein Bett, betäubt und resigniert, war er doch keinen Schritt weiter als heute früh. Er fühlte sich wie in einer seltsamen Zeitschleife gefangen, die ihn auf ewig davon abhielt diesem Zustand qualvoller Sehnsucht zu entrinnen oder irgendeine Art der Erlösung zu finden. Wie einer stillschweigenden Verabredung folgend gingen er und Rowan sich am nächsten Tag aus dem Weg. Es war leicht, denn immerhin war St. Nikolaus, ein Tag, der voll und ganz für die Familie, Geschenke und für kleine Geschwister reserviert war. Nichts hätte unschuldiger sein können als das. Ebenso wie durch eine stille Übereinkunft, waren sich Ben, Bray und Rowan einig, dass die Eltern keinesfalls mit Details aus ihrem Leben in London belästigt werden durften. Spielschulden waren Ehrenschulden. Von der Existenz zweifelhafter Nachtclubs wussten die Baronin und die Vicomtesse sicherlich rein gar nichts und dabei musste es auch bleiben. Brays letzte Schneiderrechnung durfte Vater auf keinen Fall zu Gesicht bekommen. Und der durchschnittliche Alkoholkonsum in einer Wohngemeinschaft unter Gentlemen war ebenfalls ein Thema, über das man besser den Mantel des Schweigens breitete. Als der Baron sich erkundigte mit welchen Frivolitäten sie sich die Zeit vertrieben in London, antworteten Ben und Rowan entsprechend wie aus einem Munde: „Studieren“. „Diskussionen im Parlament verfolgen“, schwor Ben bei Onkel Victor und zerrte unter dem strengen Blick des Grafen nervös an seinem Kragen. „Lesen“, versicherte Bray seiner Mutter. „Nichts als Bücher. Es ist höchst unspektakulär. Was für Damen? Ich versichere Euch, Madam, wir haben keinerlei Damenbekanntschaften. Wir sind um zehn im Bett.“ Die Vicomtesse lachte, denn sie war eine Dame von lebhafter Vorstellungskraft und mit viel Humor, und Bray errötete tief. „Es wäre weniger unterhaltsam, wenn du nicht so offensichtlich lügen würdest“, bemerkte Alvah, der danebenstand. Er klang amüsiert. „Was hast du Vater gesagt, woher deine Augenringe stammen?“ „Dass ich so eifrig studiere nachts, dass es mich um den Schlaf bringt!“ Bray warf seinem jüngsten Bruder einen strengen Blick zu und zog ihn ein Stück weg, außerhalb der Hörweite seiner Eltern. „Warte nur, wie es dir nächstes Jahr geht“, rief er dramatisch. „Ich werde danebenstehen und mich kaputtlachen, wenn Vater und Onkel Victor dich gleichzeitig in die Zange nehmen.“ „Das werden sie nicht“, protestierte Alvah. „Außerdem habe ich gar nicht vor, etwas anderes zu machen als wirklich zu studieren.“ „Streber.“ Bray wuschelte ihm durch die Haare, bis Alvah seine Hände mit einem empörten Aufschrei beiseite wedelte. „Ich würde ja darauf wetten, dass du dich in einem Jahr genauso windest, aber es ist so ehrlos, den eigenen Bruder um sein Geld zu betrügen.“ „Die Gefahr der Ehrlosigkeit hat dich in der Vergangenheit nie davon abgehalten mich um Hab und Gut zu bringen“, erwiderte Alvah trocken. „Das wirst du mir noch ewig vorhalten.“ Eine Zeitlang gelang es Bray beinah zu vergessen, dass sein derzeitiges Leben zum großen Teil aus schlaflosen Nächten, unerfülltem Verlangen, bittersüßer Agonie und überteuerten Schneiderrechnungen bestand. So wenig es auch vereinbar schien mit dem Tumult, der in seinem Inneren herrschte - es war tatsächlich schön wieder zu Hause zu sein! Bray hing mit zärtlicher Liebe an seinen Eltern und seinen kleinen Geschwistern, und so ansprechend es auch war, vollkommen frei zu drehen und vollkommen verschwenderisch mit Zeit, Geld und Bekanntschaften umzugehen, konnte er sich doch der Geborgenheit nicht entziehen, die ihn zu Hause umgab. Es hätte noch leichter sein müssen sich aus dem Weg zu gehen, wurde Rowan doch ebenfalls vollkommen belagert von seinen jüngeren Geschwistern. Es war ein reizender Anblick, und doch … Der Kontrast zwischen ihnen und Rowan war so frappierend, dass Bray sich dabei ertappte, wie er unentwegt den Kopf wandte und versuchte kleine Blicke zu erhaschen. Vivian und Louise waren 14 und damit wirklich noch Kinder, aber sogar Alan, der nur ein Jahr jünger war als Rowan wirkte neben seinem großen Bruder wie ein Welpe. „Woran denkst du?“ fragte Alvah und setzte sich neben ihn. „Meine Schneiderrechnung“, erwiderte Bray, ohne den Blick abzuwenden. „Du hast ein Westenproblem.“ „Es ist kein Problem. Ich kann nur einfach nicht widerstehen.“ „Ist das nicht die Definition eines Problems?“ Bray wandte den Kopf. „Ist es das?“ Alvahs schmales, sommersprossiges Gesicht sah nachdenklich aus, während er ihn betrachtete wie ein Puzzle. Man konnte beinah sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Unbehaglich zog Bray die Schultern hoch. Er fühlte sich durchleuchtet und durchschaut, nackt und entblößt, auf eine Art und Weise, wie es sonst nur sein Vater mit ihm anstellen konnte. „Hör mal“, sagte Alvah langsam, „wenn du wirklich Geld brauchst…“ Hastig schüttelte Bray den Kopf. „Nein“, sagte er. „Nein!“ Er hatte zu lange nur mit Ben zusammengelebt. Ben, Gott habe ihn selig, der nie etwas mitbekam und auf beiden Augen blind war, wenn es um seinen Zwilling ging. Er hatte vergessen wie hellsichtig Alvah sein konnte. Danach gab er sich mehr Mühe. Keine sehnsüchtigen Blicke mehr. Er spielte mit Anne und Lizzie, er redet mit seinem Vater und mit Alvah, er blickte auf Teppiche und Kartenspiele und Teetassen, überall hin, nur nicht zu Rowan. Sie waren nicht in London. Was dann passierte, war wirklich nicht seine Schuld. Oder vielleicht war es das doch, weil er sekundenlang nicht auf der Hut gewesen war. Vor dem Mittagessen wurde ein Aperitif verteilt – Wein für die Erwachsenen und Tee und Saft für die Kinder. Ein Diener verneigte sich neben Bray und hielt ein Tablet mit Wein entgegen. Bray hatte unbedacht die Hand ausgestreckt, als eine Stimme sagte: „Nein.“ Er hielt inne. Rowan stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber seine Augen loderten. Um seinen Mund war ein unnachgiebiger Zug. „Du hattest genug“, sagte er leise. Bray blickte auf den Wein. Und dann zurück zu ihm. Unendlich langsam ließ er die Hand sinken. Sein Herz pochte. Der Wahnsinn, von dem er hoffte sich längst befreit zu haben, überkam ihn wie eine Welle. „Ja, Mylord“, erwiderte er lautlos. Rowan erstarrte. Um sie herum gingen die Gespräche weiter, Tee und Wein und Häppchen wurden verteilt, und heiße Schokolade für die Kleinen. Alles versank in weißem Rauschen, dass sich in Brays Kopf ausbreitete. Seine Brust fühlte sich seltsam eng an. Rowan wandte sich ab. „Ich reite aus“, verkündete er abrupt. „Wartet nicht mit dem Mittagessen auf mich.“ Er stürmte an seinen Eltern vorbei aus dem Raum. Bray sank auf das Sofa und vergrub die Finger in einem Kissen. Danach war Rowan fort, und er kehrte auch nicht zum Mittagessen zurück. Es war nicht der Alkohol, der ihn zu Fall brachte. Im Nachhinein war es beinah zum Lachen. Nein, der Fall kam auf leisen Schritten und auf denkbar unschuldigste Art und Weise. Unschuldiger als alles andere was Bray in den letzten Wochen gedacht oder empfunden hatte. Der Fall kam in Form von süßem Zuckergebäck. Im Haushalt der Hawthornes gab es eine liebgewonnene Tradition, die sich regelmäßig am Nikolausabend abspielte. Jedes Jahr aufs Neue pflegten der Vicomte und die Vicomtesse davor die Augen zu verschließen und völlige Ahnungslosigkeit vorzutäuschen, was ihnen sehr gut gelang, da sie zum einen sehr liebevolle Eltern waren, und der Vicomte selbst die schönsten Erinnerungen an diese Tradition aus seiner eigenen Kindheit hatte. Zwischen Tee und Abendessen zogen sich die Erwachsenen zurück, einige, um auszureiten, andere in die Bibliothek, um Briefe zu beantworten oder zu lesen, und es kehrte eine gemütliche Stille ein. Im Nordflügel jedoch, wo die Kinderzimmer sich befanden, begann um diese Stunde ein reges Treiben. Der Reihe nach schlich ein Kind nach dem anderen die Treppe hinunter in Richtung Küche. Dort war die Vorbereitung der Nachspeise noch im vollen Gange. Zum weihnachtlichen Anlass wurden Torten, Plätzchen und Lebkuchen gebacken, Marzipan und Zuckermasse wurde zu hinreißenden Kunstwerken geformt, und eine schier unbegrenzte Menge an Konfekt wurde hergestellt. Es war das reine Paradies. Jedes Jahr aufs Neue schlichen die Kinder während diesen Vorbereitungen in die Küche, um – das Einverständnis der Köchin vorausgesetzt - die Schüsseln auszulecken, von den Verzierungen zu naschen. und die misslungenen Plätzchen vorzukosten. Vielleicht war es der Reiz des Verbotenen, der das ganze so spannend machte. „Es ist für die Kleinen“, sagte Ben zum dritten Mal. „Sicher“, sagte Bray unbeeindruckt, während er sich eiskalt ein Stück Lebkuchenbruch erbeutete, auf das Lizzie scharf gewesen war. Sie stritt nun undamenhaft mit Alan über einen Teller voller Marzipanfiguren. „Wir sind viel zu alt dafür“, rief Ben verzweifelt. „Schnell, wenn du Alvah ablenkst, können wir uns das gesamte Nougat sichern!“ „Mein Gott, Bray!“ Nichts war schöner an dieser Tradition als alle Hemmungen zu verlieren und sämtliche Manieren außer Acht zu lassen. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte Bray sich frei und leicht, genau wie früher. Bray hatte sich eine Schüssel mit Zuckerguss gesichert und einen Teller Gebäck, als sich Louise neben ihm auf den Küchentisch schwang. „So“, sagte sie ohne Umschweife. „Du warst mal fett.“ „Oh mein Gott!“ Bray, dem diese Episode seiner Kindheit niemals nicht peinlich sein würde, verschluckte sich nachdrücklich an einem Plätzchen. „Ich werde dich umbringen“, drohte er hustend. „Niemand wird deine Leiche jemals finden, Millicent!“ Sie lächelte süß. „Ich habe das Porträt in der Halle gesehen. Alvah sagt, es ist noch sehr gnädig.“ „Noch ein Wort und ich …!“ „Sie ist vierzehn“, murmelte Ben im Vorbeigehen und drückte mahnend seine Schulter. „Vierzehn.“ Bray knirschte mit den Zähnen. Louise zuckte mit den Schultern und griff nach der Schüssel mit Zuckerguss, bevor Bray sie aufhalten konnte. „Ich sage ja nur, dass du vielleicht aufpassen solltest mit dem ganzen Zuckerzeug…“ „Ich habe ein Schwert, Millicent, und werde es benutzen! Und das ist meine Schüssel, gib sie sofort…!“ „Bray droht mir wieder mit dem Schwert“, rief sie und schob die Schüssel eilig zu Vivian, der sie angetan entgegennahm, bevor sie eilig vom Tisch hopste. „Rowan!“ „Ärgerst du meine Schwester?“ fragte eine dunkle Stimme hinter ihm und Bray erstarrte. Alles in ihm erstarrte. Wann war Rowan zurückgekommen? Seit wann war er hier? Seine Gedanken kreiselten wie ein Karussell. „Sie hat angefangen“, sagte er leise und wagte es nicht, sich umzudrehen. „Ist das wirklich deine Ausrede?“ Zum ersten Mal an diesem Tag klang Rowan amüsiert. „Ich… ja?“ Bray schluckte. Die Küche fühlte sich mit einem Mal sehr klein an. Jeder Raum hatte die Angewohnheit zu schrumpfen, sobald Rowan ihn betreten hatte, aber dieses Mal fühlte es sich sehr akut an. Sie standen nebeneinander, so als sei nichts gewesen. Als sei Rowan nicht Stunden zuvor aus dem Haus geflohen. Schweigend sahen sie dabei zu, wie Vivian und Louise die erbeutete Schüssel mit Anne teilten, während Alvah Ben half Lizzie und Alan voneinander zu trennen, die sich immer noch nicht einig geworden waren wer die Marzipanfiguren zuerst gesehen und deswegen den meisten Anspruch darauf hatte. Unter normalen Umständen wäre Bray mitten drin gewesen. Aber er fühlte sich am Boden festgefroren, unfähig sich zu bewegen. Sie standen so dich nebeneinander, dass ihre Schultern sich berührten. Was tat Rowan da? Was sollte das? Wollte er allen Ernstes so tun, als sei nichts geschehen? Schweißtropfen prickelten in seinem Nacken. Bray atmete ein und aus, konzentrierte sich auf den Duft von Nelken und Orangen, bittersüß in seiner Kehle. Und er… „Du hast Zuckerguss im Haar“, sagte Rowan leise. Bray erstarrte mitten in der Bewegung. Er hatte den Kopf erhoben und den Blick gesenkt, ein Schleier aus dichten, schwarzen Wimpern bedeckte sein Gesichtsfeld. Rowan stand sehr dicht vor ihm. Viel zu dicht. Nie zuvor war Bray sich des Größenunterschiedes zwischen ihnen so sehr bewusst gewesen wie in diesem Moment. Es war noch nicht allzu lange her, dass Rowan auf einer Höhe mit ihm und Ben gewesen war. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Einer von ihnen hätte jetzt zurückweichen müssen, dachte Bray benommen. Aber keiner von ihnen tat es. Bray konnte nicht, die Tischkante bohrte sich in seinen Rücken. Und Rowan war wie eine Felswand vor ihm, massiv und raumgreifend, unverrückbar. Rowan hob die Hand. Bray atmete heftig aus. Fingerspitzen streiften durch seine Haare, berührten seine Schläfe. Die Welt verschwand – und Bray atmete ein und aus, wie ein Ertrinkender, der versuchte das letzte bisschen Luft mitzunehmen, dessen er habhaft werden konnte. Es war zu viel. Es war zu nah. Es war zu still. Es war zu laut. „Bray?“ Aus weiter Ferne sagte jemand seinen Namen. „Bray, fühlst du dich nicht wohl?“ Er blinzelte heftig. Rowan stand so dicht vor ihm, dass er Brays gesamtes Blickfeld einnahm, eine überwältigende, dunkle Gestalt. Eine Sonnenfinsternis. Die hell erleuchtete Küche war wie ein Kranz aus Licht, der ihn umgab, und alles, was sich darin befand, verblasste und verschwand im Hintergrund, als diente es einzig und allein dem Zweck ihn zu umrahmen. „Bray?“ Es war Alvah. „Es… es ist sehr heiß…“ brachte er schließlich hervor. „Du solltest dich setzen.“ Ben. Bray schüttelte hastig den Kopf, zum ersten und sicherlich einzigen Mal in seinem Leben peinlich berührt davon, sich plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wiederzufinden. Sein Gesicht fühlte sich glühend und erhitzt an, und sicherlich musste es für alle Welt offensichtlich sein, welcher Tumult sich in seinem Inneren abspielte. Er wollte fliehen, aber es gab kein Entkommen. Er wollte sich ergeben, aber das war unmöglich. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Eine Hand griff nach seinem Ellbogen als er schwankte. „Frische Luft“, verkündete Rowan. So kühl und gefasst klang er dabei, als konversiere er über das Wetter. „Ich bringe ihn nach draußen.“ Bray zauderte. „Bray“, sagte Rowan. „Komm mit.“ Es war keine Bitte, es war ein Befehl, nichts anderes als das, und es ging ihm durch und durch, tief unter die Haut und bis in den letzten Winkel seiner Seele. „Ja, Mylord“, flüsterte Bray. Der Griff um seinen Ellbogen wurde fester, gleichzeitig ein Ringen um Beherrschung und eine Mahnung. Aber dieses Mal korrigierte Rowan ihn nicht, er protestierte nicht und er floh nicht, und das, mehr als alles andere, fühlte sich an wie eine Zustimmung. Er wurde aus der Küche geführt, Rowans Hand fest und unnachgiebig auf seiner Taille und die überraschten Gesichter seiner Geschwister, seiner Cousins rauschten an ihm vorbei. Dann die mit Fackeln erhellte Eingangshalle, livrierte Diener, die ihnen die Eingangstür öffneten, und dann der Sternenhimmel über ihnen. Die Welt war weit entfernt und angenehm verschwommen, kleine Ausschnitte, die an ihm vorbeirauschten und ihn nicht berührten. Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Die kalte Luft war wie ein Schlag ins Gesicht, sie machte Bray wach und tollkühn zugleich. „Und jetzt?“ fragte er atemlos. „Legt Ihr mich übers Knie, Mylord?“ „Hör auf.“ „War ich nicht ungezogen?“ Sie waren am Fuß der Treppe angelangt. Abrupt ließ Rowan ihn los. „Reiß dich zusammen“, befahl er scharf. Bray taumelte. Er griff mit beiden Händen nach dem steinernen Geländer und wandte sich ab. Der raue Stein war kalt und uneben unter seinen Fingern, er klammerte sich daran wie an einen Anker. Reiß dich zusammen. „Das tue ich doch“, gab er erstickt zurück. „Ich tue nichts anderes.“ „Dann tu es besser!“ Nie zuvor hatten sie darüber gesprochen. Nie zuvor hatten sie eingestanden, dass da etwas existierte zwischen ihnen, ein breiter, dunkler Strom, der drohte sie zu verschlingen oder sie für immer voneinander zu trennen, wenn sie die Flut nicht zurückhielten. Es fühlte sich seltsam unwirklich an. Unwirklich und berauschend. „Du musst damit aufhören“, sagte Rowan schließlich. Bray lachte auf. Es war ein bitterer Laut. „Womit?“ „Damit!“ „Ich kann nicht.“ „Du willst nicht.“ Es klang schneidend. „Du hast Recht. Ich will nicht.“ Toll. Verrückt. Von Sinnen. Er wusste nicht, was ihn überkam, als er es endlich aussprach. Es war wie eine heiße Quelle, die in seinem Inneren emporsprudelte, wie ein Tor, was aufgesprengt wurde, wie ein Damm, der brach. Es war die Art von Wahnsinn, die keine Grenzen mehr erkannte und die sich nicht länger geheim halten ließ. „Ich kann nicht“, wiederholte er. „Und ich will nicht. Es ist eine Qual es zu verbergen!“ „Sei still.“ Es klang eisig und Bray zuckte unwillkürlich zusammen. „Deine Eltern sind da drinnen! Und meine. Reiß. Dich. Zusammen! Ich sage es dir nicht noch einmal.“ „Oder was?“ fauchte Bray und wirbelte herum. „Du hast gut reden, Cousin.“ Er spuckte ihm das Wort vor die Füße, wie eine Anklage. „Was erwartest du von mir? Soll ich es hinter einer Wand aus Gleichgültigkeit verstecken, so wie du es tust? Oh nein! Wie könnte ich? Bin ich etwa eine Maschine ohne Gefühle? Bin ich ohne Herz? Ohne Seele? Soll ich jede Empfindung in mir abtöten, damit du endlich zufrieden bist? Für dich mag es leicht sein…“ Er konnte den Satz nicht beenden da hatte Rowan ihn schon gepackt und ihn ihn so heftig an die steinerne Hauswand gedrückt, dass die komplette Luft seiner Lunge mit einem Ruck entwich. „Leicht?“ wiederholte Rowan mit gefährlichem Unterton. Seine Augen waren schwarz und bodenlos. „Du denkst es ist LEICHT für mich?“ Bray öffnete und schloss seinen Mund. Kein Laut kam über seine Lippen. Rowan sah furchteinflößender aus als es einem 19jährigen überhaupt zustand, und sein eisiger Zorn war überwältigend, erschlagend, wie eine Flutwelle. Mein Gott, dachte er betäubt. Mein Gott! „Denkst du, es ist leicht, dich zu behandeln wie den vagesten meiner Bekannten? Denkst du, es ist leicht, mit dir in einem Raum zu sein, und keinerlei Indikation geben zu dürfen, wie ich fühle? Denkst du es ist leicht für mich, deinem Vater unter die Augen zu treten, mit dem Wissen, was ich…“ Er stoppte jäh. Bray starrte ihn an. Seine Brust hob und senkte sich im Rhythmus seines beschleunigten Atems. Eine einzelne, schwarze Locke fiel in seine Augen. Mit dem Wissen, was ich… „Was?“ flüsterte er. „Sag es.“ „Das werde ich nicht“, war die raue Erwiderung. „Du weißt es.“ Was ich tun möchte. „Oh…“ Bray seufzte tief. Seine Knie waren weich und einzig und allein Rowans fester Griff hielt ihn aufrecht. „Ja“, flüsterte er haltlos. „Ja, ich weiß.“ Es war gelogen und es war doch die Wahrheit. Er hatte es nicht gewusst, nicht so, er hatte nur geahnt, gefühlt. Ein Gefühl, das keinen Namen hatte, das Worte nicht beschreiben konnte. Wie sollte man es beschreiben, wenn das Verlangen nach jemandem einen ganz und gar aufzehrte? Wenn es einen verschlang und auflöste? Rowan, dessen Benehmen tadellos und dessen Haltung stets korrekt waren, stieß einen langen, blasphemischen Fluch aus, der sogar Bray bis in seine Grundfesten erschüttert hätte, wenn er nicht halb von Sinnen gewesen wäre. „Du machst mich wahnsinnig“, sagte Rowan erstickt. „Jede Nacht, in der du fort bist und dich, Gott weiß wo, herumtreibst und mit wem…!“ „Ich treibe mich nicht herum“, protestierte Bray atemlos. „Und meine Bekanntschaften sind allesamt sehr charmant. Du solltest sie kennenlernen.“ „Ich ziehe es vor auf diese Bekanntschaften zu verzichten“, erwiderte Rowan kalt. „Sollte ich je einem von ihnen begegnen, müsste ich ihn fordern und töten.“ Gott! Bray fühlte sich als müsse er sterben. Jedes nächtliche Abenteuer, in das er je verwickelt gewesen war, kam ihm plötzlich vor wie kindische Spielerei. Jeder romantische Fehltritt, den er sich je geleitet hatte, verschwand in einem Nebel aus Belanglosigkeit. Er verstand mit einem Mal wovor Rowan ihn bisher beschützt hatte. Die ganze Welt schrumpfte zusammen auf die wenigen Millimeter Abstand zwischen ihnen. Rowan griff Brays Kinn und hob seinen Kopf. Diesmal war nichts distanziertes und nichts professionelles mehr an dieser Berührung. Einen Augenblick war Bray ganz sicher, was jetzt passieren würde. Rowan war so nah, viel zu nah, um Gottes Willen, er konnte nicht atmen, er konnte nicht denken-… und er wollte es so sehr, wie er noch nie zuvor etwas gewollt hatte. Aber dann hielt Rowan inne, erstarrte von Kopf bis Fuß. „Oh Bray…“ Etwas glitt über sein Gesicht, eine Emotion, so scharf und schmerzhaft, als könne man sich daran schneiden wie an zersprungenem Glas. Er ließ die Hand sinken. „Du hast immer noch Zuckerguss im Haar“, sagte er leise und erstickt, so als wäre dies das Schlimmste, schlimmer als alles andere. Vielleicht weil es so unschuldig war, und weil Unschuld die Gabe besaß alles andere in umso schärferen Kontrast zu setzen. Er ließ los und wandte sich ab. Bray sank an die Hauswand zurück. Er fühlte sich bodenlos und erschöpft, er fühlte sich auseinandergenommen und in seine Bestandteile zerlegt, von nichts als Rowans Worten, Rowans Händen, Rowan, Rowan. Rowan machte einen unbedachten Schritt, ganz so, als wolle er entkommen, Fliehen in das schützende Dunkel der Nacht. Fliehen vor dem was er getan hatte oder vielleicht vor dem, was er tun wollte. „Bitte“, flüsterte Bray und schloss die Augen. „Bitte, geh nicht. Ich werde brav sein.“ „Wirst du nicht.“ Es klang hoffnungslos. „Dann befiehl es mir“, flüsterte Bray. „Befiehl mir, dass ich brav sein soll und ich werde gehorchen.“ Rowan gab ein gepeinigtes Geräusch von sich, als sei das das Schlimmste was Bray hätte sagen können, und vielleicht war es das. „Bitte“, hauchte er. „Bitte…“ Mit zwei großen Schritten war Rowan bei ihm. Er packte ihn an der Kehle, sanft genug, dass es ihn nicht würgte und fest genug, dass Bray vollständig bewegungsunfähig an die Wand gedrückt wurde. Bray starrte ihn an. „Du wirst jetzt hineingehen“, sagte Rowan mit fester Stimme. „Du wirst hinein gehen und du wirst dich benehmen.“ „Ja, Mylord“, flüsterte Bray. „Wiederhol es!“ Bray wiederholte es, Wort für Wort, seine Augen fest auf Rowans Gesicht gerichtet. „Du wirst mich nicht ansehen“, befahl Rowan. „Und kein Wort an mich richten.“ „Ja, Mylord.“ „Sag es!“ Zu gehorchen war Erlösung und Qual in einem. Es war der Anfang von etwas und das Ende von etwas anderem. Spürte Rowan nicht, dass jetzt nichts mehr so sein konnte wie zuvor? Als es getan war, atmete Rowan aus, ein langer zitternder Seufzer. „Geh jetzt hinein“, befahl er erstickt. „Ich komme nach.“ Bray nickte stumm. Mit schwerem Herzen stapfte er die Treppe nach oben. Am obersten Absatz blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. Rowan stand bewegungslos mitten im Schnee, eine schwarze, einsame Gestalt. Flocken wirbelten um ihn herum. Es war auf surreale Art und Weise das gleiche Bild wie ein London. Rowan. Im Schnee. Nichts blieb in London. Es war eine Illusion gewesen das zu glauben. Wohin man auch ging, konnte man sich selbst doch niemals entfliehen. Ende Nachwort: Diese Geschichte ist sicher sehr speziell, der Stil sehr gewöhnungsbedürftig und das Genre recht ungewöhnlich. Aber ich hatte auf jeden Fall unglaublich Spaß beim Schreiben und hoffe, das Lesen hat auch Spaß gemacht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)