Die Wölfe 1 ~Der Patenmörder~ von Enrico (Teil I) ================================================================================ Kapitel 1: ~Das Leben des Einen~ -------------------------------- Vor ihm liegt sein Scharfschützengewehr. Antonio hat den Lauf auf den Vorsprung des Dachs aufgelegt, damit ihm die Arme vom Halten nicht schwer werden. Unter sich hat er seine Lederjacke ausgebreitet, die Beine weit auseinander gestreckt, um sein Gewicht auf eine möglichst große Fläche zu verteilen. Seine Haltung ist nicht unbequem, trotzdem schlafen ihm allmählich die Gliedmaßen ein. „Ziel auf die leere Flasche!“, fordert Butch. Der dunkelhäutige Hüne, der neben ihm liegt, sieht durch ein Fernglas. Antonio sucht den erwähnten Gegenstand und findet ihn auf einer Parkbank. Er atmet tief durch. Seine Haltung verspannt sich, all seine Gedanken richten sich auf das Ziel. Sämtliche Geräusche, seine ganze Umgebung blendet er aus. Ein letztes Mal prüft er seine Haltung, ein letztes Mal die Ausrichtung des Gewehrs, dann hält er den Atem an. Sein Zeigefinger legt sich um den Abzug. Er drückt ab. Der Rückschlag des Gewehrs trifft seine Schulter. In den Mundwinkeln Butchs bildet sich ein Lächeln. „Nicht schlecht. Schaffst du auch den Kronkorken?“ Antonio schaut durch den Sucher an seinem Gewehr. Unter der Parkbank verteilen sich Glasscherben, mitten unter ihnen liegt der Kronkorken. Antonio lädt die Waffe nach. Er übt jetzt schon ein ganzes Jahr, doch noch nie hat er mit dieser Waffe auf einen Kilometer etwas so Kleines getroffen. Angespannt fährt er sich über die Lippen. Noch ein kleines Stück nach rechts. Ein starker Wind zieht an seinen Haaren, er fegt über ihn und das Dach hinweg. Antonio schießt. Der Rückschlag verzieht die Sicht im Sucher. Er muss die Waffe neu ausrichten, um sehen zu können, ob er getroffen hat. „Mhm, fast. Warte das nächste Mal, bis es Windstill ist“, rät Butch. Antonio atmet aus. Es ärgert ihn, das nicht bedacht zu haben. Er lädt neu durch. Butch rutscht vom Dachrand zurück, das Fernglas stellt er auf dem Boden ab. „Lass uns Schluss machen. Sammle die leeren Patronenhülsen ein, dann sieh zu, dass du zum Boxclub kommst. Michael wird dein Training dort fortsetzen.“ Unwillig lässt Antonio den Blick auf den verfehlten Kronkorken gerichtet. Das muss doch zu schaffen sein. „Hast du mir zugehört?“, fragt Butch. „Ja!“ Antonio drückt ab. Wieder sucht er die Bank. Als er sie gefunden hat, ist der Kronkorken verschwunden. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Butch kommt zu ihm. Der Schatten des großen Mannes legt sich über ihn. Erschrocken richtet Antonio seinen Blick nach oben. Mit finsterer Miene reißt Butch ihm das Gewehr aus der Hand. „Zisch ab!“ Augenblicklich rutscht Antonio vom Dachrand zurück. Schnell zieht er sich die Jacke über und sammelt die leeren Hülsen ein. „Die Waffe nehme ich mit, ich habe noch was zu erledigen“, sagt Butch. Er packt das Gewehr in die mitgebrachte Tasche, dann verlässt er das Dach über die Feuerleiter. Antonio sieht ihm schweigend nach. Es ist das erste Mal, dass er dem Mann zugeteilt wurde. Bisher hat er ihn nur hin und wieder in Michaels Begleitung gesehen, wenn sie zusammen in der Kantine aßen. Was genau diese Übung hier zu bedeuten hatte, ist ihm ein Rätsel. Für gewöhnlich übt er auf einem Schießstand oder auf dem Dach des Hochhauses seiner Auftraggeber. Dort gibt es auch spezielle Ziele. So einen offenen Schuss in die Stadt hat er das letzte Mal bei der Aufnahmeprüfung abgegeben, als er den Obdachlosen erschießen sollte. Bleibt zu hoffen, dass niemand auf sie aufmerksam geworden ist. Antonio sammelt die letzten Hülsen ein und packt sie in seine Hosentasche. Er verlässt das Dach auf dem selben Weg wie Butch. Zügigen Schrittes folgt er der Straße, um möglichst schnell den Ort des Geschehens hinter sich zu lassen. Immer wieder muss er dabei an die Kantine im Hochhaus denken, wo er sein Apartment hat. Das Knurren seines Magens begleitet ihn. Wie gern hätte er am Morgen etwas gefrühstückt. Auch gestern hat er nichts gegessen. Die Typen aus dem Boxclub haben ihm die Essensmarken für die ganze Woche geklaut. Geld hat er auch keines, um sich irgendwo etwas zu kaufen. Aber zum Glück bekommt er heute von seinem Ausbilder neue Marken. Wenn er sie nur schon in den Händen halten würde. Wie gut, dass es nicht mehr weit ist. Nur noch vier Blocks, dann ist er zu Hause. Sein Magen zieht sich krampfhaft zusammen, ein Stechen zwingt ihn dazu langsamer zu gehen. Seine Kehle ist rau und wie zugeschnürt. Übelkeit überkommt ihn. Mit aller Kraft drängt er den Brechreiz zurück. Ein trüber Schleier legt sich über seine Augen. Die Welt verschwimmt. Seine Beine wollen ihn nicht mehr tragen. Er muss stehen bleiben, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit den Händen sucht er nach Halt und findet ihn in den Maschen eines Drahtzaunes. Immer wieder atmet er durch, nur langsam will sich das Stechen in seinem Magen beruhigen. Das Schwindelgefühl legt sich, sein Blick klart auf. Hinter dem Maschendrahtzaun erstreckt sich ein großer Basketballplatz. Etliche Jugendliche lungern dort herum. Dahinter erhebt sich ein großes Backsteingebäude. Seine alte Schule. Es ist lange her, seit er selbst Schüler hier war. Damals hatte seine Mutter noch gelebt und er war nicht auf das Wohlwollen seiner Ausbilder angewiesen. Er hat zu dieser Zeit nicht zu schätzen gewusst, wie schön es ist, zur Schule zu gehen. Der Unterricht hat ihn meist gelangweilt und er hat ihn oft geschwänzt. Jetzt wäre er froh, wenn er nur einen einzigen Tag dort verbringen dürfte. Ein ganz normaler Vierzehnjähriger sein und sich mit Freunden verabreden. Was wäre das für ein Leben? All die Jungen und Mädchen dort sind so ausgelassen. Immer wieder scherzen sie miteinander. In kleinen Gruppen stehen sie zusammen und unterhalten sich über die Belanglosigkeiten ihres Alltags. Das ist so ganz anders als seine Welt. Wenn sich überhaupt jemand mit ihm unterhält, dann im Befehlston und nur über seine nächste Aufgabe. Dabei kommt Antonio lediglich ein 'Ja' oder 'Verstanden' über die Lippen. Wirklich gesprochen hat er schon seit Wochen nicht mehr. Antonios Aufmerksamkeit bleibt an einem blonden Jungen hängen, welcher einem Ball nachläuft. Als sich ihre Blicke treffen, hält er inne. Die stechend blauen Augen des Jungen ziehen Antonio in seinen Bann. Argwöhnisch mustert der Fremde ihn, als wenn er ihm direkt in die Seele blicken kann. So finster wie möglich versucht Antonio dem Blick standzuhalten, doch es gelingt ihm nicht. Ein seltsam fremdes Gefühl nagt an ihm. Er sieht weg und kramt in der Jacke nach seiner Taschenuhr. Verdammt! Er hat fast eine halbe Stunde für den kurzen Weg gebraucht. Michael wird ihn vierteilen. Ohne noch einen weiteren Moment kostbarer Zeit zu vergeuden, rennt Antonio los. Wenig später steht er vor einer großen Eisentür. Das Herz hämmert ihm gegen den Brustkorb. Hier ist er schon so oft geschlagen worden. Michael nennt das Training, doch bis jetzt hat Antonio nichts dazu gelernt. Zögernd legt er die Hand auf die Klinke. All seine Sinne sagen ihm 'lauf weg'. Er atmet tief durch, dann zwingt er sich, die Tür zu öffnen. Er betritt eine große Halle, ein Dutzend Boxsäcke hängen hier von der Decke. In der Mitte stehen zwei umzäunte Ringe, in denen jeweils zwei Jungen mit bandagierten Händen trainieren. Sie tragen Turnschuhe und Shorts, ihre Oberkörper sind nackt. Außer den vier Jugendlichen ist noch ein Mann hier. Er steht an dem hintersten Boxsack und schlägt mit seinen Fäusten auf ihn ein. Antonio muss schlucken, als ihn die Vorahnung der Schläge überkommt, die bald ihn treffen werden. Nur zwei Schritte wagt er zu gehen, während hinter ihm die Tür ins Schloss fällt. Der Knall lässt alle Anwesenden in seine Richtung schauen. Er versucht sich klein zu machen, doch hier gibt es keine Deckung vor ihren Blicken. Obwohl Antonio nicht aufsieht, spürt er ganz deutlich, dass Michael ihn mustert. „Du bist spät dran!“, sagt er. Antonio fährt zusammen. Noch immer traut er sich nicht einen weiteren Schritt zu gehen. Ihm fällt auch keine passende Entschuldigung ein, also schweigt er. „Na wenigstens kommst du mir heute nicht mit irgendwelchen Ausreden. Los, beweg dich und komm her!“ Wie in Trance setzt Antonio seinen Weg fort. Den Blick lässt er auf den Boden gerichtet. Seine Hände sind eiskalt, seine Arme zittern. „Wie lief es mit Butch? War er zufrieden?“, will sein Ausbilder wissen. Antonio erreicht ihn. Er kennt die Antwort nicht, also hebt er die Schultern. Michael rollt mit den Augen. „Zieh deine Jacke und das Hemd aus! Ich will sehen, ob du seit gestern etwas dazu gelernt hast.“ Antonio gehorcht, nach und nach entledigt er sich seiner Sachen. Michael scheucht unterdessen die zwei Jugendlichen aus dem hintersten Ring und steigt dann selbst hinein. Antonios Oberkörper ist mit blauen Flecken übersät, ein Großer zieht sich über seinen linken Brustmuskel, ein tief lila gefärbter schlängelt sich über seine Schulter. Etliche weitere verteilen sich in allen möglichen Farben, punktuell über den Rest seines mageren Körpers. Er steigt zu seinem Ausbilder in den Ring. Ungeduldig mustern ihn die dunklen Augen Michaels. Die schwarzen Haare rahmen das kantige Gesicht ein. Seine Muskelmasse lässt Michael wie einen Schrank wirken. Er ist gut zwei Meter groß. Über seinen Oberkörper zieht sich ein asiatischer Drache, der das mit scharfen Zähnen gespickte Maul weit aufreißt. Die restlichen Jugendlichen haben ihr Training unterbrochen, sie kommen zusammen und platzieren sich jeder an einer Ringseite. Antonio wirft ihnen abschätzige Blicke zu. Wie er diese schadenfrohen Mistkerle hasst. „Hey! Sieh mich gefälligst an!“, fordert Michael. Erschrocken richtet Antonio seine Aufmerksamkeit auf ihn. Sein Ausbilder hat die Arme vor der Brust verschränkt. Abfällig schüttelt er den Kopf und befiehlt: „Greif mich an!“ Antonio zögert. Gestern hatte Michael seinen ersten Schlag geblockt, bevor Antonio zu einem weiteren Angriff gekommen war, traf ihn schon ein Tritt gegen die Beine und ließ ihn zu Boden gehen. „Nun mach schon!“, schreit Michael. Wieder zuckt Antonio zusammen, Angst kriecht ihm den Rücken hinauf und lähmt ihn. Als er sich nicht rührt, macht Michael einen Schritt auf ihn zu. Instinktiv reißt Antonio die Arme vor das Gesicht und blockt den Angriff ab. Vibrierender Schmerz verteilt sich auf seiner Haut. Ein neuer Hieb trifft ihn am Oberarm, dann einer an der Hüfte. Antonio zieht die Luft scharf ein. Scheu sieht er zu Michael auf. Es ist das erste Mal, dass er nach drei Angriffen seines Ausbilders noch steht, doch vergeblich sucht er im Gesicht des Mannes nach einem anerkennenden Blick. Michaels Miene ist so ernst wie immer. Er dreht sich einmal um sich selbst. Sein Tritt trifft Antonio in die Seite. Die Wucht hebt ihn von den Beinen und lässt ihn rücklings auf die Matte fallen. Krampfhaft umschlingt Antonio die getroffene Stelle. Die Luft bleibt ihm weg. Brechreiz steigt ihm in die Kehle, er würgt und hustet. „Steh auf!“, fordert Michael. Keuchend sieht Antonio zu ihm auf. Vergeblich versucht er sich nach oben zu drücken. Seine Muskeln wollen ihm nicht gehorchen. Lauernd beobachtet Michael ihn und legt die Hände an die Hüften. Er seufzt tief, dann sagt er: „Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen! Verschwinde! Deine Essensmarke für heute kannst du vergessen. Wer nicht kämpft, braucht auch nicht essen.“ Michael bedeutet ihm, mit einem Wink seiner Hand, dass er entlassen ist. Unschlüssig sieht Antonio ihn an. „Was denn? Schaffst du es nicht mal aus dem Ring raus?“, fragt Michael abschätzig. Antonio versucht aufzustehen, doch es geht nicht. Michael packt seinen Arm, mit einem Ruck stellt er ihn auf die Füße. „Los, geh mir aus den Augen!“, fordert er. Antonio beißt sich auf die Unterlippe, Tränen steigen ihm in die Augen. Stumm wendet er sich ab und schlüpft unter der Ringabgrenzung hindurch. Langsam trottet er zu seinen Sachen und zieht sich sein Hemd an. Die anderen Jungen rücken näher zusammen, sie beginnen zu tuscheln: „So ein Schwächling.“ „Aus dem wird nie ein richtiger Drache.“ Antonio greift nach seiner Jacke. So schnell ihn seine Beine tragen können, verlässt er die Halle. Was wissen diese Idioten denn schon? Bei ihnen ist Michael nie so streng. Dieser ganze Kampfsportmist liegt ihm eben nicht. Das wird er nie lernen. Eilig läuft er den Flur entlang zum Fahrstuhl. Das Gitter reißt er auf und steigt ein. Für heute hat er genug davon, ein Drache zu sein. Er will nur noch in sein Zimmer. Im Fahrstuhl wählt er den neunten Stock. Mit einem Ruck setzt sich die Kabine in Bewegung. Jetzt wo er allein ist, wo ihn keine feindseligen Blicke mehr treffen, kommt er nicht mehr gegen die Tränen an. Heiß laufen sie ihm über die Wangen. Er ist kein Schwächling, er hat die Aufnahmeprüfung bestanden und dafür sogar einen Menschen getötet. Hat das nicht gereicht? Antonio ist längst ein Drache, warum behandeln sie ihn nicht endlich so? Der Fahrstuhl stoppt, zügig setzt Antonio seinen Weg fort. Er folgt dem Flur, von welchem etliche Türen abgehen. Noch im Laufen kramt er seinen Schlüssel aus der Hosentasche. Schon von weitem kann er das Miauen seines Katers hören. Schabende Geräusche gehen von einer der Türen aus. Antonio bleibt vor ihr stehen und schließt auf. Ein weißer Perser zwängt sich durch den geöffneten Spalt. Schnurrend beginnt er Antonios Beine zu umrunden. Eng schmiegt er seinen mageren Körper an ihn. Antonio bückt sich nach dem Tier und nimmt es auf den Arm. Mit ihm geht er in sein Einzimmerapartment und knallt die Tür nach sich zu. Den Kater drückt er fest an sich und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Langsam lässt er sich auf den Boden sinken. „Es tut mir leid, Snowflake. Ich habe heute nichts für dich“, flüstert er dem Kater ins Ohr. Das Tier miaut und reibt seinen Kopf an ihm. Langsam versiegen Antonios Tränen, sein Blick schweift umher. Ein einfacher Kleiderschrank, ein Bett, ein kleiner Tisch, nichts davon gehört ihm. Er ist hier nur geduldet, solange er tut, was man ihm befiehlt. „Auf der Straße war es schlimmer“, versucht Antonio sich einzureden, auch wenn er weiß, dass es nicht stimmt. Hätte er sich damals doch nur nicht darauf eingelassen Botengänge für diese Drachen zu erledigen. Jetzt wo er schon so viel gesehen hat, wo er selbst schon einen Mann getötet hat, lassen sie ihn nie lebend gehen. Seine Hand wandert an das Kreuz um seinen Hals. Mit dem Daumen fährt er über den roten Rubin in der Mitte. „Mutter“, flüstert er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)