Mosaik von Alaiya (Urban Fantasy Thriller) ================================================================================ [20.11.2011 – X31 – Klärwerk] ----------------------------- Für den Moment reichte das Adrenalin. Joanne stand. Ihre Wunde blutete nicht. Ihr Kreislauf hatte nicht nachgegeben. Sie hatte ihre Weste enger gebunden, trug sie nun wie eine Korsage unter der Jacke. Es sollte zumindest helfen, ihre Lunge zusammenzudrücken, sollte etwaige Wunden an ihren Lungen für den Moment zudrücken. Es war nicht das erste Mal. Sie hatte es vorher auch schon überlebt. Irgendwie hatte sie es auch geschafft, ihre Hose wieder zuzubinden, obwohl die Kugel den Stoff am Bund ziemlich zerrissen hatte. Sie konnte stehen. Sie war noch angezogen. Es ging noch. Sie konnte noch. Wenn die Möwe Recht hatte, war Murphy hier. Wenn die Möwe Recht hatte, würden sie Murphy retten können. Sie standen am Rand eines kleinen Grasgebietes am südlichen Ende der Flats. Hier hatte irgendwann einmal ein Park entstehen sollen, doch es war nie dazu gekommen. Wahrscheinlich wegen der stillgelegten Kläranlage, die hier an einer Bucht lag. Obwohl die Anlage seit Jahren nicht mehr im Betrieb war, hing der Gestank der Klärgruben weiterhin in der Luft. „Erst ein Wasserwerk, jetzt eine Kläranlage“, murmelte Siobhan. „Du weißt nicht zufälligerweise ob es einen korrumpierten Wassergeist unter euren Gegnern gibt?“ Wahrscheinlich sollte es ein Scherz sein. „Wassergeist oder einfach jemand, der mit der Infrastruktur arbeitet“, meinte Heidenstein. Pakhet sagte nichts. Sie sprach so wenig wie möglich. In ihren Ohren rauschte das Blut, machte es schwerer für sie normal zu hören. Wahrscheinlich gab es auch hier eine Falle. Sie glaubte nicht, dass Murphy unbewacht wäre. Es sei denn, er war … Doch daran wollte sie nicht denken. Das Gebiet lag in kompletter Dunkelheit vor ihnen. Durch den noch immer wolkigen Himmel und den mittlerweile eingesetzten Nieselregen, war es schwer irgendetwas zu erkennen. Da hinten hoben sich dunkle Formen vom durch dem residualen Licht der Stadt rötlich schimmernden Wolkenhimmel ab. Runde Formen. Wahrscheinlich Silos. Irgendwo leicht versetzt dazu – die Entfernung war schwer einzuordnen – eine Kastenform. Wahrscheinlich ein Verwaltungsgebäude. Sie sah zu Trixie, die auf Siobhans Schulter saß und sich mit ihrem weißen Gefieder arg von der dunklen Umgebung abhob. „Wo ist er?“ „Im Klotz“, antwortete der Geist. Pakhet nickte, hob ihre Waffe. Also im Verwaltungsgebäude. Zumindest ein Punkt dafür, dass er noch lebte. Wenn sie nur seine Leiche abgelegt hätten, hätten sie diese wohl eher in eins der Becken geworfen, oder? Ihr Magen zog sich zusammen. Sie ging voran. Irgendwie würde sie das ganze schaffen. Irgendwie würde sie ihn da herausholen. Crash hatte sich tatsächlich bewaffnet. Wie damals in der Arena hatte er einen Köcher mit Speeren dabei. Es war wahrscheinlich seine beste Waffe, wie es für sie die Pistolen waren. Langsam huschte sie auf den dunklen, kantigen Schatten des Gebäudes zu. Von allem, was sie sehen konnte, waren es drei Stockwerke, dafür aber ein länglicher Komplex. Im Dunklen war es schwer, Details zu erkennen. Sie mochte es nicht. Das Gefühl beobachtet zu werden, war allgegenwärtig. Hier war jemand anderes. Ja, hier wartete noch jemand. Woher sie es genau wusste, konnte sie nicht sagen. Es war eine Art siebter Sinn. Da, rechts von ihnen. Zwischen den Silos. Da war jemand. „Weiter“, zischte sie. Hier auf dem, was wohl einmal ein Parkplatz war, nun aber ein überwuchertes Feld war, hatten sie keinerlei Deckung. Sie beschleunigte ihre Schritte, doch nicht rechtzeitig. Ein Schuss. Ein einzelner, lauter Schuss. Sie sah das Mündungsfeuer. Gewehr. Wenn sie nicht irrte ein Scharfschützengewehr. Ihr Körper handelte, ohne, dass sie darüber nachdenken musste. Sie sprang nach vorne, noch während ihre Gedanken realisierten, was passierte. Sie spürte die Kugel, doch traf sie nicht. Sie, Joanne, war zu schnell. „Pakhet!“ Das war Heidensteins Stimme. Sie antwortete nicht, lief nur. Dann hatte sie das Gebäude erreicht, kauerte sich an die Wand. Heidenstein war direkt hinter ihr, die anderen beiden jedoch nicht. Noch bevor sie realisieren konnte, was passierte, durchzuckte ein weiterer Blitz die Luft, dicht gefolgt von einem heftigen Donnerschlag. Dann ging eins der Silos in Flammen auf, gefolgt von einem Schrei. Vor Joannes normalen Auge schimmerte der Blitz nach, doch ihr magisches Auge sah klar. Es war Siobhan gewesen. Natürlich war es Siobhan gewesen. Konnte sie wirklich so schnell zaubern? Die meisten Magier brauchten zumindest ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Feuer. Dieses mal schnelles, automatisches Feuer. Es kam aus dem Schatten der verbleibenden zwei Silos, während das dritte weiterbrannte. Dicke, schwarze Rauchschwaden stiegen von ihm hinauf. Wahrscheinlich war noch irgendetwas darin gewesen. Crashs Gestalt veränderte sich. Er nahm wieder dieselbe minotaurenartige Gestalt an, die sie schon in Johannisburg gesehen hatten. Hörner wuchsen aus seinem Kopf. Hufe ersetzten seine Füße. Dann nahm er einen Speer aus seinem Köcher, sprintete los. Die Möwe stieß sich von Siobhans Schulter ab, flog zu ihnen hinüber. „Wir retten den Rabenjungen“, sagte sie in einem Tonfall, als hätte sie es gerade beschlossen. Noch immer war Joannes Blick auf Siobhan gerichtet, aber die Druidin nickte ihr zu, während sich ein Schimmern um ihre Hände bildete. Einige Kugeln trafen sie und schienen doch knapp vor ihr in der Luft hängen zu bleiben, wurden von einem Wind dann in die Höhe gerissen. Heidenstein packte Pakhet bei der Schulter. „Komm.“ Sie wandte sich ihm zu, nickte, sah zur Möwe, die die Wand entlang watschelte. Da. Eine Tür. Ein Hintereingang. Aber eine Tür. Pakhet blickte zu Heidenstein, dann trat sie die Tür ein. Dankbarerweise geschah nichts. Auch jetzt rauschte das Blut in ihren Ohren. Trixie sprang in den Flur, watschelte voraus. „Er ist weiter oben“, erklärte sie. Pakhet nickte nur. Immer wieder wanderte ihr Blick die Wände entlang. Halb rechnete sie damit, dass sich eine Tür öffnete, dass irgendetwas passierte. Doch soweit nichts. Gar nichts. Sie holte eine Taschenlampe hervor. Sie würde sie verraten, aber was sollte sie tun? Heidenstein musste auch etwas sehen und auch sie bevorzugte es, auf beiden Augen etwas zu erkennen. Immer wieder konnten sie von draußen immer wieder automatisches Feuer und auch langsamere Schüsse, wahrscheinlich von einer schweren Pistole hören. Dann ein weiteres Donnern. Die Wände des Gebäudes waren dünn. Es war offenbar eine Art Plattenbau, wahrscheinlich nur Gipswände. Dann, endlich. Linker Hand lag eine Treppe, die weiter nach oben führte. Schon flatterte Trixie hinauf, während sie folgten. Pakhets Atem war flach. Sie merkte, wie ihr immer mehr die Luft wegzubleiben schien. Aber es durfte nicht. Sie musste noch. Sie musste noch etwas. Sie waren fast da. Sie musste durchhalten, bis sie Murphy hatten. Nur noch etwas. Trixie war auf dem Treppengeländer in der zweiten Etage stehen geblieben, wartete auf sie. „Noch weiter“, sagte sie dann, flatterte wieder los. Erneut konnten sie nur folgen, kamen so in die oberste Etage des Gebäudes. Auch hier kein Licht. Natürlich nicht. Wahrscheinlich war das Gebäude seit Jahren nicht mehr an das Stromnetz angeschlossen. Es wäre nicht überraschend, hätten mittlerweile Diebe bereits alle alten Leitungen rausgerissen, um sie für den Kupferpreis zu verkaufen. Ihr Atem pfiff schon wieder. Verdammt. „Alles okay?“, fragte Heidenstein. Er hielt sie, als hätte er Angst, sie könnte umfallen. Sie nickte nur, hatte nicht den Atem, um zu antworten. Sie leuchtete den Gang hinauf und hinab. „Nach da“, krächzte Trixie und tapste nach rechts, zur Hinterseite des Gebäudes. Da, von wo sie gekommen waren. Dann geschah, womit sie gerechnet hatte. Eine der Türen wurde aufgerissen. Jemand kam heraus, eine Waffe in der Hand. Sie dachte nicht nach, hob ihre Waffe. Beinahe zeitgleich feuerten sie und der Angreifer, doch während ihr Schuss ihn in die Stirn traf, streifte sein Schuss nur den Rand ihres Ohres. Es brannte, war aber nicht gefährlich. Sie wusste es besser, als danach zu tasten. „Pakhet?“ Natürlich wieder Heidenstein. Noch immer tat sie sich schwer zu antworten. Sie brauchte ihren Atem. Sie ging weiter. Die Tür, vor der nun eine Leiche lag, stand offen. Pakhet löschte die Taschenlampe, bemühte sich leise aufzutreten. Geduckt schlich sie um die Tür, riss sie gänzlich auf. Im nächsten Moment wurde sie von einer Lampe geblendet. Dann ein weiterer Schuss, noch einer, ein dritter. Sie wurde getroffen. Sie konnte es spüren. Zwei der Schüsse trafen ihre Brust, der dritte die Wand neben ihr. Sie warfen sie um, doch irgendwie konnte sie sich im Sturz fangen, zur Seite, anstatt rücklings fallen. Schmerz explodierte in ihrer Brust, doch er kam von ihren Rippen, von ihrer Lunge. Sie hob ihre Waffe, kniff ihr rechtes Auge zu. Sie konnte eine große Gestalt sehen. Dahinter eine weitere Gestalt auf dem Boden. Sie schoss. Zwei Mal. Ein Schrei, dann fiel die Gestalt zu Boden. Ein Aufprall. Ein Klirren. Die Taschenlampe des Angreifers ging zu Bruch. Pakhet sprintete vor, war auf ihn, setzte noch einmal ihre Waffe an. Schoss. Dann wich das Leben aus dem bulligen Typen. Erst dann erlaubte sie es sich nach ihrer Brust zu tasten. Kein Blut. Konnte es sein? Ja. Wieder waren die Kugeln in ihrer Weste hängen geblieben. Gut. Sie atmete einige Male durch, wollte schon nach ihrer Taschenlampe greifen, doch Heidenstein nahm ihr das ab. Er leuchtete in den Raum, eilte zu ihr. „Pakhet!“ Sie nickte nur, sah dann auf die am Boden liegende Gestalt. Es war ein Junge. Derselbe Junge, den sie vor knapp zwei Wochen nachts im Bett im Krankenhaus schlafen gesehen hatte. Murphy. Blaue Flecken zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Seine Wange war blutig. Auch unter seinem Haar schien eine Wunde zu sein. Blut hatte sein Haar verklebt. Schaum war vor seinen Lippen. Er war nicht bei Bewusstsein. Da war noch mehr Blut. An seiner Seite. Jemand hatte etwas dagegen geklebt, doch wirklich schien es nicht zu helfen. Blutete er überhaupt noch? Joanne ließ ihre Waffe fallen, tastete nach Murphys Puls. Nichts. Gar nichts. „Nein. Oh nein. Bitte, Kid.“ Sanft, aber bestimmt schob Heidenstein sie zur Seite, er nahm seinen Rucksack ab, kramte darin. Dann begann er den Jungen zu untersuchen. Joanne konnte nicht mehr tun, als ihm dabei zuzusehen. Dabei zuzusehen, wie er verschiedene Lebenszeichen überprüfte. Er prüfte Atem, Puls, Pupillenreflex. Dann holte er etwas aus seinem Rucksack. Einen Pen. Er setzte ihn an Murphys Brust an, spritzte, was auch immer es war. Dann zog er eine andere Spritze auf, verabreichte was auch immer es war, begann erneut ihn zu untersuchen. Die Welt drehte sich. Sie bekam keine Luft mehr. Dennoch konnte sie einfach nicht loslassen. Sie musste wissen, was mit Murphy war. Dann, auf einmal, ein Atemzug. Flach. Aber da. „Was ist mit ihm?“, fragte sie, ihre Stimme gedrückt, flach. „Die haben ihn irgendwomit ruhig gestellt“, antwortete Heidenstein. „Überdosis.“ Er arbeitete weiter. „Ich kriege ihn wieder hin.“ Sie wusste nicht, ob er es nur sagte, um sie zu beruhigen. Sie wusste es nicht. Sie rückte nur zurück, lehnte gegen eine Wand, beobachtete ihn. Beobachtete, wie Heidenstein arbeite. Er half Murphy atmen, beatmete ihm, bis der Atem des Jungen regelmäßiger wurde. Atem. Sie konnte selbst kaum noch atmen. Sie musste bei Bewusstsein bleiben, doch tanzten bereits die Sterne von ihren Augen, zumindest vor ihrem rechten Auge. Atem. Sie bekam keine Luft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)