Schneewelten von Salome_chan ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Lautlos sank der Schnee im Inneren der Kugel zu Boden. Dieser künstliche Schnee machte kein Geräusch. Vielleicht hätte der Schnee draußen ein Geräusch gemacht, würde diese Stadt denn etwas anderes als fahlgrauen Matsch zustande bringen. In der Ferne zogen dicke, graue Wolken aus den Fabrikschloten, die Straßenlaternen scheiterten an dem Versuch, den Himmel zu erleuchten. Irgendwo verglomm das stupfe, flackernde Licht in der endlos grauen Instanz der Nacht. Einzelne, nasse Tropfen wehten gegen die Fensterscheibe, auch wenn sich die Fenster des hohen Gebäudes geradezu zwischen Pilastern und Friesen zu verstecken suchten, fand die Witterung sie doch. Unbarmherziger Wind rüttelte an den Fensterflügeln, pfiff über die Mauerfugen und hinterließ ein Schaudern bei den Bewohnern. Eiry war noch immer in die Betrachtung der Schneekugel, die auf der Fensterbank stand, versunken. Die Welt in der Sphäre schien ruhig und friedlich. Kein Windhauch wirbelte die zierlichen Flocken umher. Leise legten sie sich auf die bröckelnden Ruinen mit ihren Pfeilern und spitzen, leeren Fensterhöhlen. Ein abgestorbener Eichenbaum stand stumpf am Rand des Ensembles. Was konnte man schon tun, mitten in einer stürmenden Winternacht? Der alte Heizkörper unter dem Fenster verbreitete etwas zittrig eine angenehme Wärme. Eiry saß mit angezogenen Beinen auf ihrem grünen Samtsessel davor, den Kopf mit einem Kissen an die kühle Wand links des Fensters gelehnt. Mitten in der tiefsten Nacht, bevor der Morgen graut schliefen in einer Nacht wie dieser selbst die dunklen Schatten. Die Dunkelheit in den Zimmerecken war tief und ruhig, gebändigt von dem goldenen Licht der Stehlampe. Langsam krochen Eiskristalle die Scheibe entlang, verzauberten die melancholische Aussicht auf eine Welt aus Grau. Der nächste Morgen war nicht weniger grau als die vergangene Nacht, ein wenig heller und vermutlich noch kälter. In der leeren Wohnung fand sich kein Grund zum Bleiben, die Sessel vor dem kleinen Kamin im Wohnzimmer wirken fast schon angestaubt und der große, goldgerahmte Spiegel zeigte immer deutlicher blinde Flecken. Zumindest den Samowar hatte jemand eingesteckt – ein Frühstück braucht nicht viel mehr als eine Tasse heißen Tee. Vor den Fenstern waberte ein ungesunder, gräulicher Nebel, der sich hartnäckig in den Straßen hielt. Eiry nahm ihren schwarzen Wollmantel, knöpfte alle der silbernen Knöpfe zu, die sie finden konnte, hängte ihre Tasche über die Schulter und streifte sich die warmen Lederhandschuhe über. Mit klirrenden Schlüsseln in der Hand verließ sie die Wohnung und eilte zur Untergrundbahn, um in die Bibliothek zu gelangen. In den endlosen Weiten der Eingangshalle hatte irgendjemand mit Anis gespickte Orangen versteckt, der warme Geruch kämpfte tapfer gegen die Wolke der klamm gewordenen Pelzmäntel. Leise schlich Eiry durch den Lesesaal, in dem sich die verschiedensten Menschen vor der Kälte verkrochen hatten, weiter durch das alte Archiv mit den dicken Folianten die sorgsam die Wände hoch und runter und gar über den Türrahmen gestapelt waren, bis hin zur Astronomieabteilung. Die schwere Gold und stuckverzierte Decke wölbte sich über den regalen und verschluckte das klamme Tageslicht, die Globen warfen lange Schatten auf den abgetretenen Teppich. Niemand beanspruchte den gut verborgenen Arbeitsplatz unter einem der hinteren Fenster, keine Menschenseele hatte den Raum an diesem Morgen entdeckt. In der niederen Vitrine schimmerte das goldene Astrolabium wie an jedem Tag zuvor. Die ungleichmäßigen Buchrücken schienen die Stille des Raumes zu atmen. Der tanzende Staub erinnerte an fallenden Schnee – vielleicht macht er genau das gleiche Geräusch wenn man nur gut genug hinhört? Eiry setzte sich ans Fenster, nahm ihr Buch aus der Tasche sowie die goldene Lupe mit dem Federgriff und begann weiterzulesen. Zima war ein Buch über den Winter, mit kleinen Kupferstichen von Winterlandschaften und fantastischen Beschreibungen von weißem Schnee und anderen Orten. Dicke Regentropfen klopften gegen die Scheiben und ihre Armbanduhr zeigte bereits späten Nachmittag an. Der Morgennebel schien unlängst weggewaschen, die Aussicht auf Schnee weggeschwemmt. Mit einem letzten Blick auf das Astrolabium verließ Eiry die Bibliothek und zwängte sich zu den nassen Nerzmänteln und pelzkragenbehefteten Mänteln in die Untergrundbahn. In der Wohnung war nach wie vor niemand zu finden, doch jemand hatte den Boden gewischt, die Sessel ausgebürstet und den Spiegel poliert. In der Küche summte der Samowar mit frischem Tee und ein kleiner Topf Suppe wartet neben dem Herd. Die Abenddämmerung verschluckte bald den Nieselregen und das aufgewärmte Essen vertrieb die Kälte aus den Knochen. Bald zog sich Eiry in ihr Zimmer zurück und sah wieder aus dem Fenster. Der Schnee im Inneren der Kugel sank lautlos zu Boden. Das Licht der Stadt kämpfte tapfer gegen die Dunkelheit der hereinfallenden Nacht an. Ein Windhauch wehte sanft weiße Flocken gegen die von Eiskristallen überzogenen Fensterscheiben. Das klimpern eines Schlüssels und das leise Lachen zweier Leute begann die Leere zu füllen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)