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DigiRonpa

Mut. Freundschaft. Liebe. Wissen. Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Licht. Hoffnung ... Verzweiflung.
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bevor es losgeht, muss ich noch etwas loswerden: Es hat mich riesig gefreut, dass es zu dem letzten Kapitel so viele Rückmeldungen gab und dass ihr so viel mitgerätselt habt. Ehrlich, damit habe ich gar nicht gerechnet. Also an dieser Stelle nochmal ein Dank an alle, die mich an ihren Überlegungen haben teilhaben lassen :)
... und jetzt hoffe ich, dass die Auflösung euren Erwartungen auch gerecht wird xD Here we go! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ihr wolltet lange Kapitel? Ihr kriegt lange Kapitel! Hier noch ein 8.000-Wörter-Wall-of-Text :D Komplett anzeigen

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Prolog: Schulausflug … oder so ähnlich

Er spürte, dass er auf feuchtem Untergrund lag. Moos vielleicht, oder Erde. Der muffige Geruch unterstützte diese Theorie.

Stöhnend rappelte sich Taichi auf. In seinem Kopf brummte es, als mache ein Hornissenschwarm Jagd auf seine Nervenimpulse.

Ein Wald. Er war tatsächlich in einem Wald … mit Pflanzen, die er nicht kannte. Und er war allein. Wie war er hierhergekommen? Er konnte sich nicht daran erinnern. In seinem Gedächtnis klaffte ein riesiges, schwarzes Loch. Er stocherte darin herum, aber alles, was er zutage fördern konnte, war der Brief, den er bekommen hatte …

Ein Rascheln von links. „Hallo? Ist da jemand?“, rief er, und kurz darauf raschelte es erneut im Gebüsch. Ein Junge mit blutroten Haaren tastete sich vorsichtig durch das Dickicht. Er wirkte sichtlich erleichtert.

„Ich dachte schon, ich bin allein hier“, murmelte er.

„Das ist vielleicht eine blöde Frage“, begann Taichi, „aber kannst du mir zufällig sagen, wie wir hierhergekommen sind?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Also erinnerst du dich auch nicht?“

„Kein bisschen“, schnaubte Taichi. Das Ganze war mehr als suspekt.

Sie standen ein wenig verloren unter den Bäumen herum. Was sprach man am besten mit einem Jungen, der sich genau wie man selbst nicht mehr erinnern konnte, was er hier wollte? Vielleicht hätte Taichi ihn erst mal nach seinem Namen fragen sollen, aber gerade als ihm das einfiel, sagte der andere: „Also wenn man unsere Kleidung betrachtet, sieht es nicht so aus, als wären wir hier freiwillig auf Wanderschaft gegangen.“

Taichi blickte an sich herab. Er trug seine Freizeitklamotten und normale Sneakers. Der andere Junge hatte ein Hawaiihemd an und Lederschuhe. Es war zwar warm hier, aber für einen Pfadfinderausflug in einem Tropenwald waren sie eindeutig nicht ausstaffiert. „Ich bin übrigens Taichi. Taichi Yagami“, sagte er verspätet.

„Koushiro Izumi“, stellte der Rotschopf sich vor.

Da die beiden sonst nichts zu tun hatten, folgten sie einem kaum erkennbaren Pfad durch das Unterholz. Nur herumzustehen würde ihre Erinnerungen wohl nicht zurückbringen.

Womit sie wieder beim Thema wären. Taichi zermarterte sich das Hirn, aber das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war und blieb die Vorderansicht dieser Schule, die Briefe an seine Familie geschickt hatte – gleich zwei Stück. Je einen an ihn und seine Schwester. Stimmt, so war es gewesen, sie waren beide auf die Kibougamine-Hochschule aufgenommen wurden – diese weltweit bekannte Akademie, die man im Westen Hope’s Peak nannte. Taichi konnte sich das ehrlich gesagt nicht erklären. Er war alles andere als ein überdurchschnittlicher Schüler – genau genommen lag seine Leistung sogar klar unter dem Durchschnitt.

Trotzdem waren diese Briefe gekommen. Ihm und Hikari wurden besondere Talente nachgesagt, die Hope’s Peak ausgeforscht hatte. Sie sollten beide noch mitten im Schuljahr dorthin wechseln. Seine Schwester würde sogar ein Schuljahr dabei überspringen, um auf die Hochschule gehen zu können – eigentlich eine Ungeheuerlichkeit.

Taichi hatte die Einladungen als absoluten Quatsch abgetan. In Hikaris Brief stand irgendwas Obskures von wegen, sie wäre größte und beste Licht für die Menschheit oder so. Sein eigener war zwar schmeichelhafter, aber genauso dubios.

Dennoch hatten sie sich ein wenig im Internet schlau gemacht und herausgefunden, dass die Absolventen dieser Schule hervorragende Zukunftsaussichten hatten. Mehr hatte es nicht gebraucht, um zumindest ihre Eltern davon zu überzeugen, sich die Kibougamine mal anzusehen. Taichi hatte sich geschworen, alle dort übelst zu verprügeln, sollte sich herausstellen, dass diese ganzen Snobs sie nur verarscht hatten und mal einen Blick auf gewöhnliche Sterbliche werfen wollten.

Sie waren also hingefahren, und er glaubte sich zu erinnern, durch das Eingangstor getreten zu sein – und dann begann sein Filmriss, an dessen Ende er plötzlich mitten in einem unbekannten Waldstück aufgewacht war. Er fragte sich, ob seine Schwester auch hier gelandet war. Er wusste nicht, ob er darauf hoffen sollte.

Er fand sie auf einer Lichtung, und sie war nicht allein. Um die zehn andere Jungen und Mädchen etwa in seinem Alter waren bei ihr, und sie wirkten allesamt ratlos.

Nach kurzem Begrüßen stellte sich heraus, dass sie alle hier aufgewacht waren, ohne sich daran zu erinnern, wo hier war oder wie sie hierhergekommen waren. Taichi war sich bereits sicher, sich all die verschiedenen Gesichter und Namen niemals merken zu können. Außer ihm, seiner Schwester und Koushiro gab es noch einen Jungen mit blauschwarzem Haar namens Jou, der stark zu schwitzen schien, ein Mädchen namens Sora, das eher sportlich gekleidet war, einen wilden Struwwelkopf, der nicht sonderlich besorgt schien und sich als Daisuke vorstellte, ein ernster, eher klein gewachsener Bursche namens Iori, ein ruhiger Junge mit dunklem, glattem Haar, das ihm bis zu den Schultern fiel – Ken, kurz und bündig –, ein Mädchen mit Brille namens Miyako, und dann noch drei blonde Jungen.

Der eine zwinkerte Hikari zu, als sie einander begrüßten, und Taichi beschloss, sich seinen Namen – Takeru Takaishi – in sein Gedächtnis zu brennen, weil er ihn auf Anhieb nicht leiden konnte. Dann war da noch ein Junge in seinem Alter, der etwas abseits der Gruppe stand und auf gelangweilter Eigenbrötler machte. Als Sora ihn bat, sich auch vorzustellen, rückte er mit einem knappen „Yamato Ishida“ heraus. Und der Letzte in der Runde schien Taichi und die anderen Jungs gar nicht wirklich wahrzunehmen: Wenn er sprach, dann nur in Richtung der Mädchen und mit einem charmanten Grinsen, für das er in jeder Zahnpastawerbung hätte auftreten können. Er konnte fließend Japanisch, aber man hörte einen leichten englischen Akzent heraus. Gerade, als er sich vorstellen wollte, gellte ein Schrei durch den Wald.

Sie starrten einander erschrocken an. „Da muss noch jemand sein“, sagte Taichi alarmiert zu Koushiro. Als geschlossene Gruppe rannten sie in die Richtung los, aus der das Kreischen gekommen war.

Ein Mädchen – ein ziemlich hübsches sogar – war auf ihrem – ebenfalls ziemlich hübschen – Hintern gelandet, ihr Sonnenhut war ihr vom Kopf gerutscht, ihre braunen Haare fielen in geordneten Wellen über ihren Rücken, und ihr Blick klebte an etwas, das direkt vor ihr auf einem Baumstumpf stand und eindeutig nicht menschlich war.

Taichi meinte, nicht recht zu sehen. Vor ihnen stand ein … Teddybär? Für Leute mit krudem Geschmack? Eine Seite von ihm war weiß, die andere pechschwarz – und das Gesicht auf der schwarzen Seite sah aus wie das eines Ungeheuers: ein rotes Auge und ein Maul voller riesiger Zähne.

Er sah zwar aus wie ein Plüschtier, aber Plüschtiere sollten sich nicht bewegen, oder?

Der Bär tat genau das, als er sie alle heranstürmen sah. „Willkommen, Schüler!“, sagte er mit einer gewinnenden Geste seiner Ärmchen, die in einfachen Stoffknubbeln ausliefen. Seine Stimme war quietschehoch, aber allein dass er sprach, war doch unmöglich!

„Was ist das?“, platzte Hikari heraus.

Der Bär kicherte kindisch. „Puhuhu, wie unhöflich. Tritt man so vor seinen Lehrer?“

„Lehrer?“, fragte Takeru stirnrunzelnd.

„Wieso kann der sprechen?“, rief Daisuke aus. „Hey, träume ich noch, oder was?“

„Genau genommen bin ich sogar euer Schulleiter“, verkündete der schwarzweiße Bär im Teddyformat genüsslich. „Aber für unseren momentanen Schulausflug reicht es, wenn ihr mich mit Monokuma-sensei anredet.“

Taichi glaubte, im falschen Film zu sein. Schulausflug? Ein Teddybär als Lehrer?

„Wa-was geht hier vor?“, stotterte das Mädchen, das rückwärts zu den anderen gekrochen war. „Warum wache ich plötzlich auf und sehe dieses … Ding vor mir?“

„Solche Bezeichnungen für euren Lehrer möchte ich nicht hören“, sagte Monokuma. War er verärgert oder amüsiert? Es war schwer, in seinem Gesicht zu lesen, und auch seine Stimme schuf wenig Interpretationsmöglichkeiten – und Taichi war allgemein nicht dafür bekannt, die Gemütslage von Stofftieren erraten zu können. „Aber da ihr alle ein wenig verwirrt seid, lasse ich es dir diesmal noch durchgehen.“

„Verwirrt ist gut“, knurrte Yamato. „Du weißt, wo wir hier sind, oder? Was soll das Theater?“

„Puhuhuhu. Ihr seid hier auf der File-Insel, dem Ziel des Kibougamine-Sommercamps in diesem Jahr!“

„Sommercamp?“, fragten Sora und Miyako gleichzeitig.

„Ich weiß nichts von einem Sommercamp. Ihr etwa?“, fragte Iori. Niemand antwortete auf etwas so Offensichtliches.

„Hey, verarsch uns nicht!“, rief Daisuke. „Was soll das hier? Eine Insel? Ernsthaft?“

„Lasst doch dieses Plüschtier im Wald stehen“, meinte plötzlich der blonde Junge mit dem ausländischen Akzent. „Wenn das eine Insel ist, suchen wir uns einfach den nächsten Hafen oder Flughafen und fliegen heim. Ich habe nicht vor, an diesem Camp oder was auch immer teilzunehmen.“ Hier und da wurden beipflichtende Stimmen laut.

Aber der Bär kicherte schon wieder. „Puhuhu, ihr könnt gerne suchen, aber ihr findet auf dieser Insel nichts, was euch fortbringen könnte. Es gibt nur einen Weg, von hier wegzukommen, und der ist, die Campregeln zu befolgen.“

„Campregeln?“, wiederholte Ken.

„Natürlich! Oder glaubt ihr, ich lasse meine Schüler einfach ohne ein Regelwerk auf die Wildnis los?“

„Soll das Ganze irgendeine Reality-Show sein oder so?“, fragte Miyako unbehaglich. „So auf die Art, ein Überlebenscamp für Oberschüler?“

„Puhuhu!“ Der Bär kicherte wieder, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. „Ein Überlebenscamp trifft es gut! Oder ist es vielleicht ein Sterbecamp? Wie auch immer, werft mal einen Blick auf eure DigiVices. Ihr habt sie alle irgendwo in euren Hosentaschen. Warum man sie DigiVices nennt, werde ich euch ein andermal erklären – vielleicht. Ich habe alle Regeln, die für euer Abenteuer hier relevant sind, darauf abgespeichert. Das war’s – Klasse, weggetreten!“

Der Bär machte einen Sprung hinter den Baumstamm – und war plötzlich verschwunden.

Mit dem Gefühl, von etwas überrumpelt worden zu sein – von einem Truck zum Beispiel –, tastete Taichi seine Hostentaschen ab und förderte tatsächlich ein kleines, tamagotchiähnliches Ding zutage. Die anderen fanden ähnliche in ihren Habseligkeiten, auch wenn zum Beispiel das von Hikari ganz anders aussah als seines. Als er auf die Knöpfe neben dem Display drückte, tauchte winziger Text darauf auf.

„Wa-was ist das?“, hörte er Sora entsetzt hauchen.

Als Taichi sich die Regeln durchlas, überkam ihn eine Gänsehaut und er konnte plötzlich ihren Schrecken nachempfinden.

 

Willkommen auf der File-Insel!

Regeln für das Kibougamine-Sommercamp:

Regel #1: Nur wer einen Klassenkameraden oder eine Klassenkameradin ermordet, erhält die Chance, die Insel zu verlassen.

Regel #2: Es ist verboten, mehr als zwei Personen zu ermorden.

Regel #3: Sobald mindestens drei Schüler oder Schülerinnen eine Leiche entdeckt haben, wird der Leichenfund von Direktor Monokuma verkündet.

Regel #4: Eine bestimmte Zeit nach der Verkündigung wird ein Klassenprozess abgehalten. Alle Schülerinnen und Schüler haben dabei anwesend zu sein.

Regel #5: Während des Prozesses wird per Mehrheitsentscheidung ein Schuldiger oder eine Schuldige bestimmt. Ist der oder die Beschuldigte auch der Täter oder die Täterin, wird er oder sie allein bestraft. Wird jemand anders außer der Täterin oder dem Täter ausgewählt, so werden alle anderen bestraft und der Täter oder die Täterin kommt frei.

Regel #6: Zusätzliche Regeln werden nach Ermessen des Direktors hinzugefügt.

Fall 01: Tägliches Leben – Überlebenscamp für Anfänger

„Das ist ja wohl ein Witz!“

Daisuke schleuderte zornig sein DigiVice von sich.

„Ich versteh das irgendwie nicht …“, meinte Jou hilflos. „Was soll das heißen, wir sollen jemanden ermorden, und …?“

„Mann, regt euch ab“, sagte Takeru. „Es wird genauso sein, wie Daisuke gesagt hat. Das ist ein schlechter Scherz, nichts weiter.“

„Meinst du wirklich?“ Miyako hielt ihr DigiVice mit spitzen Fingern möglichst weit von ihrem Körper entfernt, als wäre es ein giftiges Insekt.

„Wer so etwas lustig findet, hat einen ziemlich kranken Humor“, stellte Sora trocken fest.

„Wer so aussieht wie dieser Monokuma, muss ja ein Rad ab haben!“, schimpfte Daisuke.

„Ich frage mich aber doch, was dieser Monokuma eigentlich ist“, überlegte Iori. Er schien das alles ziemlich gelassen zu nehmen. „Ich meine, ein Mensch kann er ja wohl kaum sein. Selbst für ein verkleidetes Kind wäre er zu klein.“

„Ist doch völlig egal, was er ist“, meinte Taichi großspurig. „Vielleicht ein ferngesteuertes Plüschtier. Gibt ja allerhand merkwürdiges Zeug.“

„Ich denke auch, dass wir nichts von dem hier ernst nehmen sollten“, sagte Hikari. „Wer weiß, ob er die Wahrheit sagt. Vielleicht ist das ja gar keine Insel und wir machen uns umsonst verrückt.“

„Wir sollten irgendwo hin gehen, wo man uns finden kann“, schlug Jou vor. „Sicher sucht man uns schon überall.“

„Ich wäre ja auch gern so zuversichtlich wie du“, murmelte Yamato, „aber kommt euch die Gegend auch nur annähernd bekannt vor? Wer würde uns an einem Ort vermuten, wo wir noch nie vorher waren?“

„Es muss doch irgendwo Anzeichen davon geben, dass wir hergebracht wurden“, meinte Jou hilflos.

Die Stille, die darauf folgte, war drückend wie ein schwüler Sommertag. Denn dieser Satz implizierte etwas Ungeheuerliches. Wenn man sie hergebracht hatte, dann doch wohl gegen ihren Willen. Das hieß, man hatte sie entführt. Und das wiederum hieß, dass sie Monokuma vielleicht doch ernstnehmen sollten.

 

Da sie nichts Besseres zu tun wussten, teilten sich die dreizehn in Zweier- und Dreiergruppen auf und erkundeten die Umgebung. Sora bildete eine Gruppe mit dem langhaarigen Mädchen, das als Erstes auf Monokuma getroffen war, und auch der blonde Ausländer schloss sich ihnen an.

„Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mich vorzustellen“, sagte er, als sie das Ende des Waldes zu finden versuchten. „Ich bin Wallace.“

„Du stammst aber nicht aus Japan, oder?“, fragte das andere Mädchen.

„Hört man das? Oder sieht man es so offensichtlich?“, lachte Wallace. Er hatte schöne Zähne. „Ich komme aus den USA. Ich bin als Austauschschüler an die Hope’s Peak gekommen.“ Er sprach den Namen englisch aus.

„USA? Meine Eltern haben eine Zeitlang in den USA gearbeitet.“

„Und wie heißt du?“, fragte Wallace lächelnd. „Du hast dich auch noch nicht vorgestellt. Den Namen eines so hübschen Mädchens hätte ich mir gemerkt.“

„Oh. Das hab ich wohl in der Aufregung vergessen. Ich bin Mimi. Mimi Tachikawa.“ Wallace‘ Schmeicheleien schienen Mimi nicht sonderlich zu beeindrucken. Vielleicht bemerkte sie sie auch gar nicht? So prinzessinnenhaft, wie sie sich gab – allein ihre Markenklamotten mussten ein Vermögen gekostet haben –, hörte sie solche Sprüche sicher jeden Tag.

„Moment mal“, sagte Sora. „Sagtest du Hope‘s Peak, Wallace? Bist du auch an dieser Schule aufgenommen worden?“

„Bin ich. Du etwa auch … Sora, richtig?“ Obwohl er jünger aussah als sie, war sein Lächeln echt eine Klasse für sich. Sora wurde warm in der Brust.

„Langsam beschleicht mich das Gefühl, wir gehen alle auf diese Schule“, murmelte sie.

„Ich wollte auch dieses Semester dort anfangen!“, berichtete Mimi.

„Meint ihr, das ist die Verbindung zwischen uns? Sind wir darum hier?“

„Kann ich mir sogar gut vorstellen. Dieser komische Monokuma hat uns seine Schüler genannt. Und das hier sei das Sommercamp der Hope’s Peak. Hey – was sind eure besonderen Talente?“, fragte Wallace.

Sora war von dem plötzlichen Themenwechsel überrascht. „Äh, Talente?“

„Ihr wisst schon, besondere Fähigkeiten. Oder habt ihr keine? Man sagt, dass man nur an die Hope’s Peak kommt, wenn sie einen auswählen, weil man irgendein besonderes Talent hat. So nach dem Hollywood-Prinzip. Ruf uns nicht an, wir rufen dich an.“

Sora war nicht sicher, ob sie wusste, wovon er redete, aber dann erinnerte sie sich an den Brief, den sie erhalten hatte. Als sie an den Inhalt dachte, errötete sie und beschloss, ihn nicht preiszugeben.

„Ich weiß, was du meinst“, sagte Mimi. „Mich haben sie angeblich wegen meiner Ehrlichkeit aufgenommen.“

„Ehrlichkeit?“, fragte Sora verdutzt. „Ist das denn ein Talent?“

„Was für ein Talent haben sie dir denn zugeschrieben?“, fragte Mimi spitz.

„Ich … weiß nicht mehr.“ Sora rettete sich in ein verlegenes Lachen. „Auch irgendetwas Komisches. Ich hab’s mir gar nicht gemerkt.“

Mimi wirkte nicht überzeugt, brummte aber zufrieden: „Na also. Und du, Wallace?“

Er lächelte spitzbübisch. „Mein Talent bleibt mein Geheimnis.“

„Ach komm, verrat es uns!“ Mimi klang nun eindeutig aufgeregter als vorhin.

„Rate doch. Ein wenig geheimnisvoll darf ich doch tun, oder? Schließlich bin ich der mysteriöse Austauschschüler von Übersee“, erklärte er und zwinkerte verschmitzt.

Das Kundschaften wurde schließlich zu einem lockeren Spaziergang, während dem die meiste Zeit Wallace und Mimi Zwiesprache hielten, Mimi herauszufinden versuchte, was sein geheimes Talent war, und dabei genauso wenig Erfolg hatte wie sie alle drei dabei, einen Weg aus dem Wald zu finden.

 

Daisuke war mit Ken unterwegs und eigentlich hatte er geglaubt, er würde sich mit dem eher zurückhaltenden Jungen nicht gut verstehen. Er war die ganze Zeit so schüchtern rübergekommen, obwohl sie noch nicht lange zusammen waren … aber naja, das war eben Daisukes erster Eindruck. Nichtsdestotrotz war es überraschend angenehm, mit ihm auf Entdeckungsreise zu gehen. Daisuke wollte trotzdem ein Gespräch in Gang bringen und sprach ihn einfach mal auf seine Hobbys an, und Ken schien ebenfalls Fußball zu mögen. Schon hatten sie einen gemeinsamen Nenner gefunden, der ihnen während des Suchens die Zeit verkürzte.

Am Ende hatten sie nichts gefunden außer ein paar Felsen im Wald, aber Daisuke glaubte zu wissen, dass Ken ein guter Kerl war.

Als sie zu der Lichtung zurückkehrten, waren alle anderen schon da – bis auf Iori und Miyako.

„Irgendwas gefunden?“, fragte Taichi, als sie ankamen.

„Nichts“, sagte Daisuke.

„Verdammt“, fluchte der braunhaarige Junge.

„Iori und Miyako sind noch unterwegs. Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben“, sagte das Mädchen, das mit ihm unterwegs gewesen war – Hikari, wenn sich Daisuke nicht täuschte. Er fand sie recht hübsch, obwohl sie gegen Mimi eindeutig verlor – aber mit ihren sanftmütigen Augen und der zierlichen Figur war sie genau Daisukes Typ.

„Hör mal“, flüsterte er Ken zu, um ihre aufkeimende Freundschaft zu vertiefen, „Hikari ist echt ein klasse Mädel, oder? Wie, denkst du, hab ich Chancen bei ihr?“

Ken schien verdattert ob dieser Frage. „Ähm, was … Wie meinst du das? Chancen bei Hikari? Du meinst …“

„Na klar! Frag nicht so blöd!“, zischte Daisuke ihm zu, doch Ken war zu laut gewesen. Taichi hatte das Getuschel gehört.

„Wie war das?“ Er trat auf die beiden zu, sein Gesicht finster wie Gewitterwolken. Hikari flüsterte forsch seinen Namen, doch er hörte nicht, sondern baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf. Daisuke merkte in dem Moment, dass es zu dämmern begonnen hatte. Wie lange waren sie jetzt wohl schon hier? Es war kein Wunder, dass Taichi gereizt war, aber …

„Wer von euch will was von Hikari?“, fragte er finster.

„Äh …“, machte Daisuke.

Taichis Blick wanderte als Erstes zu Ken, der abwehrend die Hände hob „I-ich weiß gar nicht, worum es geht.“

Nun sah Taichi Daisuke in die Augen. „Hey“, meinte dieser entschuldigend. „Ist ja nicht böse gemeint oder so, ich …“

„Ich geb dir einen guten Rat“, knurrte Taichi. „Lass die Finger von ihr.“

„Taichi“, zischte Hikari.

Dass sie offenbar für ihn Partei ergriff, machte Daisuke Mut. Dieser Kerl glaubte wohl, hier einfach den großen Macker raushängen lassen und Hikari für sich beanspruchen zu können. Klar fand sie das nicht gerade cool. „Sieht für mich nicht so aus, als wärt ihr zwei zusammen, also was kümmert es dich?“, meinte Daisuke kaltschnäuzig.

Taichis Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Sie ist meine kleine Schwester, du Idiot“, sagte er mit erschütternder Ruhe. „Und ich werde nicht zulassen, dass sie mit jemandem wie dir abhängt, klar?“

„Sch-Schwester?“, brachte Daisuke heraus.

„Toll.“ Hikari verdrehte stöhnend die Augen. „Danke, Taichi. Ich komme mir gerade vor wie ein überbehütetes Kind.“

„Ich will nur nicht, dass du dich auf so einen Typen einlässt!“, verteidigte sich Taichi, der plötzlich unangenehm im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.

„Du redest schon wie Mama! Außerdem, wer sagt, dass ich mich auf ihn einlasse? Hab ich irgendwas in der Richtung angedeutet?“

„Zum Glück nicht“, blaffte Taichi. „Das würd ich dir auch nicht raten.“

„Taichi!“

Daisuke fühlte sich während ihres Geschwisterstreits, als würde er auf die Größe eines Glühwürmchens zusammenschrumpfen. Kens Worte trugen auch nicht gerade zu seiner Besserung bei: „Also echt, das war ziemlich dumm von dir.“

„Woher sollte ich denn wissen, dass sie verwandt sind?“, zischte Daisuke. „Sie sehen nicht gerade aus wie ein Ei und das andere!“

„Das heißt, wie ein Ei dem anderen gleichen“, korrigierte Ken. „Und außerdem haben sie uns bei der Vorstellungsrunde beide ihren Nachnamen genannt. Ich habe sofort geahnt, dass sie Bruder und Schwester sind.“

Daiskue stöhnte entnervt. Wie konnte man von ihm verlangen, sich nicht nur die Vor-, sondern auch noch die Nachnamen all ihrer Mitleidenden zu merken?

Ehe die Situation noch peinlicher werden konnte, kehrten Miyako und Iori zu der Gruppe zurück.

„Leute!“, rief das langhaarige Mädchen freudig. „Wir haben da hinten was gefunden, wo wir die Nacht verbringen können!“

Sie verstummte, als sie die angeheizte Stimmung sah. „Was ist denn hier los?“

„Nichts“, sagte Yamato gedehnt. „Was habt ihr entdeckt?“

 

Das Quartier für die Nacht sah im ersten Moment nicht gerade luxuriös aus. Wenn man aber darüber nachdachte, war es zuerst besser als gar nichts, und bei noch näherer Betrachtung sogar so etwas wie ein Wunder. Miyako und Iori waren einem Flusslauf gefolgt und auf einen Waldsee gestoßen. Auf einer kleinen Halbinsel darin stand eine Straßenbahn – ohne Gleise, ohne Menschen, die sie bedient hätten, ohne gar nichts.

Die Gruppe stand vor einem Rätsel, aber nach anfänglichem Wundern beschlossen sie, das Wunder auch auszunutzen. Die Sitzpolsterungen waren immerhin weich genug, um darauf zu schlafen und am nächsten Morgen nicht völlig verspannt aufzuwachen – auch wenn vor allem Mimi gar nicht davon begeistert war. Das Führerabteil stand offen, und man konnte dort drin die Schalter fürs Licht und sogar Klimaanlage und Heizung betätigen.

Ehe es völlig finster wurde, meldete sich der Hunger auch bei den letzten Verirrten. Sie sammelten Beeren aus dem Wald, waren sich dann aber nicht sicher, ob sie essbar waren. Daisuke, dessen Hunger am größten war – und der dringend einiges an Reputation aufholen wollte – machte den Vorkoster.

Taichi und Jou versuchten sich indessen als Fischer. Mit Taichis Taschenmesser schnitzten sie Ruten, und die Zahnseide aus Mimis Allzweckhandtasche wurde zur Angelschnur – allerdings nicht ohne dass die anderen ihre Überredungskünste bei dem Mädchen ausspielen mussten. Sie benutzten schließlich die Beeren, um Fische zu fangen – was sogar funktionierte. Taichi bekam dabei ein wenig von Jous Persönlichkeit mit und kam zu dem Schluss, dass es anstrengend war, zu lange mit ihm zusammenzuarbeiten. Klar, er war vernünftig, aber Taichi war momentan stinkig drauf und brauchte keine Belehrungen und keine übermäßige Feigheit.

Sie saßen um ein Lagerfeuer, und als der ärgste Hunger gestillt war, senkte sich Schweigen auf die Gestrandeten. Die Ungewissheit nagte an ihnen, die Verständnislosigkeit war bedrückend. Schließlich packte Yamato eine Mundharmonika aus und spielte ein Lied, nicht wirklich fröhlich, aber auch nicht schwermütig genug, um sie in noch tiefere Depressionen zu stürzen. Als Hikari schließlich herzhaft gähnte, beschloss die Gruppe, sich aufs Ohr zu legen.

Es wurden Wachen bis in die Früh eingeteilt. Immerhin wusste man nicht, ob es hier nicht irgendwelche wilden Tiere gab. Wallace und Jou waren sich einig, dass die Mädchen durchschlafen sollten. Keine von ihnen hatte Einwände außer Miyako, die sich dadurch irgendwie ungerecht behandelt fühlte. Taichi verstand ihre Beschwerde nicht wirklich, aber im Endeffekt durfte sie auch Wache schieben, und sie saß so grimmig mit ihrer Rute am Feuer wie ein Samurai aus einem Mittelalterfilm.

Der nächste Morgen begann ereignislos. Wieder zogen sie aus, um Essen und Trinken zu besorgen, dann suchten sie Anzeichen von Zivilisation.

Stattdessen fanden sie eine Wüste. Nach langem Hin und Her – und weil Taichis Teleskop ein Dorf inmitten des Sandes erspähte – beschlossen sie, sie zu durchqueren.

Das Dorf war verlassen und überdies nur eine Ansammlung winziger Hütten – wer wohnte bitte in so was? –, aber immerhin gab es dort Wasser und verwaiste Kornspeicher, und so verbrachten sie eine weitere Nacht in dieser fremden Umgebung.

Am dritten Tag setzten sie den Weg fort und erreichten noch vor Mittag ein Gebäude am anderen Ende der Wüste, das wie eine Fabrik aussah. Koushiro war es, der es entdeckte, und zwar mit seinem Laptop. „Ich habe ihn wieder zum Funktionieren gebracht“, sagte er. „Schon komisch … als hätte sich eine Karte von der Gegend von selbst raufgeladen. Sehr merkwürdig.“

„Sag uns lieber, ob wenigstens die Fabrik bewohnt ist“, verlangte Taichi.

„Keine Ahnung. Aber wenn wir die Zivilisation suchen, dann sind wird dort wohl am nächsten dran.“

Als sie die Fabrik betraten, fiel ihnen zuallererst ein großer Plasmaschirm auf, der direkt in der Eingangshalle gegenüber dem Tor prangte. Und just in dem Moment, in dem sie einen Fuß in das graue, nach Schmieröl riechende Gebäude gesetzt hatten, ging er flimmernd an.

„Guten Morgen, Klasse!“ Es war niemand Geringerer als dieser merkwürdige Monokuma-Stoffbär, der auf dem Bildschirm erschien. Hinter ihm konnte man undeutlich flimmernde Rechtecke erkennen – als säße er im Überwachungsraum eines Museums oder so.

„Du schon wieder!“, sagte Iori vorwurfsvoll. „Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst.“

„Wirst du uns endlich sagen, was hier los ist und wo wir hier sind?“, fragte Takeru. Er hatte sich irgendwie trotz Taichis Unwillen mit Hikari angefreundet und war oft in ihrer Nähe anzutreffen. Taichi fand nur Wallace noch flirtuoser, aber besser als Daisuke war Takeru allemal, weswegen er dazu vorerst schwieg. Außerdem hatte Hikari seit dem Zwischenfall mit Daisuke kaum mehr als das Nötigste mit ihrem Bruder gesprochen, und neben dem Drang, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, verspürte er die dumpfe Ahnung, etwas falsch gemacht zu haben.

Aber jetzt gab es erst mal Wichtigeres. Monokumas nächste Worte beispielsweise.

„Wenigstens habt ihr mittlerweile ordentlich Kilometer zurückgelegt“, sagte der schwarzweiße Bär. „Aber ihr langweilt mich langsam. Vor zwei Tagen habe ich euch den Zweck des Sommercamps erklärt, und noch immer hat es keine Morde gegeben. Darum habe ich mir gedacht, dass euch wahrscheinlich die nötigen Werkzeuge fehlen. Seht euch in dieser Fabrik um; alles, was ihr braucht, habe ich hier vorbereitet.“

Damit erlosch der Monitor wieder.

Jou stieß seinen traurigen Seufzer aus. „Gerade, als ich gedacht habe, der Bär wäre nur eine üble Einbildung gewesen …“

„Ich kann’s nicht glauben“, schnaubte Mimi. „Der will wirklich, dass wir uns gegenseitig umbringen? Der spinnt doch!“

„Nicht nur das, er scheint uns zu beobachten“, sinnierte Koushiro. „Ich frage mich, wie. Oder habt ihr irgendwo Kameras entdeckt?“

„Vielleicht kann er ja diese DigiVices orten?“, fragte Miyako und betrachtete das ihre. „Ich hab‘s mir ja gleich gedacht. Wir sollten sie so schnell wie möglich loswerden!“

Und mit einem Mal sprang der Fernseher wieder an. „Ähm“, machte Monokuma, „aus gegebenem Anlass will ich euch nur mitteilen, dass es verboten ist, die DigiVices wegzuwerfen. Nicht wegen mir, aber Schüler sollten immer einen Blick auf das Regelwerk haben.“

„Ach ja?“, fragte Daisuke kühn, „ und was geschieht, wenn wir deine dämlichen Regeln nicht befolgen?“

Plötzlich ertönte ein Knirschen zu ihrer Rechten. Eine … Gestalt trat aus einer Nische, und Taichi glaubte im ersten Moment, sie würden hier endlich einen Menschen treffen, doch die Wahrheit könnte nicht ferner liegen. Es war ein Cyborg, fast vollkommen in hellen Stahl gepanzert. Der bloße Unterschenkel war mit verdorrter Haut bedeckt, und darüber spannte sich das Metall einer breiten, schwarzen Spirale. Der Roboter musterte die Versammelten mit rot glühenden Augen. Zwei Klappen in seinem Brustkorb öffneten sich.

„Wenn ihr die Regeln brecht, wird euch zum Beispiel Andromon in die Luft jagen“, sagte Monokuma gut gelaunt. „Stellt lieber nicht seine Sprengkraft infrage.“

„Andromon?“, wiederholte Sora entgeistert.

„Ein Roboter“, murmelte Koushiro. „Naja, es ist nicht unwahrscheinlich, dass, wenn jemand Monokuma steuert, er auch andere Roboter nach uns ausschicken kann.“

„Warte, was meinst du mit jemand?“, fragte Jou. „Soll das etwa heißen …“

„Ja“, murmelte Koushiro. „Ich glaube, dass hier jemand hinter all dem steckt, den wir noch nicht gesehen haben.“

Kurzes Schweigen senkte sich auf die Eingangshalle der Fabrik. Auch Andromon rührte sich nicht von der Stelle.

Schließlich seufzte Miyako. „Ach, was wollen wir hier mit dem? Sehen wir uns doch einfach um und finden wir raus, was das für eine Fabrik ist.“

„Du willst an einem Ort mit einem bewaffneten Roboter bleiben?“, fragte Mimi fassungslos.

„Er tut uns ja nichts, solange wir unsere DigiVices nicht wegschmeißen“, meinte Miyako etwas verallgemeinernd. „Untersuchen wir schnell die Fabrik, dann können wir ja immer noch von hier verschwinden.“

„Weil du scharf bist auf die Waffen, von denen Monokuma geredet hat, oder was?“, schnappte Daisuke.

Sie starrte ihn ehrlich verblüfft an. „Was? Nein, ich will nur rausfinden, ob es hier irgendwo Menschen gibt. Koushiro hat schon recht – wenn wir schon nach anderen Menschen suchen, dann suchen wir doch am besten in einem richtigen Gebäude.“

„Klar.“ Daisuke durchbohrte sie alle mit Blicken. „Und wenn du zufällig irgendwo eine Pistole findest, wirst du sie auch sicher der Allgemeinheit übergeben, was?“

„Ich glaube nicht, das Miyako irgendetwas gegen uns plant“, sagte Wallace und trat mit einem gewinnenden Lächeln näher an das Mädchen ran, als er müsste. „Sie ist schließlich klug und ehrlich. Stimmt’s? Und hübsch obendrein.“

„Äh …“ Miyako lief rot an.

„Misch dich nicht ein, Casanova“, brummte Daisuke.

„Was haltet ihr davon, wenn wir wieder zu zweit oder zu dritt gehen?“, schlug Sora diplomatisch vor. „Dann müssen wir niemanden verdächtigen. Was ohnehin dämlich wäre – würde irgendwer von uns einen Mord begehen?“

Kopfschütteln von allen Seiten.

„Na also“, meinte sie lächelnd. Taichi fand, dass sie das sehr gut machte.

 

Daisuke zog wieder mit Ken los, vor allem, um sich so richtig über Wallace auszukotzen. Ken war ein guter Zuhörer. „Boah, der Kerl ist ja nicht zum Aushalten“, stöhnte Daisuke, während sie durch die metallenen Eingeweide der Fabrik trabten. „Weil Miyako ja sooo hübsch ist. Als ob das irgendwas damit zu tun hätte. Und außerdem ist sie gar nicht besonders hübsch.“

„Also ich finde sie schon …“, begann Ken, verstummte dann aber. Er fragte sich, warum sie fast immer über Mädchen redeten, wenn sie zusammen unterwegs waren.

Daisuke hörte seinen Einwurf gar nicht. „Der kommt sich so toll vor. Typisch Amerikaner. Ich wette, wenn ich richtig schnell mit ihm rede, versteht mich der gar nicht.“

„Ich habe gehört, dass er von einer Freundin recht gut Japanisch gelernt hat“, sagte Ken.

„Woher hast du das denn gehört?“, fragte Daisuke verblüfft. „Hey, verbrüderst du dich etwa mit ihm gegen mich? Sag’s gleich!“

„Nein“, meinte Ken schmunzelnd, „aber wenn er von Mädchen umgeben ist, redet er sehr gern. Da hört man so einiges mit.“

„Weißt du was, mir kommt da eine Idee“, sagte Daisuke plötzlich. „Du siehst doch selbst ein bisschen wie ein Mädchen aus. Tu einfach so, als wärst du auch eins, und mach dich an ihn ran, damit ich rausfinde, was er plant.“

Ken starrte ihn entgeistert an und war einen Moment sprachlos.

„Komm schon, das war ein Scherz“, lachte Daisuke.

„War aber nicht sehr nett“, brummte Ken. „Überhaupt, was soll er planen?“

„Keine Ahnung. Ich will vor allem wissen, ob er sich Hikari annähern will. Dieser Taichi scheint nicht mehr so scharfgeschaltet zu sein wie am ersten Tag. Irgendwer muss auf das Mädchen aufpassen.“

Ken schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts.

 

Yamato und Takeru nahmen zu zweit eine Fertigungshalle unter die Lupe. Die Fabrik hatte irgendwie keinen Zweck: Auf einem Förderband wurden automatisch unidentifizierbare Dinge gefertigt, auf einem zweiten dann wieder auseinandergenommen.

„Sag mal, wie lange willst du eigentlich noch den einsamen Wolf spielen?“, fragte Takeru.

„Was meinst du?“

„Naja, du benimmst dich fast wieder so, wie du früher mal warst. Wenn du dich zu sehr von der Gruppe absonderst, wirst du am Ende das erste Opfer.“

Yamato sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Du glaubst, dass wirklich jemand unter uns ist, der einen Mord begehen würde? Das ist doch Blödsinn.“

„Das meine ich nicht.“ Takeru wirkte plötzlich besorgt, nahm eines der Metalldinger in die Hand und warf es nach kurzem Betrachten weg. „Ich denke nur, dass wir alle zusammenhalten sollten. Wenn Monokuma unbedingt einen Mord haben will, wird er vielleicht selbst einen begehen. Das in der Brust von diesem Roboter waren doch Raketenwerfer, nicht? Wenn er uns angreift, können wir kaum was dagegen unternehmen.“

Yamato fluchte. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen – vermutlich, weil Monokuma und dieser andere Roboter einfach so unwirklich waren. Obwohl das ja auf ihr ganzes plötzliches Abenteuer zutraf.

 

Es war praktisch, Koushiro dabei zu haben – wahrscheinlich. Er hatte nämlich irgendwie eine weitere Karte auf seinen Laptop geladen, der ihm die Innenräume der Fabrik zeigte. Mimi fand es trotzdem langweilig, mit ihm unterwegs zu sen. Lieber wäre sie bei Sora oder Wallace oder … eigentlich bei fast jedem. Als Koushiro nämlich so etwas wie eine riesige Batterie fand, verkabelte er seinen Laptop mit der Wand und schien sich ganz aus der Realität auszuklinken, während er in den Geheimnissen der Fabrik – oder worin auch immer – grub.

Mimi untersuchte also allein die angrenzenden Räume.

Monokuma hatte nicht gelogen. Sie fand Kisten voller Dinge, die man als Waffen verwenden konnte – beschriftet nach Wirkungsweise! In der Schlag-Kiste waren Hämmer, riesige Schraubenschlüssel und Brecheisen. In der Schneide-Kiste gab es Messer, geschliffene Metallplatten, die zu schwer waren, um sie anzuheben, Zangen und weiter unten noch etwas, das verdächtig nach einem futuristischen Schwert aussah.

Und dann gab es noch eine Sonstiges-Kiste. Darin war technisches Spielzeug versteckt, das vielleicht durch Stromstöße oder so töten konnte, und ein paar Dinge, die man anderswo wohl nicht hatte einordnen können, zum Beispiel ein klobig wirkendes Gewehr, eine Peitsche, eine Taserpistole und Pfefferspray. Mimi zögerte kurz, dann sah sie sich um, ob niemand sie beobachtete, und streckte ihre Hand nach der kleinen Sprühdose aus. Es war ja allgemein bekannt, dass das als Selbstverteidigung durchging. Es war nicht so, dass sie den anderen misstraute, aber in Wahrheit kannte sie keinen von ihnen. Und wenn dieser Monokuma auftauchte, konnte sie ihm vielleicht eine ordentliche Ladung verpassen und ihn zwingen, sie nachhause zu bringen. Sie hatte genug von diesem angeblichen Inselabenteuer!

„Was machst du da?“

Mimi zuckte zusammen. Taichi war hinter ihr aufgetaucht. „Ni-Nichts.“ Sie versteckte die Dose Pfefferspray hinter ihrem Rücken, doch sein Stirnrunzeln sprach Bände. Er hatte sie über eine der Kisten mit Waffen gebeugt vorgefunden.

„Was hast du da?“, fragte er und trat rasch näher.

„Nichts“, wiederholte sie, doch da hatte er schon ihr Handgelenk gepackt und zerrte es hinter ihrem Rücken hervor. Dann atmete er auf, als er das Pfefferspray sah. „Mensch, erschreck mich nicht so.“

„Ähm …“, murmelte sie verdutzt. Als ihr bewusst wurde, dass er ihr näher war, als ihr lieb war, riss sie die Hand zurück und fand ihre Contenance wieder. „Sag mal, was fällt dir eigentlich ein?“, fauchte sie.

„Mir? Du kramst hier doch in den Waffentruhen von Monokuma rum! Da würde ja wohl jeder misstrauisch werden.“

Sie reckte schnippisch die Nase hoch. „Und wenn ich dir eine Ladung Pfeffer ins Gesicht gesprüht hätte?“, fragte sie rebellisch.

„Solang’s nichts Schlimmeres ist, kann ich damit leben.“

„Du hast wohl noch nie eine Ladung Pfefferspray abbekommen, was?“, spottete sie.

„Nein, hab ich nicht“, sagte er gereizt. „Hältst du mich für einen Vergewaltiger oder was?“

„Man muss kein Vergewaltiger sein, um sich so was einzufangen.“

„Man muss nur Leute wie dich kennen, oder wie?“, fragte er.

„Zum Beispiel“, grinste sie.

Er seufzte. „Echt, ich werd aus dir nicht schlau. Was willst du eigentlich mit dem Zeug?“

Mimi sah sich verstohlen um und beugte sich dann zu seinem Ohr. Ihn durchlief ein wohliger Schauer. „Der ist für Monokuma.“

„Was?“, Taichi hob eine Augenbraue. „Meinst du, das bringt was?“

„Keine Ahnung. Versuchen kann man’s ja.“

Jetzt grinste er plötzlich. „Also echt. Man sieht es dir nicht an, aber du bist ein taffes Mädel.“

„Danke“, sagte sie kühl. „Und du bist total untalentiert im Komplimentemachen.“

„Und zickig bist du auch. Das sieht man dir aber an“, versetzte er.

„Und dein Großmaul kann man drei Kilometer gegen den Wind hören!“

Taichi stierte sie finster an, keiner von beiden wandte den Blick ab. „Solltest du nicht mit Koushiro unterwegs sein?“, fragte er.

„Der ist irgendwo da hinten und spielt mit seinem Computer. Und warum bist du allein?“

„Geht dich nichts an“, sagte er sofort. „Ich geh wieder zurück. Kommst du? Es ist verdächtig, allein unterwegs zu sein.“

„Wieso? Weil jemand, der allein unterwegs ist, zum Mörder werden könnte?“

„Nein“, sagte er gedehnt, „aber ich traue Monokuma nicht. Punkt.“

 

Sie fanden sich wieder in der Eingangshalle ein und berichteten von ihren Entdeckungen. Jou fiel auf, dass Hikari allein zurückgekehrt war. Koushiro dann später ebenfalls. Andromon war nirgendwo mehr zu sehen.

Es schien keine Menschen in der Fabrik zu geben. Die Maschinen arbeiteten selbstständig, aber sie taten nur nutzlose Dinge. Und überall in den Lagerräumen standen Kisten mit Waffen herum. Keinem von ihnen behagte es, hier zu bleiben, aber draußen war es längst finster. So wurde diskutiert, ob sie nicht hier übernachten wollten.

„Und wenn bei den Waffen Bomben versteckt sind, die dann hochgehen?“, fragte Mimi unbehaglich.

„Glaub ich kaum. Das wären schlechte Waffen“, sagte Yamato.

„Trotzdem sollten wir nicht in der Nähe von so gefährlichen Dingen schlafen“, beschloss Jou.

„Glaubst du etwa, einer von uns könnte dir im Schlaf in den Rücken stechen?“, fragte Wallace. Er sagte es völlig neutral, aber Jou zuckte zusammen.

„Nein, das nicht, ich meine, ich …“

„Hört schon auf“, seufzte Hikari. Sie wirkte sehr müde. „Die Insel ist offensichtlich größer, als wir alle geglaubt haben. Immerhin haben wir noch nirgendwo das Meer gefunden. Wir sollten einfach weiter nach einem Hafen oder einer Stadt suchen. Über diesen Blödsinn, den Monokuma von sich gibt, brauchen wir gar nicht nachzudenken.“

„Miyako und ich haben in einem der unteren Geschosse etwas gefunden“, berichtete Iori. „Da sind Kojen oder etwas in der Art.“

„Mit richtigen Betten?“, fragte Mimi und ihre Augen leuchteten.

„Mehr oder weniger“, wiegelte Miyako ab. „Es sind Stockbetten darin, immer eines pro Raum. Aber man kann die Türen von innen abschließen.“

„Also selbst, wenn jemand, warum auch immer, Zweifel haben sollte, dass er hier sicher ist“, sagte Yamato und sah dabei niemand Bestimmtes an, „kann er sich einfach einschließen.“

„Pah, als ob wir uns hier zu fürchten bräuchten“, meinte Daisuke. „Ihr macht noch alle verrückt. Ich lasse meine Tür offen.“

„Das wäre dumm“, sagte Takeru.

„Wer hat dich denn gefragt?“

„Ich bin dafür, wir schließen uns alle ein. So kann Monokuma uns auch nicht angreifen. Ich vertraue keinem sprechenden Bär, der einen Cyborg kontrolliert.“

„Da ist was dran“, murmelte Ken.

 

Im Untergeschoss der Fabrik konnte man offenbar einige Arbeiter unterbringen – wenn es hier je welche gegeben hatte. Es war dort alles Grau in Grau und nicht gerade sehr behaglich, aber trotzdem war es als Nachtquartier weit luxuriöser als die letzten beiden.

Nachdem die Gruppe sich die Zweierzimmer angesehen hatte – die man genau so wohl auch in einem U-Boot vorfinden könnte, eng, wie sie waren –, versammelten sie sich in einer Art Kantine. Hier gab es sogar einen Herd und eine Mikrowelle. Um einen massiven – grauen – Metalltisch herum standen etliche Stühle – ebenfalls grau. In der Luft hing ein penetranter Gestank nach Gummiabrieb. Mimi rümpfte die Nase. Sie fühlte sich in den Turnsaal ihrer Grundschule zurückversetzt. Dort hatte es in etwa so gerochen, wenn auch nicht so durchdringend.

„Hier könnten wir doch essen“, schlug Takeru vor. „Hat auch irgendjemand zufällig Nahrungsmittel gefunden, wenn wir schon einen Herd haben?“

Niemand hatte. Also packten sie ihre Bündel mit dem geschmacklosen Korn aus, das sie in dem Wüstendorf gefunden hatten, und aßen ein karges Abendmahl.

„Bei dem Gestank vergeht einem ja der Appetit“, brummte Mimi. „Und heiß ist es hier auch.“

„Das muss die Abwärme von den ganzen Maschinen sein“, sagte Koushiro.

„Das ist mir egal. Ich will –“

Als hätte irgendein höheres Wesen sie erhöht, erwachten plötzlich die Deckenventilatoren zum Leben, klobige alte Metalldinger, die sich nur langsam drehten. Aber nicht nur das, sie senkten sich sogar von der düsteren Decke herab wie Schrauben, die sich aus einer Metallplatte drehen. Knapp über den Köpfen der Gruppe hielten sie an. Nun war es schon merklich kühler.

„Geht doch“, meinte Mimi schnippisch und erntete dafür ein paar Lacher.

„Interessant“, sagte Koushiro und klebte schon wieder an seinem Bildschirm. „Das muss eine Art Wartungsroutine der Fabrik sein, um den Raum kühl zu halten.“

„Also haben wir was zu essen, es ist kühl, und wir sind alle trotzdem noch ziemlich deprimiert“, sagte Wallace. „Hey, Koushiro, du hast nicht zufällig Mucke in dem Kasten?“

„Ob ich was habe?“, fragte Koushiro verwirrt.

„Musik. Auf dem Ding da.“ Wallace deutete auf Koushiros Laptop.

„Ähm, ich benutze den normalerweise zum Arbeiten, also …“

„Ja oder nein?“

Koushiro lief rot an. „Ich glaube kaum, dass euch gefällt, was ich drauf habe.“

„Wenn du ein Kabel hast, häng ich mein Handy dran“, bot Daisuke an. Ihre Handys schienen allesamt keinen Empfang zu haben, aber ansonsten dürften sie funktionieren.

„Ein Kabel habe ich nicht hier. Hast du die Musik auf der SD-Karte?“

„Ja, wieso?“

„Weil ich einen SD-Reader auf dem Laptop habe.“ Er nahm Daisuke das Handy ab, öffnete die Abdeckung und schob die Karte in das Lesegerät. Bald darauf erklang Daisukes Musiksammlung. Es waren Songs, die derzeit in den Charts waren, also eine alles in allem gute Kombination.

„Super.“ Wallace lehnte sich zufrieden zurück. „Nichts gegen Yamatos Mundharmonika, aber ich hatte Lust auf etwas Fröhliches.“

„Schon okay“, meinte dieser. „Dann hab ich wenigstens auch Zeit zum Essen.“ Wieder lachten ein paar. „War das so witzig?“

„Nein“, grinste Takeru, „aber wir sind einfach froh, dass wir mal nicht im Freien essen müssen, stimmt’s?“ Die anderen nickten zustimmend.

Dann wurde die Kojenbelegung beschlossen. Je zwei konnten in einem Raum schlafen, aber da es genügend Kammern gab, teilte sich das weiter auf. Taichi bot Hikari an, gemeinsam ein Zimmer zu belegen, aber sie weigerte sich, und so blieben sie beide allein. Takeru und Yamato nahmen eine Koje zu zweit, Sora bot Mimi dasselbe an. Daisuke teilte sich ein Zimmer mit Ken, Jou mit Iori. Wallace schlug Miyako vor, sich ebenfalls zusammenzutun, aber Jou ließ den Vernunftsengel raushängen und sprach sich entschieden gegen eine solche Konstellation aus, und letztendlich meinte auch Miyako, dass sie allein bleiben würde. Nun hätte Wallace eigentlich bei Koushiro schlafen können, doch wie um zu schmollen bezog auch er alleine ein Zimmer.

Der Laptop zeigte acht Uhr, als die Ventilatoren wieder in die Höhe wanderten. Ein wenig drehten sie sich dort noch weiter, dann erstarben sie, als ahnten sie, dass sie nicht länger gebraucht wurden. Es war in den letzten beiden Stunden auch ganz schön kühl in der Kantine geworden; irgendwo schien es noch eine Luftöffnung zu geben.

Nach dem Essen hatten sie noch lange geplaudert, und zwar so ausgelassen wie noch nie, seit sie auf der Insel waren, und das hatte Mimi auch gut getan … aber jetzt wollte sie endlich in einem nicht allzu unbequemen Bett versinken. Morgen würden sie sich wieder auf den Weg machen, und ihr graute bereits vor dem erwarteten Fußmarsch.

„Da hinten gibt es eine Toilette“, berichtete Sora, als sie die Kantine verließen. Sie hatte den Flur jenseits eines Knicks erkundet, wo bisher noch niemand gewesen war. Der Flur wurde noch immer von gedämpften Lampen in schmutziges, düsteres Licht getaucht; es sah nicht so aus, als würde man sie überhaupt abschalten können.

„Klasse“, murmelte Mimi und ging an ihr vorbei. Die Türen hier waren nicht beschriftet, also öffnete sie die erste von zweien. Das dahinter war ganz gewiss keine Toilette – eher ein kleines Arztzimmer, das vielleicht für Unfälle in der Fabrik gebraucht wurde. Auch ein paar Flaschen mit Reinigungsmitteln und ein Metallwägelchen, wie es für Medikamententransporte in Krankenhäusern benutzt wurde, sah sie.

„Nicht diese Tür – die nächste“, sagte Sora. „Es sei denn, du möchtest dich mit medizinischen Geräten eindecken.“

„Ich bin froh, wenn ich so was nicht sehen muss“, meinte Mimi müde. Die zweite Tür führte in eine winzige Klokabine, die vor Staub und Schmutz nur so starrte, aber es war besser als nichts. Immerhin gab es fließendes Wasser und auch ein Waschbecken an der Wand.

Als sie alle ihre Zimmer bezogen, schärfte Jou noch einmal jedem ein, nachts nicht rauszugehen.

„Jaja, schon klar“, meinte Taichi gähnend und trollte sich in sein Einzelzimmer. Mimi fragte sich, was zwischen seiner Schwester und ihm vorgefallen war.

Sie hatte aber nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Kurz sprach sie noch mit Sora – oder eher, beschwerte sich über das Fehlen der Annehmlichkeiten, die sie eigentlich von einem richtigen Quartier erwartete –, dann sank sie in die ausgeleierte Matratze des Stockbetts und schlief fast sofort ein.

 

Iori war schon immer ein Frühaufsteher gewesen, und solche Gewohnheiten legte man nicht ab, nur weil man auf einer ungeplanten Reise auf einer unbekannten Insel war. Laut seinem Handy war es mal wieder etwa halb sechs. Jou schlief noch. Iori gab sich Mühe, ihn nicht zu wecken, und trottete zuallererst aufs WC, um sich ein wenig frischzumachen. Überrascht stellte er fest, dass hier offenbar jemand geputzt hatte – gestern war der kleine Raum noch viel dreckiger gewesen. Da sein Magen knurrte, wollte er anschließend in der Kantine nachsehen, ob es noch Körner für ein Frühstück gab.

Eine geschlagene Minute stand er in der Tür. Die Szene, die sich seinen Augen bot, wollte einfach nicht in seinen Verstand sickern. Es traf ihn so unvorbereitet wie ein Hammerschlag, und der musste irgendeinen wichtigen Nerv zertrümmert haben, denn Iori war wie gelähmt, konnte nicht schreien, nichts, nicht einmal zusammenzucken. Was er sah, konnte einfach nicht geschehen sein. Wahrscheinlich träumte er noch … Aber warum ließen ihn die Spuren des Wassers auf seinem Gesicht in der kühlen Luft der Kantine dann so frösteln?

Iori machte den Mund auf, um zu schreien, aber es kam kein Ton. Immer wieder glitt sein Blick über die Einzelheiten, die er sah, ohne das große Ganze zu verstehen. Der umgestoßene Stuhl, der am Boden lag. Das Seil, das mehrmals um die Stange eines der Deckenventilatoren geschlungen war. Und Sora, die leblos am anderen Ende des Seiles baumelte.

Fall 01: Tödliches Leben – Ermitteln für Anfänger

Koushiro war gerade auf dem Weg von seinem Zimmer ins Bad, als er Ioris heiseren Schrei hörte. Sofort ahnte er das Schlimmste und stürzte in Richtung Kantine. Auf dem Weg stieß er beinahe mit Hikari zusammen, die die Koje ganz am Ende des Flurs hatte. Sie verständigten sich mit einem einzigen alarmierten Blick und stürmten in den Raum, in dem sie gestern zu Abend gegessen hatten.

Ioris Gesicht war totenbleich, aber nichts im Vergleich zu Soras. Sie schien eine Wachsmaske aufgesetzt zu haben. Ihre Haut schimmerte milchig, ihre Augen waren dunkel gerändert … Koushiro wollte gar nicht genau hinsehen, doch sein Verstand saugte alle Einzelheiten auf.

„Sora!“, kreischte Hikari und stürzte auf das Mädchen zu. Noch ehe sie bei ihr angekommen war, erwachte mit einem Knistern der kleine Bildschirm in der Ecke der Kantine zum Leben. Monokuma erschien darauf, sitzend in einem ledernen Sessel. „Eine Leiche wurde gefunden!“, verkündete er feierlich. „Nach einer gewissen Zeit wird der Klassenprozess abgehalten. Puhuhu, dann sammelt mal schön Hinweise.“ Das Bild verschwand wieder.

Hikari war mittlerweile ein paar Mal um die gehängte Sora herumgelaufen und suchte offensichtlich nach einer Möglichkeit, sie herunterzuholen. „Helft mir doch!“, rief sie aufgelöst Iori und Koushiro zu.

„Ich … ähm …“ Koushiros Mund war ganz trocken. „Ich glaube, nicht, dass wir ihr noch helfen …“

Hikari starrte ihn an, als käme er von einem anderen Planeten.

„Was ist denn hier los … O mein Gott!“ Jou war bei der Tür hereingeplatzt und schlug sich die Hände vors Gesicht. „Was … Was habt ihr getan?“

„Wir haben gar nichts getan!“, rief Iori schrill.

Ein hohes Kreischen kündigte an, dass auch Mimi die Kantine betreten hatte. „Sora! Sora!“ Sie stolperte auf ihre Freundin zu und rannte Iori dabei einfach über den Haufen. „Nein! Oh nein!“ Hilflos packte sie Sora an den Armen, versuchte die Schlinge an ihrem Hals zu erreichen.

Nach und nach trafen auch die anderen ein, hergelockt durch Mimis hysterischen Schrei oder die Verkündigung von Monokuma, die vielleicht auch in den einzelnen Räumen zu sehen gewesen war. Die Reaktionen waren ganz unterschiedlich, aber allesamt geschockt. Taichi heulte und fluchte und bearbeitete den Türrahmen mit den Fäusten wie ein Berserker. Yamato wirkte sehr gefasst, doch seine Hände zitterten. Miyako warf sich auf die Knie und schluchzte mit Mimi um die Wette. Daisuke taumelte kreidebleich rückwärts und versuchte sich mit lauter Stimme davon zu überzeugen, dass alles nur ein böser Traum war. Wallace konnte seinen aufgeklappten Mund nicht mehr zubekommen, und Ken starrte in Soras Richtung, als sähe er gar nicht sie, sondern die Wand hinter ihr; als wäre sie nur ein Geist, eine Halluzination.

„Es ist passiert“, hauchte Hikari irgendwann. Sie kniete auf dem Boden vor Sora. Taichi sah aus, als wollte er zu ihr gehen, um sie zu trösten, aber dann knirschte er nur mit den Zähnen. Takeru, der ganz in der Nähe stand, zögerte ebenfalls. „Es ist wirklich jemand gestorben … genau wie Monokuma es wollte …“, sagte sie so leise und an niemand Bestimmtes gewandt, dass ihre Worte genauso gut ein ätherischer Hauch hätten sein können.

„Aber warum? Warum geschieht sowas?“, fragte Miyako mit vom Weinen geröteten Augen. „Wieso sollte das irgendjemand tun? Sora hat doch nie jemandem was zuleidegetan!“

„Miyako hat recht“, sagte Takeru. Seine Stimme klang härter als sonst, als müsste er einen Schutzwall aus Beton um sich herum auffahren. „Monokuma oder Andromon. Einer der beiden muss es getan haben. Alles andere würde keinen Sinn ergeben!“

„Puhuhuhuhu.“

Das Kichern ließ sie herumfahren. Monokuma stand in der Tür.

„Ihr könnt es verleugnen, so viel ihr wollt, aber ich würde niemals eine meiner Schülerinnen einfach so umbringen. Der Mörder ist eindeutig unter euch, hier in diesem Raum, und spielt den Betroffenen.“

Diese Worte trafen sie wie eine eiskalte Schockwelle. „Du kleiner, hirnvermurkster Scheißhaufen!“ Taichi stürmte auf Monokuma zu, und ehe dieser ausweichen konnte, hatte er ihn mit seinem Fuß getroffen. Der Tritt schleuderte den Bären wie einen Fußball durch den Flur und ließ ihn an die gegenüberliegende Wand prallen. Dabei löste sich Monokumas Kopf und kollerte davon. Elektrische Blitze zuckten rund um die Stelle – und dann strömte plötzlich gleißendes Licht aus dem Plüschkörper.

Monokuma detonierte mit einem Knall, der einem hier unten die Ohren verschlug. Die Druckwelle warf Taichi von den Füßen und katapultierte ihn zurück in den Raum hinein, wo er gegen Yamato und Wallace stieß und sie beide mit zu Boden riss. Auch die anderen wurden einfach umgeweht. Koushiro schlug sich den Kopf an der Tischkante und biss sich auf die Lippen. Für einen Moment war sein Gehörgang wie mit Watte gefüllt. Dann hörte er ein leises Säuseln, und etwas bearbeitete stechend seine Hörnerven.

„Wa-was war das?“, keuchte Mimi. Miyako war quer über ihr gelandet, und die beiden kämpften sich ächzend in die Höhe.

„Ist er explodiert?“, fragte Iori. „Hatte Monokuma irgendeinen Selbstzerstörungsmechanismus eingebaut?“

„Wie auch immer, jetzt ist er jedenfalls weg“, knurrte Yamato und hielt sich den Kopf.

„Denkst du?“

Diese Stimme …

Ein zweiter, völlig identischer Monokuma sprang in den Flur, als hätte er die ganze Zeit um die Ecke auf seinen Einsatz gewartet. „Gewalt gegen den Schulleiter ist eigentlich nicht erlaubt“, stellte er mit seiner Quietschestimme fest, „aber für dieses Mal werde ich es dir durchgehen lassen. Aber glaub nicht, dass es keinen Eintrag ins Klassenbuch gibt!“

„Ich glaube, ich spinne“, murmelte Taichi.

„Vergesst endlich Monokuma!“, zischte Hikari „Wir müssen etwas tun, um Sora zu helfen! Jou, du kommst doch aus einer Ärztefamilie, oder? Kannst du nicht was für sie tun?“

„Gib es auf, Hikari“, flüsterte Takeru. „Es ist zu spät.“

„Es ist nicht zu spät! Es … es kann nicht zu spät sein!“ Mit Tränen in den Augen umrundete Hikari Sora ein weiteres Mal. Koushiro kam es mit einem Mal pietätslos vor, sie hier so hängen zu lassen.

„Ihr solltet den Schauplatz des Verbrechens nicht zu sehr verändern, wenn ihr ordentliche Beweise sammeln wollt“, riet Monokuma.

„Ach, halt die Klappe!“, knurrte Taichi. „Soll ich dich auch zertreten?“

„Lass es gut sein, Taichi“, sagte Yamato scharf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schüttelte sie unwirsch ab.

„Die Zeit läuft bereits“, verkündete Monokuma. „Werft einen Blick auf eure DigiVices. Ich habe alle wichtigen Fakten zu dem Mord darauf gespielt. Wir sehen uns dann zum Prozess!“

Und damit verschwand der kleine Bär so schnell, wie er gekommen war.

Widerwillig zog Koushiro sein DigiVice aus der Tasche. Auf dem Display blinkte tatsächlich etwas. Mit den Knöpfen schaffte er es, eine Art … Bericht aufzurufen. Die Schrift war winzig, aber mit etwas Anstrengung konnte er sie entziffern.

Monokuma-File #1

Das Opfer ist Sora Takenouchi. Sie wurde in der Kantine im Untergeschoss der Fabrik gegen halb sechs Uhr morgens gefunden. Todesursache war Ersticken, ausgelöst durch Erhängen. Der Todeszeitpunkt ist kurz nach vier Uhr.

Koushiro ballte die Faust so fest um das DigiVice, dass es weh tat. Ein Mord! Hier, in ihrer Gruppe aus Gleichaltrigen! Ein Mord an einem Mädchen, das sanft wie ein Lamm und für alle da gewesen war – jedenfalls hatte Koushiro Sora in den letzten Tagen so erlebt.

Yamato stand direkt vor der Leiche und sah unverwandt zu Sora hinauf. „Ich kann es nicht glauben“, murmelte er. „Verdammt! Und ich Idiot habe ruhig geschlafen!“

„Ich habe plötzlich Lust, mich zu betrinken“, murmelte Takeru gebrochen. Er schien nicht ganz zu wissen, was er daherredete. „Oder etwas Starkes zu rauchen – oder irgendwas anderes. Wir sollen echt den Mord untersuchen? Was meint Monokuma mit diesem Prozess?“

„Ich glaube, das Ganze bedeutet, dass wir den Mörder finden sollen“, meinte Ken mutlos.

„In den Schulregeln steht, dass der Mörder die Insel verlassen darf, wenn wir ihn nicht enttarnen. Und wir anderen werden bestraft“, sagte Jou.

„Zum Teufel mit diesen Schulregeln!“ Daisukes Wut stand der von Taichi in nichts mehr nach. „Warum sollten wir nach Monokumas Pfeife tanzen?“

„Weil er uns sonst in die Luft jagt“, sagte Miyako. Sie hatte die Arme um den Leb geschlungen, als wäre ihr kalt.

„Soll er es doch versuchen!“

„Vergiss nicht dieses Andromon-Ding, Daisuke“, warf Wallace ein. „Wir sollten uns vielleicht wirklich fügen. Außerdem, wenn es unter uns wirklich einen Mörder gibt – wollt ihr ihn dann nicht auch zur Rechenschaft ziehen?“

Die Worte schlugen ein wie eine weitere Bombe. Der Gedanke, dass jemand von ihnen Sora umgebracht hatte, wurde plötzlich greifbarer … immerhin kannten sie einander wirklich erst seit ein paar Tagen und konnten unmöglich alles voneinander wissen … Aber was dachte Koushiro da? Das war nichts anderes als Verrat – und gleichzeitig Wahnsinn. Sie hatten auf dieser Insel nur einander und das Vertrauen, das sie sich gegenseitig schenkten. Sie durften es nicht einfach opfern.

„Dann spielen wir eben mit“, sagte er entschlossen. Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an. „Wir sammeln Beweise und decken auf, was hier passiert ist – und zwar, um zu beweisen, dass es keiner von uns war!“

Es dauerte, bis die anderen seine Worte zu verstehen schienen, und noch länger, ehe sie sie aufgriffen. In der Kantine war es von der Abwärme der Fabrik mittlerweile wieder fast unerträglich heiß geworden. „Okay“, murmelte Wallace. „Dann fangen wir gleich mal hier an. Was ist das?“ Er deutete auf die weiße Box, die neben Sora auf dem Boden stand. Kabel, die unter Soras Shirt herausführten, wuchsen dort hinein.

Koushiro war der kleine Blechkasten ebenfalls aufgefallen. Er hatte ein Display auf der Vorderseite, das einen ziemlich geradeaus laufenden Strich zeichnete. Unter den gegebenen Umständen war es ziemlich offensichtlich, was das hier war. „Ein EKG“, sagte Jou und ging vor dem Ding in die Hocke. „Ein Elektrokardiogramm.“

„Du meinst, so ein Ding, das den Herzschlag misst?“, fragte Miyako.

„Unter anderem. Wenn wir noch einen Beweis brauchen, dass …“ Er unterbrach sich.

„Du meinst, es ist ein endgültiger Beweis, dass sie tot ist“, sagte Takeru zerknirscht.

Joe drückte ein paar Knöpfe, und der deprimierende Strich verschwand.

„Seltsam, nicht?“, murmelte Iori. „Warum ein EKG? Was soll das? Warum hat man Sora das angeschlossen?“

„Vielleicht wollte der Mörder sichergehen, dass sie wirklich tot ist?“, schlug Wallace vor.

„Aber muss er dafür so einen Aufwand veranstalten? Kann er das nicht irgendwie … anders feststellen?“

„Hört auf“, murmelte Hikari. Ihr Gesicht war immer noch von tiefem Entsetzen gezeichnet.

„Wir dürfen eben nicht aufhören“, knurrte Matt. „Wenn wir rausfinden wollen, wer Sora das angetan hat, müssen wir alle Hinweise sammeln, die auf den Täter deuten.“

„Was hat das denn für einen Sinn? Sora wird es nicht zurückbringen.“ Taichis kleine Schwester wirkte mutlos.

„Das nicht“, erwiderte Takeru verbissen, „aber wir können rausfinden, wer es war!“

„Und wir würden dann nicht mehr zusammen mit einem Mörder unterwegs sein“, sagte Ken.

Hikari schnaubte. „Macht, was ihr wollt.“

„Interessant“, stellte Jou fest. Er werkte immer noch an dem EKG herum. „Seht mal. Das Ding hat aufgezeichnet, wann der Herzstillstand eingetreten ist.“ Er deutete auf die Zeitangabe auf dem Display, verglich noch einmal die interne Uhr des Geräts, und sagte dann: „Kurz nach vier Uhr morgens.“

„Also steht in diesem Monokuma-File der richtige Todeszeitpunkt“, stellte Takeru fest.

„Trotzdem, warum dieses EKG?“, beharrte Iori. „Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Der ganze Mord ergibt keinen Sinn“, brummte Daisuke wütend. „Jou, kriegst du aus dem Kasten noch was raus?“

Als ob der Name des Mörders darin eingespeichert wäre, dachte Koushiro. Der Ärztesohn schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Der Zeitpunkt des letzten Herzstillstands ist das Einzige, was aufgezeichnet wurde.“

„Woher kommt das Ding eigentlich?“, fragte Miyako. „Ich meine, wir haben die Fabrik ziemlich genau durchsucht, aber so was hab ich nicht gesehen. Es wird ja wohl kaum in diesen Kisten mit den Mordwerkzeugen von Monokuma gewesen sein, oder?“

„Es kommt garantiert aus dem Ärztezimmer“, sagte Jou und rückte seine Brille zurecht. „Ich habe dort einige medizinische Geräte entdeckt, als ich gestern einen Blick reingeworfen habe. Ich kann mir gut vorstellen, dass sowas auch dort war.“

„Ihr seid ja ein paar ganz tolle Detektive“, spottete Taichi. „Der Mörder war also im Arztzimmer. Toll. Das kann jeder gewesen sein.“

„Vielleicht solltest du auch mitdenken, statt nur zu lästern“, sagte Koushiro verärgert.

Taichi schnaubte, aber es klang bitter. Er trat auf Sora zu, sichtlich widerstrebend. „Die da kommen dann wohl auch aus dem Arztzimmer.“ Er deutete auf das, was Koushiro fälschlicherweise für Seile gehalten hatte. Das, was von Soras Hals bis zu dem Deckenventilator reichte, waren fest zusammengeknüpfte Bettlaken, die vielleicht als Reserve für das Krankenbett im Arztzimmer oder auch für ihre Stockbetten gedacht gewesen waren. Sie waren fest am unteren Bereich der Ventilatorstange angebracht, unterhalb der Rotorblätter, sodass sie sich nicht darin verfangen konnten.

Soras Handgelenke waren hinter ihrem Körper mit einer Art Schlauch zusammengebunden. Koushiro hatte genügend Filme gesehen, um zu wissen, dass man solche Gummiteile fürs Abbinden von Gliedmaßen verwendete. Und der Knebel in Soras Mund war eindeutig ein stramm gespanntes Dreieckstuch. Es war eine Ironie, dass so viele sanitätstechnische Hilfsmittel bei diesem Mord eine Rolle gespielt hatten.

„Können wir …“, begann Miyako. „Können wir sie vielleicht von da runterholen? Das ist … irgendwie entwürdigend, wenn wir sie hängen lassen.“

Wallace war derjenige, der es wagte, einen umgekippten Stuhl aufzustellen, hinaufzuklettern und mit einem Messer die Laken über Soras Kopf durchzuschneiden. Taichi und Yamato griffen beide zu, um Soras Körper dann langsam zu Boden sinken zu lassen. Koushiro sah, wie beide unter dem Gewicht der Leiche erschauerten.

„Warte mal“, sagte Daisuke scharf, als Wallace das Messer wegpacken wollte. „Kannst du mir mal verraten, wo du das her hast?“

Ken warf auch einen Blick auf die gezackte Klinge. „Sieht aus wie ein Armeemesser – oder eines für Überlebenskämpfer.“

„Vielleicht hab ich es in weiser Voraussicht mit auf die Insel genommen?“, meinte Willis grinsend.

„Als ob du gewusst hättest, dass du hier aufwachst“, brummte Daisuke. „Selbst wenn, macht es dich nur verdächtiger!“

„Schön, schön.“ Der amerikanische Junge sprang locker vom Stuhl. „Ich habe es in der Fabrik gefunden und dachte, es wäre nicht schlecht, wenn ich mich zur Not verteidigen könnte. Ich war sicher nicht der Einzige, der etwas mitgenommen hat, oder?“ Er warf einen bohrenden Blick in die Runde. Mimi zuckte zusammen.

„Dann misstraust du uns also?“, giftete Daisuke.

„Nur ein bisschen. Sagen wir, ich wollte mich auf das Schlimmste gefasst machen. Was ja wohl eingetreten ist“, meine Wallace überheblich.

„Hört auf zu streiten“, sagte Yamato. „Jetzt gilt es, sich zu konzentrieren.“

„Ganz meine Meinung“, sagte Wallace mit blitzenden Augen, nachdem er Daisuke noch eine Weile böse angestarrt hatte.

„Was ist mit diesem Stuhl da?“, fragte Ken plötzlich. „Wallace, du hast den gerade aufgestellt, richtig? Das heißt, er lag umgestoßen da.“

„Äh, ja.“

„Vielleicht hat die Explosion von Monokuma vorhin ihn umgeworfen?“, überlegte Miyako.

„Nein“, steuerte Koushiro bei. „Ken hat recht. Als wir reingekommen sind, lag der schon so da.“

„Denkt ihr, es war … also …“ Mimi räusperte sich. Das nächste Wort kam ihr piepsig über die Lippen. „Selbstmord?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Takeru perplex.

„Naja, also …“ Ihre Wangen röteten sich. „Vielleicht ist es Blödsinn, aber ist das nicht sowas, das üblicherweise geschieht? Man stellt sich auf einen Stuhl, knüpft sich auf, und … stößt den Stuhl dann um, damit man … Keine Ahnung!“

Yamato schüttelte grimmig den Kopf. „Das halte ich für ausgemachten Blödsinn.“

„Ich sag ja, dass es Blödsinn sein könnte“, fauchte Mimi zornig. Ihre Nerven standen sichtlich am Rande eines Abgrunds.

„Beruhigt euch“, sagte Koushiro diplomatisch. „Wir halten das in Evidenz, ja? Wartet kurz.“ Er holte seinen Laptop aus seiner Koje und klappte ihn auf. „Hier, ich schreibe alles auf, was wir entdecken und was wir uns denken. So tun wir uns leichter, die Fakten zusammenzutragen und den Überblick zu bewahren. Also, was hatten wir?“ Er legte in einem Textdokument eine Liste an. Die Tasten schienen sich unter seinen Fingern zu biegen – es war unheimlich schwer, die Buchstaben zu tippen, die Soras Mord beschrieben.

x Monokuma-File: Laut dem File, das Monokuma auf unsere DigiVices gespielt hat, ist Sora gegen vier Uhr an Ersticken gestorben.

x Todesursache: Sora wurde an einem der Deckenventilatoren aufgehängt, aber nicht mit einem Seil, sondern mit aneinandergeknüpften Bettlaken, die wahrscheinlich im Arztzimmer gelagert wurden. Die Laken sind an der Metallstange knapp unter den Ventilatorblättern festgemacht.

x EKG: Sora war an ein EKG angeschlossen, das einen Herzstillstand anzeigte. Laut Jou war darin gespeichert, dass dieser tatsächlich gegen vier Uhr eingetreten ist. Das EKG dürfte aus dem Arztzimmer stammen.

x Fesseln und Knebel: Soras Hände waren mit einem Abbindeschlauch hinter ihren Rücken gefesselt. Geknebelt war sie mit einem Dreieckstuch.

x Umgeworfener Stuhl: Unter Soras Leiche haben wir einen umgekippten Stuhl gefunden. Mimi hat den Verdacht geäußert, sie könnte darauf gestanden und ihn selbst umgestoßen haben.

„Zufrieden?“ Manche der anderen nickten. Hikari strafte ihn nur mit einem bösen Blick für die Pietätlosigkeit, diese Details so nüchtern aufzuschreiben. „Äh, wer hat Sora nochmal als Erstes gefunden?“, fragte Koushiro verlegen. Immerhin fühlte er sich jetzt, da er aktiv etwas tun konnte, ruhiger.

„Das war wohl ich …“, murmelte Iori und erzählte, wie er die Leiche vorgefunden hatte. Koushiro fügte seine Liste einen weiteren Punkt hinzu.

x Ioris Aussage: Iori hat Soras Leiche gegen halb sechs Uhr als Erstes entdeckt. Er hat sie nicht angerührt, ehe die anderen und Monokuma aufgetaucht sind.

„Was tust du da?“, fragte Hikari plötzlich scharf.

Jou, der sich über Soras Leichnam gebeugt hatte, zuckte zusammen. Er hatte die Hände nach dem Saum ihres T-Shirts ausgestreckt. „Äh, ich … ich wollte nur nachsehen, ob … ob wir dem EKG überhaupt trauen können. Wenn der Mörder die Elektroden nicht richtig angebracht hat, sind die Ergebnisse vielleicht wertlos.“

„Lass das gefälligst eine Frau übernehmen“, fauchte Mimi und stieß ihn resolut fort. „Sora ist vielleicht tot, aber sie hat immer noch eine gewisse Würde, verstanden?“

Jou murmelte nur etwas Unverständliches und drehte sich diskret weg, während Mimi Soras Shirt lüftete. „Also, wo müssen die Dinger kleben?“

„Unter ihrer linken Brust müssten schon mal vier sein … und an jedem Arm und jedem Bein auch noch eines, und, ähm …“ Er versuchte es so gut wie möglich zu erklären.

Mimis Blick huschte wachsam hin und her, ehe sie das Kleidungsstück zurückschob. „Scheint alles so zu sein, wie du sagst.“

„Das heißt, wer immer das getan hat, muss sich damit auskennen, wie er die Elektroden aufzukleben hat“, stellte Wallace fest. „Ich zum Beispiel hätte keine Ahnung, wo die hinsollten.“

„Was ist mit Jou?“, fragte Taichi plötzlich, und der Blauhaarige zuckte erneut zusammen, obwohl nichts Böses in seiner Stimme gewesen war. „Der kennt sich doch mit medizinischem Kram aus, oder? Ich meine, er weiß es ganz offensichtlich. Hat er uns ja eben quasi gestanden.“

„Es ist zu früh, um jemanden anzuschuldigen“, sprang Yamato für Jou in die Bresche.

„Ich mein‘ ja nur.“

Koushiro überlegte, ob er diese Aussagen ebenfalls festhalten sollte, aber es wäre ihm wie Verrat vorgekommen.

„Okay, gibt es sonst noch was, das wir hier finden sollen?“, seufzte Iori. „Seid mir nicht böse, aber ich halte es hier drin kaum noch aus.“

Da war er nicht der Einzige. Vor allem die Hitze, die aus der Fabrik herabkroch und zweifellos auch von ihren erhitzten Gemütern aufstieg, ließ die Luft dick werden.

Wie aufs Stichwort gingen die Ventilatoren wieder an und wirbelten die stehende Hitze auf. Kurz darauf sanken sie mit einem Surren wieder tiefer in den Raum hinein.

„Gut, dass wir Sora heruntergeholt haben“, meinte Wallace trocken.

„Es hätte keinen Unterschied gemacht. Seht mal.“ Iori deutete auf die Laken, die immer noch um die Ventilatorstange gewickelt waren. Sie bewegten sich nur leicht im Luftzug. Der unterste Teil der Stange, an dem das behelfsmäßige Seil befestigt war, drehte sich nicht mit dem Ventilator mit.

Koushiro starrte ihn an. Das hatte er ja total vergessen … Schnell machte er einen Eintrag.

x Deckenventilatoren: Die Ventilatoren in der Kantine schalten sich zu bestimmten Zeiten ein, um den Raum zu kühlen. Dann wandern sie nach unten, um effizienter zu sein. Nach einer bestimmten Zeit werden sie wieder nach oben gezogen und bleiben stehen. Die Decke ist ziemlich hoch, und die Ventilatoren legen dabei jedesmal jeweils fast zwei Meter zurück.

x Seil aus Laken: Das Seil, an dem Sora aufgehängt wurde, war unterhalb des Ventilators an dessen Stange geknüpft. Dieser Teil dreht sich nicht mit dem Ventilator mit, wenn er eingeschaltet ist.

„Bevor wir anderswo hingehen, lasst mich kurz was untersuchen“, sagte Iori. Als Hikari ihn wieder beinahe mit Blicken aufspießte, fügte er abwehrend hinzu: „Ich will mir nur ihren Hals ansehen!“

Mit einiger Mühe wickelte er die Laken von ihrer Kehle. Die Haut darunter sah furchtbar aus; gequetscht und bläulich angelaufen. Es war kein schöner Anblick.

„Und was genau versuchst du da zu finden?“, fragte Daisuke.

„Ich hab nur überlegt, ob es tatsächlich ein Tod durch Ersticken war“, murmelte der Jüngere. „Ich hab das mal in einem Krimi gesehen. Da wurde einem Oper die Kehle aufgeschnitten, aber das wurde kaschiert, indem man etwas um seinen Hals gewickelt hat.“

„Das war ein schlechter Krimi“, stellte Takeru fest. „In Wahrheit würde man da so stark bluten, dass das sicher trotzdem sichtbar gewesen wäre.“

„Ich wollte ja nur auf Nummer sicher gehen.“ Iori zuckte frustriert mit den Schultern.

„Und was ist das da?“ Miyako deutete auf zwei rote, kreisrunde Male nahe Soras Unterkiefer, die wie ein Schlangenbiss aussahen. „Das sind doch offene Wunden, oder?“

„Aber sicher nicht tödlich“, meinte Takeru. „Sieht eher aus, als hätte sie was gestochen … oder gebissen.“

„Und was?“, fragte Daisuke. „Hier auf der Insel haben wir noch kein einziges Tier gesehen.“ Er stutzte. „Jetzt, wo ich drüber nachdenke … seltsam, nicht?“

„Hier ist alles seltsam“, sagte Mimi, die schon halb im Türrahmen stand. „Können wir jetzt gehen? Bitte.“

„Was machen wir mit Sora?“, fragte Taichi.

„Was wohl?“, brummte Yamato. „Wir holen noch ein Laken aus dem Arztzimmer und decken sie zu. Wir werden sie natürlich später ordentlich beerdigen“, fügte er schnell hinzu, als ihn wieder einer von Hikaris vernichtenden Blicken traf.

So zogen sie sich erst mal aus der Kantine zurück, in der sie erst gestern ein paar befreiende Stunden erlebt hatten. Koushiro notierte sich noch schnell Miyakos Entdeckung.

x Wunden an Soras Hals: Neben den offensichtlichen Würgemalen hat Miyako zwei kleine Stichverletzungen, wie von einem Schlangenbiss, entdeckt.

Taichi und Yamato besorgten das versprochene Laken. Nachdem sie Sora damit zugedeckt hatten, bestätigten sie Jous Verdacht von vorhin. „Die anderen Laken stammen wirklich aus dem Arztzimmer. Da gibt es einen Schrank, in den sie reingeschlichtet sind, aber es sieht aus, als würden einige fehlen.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Miyako mutlos. „Sind wir schon bereit für diesen Prozess, von dem Monokuma geredet hat? Hat irgendwer von euch eine Ahnung, was passiert ist? Ich nämlich nicht.“

Koushiro musste leider auch verneinen. Sie hatten noch keine brauchbaren Hinweise gefunden, und was sie gefunden hatten, ergab vorn und hinten keinen Sinn. Zum Beispiel das EKG. Warum sollte der Mörder es so fachmännisch an Soras Brust anschließen? Er würde sich doch allerhöchstens durch seine medizinischen Kenntnisse selbst entlarven … Sollte damit wirklich überprüft werden, ob Sora gestorben war? Koushiro glaubte, dass mehr dahintersteckte.

„Vielleicht sollten wir überprüfen, wer von uns für heute Nacht alles ein Alibi hat“, schlug Yamato vor. „Wenn wir wirklich annehmen wollen, dass es einer von uns war, heißt das.“ Da war es wieder, das Verdächtigen.

„Sehr schlau. Was werden wir heute Nacht schon gemacht haben, außer Schlafen?“, schnaubte Taichi.

„Irgendjemand scheint etwas anderes gemacht zu haben“, gab der Blondschopf zurück.

„Sag mal, Mimi“, sagte plötzlich Miyako, „Sora hätte doch eigentlich bei dir im Zimmer schlafen sollen, oder?“

Aller Blicke richteten sich auf die Angesprochene, die ein Gesicht machte, als wäre sie eben mit kaltem Wasser übergossen worden. „Da-das … ja, aber … ich … Sie … Also, ich weiß nicht, ich hab geschlafen, und heute Morgen war Sora nicht da, also dachte ich, sie wäre eben einfach schon aufgestanden …“

„Und das sollen wir dir glauben?“, fragte Yamato nüchtern.

„Alter, was ist dein Problem?“, fuhr Taichi ihn an. „Verdächtigst du sie gerade? Warum sollte sie Sora jede Minute beobachten? Ich hab doch gerade gesagt, dass man in der Nacht üblicherweise schläft!“

„Und was ist mit dir?“, gab Yamato zurück. „Wir sollten jedem Hinweis nachgehen. Und das Alibi von jedem zu prüfen ist doch wohl ein logischer erster Schritt. Das kapiert doch wohl sogar dein Affenhirn.“

„Ich hab mich wohl gerade verhört!“

„Hört schon auf!“ Miyako schrie fast. „Mir fallen ja gleich die Ohren ab! Sora ist tot! Da drin liegt sie! Habt ihr nichts Besseres zu tun, als zu streiten?“

Das wirkte. Die beiden wichen den eben noch funkensprühenden Blicken des jeweils anderen aus und verstummten.

„Gehen wir es einfach Schritt für Schritt durch“, schlug Jou vor. „Wer hat was heute Nacht getan? Iori und ich waren in dem Zimmer ganz hinten im Flur. Wir haben beide geschlafen.“

„Ich bin einmal nachts auf die Toilette gegangen, aber das war sicher noch vor Mitternacht“, berichtete Iori. „Während ich wach war, war Jou die ganze Zeit in seinem Bett. Zumindest das kann ich bezeugen.“

„Okay.“ Koushiro machte sich wieder Notizen. „Weiter?“

Nach und nach berichteten die anderen, dass sie ebenfalls geschlafen hatten. Koushiro machte sich auch gleich Notizen, wer in welchem Raum genächtigt hatte, damit er eine bessere räumliche Zusammenfassung von dem Untergeschoss der Fabrik hatte.

x Untergeschoss der Fabrik: Ganz am Ende des Flurs liegt Jous und Ioris Zimmer, dann das von mir (Koushiro), dann das von Wallace, dann das von Miyako. Dann zweigt die Treppe von dem Flur ab, die hoch in die Fabrik führt. Nach der Treppe liegt das Zimmer von Yamato und Takeru, dann das von Sora und Mimi, dann das von Taichi, dann das von Daisuke und Ken, dann das von Hikari. Danach macht der Flur eine Biegung, und die drei Räume danach sind die Kantine, das Arztzimmer und das WC ganz am Ende des Flurs. Der Flur wird Tag und Nacht von gedämpften Lampen beleuchtet.

Ja, das beschrieb es wohl korrekt. „Okay. Sagt mir noch mal, was ihr nachts gemacht habt, damit ich es ordentlich aufschreiben kann.“

Die Ausbeute war eher dürftig.

x Alibis: Alle sagen, dass sie in der Nacht geschlafen haben. Nur Iori ist einmal vor Mitternacht auf die Toilette gegangen. Mimi hat nicht mitbekommen, wann Sora verschwunden ist.

„Yamato und ich waren nach Mitternacht noch wach“, sagte Takeru plötzlich. „Wir haben geredet. Ich konnte nicht schlafen.“

„Wie lange?“

„Vielleicht bis ein Uhr? Uns ist aber nichts Merkwürdiges aufgefallen. Und um vier, als Sora gestorben ist, waren wir wieder wach.“

„Warum das? Ein nächtlicher Spaziergang oder so?“, ätzte Taichi.

Yamato starrte ihn finster an und schwieg. Schließlich seufzte Takeru. „Ich hatte einen Albtraum. So, es ist raus. Nennt mich einen Feigling, aber die Situation, in der wir sind, ist ja wohl wirklich nicht die rosigste. Jedenfalls bin ich wach geworden, etwa um halb vier, und hab Yamato dabei aufgeweckt. Wir haben fast eine Stunde wieder gequatscht.“

„So, so“, murmelte Taichi spitz.

„Ach, halt doch den Rand“, knurrte Yamato.

„Jedem Hinweis muss nachgegangen werden“, sagte dieser nur. „Das hat irgendjemand von euch gesagt.“

„Das heißt aber eigentlich, dass die beiden für den Tatzeitpunkt ein Alibi haben“, warf Wallace ein. Taichis Mienenspiel wurde irgendwie sauer.

„Und was ist mit Iori?“, blaffte er trotzig. „Einmal in der Nacht aufgestanden, ja? Sicher, dass das nicht eher in den frühen Morgenstunden war?“

„Wenn du am Abend viel trinkst, musst du dann auch erst am Morgen auf die Toilette oder bald danach?“, versetzte der Jüngere verlegen.

„Taichi, lass es. Du machst dich nur unbeliebt“, seufzte Mimi. Nun warf Taichi auch ihr böse Blicke zu, beließ es aber dabei.

Ken räusperte sich unbehaglich. „Also, wir …“, begann er.

„Wir waren heute Morgen auch wach“, berichtete Daisuke.

„Also doch so viele?“, fragte Koushiro. „Was habt ihr gemacht?“

Erneut räusperte sich Ken und beobachtete die anderen unbehaglich. „Naja, ich … hätte da etwas, das uns vielleicht nützlich sein könnte … auch wenn ich nicht glaube, dass es viel bringt.“

„Was jetzt? Nützlich oder nicht?“, fragte Taichi gereizt.

„Ken hat Fotos geschossen“, platzte Daisuke heraus.

„Hä?“ Wallace machte ein verständnisloses Gesicht. „Das musst du uns genauer erklären.“

Ken räusperte sich ein drittes Mal. „Als wir gestern in der Fabrik unterwegs waren, hab ich in all dem technischen Kram auch etwas gefunden. Eine Kamera mit Selbstauslöser. Ich dachte mir … Also, ich wollte bestimmt keinen von euch verdächtigen oder so, aber ich habe mich einfach ruhiger gefühlt, nachdem ich sie aufgestellt habe, versteht ihr? Ich hätte auch fast darauf vergessen, nachdem wir zu Abend gegessen haben.“

„Was genau ist das für eine Kamera?“

Ken förderte ein kleines, viereckiges Kästchen mit einem Objektiv aus seiner Jackentasche zutage. „Sie hat vorn einen Bewegungssensor, und wenn der etwas erkennt, schießt sie ein Foto. Ich habe sie vor meine Tür gestellt, damit immer, wenn jemand vorbeigeht, ein Schnappschuss gemacht wird. Ich wollte nur sehen, ob nachts jemand herumschleicht, versteht ihr? Zum Beispiel auch Monokuma oder Andromon …“

„Du musst dich nicht rechtfertigen“, sagte Yamato. „Die könnte uns vielleicht ziemlich nützlich sein.“

„Es gibt nur einen Haken“, murmelte Ken unglücklich. „Ich habe sie nicht die ganze Nacht aufgestellt gehabt. Als ich sie in unserem Zimmer ausprobieren wollte, nach dem Abendessen, war der Akku leer. Ich habe sie an der Steckdose neben dem Bett aufgeladen, aber dann, naja …“

„Du bist eingeschlafen“, stellte Taichi fest. „Toll.“

„Hör schon auf, Taichi“, zischte Mimi wütend. „Warst du nicht auch müde vom langen Marschieren?“

„Ich bin in der Nacht hochgeschreckt“, fügte Ken eilig hinzu, „und dann hab ich die Kamera sofort rausgestellt.“

„Wann war das?“

„Laut meiner Armbanduhr etwa um halb zwei.“

„Also kurz nachdem Takeru und Yamato schlafen gegangen sind, hast du die Kamera aufgestellt“, fasste Koushiro zusammen.

„Was hat das denn damit zu tun?“, fragte Yamato.

„Vielleicht nichts, ich wollte es nur anmerken, damit uns nichts entgeht.“

Das war offensichtlich nicht die Antwort, die Yamato hatte hören wollen, doch er sagte nichts weiter dazu.

„Weil ich wusste, dass der Akku ziemlich schwach ist, habe ich geahnt, dass die Kamera nicht die ganze Nacht durchhält. Ich habe mir meinen Handywecker also auf halb vier gestellt. Als er geklingelt hat, ist Daisuke wachgeworden, und ich habe ihm geklärt, was ich vorhatte.“

„Dann haben wir die Kamera erst mal reingeholt“, fuhr dieser fort. „Wir haben der Akkuanzeige nicht ganz getraut, weil die vorher schon ziemlich ungenau war, und das Ding erst mal an die Steckdose angeschlossen. Die Karte, auf die es die Fotos speichert, haben wir in mein Handy geschoben und uns mal angesehen, was sich in der Nacht so alles getan hat.“

„Und?“, fragten die anderen fast gleichzeitig.

„Nichts.“ Ken zuckte hilflos mit den Schultern. „Sie hat kein einziges Bild geschossen. Von halb zwei Uhr bis halb vier Uhr ist absolut niemand an unserer Tür vorbeigegangen.“

„Toll“, seufzte Matt.

„Vielleicht ist das Ding ja auch einfach kaputt“, brummte Taichi.

„Das haben wir uns auch gedacht. Darum haben wir sie in unserem Zimmer ausgetestet, noch während sie sich aufgeladen hat. Da hat es aber geklappt.“

„Funktioniert sowas überhaupt im Dunkeln?“, fragte Miyako skeptisch. „Ich meine, sie wird ja nicht mit Blitz fotografieren, oder? Wenn ich als Mörder merke, dass ich fotografiert werde, zertrete ich die Kamera doch.“ Im Gang brannten Tag und Nacht Neonröhren, aber deren Licht war relativ gedämpft. Es war vielleicht immer noch zu dunkel, um ohne Blitz brauchbare Fotos zu schießen.

„Sie hat eine Infrarot-Funktion“, sagte Ken. „Es ist fast so, als wollte Monokuma, dass wir sie als Überwachungskamera einsetzen.“

„Und dann habt ihr sie wieder vor die Tür gelegt, ja?“, brachte Yamato sie wieder zurück zum eigentlichen Thema.

„Wir haben sie getestet und noch ein wenig am Stromnetz gelassen, und etwa um vier Uhr haben wir sie wieder rausgelegt.“

„Vier Uhr?“, rief Mimi aufgeregt. „Das hieße ja …“

„Dass sie zum Mordzeitpunkt wieder scharf geschaltet war“, sagte Wallace. „Habt ihr schon nachgesehen, welche Fotos sie diesmal geschossen hat?“

„Wir sind noch nicht dazu gekommen“, sagte Ken achselzuckend. Er öffnete die Verschalung der Kamera, und Daisuke tat dasselbe mit seinem Handy. Ken fördert eine SD-Karte zutage, die dieser dann in das Handy einlegte. Gebannt sahen sie ihm über die Schulter. Es waren einige Dateien auf der Karte gespeichert.

„Was soll denn das sein?“, fragte Mimi, als sie die blauen bis roten Felder sah, die die Umrisse einer Person bildeten.

„Hast du vorher nicht zugehört?“, fragte Daisuke. „Das sind Infrarot-Aufnahmen! Das da sind warme und kühlere Flecken.“

„Das da ist das Testbild, das wir geschossen haben. Das ist Daisuke, in unserer Koje“, berichtete Ken. Das Foto sah in der Tat gekünstelt aus, selbst für ein Wärmebild.

Die nächsten Fotos waren interessanter. Man sah einen Menschen mit gemächlichem Gang an der Kamera vorbeitrottete. Das Bild war aus einem ziemlich tiefen Winkel aufgenommen, weil die Kamera auf dem Boden gelegen war. Der Statur nach war es ein Junge, und zwar ein ziemlich schmächtiger.

„Das werde wohl ich sein“, meinte Iori, „als ich heute Morgen auf die Toilette gegangen bin. Danach bin ich gleich in die Kantine und habe Sora gefunden.“

Koushiro lief es plötzlich eiskalt den Rücken runter. Irgendetwas störte ihn an diesem Bild …

Der nächste, schlendernde Junge war wohl er selbst. Immerhin war er bald nach Iori am Schauplatz des Verbrechens eingetroffen. Die folgenden Fotos zeigten weitere Menschen, jeweils alleine oder in Grüppchen, und sie hatten es alle eindeutig eiliger als Iori. „Und das sind wir, als wir Hikaris Schrei gehört haben“, sagte Miyako. „Wartet, habe ich Hikari übersehen? Die war auf keinem Foto drauf, oder?

„Weil ihr Zimmer hinter unserem liegt“, sagte Ken. „Sie musste nicht an der Kamera vorbei, um in die Kantine zu kommen.“

„Oh. Logisch.“

„Sie ist nicht auf den Fotos, weil …“ Nun wusste Koushiro plötzlich, was ihn störte. „Ja, das ist logisch, aber was ist mit Sora? Wann ist sie an der Kamera vorbeigegangen? Sie muss ja irgendwie an eurer Tür vorbei gekommen sein, wenn wir sie in der Kantine gefunden haben!“

Daisuke und Ken wechselten einen unglücklichen Blick. „Sie muss in der halben Stunde vorbeigegangen sein, in der wir die Kamera ausprobiert und neu aufgeladen haben“, sagte schließlich Ken zerknirscht. „Also in anderen Worten, zwischen halb vier und vier.“

„Und um vier ist der Mord passiert“, stellte Yamato fest.

Koushiro machte sich wieder Notizen über das, was sie eben erfahren hatten. Er ergänzte die letzte Zeile.

x Alibis: Alle sagen, dass sie in der Nacht geschlafen haben. Nur Iori ist einmal vor Mitternacht auf die Toilette gegangen. Mimi hat nicht mitbekommen, wann Sora verschwunden ist. Yamato und Takeru waren bis ein Uhr wach und haben geredet. Takeru ist dann um halb vier wieder aufgewacht und hat auch Yamato geweckt. Sie bezeugen gegenseitig, dass sie bis halb fünf geredet haben. Ken und Daisuke waren zur Tatzeit ebenfalls wach und können ihr Alibi bezeugen: Um halb vier hat Ken Daisuke geweckt, und sie haben gemeinsam Kens Kamera überprüft und mindestens bis vier Uhr gesprochen.

„Seid ihr danach wieder schlafen gegangen?“

„Ich bin bald darauf wieder eingepennt“, meinte Daisuke. „Aber sicher erst nach vier Uhr. Halb fünf, vielleicht?“

„Und ich habe mich auch wieder schlafengelegt“, sagte Ken.

 Daisuke und Ken sind etwa um halb fünf wieder schlafen gegangen, schrieb Koushiro also noch dazu. Auch die Sache mit den Fotos hielt er fest.

x Fotos: Ken hat eine selbstauslösende Infrarotkamera auf den Flur gestellt. Die einzigen Fotos darauf waren ein Testbild von Daisuke und Fotos von uns allen, wie wir zur Kantine gehen, mit Ausnahme von Hikari, die nicht an der Kamera vorbeimusste, und Sora.

„Okay.“ Er kratze sich im Genick. „Das sind schon ganz schön viele Hinweise, aber hilft uns das irgendwie weiter? Besonders viel haben wir ja nicht rausgefunden.“

„Mir fällt gerade noch was ein“, meinte Miyako. „Wie ist eigentlich der Mörder wieder in sein Zimmer gekommen? Ich meine, wenn er Sora um vier Uhr ermordet hat, und Ken die Kamera um vier Uhr wieder aufgestellt hat, dann müsste er doch fotografiert worden sein, als er zurück zu seinem Zimmer gegangen ist, oder?“

Koushiro starrte sie entgeistert an. Daran hatte er gar nicht gedacht. „Hm …“ Erneut betrachteten sie die Infrarot-Fotos, aber alle Personen, die die Kamera geknipst hatte, gingen in Richtung Kantine – und keiner kam aus dieser Richtung.

„Und wenn das Ding doch nicht ganz richtig funktioniert? Vielleicht hat es irgendwie nicht richtig erkannt, dass jemand vorbeigeschlichen ist, oder so“, meinte Taichi.

Ken zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Schon möglich. Die Kamera stammt ja aus Monokumas Vorräten, und der Akku war schließlich auch nicht ganz koscher.“

Koushiro zerbrach sich darüber den Kopf. Irgendetwas lag da gerade außerhalb seiner wild um sich schlagenden Gehirnwindungen … Etwas so Offensichtliches, dass er eigentlich mit der Nase darauf stoßen müsste, aber …

„Der Täter ist also irgendwie an der Kamera vorbeigekommen, ohne dass sie ihn fotografiert hat?“, fasste Iori noch mal zusammen. „Aber könnte nicht zum Beispiel Hikari in ihr Zimmer gegangen sein, ohne dass sie an Kens und Daisukes Tür vorbeigegangen ist?“

Das war es! Koushiro fühlte ein Knistern in seinen Gedanken. Nicht zum Beispiel Hikari, sondern ausschließlich.

„Hey, was willst du damit sagen?“, schnauzte Daisuke Iori an. Koushiro betrachtete das Mädchen, um das es ging, verstohlen. Sie machte immer noch keine Anstalten, sich an den Ermittlungen zu beteiligen, aber nun schnappte sie hörbar nach Luft.

„Naja, Hikaris Zimmer liegt zwischen eurem und der Kantine. Sie hätte sooft in die Kantine und zurück gehen können, wie sie wollte, ohne dass sie an der Kamera vorbeikommt.“

„Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass ein so nettes Mädchen so etwas tun würde“, sagte Wallace lächelnd. „Da glaube ich eher daran, dass die Kamera defekt war.“

Ken zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, ich kann nicht garantieren, dass das Ding unfehlbar ist.“

„Außerdem könnte der Täter ja auch auf der Toilette gewartet haben“, warf Miyako ein. „Er hat Sora umgebracht, sich dann auf der Toilette versteckt, gewartet, bis ihr die Leiche findet, und ist dann ganz arglos zu euch gestoßen.“

„Das kann nicht sein, weil ich selbst auf der Toilette war, ehe ich in die Kantine gegangen bin“, beharrte Iori.

„Dann eben im Arztzimmer. Hast du da auch nachgesehen?“, knurrte Taichi gereizt.

„Nein, aber … Sehen wir uns doch noch einmal die Fotos an.“ Iori nahm Daisukes Handy, und ehe dieser protestieren konnte, zappte er durch die Bilder. „Seht ihr? Jeder von uns ist einmal drauf zu sehen. Sogar Daisuke und Ken.“

„Wir haben die Kamera erst genommen, als wir aus der Kantine zurück waren“, sagte Ken. „Da Mimi geschrien hat, haben wir nicht daran gedacht und sind einfach losgelaufen.“

„Das heißt, jeder ist heute Morgen tatsächlich aus seinem oder ihrem eigenen Zimmer gekommen. Nur Hikari ist nicht auf den Fotos“, stellte Iori fest.

„Hör sofort auf, Hikari was in die Schuhe schieben zu wollen, du kleiner Pisser!“, rief Daisuke erregt aus, obwohl Iori nicht wirklich kleiner war als er, nur schmaler.

„Tut mir ja leid“, sagte dieser stur, „aber Hikari hat kein Alibi, und sie war auch allein in einem Zimmer. Was sagst du dazu?“, fragte er sie direkt.

„Ich war es nicht“, knirschte sie. „Ich würde doch nie … Das könnte ich gar nicht!“

„Siehst du? Allein sie zu verdächtigen, ist Blödsinn!“, sprang Mimi ihr bei.

„Ich verdächtige sie nicht, ich zeige nur Möglichkeiten auf!“ Iori wurde lauter, als sich mehr und mehr gegen ihn wandten.

„Dann lass mal hören, was dein Beweis ist, dass du Sora nicht umgebracht hast“, rief Daisuke. Iori erbleichte. „Ja? Ich höre! Du hast sie angeblich als Erstes entdeckt! Wer sagt uns, dass du sie nicht erst aufgehängt hast?“

Iori stammelte entsetzte Widerworte, während für Koushiro das alles langsam einfach zu viel wurde. Er entschuldigte sich kurz, um die Toilette aufzusuchen. Ein wenig kaltes Wasser im Gesicht würde ihn vielleicht wieder auf Kurs bringen … Er tat sich zunehmend schwer damit, die Gedanken, die sich in einem Kopf kreuzten, zu ordnen.

Auf der Toilette störte ihn irgendetwas … doch er kam nicht darauf, was. Das kalte Wasser war wie ein Schock, aber er fühlte sich einigermaßen erfrischt, und als er schon wieder halb durch die Tür war, fiel ihm auf, was in dem kleinen Raum so merkwürdig war.

Er hatte sich verändert. Eigentlich sogar ziemlich stark, nur war es ihm nicht gleich aufgefallen. Er konnte sich erinnern, dass die Toilette gestern ziemlich staubig war und voller Schmutz von der Sorte, wie sie sich in lange nicht benutzten Räumen ansammelte. Jetzt jedoch war der Boden blitzsauber. Auch die Wände schienen etwas heller, selbst wenn man es nicht so sehr merkte.

Stirnrunzelnd kehrte Koushiro zu den anderen zurück. „Sagt mal, hat jemand von euch zufällig die Toilette geputzt?“

„Hm? Warum sollten wir das tun?“, fragte Yamato. Daisuke und Iori hatten aufgehört, sich zu streiten – dafür diskutierte Daisuke nun heftig mit Taichi. Mimi und Miyako wirkten einfach nur zerschlagen und mutlos, Jou hilflos und unglücklich und die anderen eher gereizt.

„Weil der Boden plötzlich aussieht, als hätte ihn jemand gründlich geschrubbt“, sagte Koushiro.

„Nicht wahr?“, mischte sich Iori ein. „Das ist mir heute Morgen auch aufgefallen. Und die Flasche mit der Seife ist auch nur mehr halb voll.“

„Die Seife?“ Koushiro hatte sie nicht benutzt, um sein Gesicht zu waschen, aber wenn das stimmte, dann war es doch merkwürdig. Die Flasche fasste sicher einen dreiviertel Liter, und Sora hatte sie gestern mit Flüssigseife aus einem Fabrikscontainer aufgefüllt.

Es half nichts, Koushiro konnte seinen Grübeleien einfach nicht entkommen. Er notierte sich diese weiteren Punkte auf seinem Laptop.

x Saubere Toilette: Seit heute Morgen scheint die Toilette neben dem Arztzimmer viel sauberer zu sein als gestern. Genau gesagt ist der Schmutz auf dem Boden verschwunden, und auch die Wände wirken sauberer.

x Seifenflasche: Die offene Flasche Flüssigseife, die gestern noch voll war, ist heute plötzlich halb leer.

Er wusste nicht länger, ob das, was er aufschrieb, überhaupt noch Relevanz hatte, aber gar nichts zu tun hätte ihm das Gefühl gegeben, bei der Lösung des Falls festzustecken, und er wollte lieber etwas Nützliches tun.

Kaum hatte er darüber nachgedacht, dass er immer noch keine Ahnung hatte, was sich heute Nacht wirklich abgespielt hatte, hörte man eine Stimme aus dem Treppenhaus tönen – oder kam sie aus der Fabrik? Es war eindeutig Monokuma, der irgendeine Lautsprecheranlage benutzte.

„Ähem, Test, Test … Hört ihr mich alle? Die Zeit ist um. Schüler, findet euch bitte alle in der große Fertigungshalle ein, damit wir mit dem Klassenprozess beginnen können.“

Erst sah es aus, als wollte keiner der Versammelten dem Aufruf folgen, aber als sie sich an Andromon und den explodierenden Monokuma erinnerten, setzten sie sich schließlich doch träge in Bewegung.

Koushiro wurde ein gewisses klammes Gefühl nicht los. Nun sollten sie also den Mörder festnageln … Und sie konnten keine weiteren Hinweise mehr sammeln. Was sie bisher hatten, musste reichen. Es kam ganz darauf an, wie sie die Puzzlestücke zusammensetzten.

Auf dem Weg die Treppe rauf las er sich noch einmal seine Notizen durch. Es waren ziemlich viele, aber ob sie reichten?

 

x Monokuma-File: Laut dem File, das Monokuma auf unsere DigiVices gespielt hat, ist Sora gegen vier Uhr an Ersticken gestorben.

x Todesursache: Sora wurde an einem der Deckenventilatoren aufgehängt, aber nicht mit einem Seil, sondern mit aneinandergeknüpften Bettlaken, die wahrscheinlich im Arztzimmer gelagert wurden. Die Laken sind an der Metallstange knapp unter den Ventilatorblättern festgemacht.

x EKG: Sora war an ein EKG angeschlossen, das einen Herzstillstand anzeigte. Laut Jou war darin gespeichert, dass dieser tatsächlich gegen vier Uhr eingetreten ist. Das EKG dürfte aus dem Arztzimmer stammen.

x Fesseln und Knebel: Soras Hände waren mit einem Abbindeschlauch hinter ihren Rücken gefesselt. Geknebelt war sie mit einem Dreieckstuch.

x Umgeworfener Stuhl: Unter Soras Leiche haben wir einen umgekippten Stuhl gefunden. Mimi hat den Verdacht geäußert, sie könnte darauf gestanden und ihn selbst umgestoßen haben.

x Ioris Aussage: Iori hat Soras Leiche gegen halb sechs Uhr als Erstes entdeckt. Er hat sie nicht angerührt, ehe die anderen und Monokuma aufgetaucht sind.

x Deckenventilatoren: Die Ventilatoren in der Kantine schalten sich zu bestimmten Zeiten ein, um den Raum zu kühlen. Dann wandern sie nach unten, um effizienter zu sein. Nach einer bestimmten Zeit werden sie wieder nach oben gezogen und bleiben stehen. Die Decke ist ziemlich hoch, und die Ventilatoren legen dabei jedesmal jeweils fast zwei Meter zurück.

x Seil aus Laken: Das Seil, an dem Sora aufgehängt wurde, war unterhalb des Ventilators an dessen Stange geknüpft. Dieser Teil dreht sich nicht mit dem Ventilator mit, wenn er eingeschaltet ist.

x Wunden an Soras Hals: Neben den offensichtlichen Würgemalen hat Miyako zwei kleine Stichverletzungen, wie von einem Schlangenbiss, entdeckt.

x Untergeschoss der Fabrik: Ganz am Ende des Flurs liegt Jous und Ioris Zimmer, dann das von mir (Koushiro), dann das von Wallace, dann das von Miyako. Dann zweigt die Treppe von dem Flur ab, die hoch in die Fabrik führt. Nach der Treppe liegt das Zimmer von Yamato und Takeru, dann das von Sora und Mimi, dann das von Taichi, dann das von Daisuke und Ken, dann das von Hikari. Danach macht der Flur eine Biegung, und die drei Räume danach sind die Kantine, das Arztzimmer und das WC ganz am Ende des Flurs. Der Flur wird Tag und Nacht von gedämpften Lampen beleuchtet.

x Alibis: Alle sagen, dass sie in der Nacht geschlafen haben. Nur Iori ist einmal vor Mitternacht auf die Toilette gegangen. Mimi hat nicht mitbekommen, wann Sora verschwunden ist. Yamato und Takeru waren bis ein Uhr wach und haben geredet. Takeru ist dann um halb vier wieder aufgewacht und hat auch Yamato geweckt. Sie bezeugen gegenseitig, dass sie bis halb fünf geredet haben. Ken und Daisuke waren zur Tatzeit ebenfalls wach und können ihr Alibi bezeugen: Um halb vier hat Ken Daisuke geweckt, und sie haben gemeinsam Kens Kamera überprüft und mindestens bis vier Uhr gesprochen. Daisuke und Ken sind etwa um halb fünf wieder schlafen gegangen.

x Fotos: Ken hat eine selbstauslösende Infrarotkamera auf den Flur gestellt. Die einzigen Fotos darauf waren ein Testbild von Daisuke und Fotos von uns allen, wie wir zur Kantine gehen, mit Ausnahme von Hikari, die nicht an der Kamera vorbeimusste, und Sora.

x Saubere Toilette: Seit heute Morgen scheint die Toilette neben dem Arztzimmer viel sauberer zu sein als gestern. Genau gesagt ist der Schmutz auf dem Boden verschwunden, und auch die Wände wirken sauberer.

x Seifenflasche: Die offene Flasche Flüssigseife, die gestern noch voll war, ist heute plötzlich halb leer.

Fall 01: Klassenprozess

Die große Fertigungshalle hatte sich verändert. Es fuhren immer noch nutzlos aussehende Teile auf Förderbändern herum, wurden um noch nutzlosere Teile angereichert und später wieder zerlegt. Zwischen den Förderbändern jedoch war ein Kreis aus Metallkonstruktionen aufgestellt worden – jene klassischen, kleinen Buchten, in denen man normalerweise die Angeklagten eines Gerichts vermutet. Sie waren zueinander gerichtet, am Boden festgeschraubt und besaßen Namensplättchen. Wenn sie hier ihre Plätze einnahmen, würden sie alle einander in die Augen blicken können. Zweifellos war das der Ort, an dem Monokuma sich eine Art Showdown erwartete. Eine der Buchten war bereits besetzt – von einem Ständer mit einem Bild von Soras Gesicht.

Der sprechende Bär saß auf einem weich gepolsterten, metallenen Suhl und schien so etwas wie die Aufsicht über den Prozess zu haben. Nach und nach teilte sich die Gruppe – nicht ohne sichtbares bis verbales Widerstreben – auf die ihnen zugewiesenen Plätze auf. Mimi betrachtete unwohl den Hebel, der an der Lehne der Metallbrüstung angebracht war. Die zwei Richtungen, in die man ihn bewegen konnte, waren mit Schuldig und Nicht schuldig beschriftet.

„Also, also“, begann Monokuma gut gelaunt, als alle auf ihren Plätzen standen. „Der erste Klassenprozess kann starten! Beginnen wir mit einer kurzen Erklärung: Während des Prozesses versucht ihr herauszufinden, wer von euch das Opfer, Sora Takenouchi, getötet hat. Wenn ihr zu einem Entschluss gelangt seid, wird für diese Person abgestimmt. Dazu bewegt ihr den Hebel vor euch. Wenn ihr per Mehrheitsbeschluss den tatsächlichen Täter oder die Täterin angeklagt habt, wird er oder sie allein bestraft. Aber wenn ihr jemanden anklagt, der in Wahrheit unschuldig ist, wird jeder außer dem oder der Schuldigen bestraft, und der oder die Schuldige darf die Insel verlassen.“

„Eine Frage.“ Jou hob die Hand. „Du sagst immer bestrafen – was genau ist das für eine Bestrafung?“

„Puhuhuhu“, kicherte Monokuma in seine Tatzen. „Was wohl? Es ist natürlich eine öffentliche Hinrichtung!“

Die Stille war wie ein Donnerschlag. Mimi war versucht, sich einfach zu Boden sinken zu lassen und aufzugeben. Natürlich, was hatte sie erwartet? War sie tatsächlich so naiv gewesen, das alles für ein harmloses Spiel zu halten, selbst nachdem Sora gestorben war?

„Also dann, fangt an“, sagte Monokuma eifrig.

„A-also“, machte Koushiro und man hörte, wie trocken seine Kehle war. „Wir sollten vielleicht damit beginnen, wie …“

„Stopp“, sagte Mimi. „Wir müssen gar nicht beginnen. Das alles ist doch wohl ein schlechter Witz! Wir boykottieren das Gericht einfach – genau, das machen wir! Monokuma will, dass wir unsere Freunde verraten und verdächtigen und … er will noch jemanden hinrichten! Reicht es nicht, dass Sora gestorben ist? Ich will nicht!“

„Mimi …“, murmelte Miyako entgeistert.

„Nein! Ich hab‘s einfach satt! Wir werden hier auf eine einsame Insel oder was auch immer verschleppt, müssen tagelang durch die Wildnis marschieren und kaum haben wir ein Dach über dem Kopf, geschieht ein Mord? Das ist doch vollkommen hirnrissig!“

„Wir sind eben nicht alle lauter heitere Freunde, Mimi“, sagte Wallace ruhig. „Wir kennen uns erst ein paar Tage. Und irgendjemand hier scheint wirklich ein Mörder zu sein.“

„Aber wir haben doch gesagt … Also … Was, wenn das alles nur eine Farce von Monokuma ist?“, wagte Jou zu fragen.

„Puhuhuhu, natürlich nicht“, warf der Bär ein. „Der Mord ist natürlich echt und der Mörder ist unter euch. Sonst würde das hier ja weder Spaß noch Sinn machen.“

„Spaß“, schnaubte Yamato. „Ich bin raus. Diskutiert das ohne mich, wenn ihr unbedingt wollt.“

Er machte Anstalten, aus dem Kreis zu treten, als ein mechanisch-hydraulisches Geräusch laut wurde. Andromon trat aus einer finsteren Ecke der Halle. Seine Brustklappen waren geöffnet, seine Augen glühten unheilvoll. Die schwarze Spirale um sein Bein wirkte wie eine fette, glänzende Schlange.

„Keiner verlässt den Saal, ehe nicht ein Schuldiger bestimmt wurde“, sagte Monokuma bestimmt. „Wenn, dann nur in Stückchen. Puhuhuhu.“

„Verdammt, mir reicht’s“, knurrte Taichi. „Bringen wir es schon hinter uns.“

Mimi nagte an ihrer Unterlippe. Sie hatte absolut keine Lust dazu. Sie hatte keine Lust auf überhaupt alles, was hier geschah. „Warum nur?“, stöhnte sie. „Warum muss mir das passieren?“

„Reiß dich endlich mal zusammen“, brummte Daisuke. „Blöde Kuh. Wir versuchen hier Soras Mörder zu finden und ihn zur Rechenschaft zu ziehen!“

„Ich will aber niemanden zur Rechenschaft ziehen!“

Daisuke stöhnte auf. „Also echt …“

„Lass sie“, sagte Taichi. „Fangen wir einfach an.“ Er nickte Koushiro zu, der während Mimis Tirade den Mund gehalten hatte.

 

Koushiro räusperte sich. Jetzt galt es, sich zu konzentrieren. „Ja, also ... gehen wir noch mal durch, was geschehen ist. Der Mord fand um vier Uhr statt. Was genau ist passiert?“

„Ist doch ganz klar“, brummte Yamato. „Irgendein hinterhältiges Arschloch hat Sora überfallen, bewusstlos geschlagen und dann aufgehängt.“

„Hä?“, machte Miyako. „Ich dachte, sie wäre auf einem Stuhl gestanden, der dann umgeworfen wurde?“

Koushiro stutzte. Sie waren erst bei der ersten Frage und schon gab es unterschiedliche Ansichten, was die Antwort sein könnte.

„Willst du etwa auch behaupten, sie hätte Selbstmord begangen?“, fragte Yamato verächtlich.

„Das halte ich auch für unwahrscheinlich“, sagte Wallace. „Immerhin war Sora gefesselt und geknebelt. Wenn sie sich selbst umbringen wollte, hätte sie das nicht tun müssen – abgesehen davon, dass es wohl ziemlich schwierig ist, sich selbst so die Hände hinter den Rücken zu binden.“

„Vergesst nicht das EKG“, warf Iori ein. „Damit muss es doch wohl irgendeine Bewandtnis haben.“

„Lasst mich doch einfach ausreden“, sagte Miyako gereizt. „Nein, ich glaube auch nicht, dass es Selbstmord war. Aber kann es nicht sein, dass sie jemand auf den Stuhl hat steigen lassen und den dann umgetreten hat? Damit es zumindest auf den ersten Blick aussieht wie Selbstmord? Immerhin lag der Stuhl am Boden rum.“

„Verstehe“, murmelte Wallace. „Du meinst also, jemand hat sie gezwungen, da raufzusteigen, nachdem er sie gefesselt hat. Das ergibt natürlich mehr Sinn. Wenn jemand in der Lage ist, sie so zu fesseln und zu knebeln, hatte sie wohl kaum die Chance, sich zu widersetzen.“

„Genau!“, bekräftigte Miyako eifrig. „Und dann hat dieser Jemand den Stuhl weggetreten und sie damit erhängt. So muss es gewesen sein.“

„Wartet“, sagte plötzlich Takeru. Die Augen aller wandten sich ihm zu. „Etwas spricht gegen diese Theorie.“

„Da bin ich ja mal gespannt“, sagte Wallace gedehnt, der nicht erfreut schien, dass ihm und Miyako jemand gegen den Mund redete.

„Erst mal, warum sollte jemand Sora überhaupt erhängen wollen, wenn er sie doch schon gefesselt und geknebelt hat? Er könnte sie ganz einfach erwürgen oder anderweitig umbringen.“

„Um den Anschein eines Selbstmords zu erwecken, natürlich“, beharrte Miyako.

„Zweitens“, fuhr Takeru fort, „steht im Monokuma-File, dass Sora erstickt ist, richtig? Das heiß, jemand hat etwas gemacht, weswegen sie keine Luft mehr bekommen hat, bis sie gestorben ist.“

Mimi murmelte etwas von wegen, wie sie nur so über Sora und ihren Tod reden konnten. Koushiro konnte ihre Gefühle gut nachvollziehen, aber es ging hier um ihr aller Leben – und darum, die Wahrheit hinter diesem Mord aufzudecken!

„Ich weiß schon, was du meinst“, griff Yamato Takerus Einwand auf. „Es sieht zwar so aus, als wäre sie nach allen Regeln der Kunst erhängt worden, aber genau so war es eben nicht. Wenn jemand erhängt wird, stirbt er normalerweise, weil sein Genick unter seinem Körpergewicht bricht.“

„Echt? Das wusste ich nicht“, murmelte Daisuke.

„Das ist auch nur dann so, wenn … der Henker weiß, was er tut“, sagte Iori.

„Wie auch immer. Ich bleibe dabei, wenn Sora richtig erhängt worden wäre, wäre die Todesursache eine andere“, sagte Takeru. „Vielleicht hätten wir einen Genickbruch auch von außen gesehen … keine Ahnung, ehrlich gesagt, wie so etwas aussieht.“

Mimis Murren wurde lauter.

„Das ist doch einerlei“, meine Wallace. „Vielleicht wäre ihr Genick gebrochen, wenn sie richtig gehängt worden wäre, gut. Aber keiner hat gesagt, dass der Mörder sich dabei so gut auskennt, dass er das ohne Fehler inszenieren könnte. Ich bin mir ziemlich sicher, selbst wenn man ihr den Stuhl unter den Füßen wegtritt: Wenn der Mörder sie vorher nicht richtig platziert oder das Seil – in unserem Fall, die Laken – nicht ordentlich geknüpft hat, stirbt sie vielleicht wirklich nicht an Genickbruch, sondern an Ersticken.“

„Lassen wir das fürs Erste“, beschloss Koushiro. „Überlegen wir lieber, wer es gewesen sein könnte.“

„Na toll. Wird immer besser“, brummte Mimi.

„Wir haben ja ein ziemlich gutes Beweismittel“, sagte Yamato. „Die Kamera von Ken und Daisuke. Koushiro, kannst du uns nochmal eine Zusammenfassung davon geben, was für Bilder darauf waren und wann sie in etwa geschossen wurden?“

„Sekunde.“ Koushiro nahm seinen Laptop in die Hände und sah seine Aufzeichnungen durch. „Ken hat die Kamera nach eigenen Angaben um halb zwei Uhr aufgestellt und um halb vier für eine halbe Stunde wieder in sein Zimmer geholt, um sie zu testen und den Akku aufzuladen. Zu der Zeit war noch kein Bild darauf. Das heißt, niemand ist zwischen halb zwei und halb vier den Flur entlang gegangen. Um vier Uhr hat Ken sie wieder vor die Tür gestellt. Das war ungefähr der Zeitpunkt, an dem Sora ermordet wurde – vielleicht sogar kurz vorher.“

„Zu der Zeit war Sora also schon in der Kantine“, sagte Takeru. „Das bedeutet, sie muss in der Zeit dorthin gegangen sein, als die Kamera gerade nicht aufgestellt war.“

„Tut mir leid“, murmelte Ken. „Wenn ich nur nicht verschlafen hätte, die Kamera hinzustellen, dann hätte ich sie früher wieder aufladen können und wir hätten Sora damit vielleicht erwischt …“

„Mach dir keine Vorwürfe“, sagte Takeru. „Selbst wenn sie sie fotografiert hätte, wie sie in die Kantine geht, den Mord hättest du damit auch nicht verhindern können.“

Ken seufzte nur unglücklich.

„Wartet mal, was haben wir da vorher diskutiert?“, warf plötzlich Miyako ein. „Dass der Mörder nicht an den Tatort gelangen konnte, weil er nicht auf den Fotos drauf ist? Das ist doch eigentlich völlig klar! Der Mörder ist auch in dieser halben Stunde daran vorbeigegangen, in der die Kamera in Kens und Daisukes Zimmer war. Genau wie Sora selbst!“

„Du verwechselst da was“, sagte Yamato. „Es ging nicht darum, wie der Mörder zum Tatort gekommen ist, sondern wie er wieder in sein Zimmer zurückgelangt ist.“

Koushiro nickte. „Wir sind alle auf der Kamera zu sehen, wie wir am Morgen in die Kantine gehen oder laufen. Das heißt, jeder von uns war am Morgen in seinem Zimmer.“

„Wobei man das bei Hikari nicht garantieren kann“, warf Iori ein.

„Fängst du schon wieder damit an?“, rief Daisuke zornig.

„Es ist nun mal eine Tatsache, dass sie als Einzige nicht an der Kamera vorbeimusste, um in die Kantine oder zurück in ihr Zimmer zu kommen! Was kann ich denn dafür?“, ereiferte sich der Jüngere.

„Hikari, was sagst du dazu?“, fragte Miyako. „Du bist die ganze Zeit so schweigsam.“

„Was ich dazu sage?“, wiederholte sie fassungslos. „Klar bin ich schweigsam! Ich begreife es einfach nicht, versteht ihr? Sora ist gestorben, sie ist tot! Sie war mit uns unterwegs und jetzt … Und ihr glaubt allen Ernstes, ich war es?“

„Hikari kann es unmöglich gewesen sein“, sagte Taichi ruhig. „Ja, ja, ich weiß, wir kennen uns alle nicht halb so gut, wie wir tun, aber sie ist meine Schwester. Ich wüsste es doch, wenn sie zu einem Mord fähig wäre!“

„Und natürlich würde ein Bruder seine Schwester immer verteidigen“, sagte Yamato trocken.

„Wie war das?“, fragte Taichi mit funkelnden Augen.

„Ich sage nur, dass wir deiner Aussage in diesem Fall nicht glauben können, das ist alles.“

„Sag mal, hast du ein Problem oder was?“

„Ja, habe ich“, sagte Yamato lauter. „Sora wurde umgebracht, während wir alle arglos geschlafen haben. Wenn das nicht Problem genug ist, dann weiß ich auch nicht!“

Taichi verstummte, schoss aber weiter böse Blicke auf ihn ab.

„Bewahren wir doch einen kühlen Kopf“, sagte Wallace. „Ich glaube auch nicht, dass ein so hübsches, nettes Mädchen wie Hikari zu einem Mord fähig wäre.“

„Und deinen Aussagen kann man leider auch nicht trauen, Casanova“, sagte Yamato.

„Schluss damit. Die Kamera kann auch einfach defekt sein, das hat Ken selbst zugegeben“, sagte plötzlich Mimi, die sich wieder aufgerafft zu haben schien, an der Diskussion teilzunehmen.

„Trotzdem ist es merkwürdig“, sagte Iori. „Findet ihr das nicht auch? Taichi und Hikari sind Geschwister und stehen angeblich so füreinander ein, aber trotzdem haben sie sich geweigert, sich ein Zimmer zu teilen. Fragt ihr euch nicht auch, wieso?“

„Vielleicht verstehst du das, wenn du älter bist“, spottete Taichi. „Eine kleine Schwester will halt auch nicht jede Nacht bei ihrem großen Bruder schlafen.“

„Ich glaube nicht, dass es das ist“, gab Iori zurück, ohne auf die Spitze einzugehen. „Wir wurden allesamt auf einer verlassenen Insel ausgesetzt. Versucht man da nicht normalerweise, bei denen zu bleiben, denen man am meisten vertraut?“

„Da fällt mir ein …“, sagte Jou vorsichtig. „Gestern habt ihr ja eigentlich auch zusammen die Fabrik untersuchen wollen. Trotzdem ist Hikari dann allein zurückgekommen und Taichi war auf einmal bei Mimi.“

„Was willst du damit sagen?“, knurrte Taichi.

Hikari seufzte entnervt. „Wir haben uns gestritten, okay? Taichi hat mal wieder gemeint, ich solle aufpassen, mit wem ich mich einlasse. Die Sache wegen Daisuke und alles, ihr wisst schon. Ich wollte mir aber nicht vorschreiben lassen, mit wem ich reden darf und mit wem nicht. Ich hoffe, das ist verständlich.“

Taichi warf Daisuke dabei einen schiefen Blick zu, so als gäbe er ihm dafür die ganze Schuld.

„Und was ist, wenn es gar nicht nur um Daisuke ging?“, warf Miyako plötzlich ein. „Wenn Taichi vielleicht gesagt hat, dass er zum Beispiel Sora mag, und Hikari damit nicht einverstanden war? Und dann hat sie Sora umgebracht. So was sieht man oft in Filmen.“ Plötzlich zuckte Miyako zusammen. „Äh, ich meine, ich glaube natürlich nicht, dass es so war ... Tut mir leid, ich hab einfach nur gesagt, was mir so durch den Kopf geht …“

Aber der Schaden war angerichtet. Alle blickten nun noch argwöhnischer zu den Yagami-Geschwistern.

„Ich wollte nichts von Sora, klar?“, knurrte Taichi und sein Blick blieb dabei kurz an Mimi hängen. „Das ist doch wohl alles Verleumdung.“

„Ich würde auch nie jemanden umbringen, auf den Taichi ein Auge geworfen hat“, murmelte Hikari. „Das wäre einfach … Das ist doch …“

„Es kann aber nun mal niemand anderes als Hikari gewesen sein“, beharrte Iori. „Das ist eine Tatsache.“

„Sofern die Kamera funktioniert hat“, warf Takeru ein.

„Vergiss mal die Kamera. Es geht hier um unser Leben! Wenn wir einen Fehler machen, sind wir tot, begreift ihr das nicht? Und für Hikari sprechen eben die meisten Beweise!“

„Warum? Weil sie alleine geschlafen hat? Selbst in den Zweibettzimmern wäre es möglich, sich rauszuschleichen und den Mord zu begehen. Wir waren alle ziemlich fertig von der langen Wanderung. Wir hätten es nicht mal bemerkt, wenn unser Zimmerkamerad Kanonen abfeuert!“, sagte Takeru.

„Ich dachte, dein Zimmerkamerad ist aufgewacht, als du einen Albtraum hattest?“, fragte Jou.

Takeru öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. „Ja“, sagte stattdessen Yamato, der weniger Skrupel hatte, eine Antwort darauf zu geben. „Weil er geschrien hat wie am Spieß.“

„Okay, wie auch immer“, sagte Koushiro. „Wir haben nur eine Chance, zu wählen. Gibt es vielleicht noch irgendwelche anderen Möglichkeiten, wie es passiert sein könnte?“ Auch er konnte und wollte nicht glauben, dass Hikari Sora überwältigt, gefesselt und dann aufgehängt haben sollte.

„Jou“, sagte Daisuke plötzlich. „Ja, guck nicht so entgeistert. Du bist doch der Einzige, der sich wirklich mit so einem EKG-Ding auskennt. Wer sollte Sora so fachmännisch daran angeschlossen haben, wenn nicht du?“

„Ich … ich habe nur getan, was ich konnte, um bei den Ermittlungen zu helfen!“, rief Jou aus.

„Das stimmt. Der Mörder wäre wohl kaum so dumm, nach diesem Mord öffentlich zuzugeben, dass er sich mit EKG-Elektroden auskennt“, sagte Yamato trocken.

„Danke, Yamato“, seufzte Jou.

„Trotzdem behalten wir lieber im Hinterkopf, dass du dich auskennst“, fuhr der Junge fort.

Jou ließ den Kopf hängen.

„Okay“, sagte Koushiro mal wieder. „Hat sonst noch jemand eine Idee? Wir sollten persönliche Gefühle und so mal außer Acht lassen und einfach sagen, was uns so einfällt. So wie Miyako vorhin.“

„Ich bin da aber nicht gerade stolz drauf“, brummte sie.

Niemand meldete sich mehr.

„Dann scheint es ziemlich eindeutig zu sein“, knurrte Yamato, und Hikari wurde kreidebleich. „Tut mir ja leid, Taichi, aber deine Schwester ist und bleibt die Hauptverdächtige.“

„Wegen einer blöden Kamera?“, brauste dieser auf.

„Zufällig, ja.“

„Ich schwöre dir, wenn du den Hebel bewegst, bring ich dich um!“

„Keine Gewalt während des Klassenprozesses“, rief Monokuma dazwischen. Koushiro hatte fast vergessen, dass er da war, so sehr war er in den Prozess vertieft gewesen. „Hebt euch eure Energie für später auf.“

Als Taichi nur verbissen Yamato anfunkelte, schien die Diskussion erkaltet zu sein. Niemand brachte noch neue Argumente vor. Auch wenn niemand es sagte – es schien entschieden, dass Hikari die Täterin war. Eine kaltblütige Mörderin, die Sora nicht nur umgebracht, sondern auch noch in diesem erbarmungswürdigen Zustand hinterlassen hatte.

Sie selbst sah nur jedem nacheinander fest in die Augen, flehend, als könnte sie nicht glauben, dass sie auf der Anklagebank saß.

„Ich verstehe“, murmelte Yamato schließlich, als niemand mehr etwas sagte. „War das der Grund, warum du nicht wolltest, dass wir Sora untersuchen, Hikari? Wolltest du uns davon abhalten, die Wahrheit zu erfahren?“

Sie zuckte zusammen. „Nein, das …“ Irgendwie klang sie weinerlich. Weinerlich genug, um Taichis und Daisukes Wut wieder aufflammen zu lassen.

„Hikari war es nicht, zur Hölle noch mal!“, zischte ihr Bruder.

„Ja, zur Hölle damit! Zur Hölle mit euch allen! Ihr habt ja alle keine Ahnung! Hikari hätte so etwas nie getan!“, war Daisuke überzeugt.

„Ich kann für mich selbst sprechen!“, rief Hikari dazwischen.

Ehe der Teufelskreis sich wieder in Bewegung setzen konnte, sagte plötzlich Jou: „Sagt mal, was denkt ihr, was …“

„Alle Hinweise deuten nun mal auf sie“, unterbrach ihn Yamato knurrend. „Hast du es getan, Hikari? Hast du Sora umgebracht?“ Seine Stimme wurde mit jeder Silbe schärfer, als könnte er damit jede Unwahrheit entzweischneiden.

„Nein!“, keuchte Hikari auf. „Wie oft soll ich es denn noch sagen? Ich würde nie jemanden umbringen! Was haltet ihr von mir?“

„Würde irgendjemand hier von sich behaupten, dass er jemanden umbringen könnte?“, hielt Iori dagegen. „Ich meine, behaupten kann man viel …“

„Ihr zwei“, knurrte Daisuke, „ihr macht euch gerade echt mega-unbeliebt!“

„Ähm, Leute …“

„Du bist derjenige, der sich unbeliebt macht“, erwiderte Yamato finster. „Du spuckst einfach nur große Töne, hast aber keine Beweise, um deine Aussagen zu untermauern.“

„Für so was braucht man keine Beweise! Das ist gesunder Menschenverstand!“, rief Daisuke.

„Dann sieh mal dorthin!“ Iori zeigte auf Andromon. Der Cyborg stand immer noch in der Ecke der Halle. Er hatte sich seit seinem Auftauchen nicht geregt. „Sagt dir dein gesunder Menschenverstand auch, wie das Ding da funktioniert? Oder Monokuma? Oder wie wir hierhergekommen sind? Es gibt so vieles, was wir nicht wissen! Und leider wissen wir übereinander auch zu wenig, um uns wirklich vertrauen zu können!“

Daisuke stieß ein wortloses Knurren aus. Jou versuchte es erneut und räusperte sich.

„Ich glaube, Jou will etwas sagen“, bemerkte Wallace. „Du musst wohl ein wenig energischer werden“, meinte er feixend, „bei diesen lärmenden Streithammeln.“

„Was ist, Jou?“, fragte nun auch Takeru.

Der Älteste der Gruppe schien sich unter all den Blicken unwohl zu fühlen. „Ich habe mich nur gefragt … was Sora nachts überhaupt in der Kantine wollte …“

„Vielleicht hatte sie Lust auf einen verspäteten Mitternachtssnack? Es gibt ja noch ein paar von den Körnern“, schlug Miyako vor. „Aber jetzt, wo du es sagst, merkwürdig ist es schon.“

„Diese Körner schmecken nach überhaupt nichts“, murmelte Mimi. „Als ob da jemand Lust drauf bekommen könnte.“

„Außerdem würde das bedeuten, dass sie um vier Uhr morgens durch unbekanntes Gelände hätte marschieren müssen“, überlegte Koushiro. „Ich weiß nicht, ob ich das gewollt hätte. Die Fabrik ist ja nicht unbedingt ein freundlicher Ort, und mit einem Raketenwerfer-Cyborg, der darin herumläuft …“

„Hm …“, machte Miyako. „Also ich denke, um die Uhrzeit würde ich auch nicht extra in die Kantine was essen gehen. Der einzige Grund, der mir einfällt, warum ich um die Zeit aufstehen würde, wär, um aufs Klo zu gehen.“

Koushiro zuckte zusammen. „Sag das nochmal!“

„Was? Wieso? Ich meine – was hat das damit zu tun?“

„Das Klo! Das muss die Lösung sein!“

„Jetzt dreht er völlig durch“, seufzte Taichi. „Ehrlich, was ist so merkwürdig daran, dass jemand nachts aufs Klo geht?“

Iori horchte auf. „Ich weiß, was du meinst. Die geputzte Toilette, nicht wahr?“

„Genau. Nicht das Klogehen ist merkwürdig, sondern das Klo selbst. Als ich heute drin war, war der Boden blitzeblank. Gestern war er noch dreckig und staubig. In den Ecken hat man auch noch Spuren von dem Schmutz gesehen“, berichtete Koushiro. „Iori hat dasselbe bemerkt. Jemand hat dort drin saubergemacht.“

Taichi rollte mit den Augen. „Echt mal, reden wir gerade über jemanden, der ein Klo geputzt hat? Das ist ja wohl lächerlich.“

„Wir haben doch gestern beschlossen, dass wir nicht in der Fabrik bleiben“, erinnerte Iori. „Warum sollte jemand von uns mitten in der Nacht den Toilettenboden putzen?“

„Vielleicht hat er daneben gepinkelt?“, witzelte Daisuke.

„Passiert dir das so oft, dass du das nachempfinden kannst, oder wie?“, fragte Yamato trocken.

„Verdammt, halt den Mund! Als ob ich …“

„Anders gefragt: Hat jemand von euch die Toilette geputzt?“, unterbrach Iori die Streithähne. Obwohl er der Jüngste war, schaffte er es immer wieder, direkt in ihre Konversationen zu schneiden – ein Talent, das Jou offenbar fehlte. „Wenn es nichts mit dem Mord zu tun hat, dann kann derjenige es ja ruhig zugeben.“

Niemand meldete sich. „Vielleicht war es Sora?“, fragte Mimi. „Sie scheint mir wie der Typ, der so was tun würde … getan hätte“, verbesserte sie sich traurig.

„Entweder das, oder es war der Mörder. Mir ist noch etwas eingefallen“, sagte Koushiro. „Genauer gesagt hat Iori mich darauf hingewiesen. Die Seifenflasche auf dem Waschbecken war halb leer. Als ob man den Boden mit Seife geputzt hätte – seltsam, nicht? Im Arztzimmer hätte es Putzmittel gegeben.“

„Dann hat derjenige, der geputzt hat, eben nicht richtig nachgesehen“, meinte Wallace gelangweilt. „Können wir dann wieder zum Thema kommen?“

„Was ist, wenn der Täter nicht geputzt hat, um die Toilette sauber zu machen? Sondern um zum Beispiel Spuren zu verwischen?“, fragte Koushiro.

Seine Worte hatten einen größeren Effekt, als er gedacht hatte. Plötzlich riefen alle durcheinander. Er konnte gar nicht auseinanderhalten, welche Worte von wem kamen.

„Du meinst Blutspuren?“

„Aber der Mord fand doch in der Kantine statt!“

„Sind wir jetzt von der Kantine plötzlich auf die Toilette gewechselt?“

„Das ist doch alles ausgekochter Blödsinn.“

„Was könnte der Täter denn für Spuren verwischen?“

„Wir haben uns doch vorhin gefragt, was Sora in der Kantine zu suchen hatte“, sagte Takeru. „Vielleicht war die Frage berechtigt. Vielleicht wollte sie stattdessen auf die Toilette … Das hast du mit deiner Schlussfolgerung gemeint, oder?“

Koushiro nickte. „Stellt euch vor, ihr wollt mitten in der Nacht jemanden umbringen. Es wäre gefährlich, wenn ihr euer Opfer in seinem Zimmer heimsucht. Jemand könnte etwas bemerken, zum Beispiel der Zimmerkamerad, oder man könnte euch im Flur sehen. Etwa, wenn noch jemand nachts aufsteht.“

„Deswegen hat der Mörder beschlossen, eben auf jene abzuzielen, die das tun. Die nachts aufstehen“, beendete Takeru den Gedanken. „Okay, ich verstehe.“

„Ich nicht“, brummte Daisuke. „Kann mir das mal jemand richtig erklären?“

„Du meinst Mordplanung für Doofies?“, schnaubte Yamato. „Immerhin wissen wir jetzt, dass du unmöglich der Mörder sein kannst.“ Daisuke schickte einen giftigen Blick in seine Richtung.

„Der Mörder hat gehofft, dass einer von uns nachts aufsteht. Bei zwölf Personen ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass zumindest einer auf die Toilette geht“, sagte Iori und schauderte plötzlich. „Wenn ich daran denke, dass ich vor Mitternacht selbst noch dort war … Vielleicht bin ich ihm nur knapp entkommen.“

„Der Mörder hatte Glück“, sagte Koushiro. „Ich weiß nicht, was er getan hätte, wenn überhaupt niemand aufgestanden wäre, aber es ist ja nicht so, als müsste er zwingend jemanden umbringen. Wenn er es schon vorhat, könnte er ruhig auch auf eine neue Gelegenheit warten.

Er muss sich im Arztzimmer versteckt haben. Da hat er vielleicht durch den Türspalt gelugt, um zu sehen, wann jemand daran vorbei zur Toilette geht. Das war dann Sora – sie hatte wohl einfach das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.“

„Und der Mörder hat dann einfach vor der Klotür darauf gewartet, dass sie wieder herauskommt“, meinte Iori. „Und dann hat er zugeschlagen!“

„Aber das hieße ja, dass der Mord gar nicht in der Kantine stattgefunden hat“, meinte Hikari.

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, überlegte Koushiro. „Ich denke, der Mörder hat Sora vorerst bewusstlos geschlagen und dann in die Kantine gebracht, um sie hinzurichten.“

„Da waren aber keine Schleifspuren auf dem Boden“, wandte Yamato ein. „Der ist nämlich auch nicht gerade sauber. Oder meint ihr, er hat sie getragen?“

„Er könnte das Medizinwägelchen aus dem Arztzimmer benutzt haben, um ihren Körper in die Kantine zu transportieren“, sagte Iori. „Oder er hat sie wirklich getragen, je nachdem, wie stark er ist.“

„Ihr sagt, er hätte sie bewusstlos geschlagen“, murmelte Miyako, „aber müsste da nicht eine Beule an ihrem Kopf gewesen sein? Oder eine Wunde? Ich hab nichts in der Art gesehen.“

„Doch, da war eine Wunde“, sagte Takeru. „Wisst ihr nicht mehr? Die zwei kleinen Stiche an ihrem Hals, wie von einem Schlangenbiss.“

„Er hat sie mit einer Giftschlange angegriffen!“, platzte Daisuke heraus.

„Sei nicht so dumm“, sagte Yamato. „Zwei Stichwunden am Hals? Wenn sie damit betäubt wurde, dann könnten das die Widerhaken von Taserkabeln gewesen sein.“

„Ein Taser …“, überlegte Koushiro. „Das ist gut möglich.“

„Ich bilde mir ein, einen Haufen elektronisches Zeug in den Kisten in der Fabrik gesehen zu haben“, sagte Taichi.

„Dann war es einfach für den Mörder“, fasste Iori zusammen. „Er hat vor der Toilettentür gewartet, biss Sora sie arglos wieder geöffnet hat. Und dann hat er ihr mit der Taserpistole in den Hals geschossen. Bei so einem Ding wäre es, glaube ich, sogar egal, wo er sie getroffen hätte, und auf die Entfernung könnte er nicht danebenschießen. Er hat sie unter Strom gesetzt und somit ausgeknockt.“

„Aber dabei ist etwas passiert, das er nicht vorhersehen konnte“, murmelte Koushiro. „Ich glaube – das heißt, ich bin mir ziemlich sicher, dass … hm.“

„Sag schon“, forderte Taichi ihn auf, als er es sich noch einmal durch den Kopf gehen ließ.

„Sora muss sofort zusammengebrochen sein. Vielleicht haben auch ihre Gliedmaßen unter dem Strom gezuckt, ich habe ehrlich gesagt noch nie einen Taser im Einsatz gesehen. Aber selbst wenn sie einfach nur umgefallen wäre, könnte es passiert sein.“

„Was denn, verdammt?“

„Sora muss die Flasche mit der Flüssigseife vom Waschbecken gerissen haben“, sagte er. „Vielleicht mit der Hand oder so. Die Flasche ist auf den Boden gefallen und die Seife ist ausgelaufen. So passt alles zusammen!“

„Davon wird der Boden aber auch nicht sauber“, meinte Taichi stirnrunzelnd.

„Das nicht, aber wenn wir die ausgelaufene Seife bemerkt hätten, hätten wir gewusst – oder zumindest ahnen können –, dass sich nachts etwas auf der Toilette abgespielt hat. Seife zu verschütten ist kein Drama; wenn man das tut, kann man es zugeben, wenn man danach gefragt wird – vor allem, wenn es um unser Leben geht! Der Mörder wusste das. Wenn wir hier also gefragt hätten, wer die Seife verschüttet hat, hätte keiner eine Antwort gehabt. Dann hätten wir angenommen, dass Sora es gewesen war, und gewusst, dass sie nicht in die Kantine gegangen ist – zumindest nicht nur. Und das wiederum wirft die Möglichkeit auf, dass sie schon auf der Toilette angegriffen wurde.

Man könnte argumentieren, dass die verschüttete Seife nichts mit dem Mord zu tun haben muss, aber wenn wir annehmen, dass Sora überfallen wurde … Wenn man attackiert wird, geht schnell etwas zu Bruch oder fällt hinunter. Und der Mörder wollte vielleicht nicht, dass wir dahinterkommen, wo er Sora wirklich angegriffen hat. Klar, er hätte selbst angeben können, die Falsche umgestoßen zu haben, um uns von Sora wegzulenken – aber damit hätte er zugegeben, dass er selbst nachts unterwegs war.“

„Reden wir gerade immer noch von Seife? Mir brummt der Kopf“, murmelte Taichi.

„Seltsam. Wo doch nichts drin ist“, kommentierte Yamato.

„Du!“, zischte er.

„Okay, ich glaube, ich weiß, worauf das hinausläuft“, sagte Wallace. „Hätte der Täter die Seife einfach aufgewischt, hätte das definitiv Schmierspuren im Dreck hinterlassen. Also hat er gleich etwas Wasser genommen und mit der ausgelaufenen Seife den Boden gleichmäßig geputzt. Im Endeffekt ist es uns zwar trotzdem aufgefallen, aber es war auf jeden Fall schwieriger zu bemerken, als wenn einfach ein sauberer Fleck irgendwo geprangt hätte.“

„Und das beweist, dass der Täter Sora eigentlich auf der Toilette angegriffen und dann erst in die Kantine verfrachtet hat. Mehr noch, er wollte diesen Fakt verschleiern“, sagte Koushiro. „Erst dann hat er sie in der Kantine gefesselt, geknebelt, das EKG an ihre Brust angeschlossen und sie aufgehängt. Wir haben also den Tathergang.“

„Toll. Das hilft uns immer noch nicht weiter“, seufzte Miyako.

„Stimmt … Momentan glaube ich immer noch, dass es Hikari war“, brummte Iori. Taichi wollte aufbrausen, als er hinzufügte: „Aber ich denke, wir sollten uns das auf jeden Fall nochmal durch den Kopf gehen lassen. Hier sind einige Dinge nicht so, wie sie scheinen.“

„Da hast du gerade noch mal den Kopf aus der Schlinge gezogen“, knurrte Taichi. Als er bemerkte, was er da eben gesagt hatte, zuckte er zusammen.

Koushiro musterte Daisuke. Eigentlich hatte er auch auf eine Bemerkung seinerseits gewartet, wie es bisher jedes Mal gewesen war, wenn der Verdacht auf Hikari gefallen war. Doch der Junge schwieg. War er nicht auch plötzlich ein bisschen blass um die Nase?

„Monokuma“, seufzte Mimi. „Wie lange müssen wir denn noch weitermachen? Reicht es nicht bald? Ich kann nicht mehr!“

„Es wird weiterdiskutiert, bis ihr zu einem Entschluss kommt“, sagte der schwarzweiße Bär von seinem Stuhl aus.

„Aber ich halte das bald nicht mehr aus! Meine Füße tun weh, ich bin müde, der Maschinenkrach tut mir in den Ohren weh und mir ist heiß!“

Koushiro wollte sie eben halbherzig ermahnen, als Takeru zusammenfuhr – viel heftiger als Taichi zuvor. „Scheiße“, sagte er. „Wir sind Idioten.“

„Wieso?“, fragte Yamato.

„Die Ventilatoren in der Kantine! Die bewegen sich doch!“, rief er aus. Plötzlich schwitzte auch er, als hätten Mimis Worte die Hitze erst beschworen. „Gestern, als wir essen gegangen sind – wie spät war es da?“

„Ähm, da war es ungefähr sechs Uhr, glaube ich.“ Jou rückte seine Brille zurecht.

„Da haben sich die Ventilatoren eingeschaltet. Und sie sind runtergefahren. Erinnert ihr euch? Sie haben fast zwei Meter dabei zurückgelegt.“

„Ja“, murrte Mimi. „Da war es wenigstens schön kühl.“

„Wir sind etwa um acht in unsere Zimmer gegangen. Ungefähr zu der Zeit sind die Ventilatoren wieder raufgefahren und haben sich ausgeschaltet, richtig? Zwei Stunden. Heute Morgen haben sie sich auch wieder eingeschaltet. Also was, wenn das nicht einfach zwischen sechs und acht Uhr abends passiert, sondern mehrmals, auch in der Nacht?“

Takeru erntete einige verblüffte Blicke. Koushiro starrte auf seine Liste mit Beobachtungen. Tatsächlich, das Verhalten der Deckenventilatoren stand da. Er hatte es in der Hitze des Gefechts wohl einfach vergessen.

„Monokuma“, sagte plötzlich Wallace nonchalant, „stimmt das? Du müsstest es doch wissen.“

„Puhuhu“, machte der Bär. „Ob ich euch das wirklich verraten sollte? … Kleiner Scherz! Es ist wahr. Alle zwei Stunden wird die Kantine für zwei Stunden gekühlt. Die Abwärme von der Fabrik würde es sonst unmöglich machen, darin zu essen. Auch wenn es momentan keine Mitarbeiter gibt, man muss ja für alle Eventualitäten vorsorgen, nicht wahr?“

„Und wenn die Kantine gekühlt wird, sinken die Ventilatoren herunter, und danach schrauben sie sich wieder in die Höhe, ja?“

„Oh“, machte Koushiro. „Wir sind wirklich Idioten.“

„Ich … begreife gar nichts mehr“, gab Jou zu.

„Der Todeszeitpunkt! Das EKG! Natürlich! Es ist doch ganz simpel! Als wir Sora gefunden haben, war es halb sechs, richtig? Die Ventilatoren waren oben, klare Sache. Und um sechs sind sie wieder gesunken. Das heißt, zwei Stunden vorher sind sie gerade nach oben gefahren … und kurz darauf ist Sora gestorben. Und das wiederum heißt …“ Er ließ den Satz unausgesprochen.

Nach und nach schienen die meisten anderen zu demselben Schluss zu kommen. „Du … Du meinst …“, stammelte Miyako. „Der Mörder hat Sora einfach an den Ventilator gebunden, als er unten war, und dann um vier Uhr ist der Ventilator nach oben gefahren, hat sie mit sich gezogen und …“

„Und stranguliert“, bestätigte Koushiro. „So muss es gewesen sein. Darum hat er sein Opfer auch gefesselt und geknebelt. Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was der Sinn dahinter gewesen ist – er wusste offensichtlich nicht, ob und wann sein Opfer aufwachen würde. Er wollte verhindern, dass Sora sich befreit oder um Hilfe schreit.“

„Wie furchtbar“, hauchte Mimi. Sicher stellte sie sich genau wie Koushiro eben vor, wie es sein musste, gefesselt in der Kantine aufzuwachen, mit einem Seil aus Laken an einen Ventilator geknüpft, der sich irgendwann in Bewegung setzte und nach oben fuhr … Der Mörder hatte das Seil kurz unter den Rotorblättern befestigt, wie er sich erinnerte. Weiter oben wäre es ihm bei den sich drehenden Ventilatoren auch gar nicht gelungen.

Der Mörder, von dem sie hier sprachen, hatte sich alles genau überlegt. Er war kaltblütig und überlegt zu Werke gegangen. Das Missgeschick mit der Seife konnte er nicht verhindern, aber das war keine große Sache. Alles war teuflisch ausgeklügelt gewesen.

Nur … wer war es?

„Moment mal“, sagte Takeru, als ihm etwas in den Sinn kam. Er zog eine Miene, als fiele es ihm nun wie Schuppen von den Augen. „Wenn der Ventilator um vier Uhr hochgezogen wurde und Sora deswegen gestorben ist, dann muss der Angreifer sie ja irgendwann vorher bewusstlos getasert und festgebunden haben, richtig? Und das kann im Grunde bis zu zwei Stunden vorher geschehen sein, während die Ventilatoren unten waren!“

„Anders gesagt, in der Zeit zwischen zwei und vier Uhr“, sagte Yamato.

„Richtig“, sagte Koushiro. „Der Mörder hat die Ventilatoren benutzt, um Sora zu ermorden. Und nicht nur das. Weil die sich alle zwei Stunden bewegen, konnte er verschleiern, dass der Tatzeitpunkt und der Todeszeitpunkt auseinander liegen. Darum der umgestoßene Stuhl – es sollte so aussehen, als hätte er sie an den Ventilator geknüpft, während dieser oben war. Und darum hat er auch das EKG an sie angeschlossen. Er hat sich vorher angesehen, was das Ding kann. Es zeichnet auf, wann die … wie heißt es, Jou?“

„Äh, Asystolie. Wann ihr Herz zu schlagen aufgehört hat.“

„Danke. Es zeichnet den Zeitpunkt der Asystolie auf, und das hat der Täter ausgenutzt. Er wusste nicht, dass im Monokuma-File auch der Todeszeitpunkt beschrieben werden würde. So hat er versucht, uns zu überlisten. Sora ist um vier Uhr gestorben, aber das heißt nicht, dass sie um vier Uhr angegriffen wurde! Im Gegenteil. Der Mörder muss Sora zwischen zwei und vier Uhr überfallen haben, als die Ventilatoren unten waren, und diese ganze Scharade ergibt nur Sinn, wenn es eher früher als später war. Hätte er Sora kurz vor vier angegriffen, hätte er sich die Mühe mit dem Stuhl und dem EKG sparen können – er hätte sie auch einfach erdrosseln können und sich nicht auf die Ventilatoren verlassen müssen. Der Überfall fand also mit Sicherheit deutlich vor vier Uhr statt.“

Und noch während er das sagte, kam er auf die Lösung.

„Das heißt dann auch, dass wir einer bestimmten Zeugenaussage keinen Glauben schenken können“, sagte er und seine Stimme zitterte plötzlich. Er war gespannt, was er sehen würde, wenn er dieser gewissen Person in die Augen blickte. Er sah gar nichts. Nur zwei blaue Juwelen, die ihm teilnahmslos entgegenfunkelten.

„Willst du vielleicht … irgendetwas dazu sagen, Ken?“

Es wurde totenstill in dem Raum, nur die Maschinen führten ihre fruchtlosen Tätigkeiten fort.

„Was … Aber warum Ken?“, fragte Taichi. „Irgendwo bei dem Gedankensprung bleibe ich gerade auf der Strecke.“

„Du hast doch angeblich deine Kamera um halb zwei Uhr aufgestellt. Dann hattest du sie ab halb vier für eine halbe Stunde in eurem Zimmer. Letzteres kann Daisuke bestätigen. Und dann habt ihr sie wieder aufgestellt. Aber wenn alles so ist, wie du es sagst, müsste auf den Fotos irgendwann Sora zu sehen sein, als sie auf die Toilette ging!

Wir haben angenommen, dass sie zwischen halb vier und vier vorbeigegangen ist, als die Kamera in eurem Zimmer war, aber sie zu tasern und zu fesseln und an die Ventilatorstange zu binden, kostet Zeit. Der Täter wäre nicht lange vor vier Uhr damit fertiggewesen – und wie wir eben festgestellt haben, hätte er es sich dann sparen können, die Ventilatoren und das EKG überhaupt zu benutzen!

Wenn der Täter wirklich den Zeitpunkt seines Angriffs verschleiern wollte, dann um sich ein Alibi zu verschaffen. Also hat er Sora in Wahrheit sicher lange vor halb vier angegriffen. Vielleicht um drei Uhr oder noch früher. Und zu der Zeit stand die Kamera laut deiner Aussage im Flur und hätte Sora auf dem Weg zur Toilette fotografieren müssen!“

„K-Ken?“, murmelte Miyako fassungslos. „Wie … wie kommen wir jetzt plötzlich auf Ken? Ich versteh das nicht …“

Ken schnaubte und zog plötzlich amüsiert die Mundwinkel hoch. „Nicht übel. Ihr scheint tatsächlich ein wenig mehr Hirn zu haben, als ich immer dachte.“

Etwas an ihm war plötzlich anders. Koushiro konnte das Gefühl nicht einordnen, aber wenn er Kens Körperhaltung, seinen Tonfall, sein ganzes Gehabe betrachtete … dann rieselte ihm ein Schauer über den Rücken.

„Wir haben ja alle oft genug betont, dass meine Kamera fehlerhaft sein könnte“, fuhr Ken fort. „Damit haben einige von uns während dieses Prozesses immer wieder argumentiert, wie es ihnen gerade gepasst hat. Was, wenn Sora einfach wirklich nicht fotografiert wurde?“

„Ich habe es die ganze Zeit schon merkwürdig gefunden“, begann Wallace. „Nur eine einzige Person kann laut unseren Ermittlungen der Täter gewesen sein – nämlich Hikari. Zufällig gerade das Mädchen, das unmöglich auf der Kamera auftauchen konnte. Als hätte sie gewusst, welches Zimmer sie nehmen muss, um nicht erwischt zu werden.“

„Zufälle passieren“, behauptete Ken.

„Klar. Aber dass Sora auch noch zufällig zu der Zeit an deiner Tür vorbeiläuft, während du die Kamera nicht an hast? Oder dass sie zwar vorbeiläuft, während die Kamera draußen steht, aber dieses Ding gerade dann nicht funktioniert? Da hätten ja mehrere Leute irrsinniges Pech gehabt, meinst du nicht? Zum Beispiel auch wir, weil wir nicht auf die Wahrheit kommen.“

„Wie oft soll ich euch noch sagen, dass ich es nicht war?“, seufzte Hikari erschöpft. „Ich wüsste ja nicht mal, wie ich so ein EKG richtig anlege.“

„Und ihr denkt, ich weiß es?“, entgegnete Ken.

„Ach, verdammt!“, stieß Daisuke plötzlich aus und raufte sich das Haar. „Hör schon auf, Ken!“

Und Ken verstummte. Er sah Daisuke nur abschätzig an.

„Wieso hast du nichts gesagt?“, fuhr Daisuke ihn an. „Ich dachte, wir wären Freunde? Wenn du irgendwelche Probleme oder Pläne oder sonst was hast, wieso weihst du mich nicht ein?“

„Offensichtlich würde dich niemand in so einen Plan einweihen“, sagte Ken trocken.

„Klar, aber wir hätten reden können! Ich hätte dir das schon ausgetrieben, verdammt! Wie konntest du so etwas tun? Ich verstehe dich nicht!“

„Langsam. Noch ist es nicht entschieden“, sagte Takeru.

„Doch“, stöhnte Daisuke. „Ken hat … Ken hat sich eine dieser Taserpistolen genommen. Als wir gemeinsam unterwegs waren, gestern, in der Fabrik. Scheiße, was hast du dir dabei gedacht?“

„Was? Wieso sagst du das erst jetzt?“, schnappte Taichi.

„Er hat gesagt, er will sie zur Selbstverteidigung“, sagte Daisuke und klang richtig hilflos. Wie ein Junge, der vor seinem geschmolzenen Schneemann steht und nicht weiß, wieso. „Ich bin sicher, es haben mehrere von euch was aus der Fabrik mitgenommen, zur Sicherheit! Er hat gemeint, vielleicht wirkt das Ding auch gegen Monokuma oder Andromon! Ich hätte nie gedacht, dass er damit… Das passt nicht zu dir, Ken!“

„Dass ich einen Taser mitgenommen habe, beweist gar nichts“, erwiderte dieser. „Es gab mehrere in dieser Kiste.“

„Möglich. Aber du hast über die Kamera gelogen“, sagte Yamato düster. „Jeder von uns ist darauf zu sehen. Nur Hikari nicht, die nicht daran vorbei musste, und Sora. Und gerade diese Sora sollte drauf sein. Du kannst es langsam nicht mehr mit einem Zufall erklären, dass die Kamera gerade bei ihr versagt hat. Spuck’s schon aus: Du hast Sora überfallen, an den Ventilator gebunden, noch brav die Toilette geputzt und dann erst die Kamera angemacht. Kurz darauf hast du sie Daisuke gezeigt und behauptet, sie würde schon seit halb zwei laufen. Damit hast du den Anschein erweckt, Sora wäre an eurer Tür vorbeigekommen, während ihr geredet habt, und sie wäre erst gegen vier Uhr überfallen worden.

Dabei hast du das Ding erst eingeschaltet, nachdem du Sora festgebunden hast, und den Deckenventilator den Rest machen lassen! Du hast dir ein perfektes Alibi zugelegt, weil du zum Todeszeitpunkt mit Daisuke in eurem Zimmer warst! Und zuletzt wolltest du den Mord Hikari in die Schuhe schieben, weil sie als Einzige nicht an der Kamera vorbeimusste!“

„Und damit niemand merkt, dass du einen Taser benutzt hast – von dem ja immerhin einer hier weiß, dass du ihn gehabt hast –, hast du versucht alle Spuren zu verwischen, die darauf hindeuten, dass du Sora vor dem Mord das Bewusstsein nehmen musstest, und dass du sie eigentlich schon auf der Toilette angegriffen hast“, sagte Iori. „Nur haben wir trotzdem Hinweise darauf gefunden, dass sie getasert wurde!“

„Ken“, murmelte Daisuke mit belegter Stimme, „sag doch auch mal was.“

Doch Ken sagte nichts. Er lachte.

Daisuke starrte seinen Freund fassungslos an, der den Kopf in den Nacken geworfen hatte und schallend gackerte, wie man es noch nie von ihm gehört hatte. „Darauf scheint ihr wohl mit mehr Glück als Verstand gekommen zu sein, was?“, fragte er schließlich mit einem grimmigen Lächeln. „Ich hätte wohl noch umsichtiger sein müssen. Kaum zu glauben, dass ihr dahintergekommen seid.“

Daisukes Augen wurden riesig, die Pupillen zitterten förmlich darin. „Das … Das heißt …“

„Das heißt, dass das wohl ein Geständnis ist“, knurrte Taichi.

„Aber … wieso …?“, hauchte Daisuke. „Wie konntest du so etwas tun, Ken? Wie konntest … Wieso, Ken?!“

„Wieso? Das ist doch ganz einfach!“ Ken breitete die Arme aus und lächelte ihn böse an. Seine Augen schienen jeden Glanz verloren zu haben – sie waren zwei ungeschliffene Saphire, kalt und stechend. „Weil das Ganze hier nichts als ein Spiel ist! Und genau genommen ist dieses lächerliche Mordfallspiel nur der Anfang, der Auftakt zu etwas Größerem!“

Daisukes Gesicht verlor den Rest seiner Farbe. „Ein Spiel … Aber Ken …“

„Hör schon auf, mich dauernd so zu nennen“, fuhr Ken ihn an. „Du jämmerliche Witzfigur. Tu nicht so, als wären wir Freunde, denn das sind wir nicht!“

„Doch“, beharrte Daisuke hilflos. „Ich dachte eigentlich, wir wären es …“

„Sei nicht albern. Als könnte ich jemals mit euch auf einer Stufe stehen! Ihr seid nichts als hirnlose Primaten, die keine Ahnung von der Welt haben, in der wir uns befinden. Eigentlich hättet ihr den Fall nie lösen dürfen!“

„Dann bist du wohl um so vieles schlauer“, knurrte Yamato.

„Allerdings. Mein Intellekt übersteigt euren bei Weitem! Ich bin dazu vorherbestimmt, diese Welt zu beherrschen, während ihr nur … lächerliche Nebencharaktere seid, die mir bei meinem Aufstieg auf meine Bühne im Weg stehen.“

„Diese Welt? Was soll das heißen?“, fragte Takeru.

Ken lachte überheblich. „Natürlich wisst ihr nicht einmal das. Was Monokuma euch so schön als File-Insel vorgestellt hat, ist Teil der DigiWelt – einer Welt, in der digitale Monster leben und in der ich der absolute Herrscher sein werde, sobald ich von hier fortkomme.“

„Du bist doch größenwahnsinnig“, murmelte Iori.

„Denkst du? Du hast ja keine Ahnung!“

„Woher weißt du das mit dieser … DigiWelt?“, fragte Miyako.

„Ich wüsste nicht, warum ich euch das auf die Nase binden sollte – wobei ihr dann vielleicht endlich versteht, dass ihr ein Nichts gegen mich seid. Also schön: Ich war schon einmal hier, in der DigiWelt. Ich bin immer wieder mal hergekommen, um meinen Herrschaftsbereich auszubauen. Das hier“, er hob sein DigiVice, das pechschwarz war, „habe ich im Meer der Dunkelheit getauft. Es verleiht mir die Macht, Digimon nach meinem Willen zu knechten!“

Koushiro hatte keine Ahnung, wovon er redete.

Das bin ich“, fuhr Ken fort. „Nicht Ken, euer Freund. Ich bin der wahre Herrscher dieser Welt!“ Er breitete die Arme aus, und etwas Seltsames geschah. Als hätte sein Stimmungswandel sein Äußeres nicht nur seine Haltung betreffend verändert, tauchten plötzlich aus den Schatten der Fabrik glitzernde Funken auf, sammelten sich um Kens Körper, legten sich um seine Arme und Beine und bildeten einen futuristischen, blauschwarzen Anzug. Ein blaues Cape floss über seine Schultern, Handschuhe stülpten sich wie von selbst über seine Hände. Sein Haar veränderte sich, als würde eine zerzauste Perücke direkt auf seinem Kopf erscheinen. Auf seiner Nase ruhte plötzlich eine schwere, goldene Brille mit getönten Gläsern. Ken holte tief Luft. „Und mit dem Nächsten, der mich mit Ken anspricht, geschieht dasselbe wie mit Sora. Ich bin der DigimonKaiser, und genauso werdet ihr mich nennen!“

„Der DigimonKaiser?“, wiederholte Hikari schockiert.

„Du bist wahnsinnig“, murmelte Daisuke.

„Wahnsinnig? Ich? Ihr seid es, die glauben, das hier wäre ein besserer Pfadfinderurlaub. Ich weiß nicht, was genau hier gespielt wird, aber ich lasse mich nicht einfach mit ein paar hirnlosen Heinis auf eine Insel sperren.“ Kens behandschuhter Finger zeigte anklagend auf Monokuma. „Ich habe keine Ahnung, was das hier soll und warum ich hier aufwache, kurz nachdem ich meinem Genie entsprechend an der besten Schule des Landes angenommen wurde. Aber ich kann dir versprechen, Monokuma, wenn ich auf dem Server-Kontinent meine Armeen aus Schwarzringdigimon zusammenrufe, dann bist du erledigt! Ich werde dich bitter büßen lassen für diese lächerlichen Stolpersteine, die du mir in den Weg streust!“

Monokuma schwieg.

„Digimon? Wovon redest du?“, fragte Taichi.

Ken schnaubte. „Die Wesen, die diese Welt bevölkern. Andromon ist zum Beispiel eines. Eigentlich müssten hier noch mehr von ihnen leben, aber die Insel scheint von ihnen gesäubert worden zu sein. Wahrscheinlich ist Monokuma auch ein Digimon – und damit eigentlich dazu bestimmt, mein Sklave zu sein.“ Sein Finger ruckte zu dem Cyborg in der Ecke der Halle. „Eigentlich ist die Teufelsspirale, die Andromon um das Bein trägt, meine geniale Erfindung! Ich weiß nicht, wie Monokuma sie modifiziert hat, damit Andromon ihm gehorcht, aber gebt mir eine Woche, und ich habe das Programm wieder überschrieben!“

„Ich begreife das alles nicht“, murmelte Daisuke. „Das heißt, du hast Sora umgebracht, weil du von hier weg wolltest? Zu deinem … Imperium oder was auch immer?“

„Ich hätte euch alle umgebracht, wenn ich nicht erwartet hätte, dass Andromon mich dann in Stücke schießt“, sagte Ken höhnisch. „Ihr arglosen Idioten habt es ja förmlich herausgefordert.“

Koushiro erinnerte sich an die Schulregeln, die besagten, dass man maximal zwei Personen töten durfte.

„Ich denke, es ist Zeit für die Abstimmung“, sagte Yamato finster. „Ich habe genug gehört, im Ernst.“

Daisuke starrte apathisch den Hebel vor sich an. Die anderen packten die Dinger bereits und schoben sie auf Schuldig.

„Idioten“, schnaubte Ken. „Denkt ihr wirklich, dieser Prozess bedeutet mir etwas?“

„Und damit ist die Abstimmung erledigt“, schaltete sich Monokuma ein. „Es gab zwei Enthaltungen.“ Daisuke und Ken selbst. „Aber der Rest hat einheitlich für Schuldig gestimmt. Ich gratuliere euch. Ken Ichijouji ist tatsächlich der Mörder von Sora Takenouchi.“

„Ich kann’s immer noch nicht fassen“, jaulte Daisuke auf, sprang aus seiner Bucht und lief direkt auf Ken zu. Er packte ihn am Kragen. „Wie konntest du nur? Ich begreife es nicht!“ Mit hilfloser Wut starrte er auf Kens Brillengläser, hinter denen seine Augen kaum zu sehen waren.

„Ich hatte ihn auch für einen netten Kerl gehalten“, murmelte Miyako kraftlos.

Ken fegte Daisukes Hände fort. „Als ob jemand wie ihr mich je verstehen könnte“, meinte er amüsiert. „Zwischen eurem und meinem Verstand liegen Welten. Wie könnt ihr erwarten, dasselbe zu sehen und zu begreifen wie ich?“

Daisuke taumelte von ihm fort. Dann ballte er die Fäuste, wie um …

„So, und nachdem die beiden Freunde sich ausgesprochen haben, ist es Zeit für die Bestrafung!“, verkündete Monokuma spielerisch.

„Halt den Rand“, fuhr Ken ihn an. „Als ob ich dir noch einen Moment länger gestatten würde, mein Spiel mit deinem Spiel zu stören!“ Er nahm eine Art metallenen Stab, der gemeinsam mit seinen neuen Klamotten erschienen war, von seinem Gürtel und drückte einen Knopf darauf. Eine lange, dunkle Gummischlange quoll aus dem Stab hervor, bis er eine Peitsche in der Hand hielt. Er sprang aus der Prozessrunde und holte weit mit der Waffe aus. „Du bist nur ein Digimon, und Digimon sollten mir gehorchen!“ Damit schlug er zu.

Monokuma stieß ein langes, ängstliches Kreischen aus – als plötzlich Andromon vor ihn sprang. Die Peitsche wickelte sich um dessen metallenen Arm. Monokumas Schrei wurde zu einer Ouvertüre für sein anschließendes Gelächter. „Habt ihr es vergessen? Keine Gewalt gegenüber eurem Schulleiter! Naja, nicht dass es für dich noch eine Rolle spielen würde. Zeit für die Bestrafung!“ Vor ihm ging eine Klappe im Boden auf, und etwas wie die Schelle bei einem Ringkampf fuhr in die Höhe. Monokuma zückte einen Spielzeughammer und schlug kräftig darauf.

Im gleichen Moment schoss aus den Ecken der Fabrikshalle eine Unzahl an schwarzen Ringen hervor. Ken stieß überrascht die Luft aus. Im nächsten Augenblick schnappten sie mit eiserner Härte rings um seinen Körper zu, schnallten sich um all seine Gliedmaßen und sogar seinen Hals. Dann brach unter ihm der Boden auf und ein riesiger, schwarzer Obelisk schoss in die Höhe.

Die anderen kreischten auf. Wo kam das Ding so plötzlich her? Ken klebte förmlich daran, einige der Ringe schienen mit dem schwarzen Turm verwachsen.

„Ein passendes Ende für den selbsternannten DigimonKaiser“, befand Monokuma zufrieden. Andromons Brustklappen entließen zwei Raketenpaare in die Freiheit, die eine dichte Qualmspur hinter sich her zogen. Die ersten beiden flogen zur Spitze des Turms und schraubten sich in einer Spirale nach unten, die anderen zwei stiegen von unten nach oben. Ken öffnete den Mund, um Monokuma zu verfluchen, aber da trafen sich die vier Sprengkörper in der Mitte – genau dort, wo er an den Turm gefesselt war. Es gab einen Knall und eine Druckwelle, die Staub und grobkörniges schwarzes Zeug in die Augen der Freunde sprühte. Der Turm blitzte elektrisch, brach in sich zusammen und riss dabei die halbe Werkshalle mit sich.

Die Staubwolke schien sich minutenlang nicht zu legen. Koushiro und die anderen konnten nur entsetzt auf die Verwüstung starren. Der Boden neben dem Prozessring war fort, eingerissen von den Überresten des Turms. Von Ken war nichts mehr zu sehen.

Monokumas Kichern riss sie einmal mehr aus ihrer Starre. „Puhuhuhu, endlich ist ein wenig Schwung in dieses Spiel gekommen. Also dann, der Prozess ist beendet. Ich freue mich schon auf den nächsten, also mordet fleißig weiter!“

Damit sprang er hinter seinen Aufseherstuhl und verschwand ebenso spurlos wie Ken, und elf schockierte Jugendliche blieben in der Halle zurück und versuchten jeder für sich zu begreifen, was hier vor ihren Augen vorgefallen war.

Fall 02: Tägliches Leben – Mit dem Essen spielt man nicht

Nach Kens Hinrichtung war die Stimmung wie zu erwarten. Kaum einer der übrig Gebliebenen sprach mehr als unbedingt nötig, oder nicht mal das. Sie alle hingen trüben Gedanken nach, schwelgten in Verzweiflung und tödlicher Unsicherheit. Niemand betrat den unterirdischen Bereich der Fabrik ein zweites Mal, außer um seine wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. In den ersten Momenten wollte auch keiner der toten Sora mehr in die Augen blicken – nicht etwa, weil sie gedacht hätten, sie verdiene kein anständiges Begräbnis. Es wäre einfach viel zu schrecklich für sie gewesen, sich ihren grauenhaften Tod in Erinnerung zu rufen – einen Tod, den sie bereits zur Genüge ausgeschlachtet hatten.

Schließlich hatten sich Taichi und Yamato doch dazu durchgerungen. Doch als sie ein weiteres Mal in die Kantine gingen, war die Leiche verschwunden – und alle Hinweise auf ihren Tod ebenso. Monokuma hatte offenbar aufgeräumt. Es schien, als hätte es die Person namens Sora gar nie gegeben.

Für Hikari schien die Realität immer weiter in ein Fantasiereich abzudriften. Das gewaltige Loch in der Werkshalle schien so wenig mit Kens und Soras Tod zu tun zu haben, dass der Junge, der sich DigimonKaiser genannt hatte, genauso gut nur ein Streich ihrer Erinnerung hätte sein können. Hatte er ihnen tatsächlich ins Gesicht gelacht und behauptet, das hier wäre nur ein Spiel? Hatte tatsächlich einer von ihnen Sora ermordet, ohne einen Funken schlechten Gewissens?

Sie bemerkte, dass sie mehr denn je die Nähe ihres Bruders suchte, doch Taichi schien so sehr damit beschäftigt, seine ebenfalls dunklen Gedanken zu ordnen, dass sie es nicht wagte, ihn zu stören. So stromerte sie ziellos durch die Fabrik und versuchte, ihr Bewusstsein und ihr Schmerzempfinden zu betäuben, indem sie den Maschinen bei ihren stumpfsinnigen, immer gleichen Arbeiten zusah.

Die anderen hatten ebenfalls ihre Strategien, um mit der ganzen Sache fertigzuwerden. Wallace zum Beispiel schien nicht mit der Ernsthaftigkeit ihrer Lage klarzukommen. Wann immer er auf jemanden traf, scherzte und flirtete er drauflos, als hinge sein Leben davon ab. Koushiro hatte sich mit seinem Laptop in eine riesige, batterieähnliche Röhre gesetzt und tat die ganze Zeit über nichts anderes, als irgendwelche Daten abzurufen.

Hikari sehnte sich nach Gesellschaft. Ihre Schritte trieben sie zu Takeru, doch der hing die meiste Zeit mit Yamato ab, der Hikari mit seiner ruppigen Art immer noch ein wenig suspekt war. Schließlich ging sie sogar zu Daisuke, aber anstatt sie ihr schweres Herz bei sich erleichtern zu lassen, bürdete er ihr seine eigenen Gedanken auf. Er verstand nicht, wie Ken so etwas getan haben könnte, und die Anschuldigung, er, Daisuke, wäre dazu einfach nicht intelligent genug, schien ihn irgendwie schwer getroffen zu haben.

Iori entschuldigte sich förmlich bei ihr, sie während des Prozesses so sehr verdächtigt zu haben. Sie erkannte, dass er es ehrlich meinte und dass es ihm ein Bedürfnis war, die Sache noch einmal anzusprechen. Dazu passte er sogar einen Moment ab, in dem möglichst viele der anderen die Entschuldigung mitbekamen.

Bis zum Nachmittag machte sich selbst bei den Letzten der Hunger bemerkbar. Es musste nicht einmal ausgesprochen werden – sie würden nicht hierbleiben, an diesem Ort, wo zwei von ihnen ihr Leben gelassen hatten. Ein paar von ihnen diskutierten eben, wohin sie gehen sollten, als Koushiro aufgeregt mit seinem Laptop zu ihnen stieß und sie bat, ihm zu helfen, den Rest zusammenzutrommeln. Er hatte eine Entdeckung gemacht.

In der Eingangshalle versammelten sich alle. „Also, das hier ist wirklich eine Insel“, begann der Rotschopf mit der schlechten Nachricht. Er zeigte ihnen eine Landkarte, die er auf seinen Laptop geladen hatte. „Ich habe in den Archiven dieser Fabrik viele Aufzeichnungen über Wesen gefunden, die man tatsächlich Digimon nennt und die hier leben sollten, allerdings nichts Konkretes. Auch über die DigiVices steht da etwas – komischerweise sollen es heilige Artefakte sein, die das Böse in dieser Welt bekämpfen sollen. Und diejenigen, die sie besitzen, nennt man DigiRitter. Mehr ist angeblich in einem alten Labyrinth darüber zu finden.“

„Und wo ist dieses Labyrinth?“, fragte Yamato.

„Dazu habe ich keine Informationen gefunden. Überhaupt sehen die Daten irgendwie … löchrig aus. Als hätte jemand die wichtigsten Stellen herausgelöscht. Zum Beispiel sind auf der Karte der Insel, die ich gefunden habe, erstaunlich viele leere Flecken, wo einfach die Beschreibung fehlt, ob es dort nun Wald, Wüste oder Städte gibt.“

„Denkst du, Monokuma hat an den Archiven herumhantiert?“

„Möglich.“ Koushiro zuckte mit den Schultern.

„Und hast du auch was zu Ken gefunden?“, fragte Daisuke aufgeregt. „Irgendetwas zu dem Zeug von dem DigimonKaiser, von dem er geredet hat?“

„Nicht viel, leider“, meinte Koushiro bedauernd. „In einer Aufzeichnung ist die Rede von einem Kontinent, auf dem tatsächlich ein DigimonKaiser die Digimon knechten soll … Aber es steht nirgends, ob das wirklich Ken ist, oder wie man diesen Kontinent erreicht.“

Daisuke brummte etwas Missmutiges in seinen nicht vorhandenen Bart.

„Aber ich habe auch eine gute Nachricht“, meinte Koushiro, als die Stimmung wieder einmal gegen den Nullpunkt zu kippen drohte. „Ich habe die nächste Stadt ausfindig gemacht – und es ist wirklich eine Stadt.“

„Meinst du, wir finden Menschen dort?“, fragte Mimi.

„Schön wär‘s“, brummte Yamato. „Aber ganz ehrlich? Ich glaube es nicht.“

„Einen Versuch ist es wert“, meinte Koushiro. „Und es ist sicher besser, wenn wir dorthin gehen, als wenn wir hier bleiben.“

Dagegen konnte niemand etwas sagen. „Und wie kommen wir da hin?“, fragte Iori.

„Die Fabrik ist offenbar über ein Abwasserrohr fast direkt mit der Stadt verbunden. Es ist schnurgerade und führt auf ein Feld in ihrer Nähe.“

„Ich steige sicher nicht in die Kanalisation hinab“, sagte Mimi naserümpfend.

„Wir können auch versuchen, dem Verlauf des Rohrs oberirdisch zu folgen“, räumte Koushiro ein. „Das wäre wahrscheinlich weniger schmutzig.“

„Worauf warten wir dann noch?“ Nach seiner Trauer schien Taichi nun wieder voller Tatendrang zu sein – oder er zwang sich dazu, so zu tun. „Marschieren wir los!“

Und so geschah es.

 

Die Stadt war quietschebunt und so fröhlich, als wollte sie sie verhöhnen. Koushiro hatte ihnen gesagt, dass sie Spielzeugstadt hieß, und danach sah sie auch aus. Hübsche Häuser mit verspielten Türmchen und bunten Schindeln und Ziegeln warteten in Straßen aus Kopfsteinpflaster auf Besucher. Von vielen Dächern flatterten bunte Ballons im Wind, und ein riesiges Schild verkündete in krakeligen Lettern: Willkommen in der Spielzeugstadt!

Das Spielzeug selbst war auch nicht schwer zu finden. Fast war es, als lauerten sie in allen Ecken und Winkeln und Gassen der Stadt: aufziehbare Affenpuppen, hölzerne Loks, Heere aus Spielzeugsoldaten, sogar ein riesiger Vogel mit spitzem Schnabel. Sie standen oder lagen verwaist herum, und der Anblick stimmte die Gruppe wieder traurig. Es war, als hätten die Bewohner all die lustigen Dinge liegen gelassen, um die Bühne zu räumen für eine Tragödie, die mit den Freunden kam.

„Niemand da“, berichtete Jou, der nacheinander ein paar der Häuser unter die Lupe genommen hatte. Die Türen besaßen allesamt Schlösser, doch die Schlüssel steckten innen und nichts war abgesperrt.

„Naja, immerhin brauchen wir uns keine Sorgen darüber zu machen, wo wir die Nacht verbringen sollen“, meinte Taichi und sah zum Himmel hoch. Er färbte sich im Westen langsam purpurn.

„Als ob das unsere einzigen Sorgen wären“, knurrte Yamato.

Taichi wollte etwas Scharfes erwidern, als plötzlich der Boden bebte.

„Herzlich willkommen in der Spielzeugstadt!“, verkündete eine dröhnende, dennoch verspielt klingende Stimme … Elf Augenpaare fuhren herum. Und ihnen blieb der Mund offen stehen.

Hinter einem hohen Turm kam ein riesiger Bär hervorspaziert, ein paar bärenkopfförmige Luftballons in der Hand. Und es war nicht einfach nur irgendein Bär, der da so groß wie ein Haus um die Ecke stampfte – es war Monokuma. Sein rotes Auge glühte teuflisch. „Was habt ihr denn? Da die Stadt im Moment keinen Bürgermeister hat, muss ich als Leiter der Pfadfindergruppe eben die Begrüßung übernehmen.“

„Nicht schon wieder“, stöhnte Mimi, die sich ob der plötzlichen Größe des Bärs nicht sonderlich zu erschrecken schien. „Gut, vergesst diese Stadt. Wir suchen uns woanders was.“

„Denkst du, ihr könntet mir entkommen?“ Monokuma lachte in seine Pfoten. „Puhuhu. Der Lehrer lässt seine Schüler natürlich nie aus den Augen. Ich wollte euch eigentlich zu einem Willkommensessen einladen.“

„Willkommensessen?“, fragte Taichi misstrauisch. Dabei knurrte sein Magen verräterisch, als wollte er auch einen Kommentar dazu abgeben.

„Als ob wir irgendwas von dem, was du uns anbietest, essen würden!“, ereiferte sich Miyako.

„Puhuhu. Esst es, oder esst es nicht. Es steht jedenfalls auf dem Hauptplatz. Ihr könnt es euch ja einmal ansehen.“

„Stellen wir eine Regel auf, dass niemand zum Hauptplatz geht, ja? Zur eigenen Sicherheit“, brummte Yamato.

„Ach, warum tut ihr mir so unrecht?“, fragte Monokuma weinerlich. „Ich will nur, dass meine Klasse gut versorgt ist! Ihr seid schließlich alles, was ich habe!“

„Warum bist du eigentlich plötzlich so groß?“, fragte Takeru.

„Ist doch scheißegal“, knurrte Daisuke.

„Hm? Ach so“, machte Monokuma, als fiele ihm dieser Umstand gerade erst wieder auf. „Ich dachte, so würde ich einen besseren, beschützermäßigen Eindruck machen. Aber keine Sorge, ich schlafe nicht in der Stadt, ihr braucht euch also nicht zu fürchten, dass ihr zu wenig Platz habt.“ Er hob eine Pfote. „Aber lasst euch gesagt sein, dass ich euch trotzdem beobachte! Keine Ungehörigkeiten also, ja? Natürlich dürft ihr morden, so viel ihr wollt.“

Miyako stöhnte auf. „Ich verstehe dieses Stofftier einfach nicht!“

„Ignorier es einfach“, schlug Iori trocken vor.

„Also dann, ich empfehle euch, einen Blick auf das Festmahl zu werfen. Die Lagerhallen der Spielzeugstadt stehen nur für euch offen!“, verkündete Monokuma.

„Lieber verhungere ich, als etwas zu essen, das du vermutlich vergiftet hast“, stellte Mimi fest. Etliche andere stimmten ihr zu.

„Das kann ich aber nicht gutheißen“, sagte Monokuma. „Als ob ich euch vergiften würde! Ich bin euer Lehrer, habt ihr das vergessen? Überzeugt euch selbst; zu eurer Sicherheit habe ich alles gekennzeichnet, was irgendwie giftig oder gefährlich ist.“

„Na bitte, also gibt es giftiges Essen!“, rief Miyako aus.

„Puhuhu. Natürlich. Ihr sollt euch ja umbringen. Viel Erfolg dabei, und Mahlzeit.“ Damit stapfte er davon, und kurz darauf hörte man seine schweren Schritte nicht mehr.

Es spielten wohl mehrere Faktoren zusammen, als die Gruppe sich doch ziemlich schnell auf den Weg machte, um zu sehen, was Monokuma vorbereitet hatte. Wenn es schon nicht Neugier war, dann vielleicht Hunger – oder auch Misstrauen. Einmal waren sie schon von einem der ihren verraten worden, und es war sicher besser zu wissen, welche Chancen diesmal für einen willigen Mörder bereitstanden.

Es war dunkel, als sie den Hauptplatz erreichten, aber die bunten Lichterketten verstärkten diesen Eindruck auch eher. Der Hauptplatz war dekoriert wie bei einem fröhlichen Fest, und unter den Lichterschlangen stand eine gedeckte Tafel mit so ziemlich allem, was das Herz begehrte und was sie so lange vermisst hatten. Es gab Fleisch, Fisch, Pilzsuppe, Brot, Milch, Butter, Nudeln, Reis, Eier … Auch wenn es nichts im Vergleich zu Haubenrestaurants war, war es das Köstlichste, was Mimi seit langem gesehen hatte. Eine Weile standen sie unschlüssig davor herum.

„Und das soll reichen?“, sprach schließlich Taichi aus, was sie alle dachten.

Es war zwar ein Festschmaus, aber es war wenig. Die Portionen waren winzig klein, und elf Personen sattzukriegen, schien unmöglich.

„Dieser verfluchte Monokuma“, knurrte Yamato. „Er will, dass wir uns umbringen, weil nicht alle satt werden können. Wie billig.“

„Seht mal!“ Takeru war eine Art Schuppen getreten, dessen Tor weit offenstand – nicht nur das, eiserne Pflöcke hinderten es sogar am Zufallen. Grinsend kehrte er mit einigen Kränzen Würsten daraus zurück. „Verhungern müssen wir hier sicher nicht. Da drin ist noch viel mehr.“

„Könnte das …“, murmelte Iori.

„Was hast du?“, fragte Jou, als der Jüngere auf den Schuppen zulief. Nach und nach folgten die anderen.

„Ich wusste es“, murmelte Iori düster.

Es dürfte sich um das Vorratslager handeln, von dem Monokuma gesprochen hatte. In breiten Holzstellagen waren haltbare Lebensmittel gelagert, fein säuberlich sortiert und die Regale, Einmachgläser und Fässer beschriftet. Mimi fühlte sich fast wie in einem Museum, als sie die ganzen professionellen Plaketten sah, die den Namen des Nahrungsmittels und dann weitere Eigenschaften verkündeten. Die Würste, die Takeru genommen hatte, trugen den Hinweis: Harte Würste. Lang haltbar, aber schwer zu kauen. Trotzdem nur bedingt geeignet, um jemanden damit zu erschlagen.

„Soll das ein Witz sein?“, fragte Taichi gereizt.

„Leider nicht“, murmelte Wallace. Er stand am anderen Ende des Regals. „Seht mal.“

Die eindeutig gefährlicheren Sachen waren hier gelagert. Zuerst war da noch eine Schale mit Chilischoten mit der Beschriftung: Scharfmacher. Verleihen dem Essen eine gewisse Würze. Warnung des Schulleiters: Eine mutwillige Überdosis kann zu einem Kreislaufkollaps führen. Gleich daneben wurden die Effekte schlimmer. Eine hölzerne Obsttrage war bis obenhin mit Pilzen gefüllt, die gewöhnlichen Steinpilzen gar nicht so unähnlich sahen. Die Plakette sagte aber etwas anderes. Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilze. Schon eine geringe Menge führt zu totalem Gedächtnisverlust. Anmerkung des Schulleiters: Keine Sorge, Schüler! Die Schule hat all eure Erinnerungen in digitaler Form gespeichert und wird sie euch zurückgeben, wenn ihr die Insel verlasst – der Schulleiter wünscht nicht, dass die Schüler alles vergessen, was sie im Camp gelernt haben.

„Na, sehr beruhigend“, murmelte Miyako.

„Totaler Quatsch“, meinte Iori.

Das letzte Behältnis war das besorgniserregendste: ein Glasfass mit einem bezeichnenden Totenkopf darauf. Die Flüssigkeit darin sah leicht trübe aus. Die Beschriftung besagte: Dr. Monokumas Spezial-Gift. Kann eingenommen oder auf Waffen aufgetragen werden. Das Gift braucht etwa fünf Minuten, um seine Wirkung zu entfalten, und führt dann zu sofortigem Organversagen. Der Schulleiter wünscht frohes Morden.

„Das ist ein Scherz, oder?“, platzte Miyako heraus.

„Hab ich auch schon gesagt“, knurrte Taichi.

„Ich fürchte, das ist bitterer Ernst. So wie alles hier“, murmelte Hikari düster.

„Okay, was haltet ihr davon, dass wir dieses Lagerhaus zu einer Tabuzone erklären?“, schlug Iori vor. „Keiner von uns geht hier rein. Dann muss sich keiner fürchten.“

„Wieso?“, fragte Daisuke angriffslustig. Es war das erste Mal seit einer Weile, dass er den Mund aufmachte. „Glaubst du etwa, unter uns versteckt sich noch ein Mörder, oder was?“

Iori atmete tief durch, als hätte er es mit einem dummen Kind zu tun. „Nein, aber es dient unserer Beruhigung. Wir nehmen uns ein paar Nahrungsmittel mit raus, dann brauchen wir dieses Lagerhaus nie wieder zu betreten.“

„Ich will aber nichts essen, was neben einer Gifttonne gestanden ist“, meinte Mimi.

„Dann hungerst du eben. Was nehmen wir mit?“

Murrend fügte sie sich. Trotz allem waren sie misstrauisch, weswegen sie vor allem Früchte und solche Dinge mitnahmen, die man gut waschen konnte. Sie pumpten Wasser aus dem Brunnen am Hauptplatz, Taichi erklärte sich dazu bereit, es vorzukosten. Damit spülten sie die Früchte ab und machten sich schließlich über das Essen her.

Obwohl das Bankett so festlich war, war die Stimmung bedrückter denn je. Nach dem Mahl drehte sich das Gespräch wieder in Richtung Vorratskammer. Iori schlug vor, man solle das Giftfass einfach rausholen und irgendwo über eine Klippe werfen. Die Sache erübrigte sich jedoch, als sie bemerkten, dass es an der Wand angeschraubt war. Man konnte es mit einem Drehverschluss öffnen, aber es schien keine Möglichkeit zu geben, ihn zu blockieren.

Schließlich gaben sie es auf. Es war, als hätte Monokuma damit gerechnet, dass sie versuchen würden, die Gefahr einfach zu bannen.

Da sie alle immer noch müde und nun auch vollgefressen waren, meldeten schließlich die Ersten, schlafen gehen zu wollen. Rund um den Hautplatz lagen einige Häuser, die dafür wie geschaffen schienen. Sie waren verlassen, aber gut in Schuss, kaum staubig und hatten allesamt weiche Märchenbetten. Für Mimi würde es das Paradies auf Erden sein, endlich wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Die Schlüssel steckten alle, und die Schlösser funktionierten. Sie brauchten nicht zu fürchten, dass sie nachts jemand überfiel.

Das reichte Mimi auch schon. Nachdem sie sich in ihrem Haus eingeschlossen hatte, fühlte sie sich schrecklich allein, doch das Gefühl währte nur kurz – so lange nämlich, bis sie sich in die weichen Daunen sinken ließ und fast auf der Stelle einschlief.

 

Miyako konnte auf diesem Bett nicht schlafen. Nicht, weil es nicht weich gewesen wäre, im Gegenteil. Aber es war einfach so viel geschehen, was ihr im Kopf rumgeisterte. Sie lag auf dem Bauch, das Kinn auf dem Kissen, die Decke bis über den Kopf gezogen, und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Es schienen Stunden zu vergehen, in denen sie einfach nur von einem finsteren Grübelstrudel in den nächsten gezogen wurde. Als sie eben beschloss, sich in ihrem Haus noch ein wenig die Füße zu vertreten, klingelte es an der Tür.

Wie von der Tarantel gestochen schoss sie in die Höhe. Wer konnte das sein? Sie waren alle dazu angehalten, sich hier gegenseitig umzubringen; was, wenn das bereits ein neuerlicher Mordversuch war?

Schließlich würgte sie ihre Ängste mit dem Argument ab, dass sie so gar nicht zu ihr passten, und öffnete.

Wallace stand vor der Tür. „Hey“, sagte er. „Lässt du mich rein?“

Kurz darauf saßen sie im Wohnzimmer des Hauses, wo es einen Tisch und mehrere Stühle gab. „Wie, äh, kann ich dir helfen?“ fragte Miyako verwundert. Auch Wallace wirkte nicht, als hätte er bereits geschlafen, obwohl es nach Mitternacht sein musste.

„Ich wollte dich sehen“, sagte er.

„Äh, okay.“

„Weißt du, ich war einsam“, fuhr er fort und beugte sich zu ihr. Seine unglaublich blauen Augen schwebten direkt vor ihr. „Es war so kalt und deprimierend in meinem Haus, da dachte ich, ich besuche jemanden.“

„Okay …und warum ausgerechnet mich?“, fragte sie verwirrt.

Er lächelte. „Brauche ich dazu einen Grund?“

Miyako dachte an die Gefahr, in der sie alle möglicherweise schwebten, und nickte.

Er lachte leise. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war er noch näher gerückt. „Vielleicht ist der Grund, dass du wirklich hübsch bist, Miyako. Ich bin gern in deiner Nähe.“

Miyako merkte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. „Danke“, murmelte sie mit belegter Stimme. „Aber was .. soll das jetzt auf einmal?“

Nun lachte er lauter. Sie fühlte sich irgendwie … außen vor gelassen. Als hätte er einen lustigen Witz gehört und ließe sie nicht daran teilhaben. „Du hast nach dem Grund gefragt, ich habe dir geantwortet“, sagte er. „Im Ernst, Miyako. Ich finde dich echt toll. Deine zappelige Art ist irgendwie süß, und deine Haare sind echt der Wahnsinn.“

„Sind sie nicht“, erwiderte sie verlegen. „Die sind doch mittlerweile ganz verfilzt und strähnig und …“ Sie verstummte, als sein Gesicht so nah kam, dass sie sich selbst in seinen Augen spiegeln sah.

„Miyako“, sagte er leise, „ich finde so einige Aspekte an dir toll. Und ich würde gern noch mehr von dir kennenlernen.“ Seine Lippen kamen näher.

„Stopp.“ Sie drehte den Kopf zur Seite. „Das geht nicht.“

„Wieso nicht?“, fragte er verwundert.

„Das ist … falsch, okay?“, stammelte sie. „Ich meine, ich kenne dich kaum, also eigentlich gar nicht, und nach allem, was passiert ist … Ich meine … heute sind zwei unserer Freunde gestorben, wir sollten nicht …“

„Waren das wirklich unsere Freunde?“ fragte er unvermittelt.

„Was?“

„Du kanntest sie doch auch kaum, oder?“

Miyako druckste herum. Eigentlich war ihr Sora schon sympathisch gewesen. Ken auf der anderen Seite auch … „Es ist trotzdem schrecklich. Das alles“, sagte sie bestimmt. „Ich meine, dieser komische Bär hält uns hier auf irgendeiner Insel fest und wir haben alle keine Ahnung, was eigentlich abgeht!“

„Sieh es einfach als weiteren Grund“, meinte er ernst. Sie starrte ihn fragend an, und er grinste. „Naja, das ist auch was, das ich mir überlegt habe. Theoretisch könnte uns morgen jemand umbringen. Denkst du nicht, wir sollten die Zeit da gut nutzen?“

„Was meinst du mit Zeit gut nutzen?“, platzte sie raus.

„Ach, komm schon“, sagte er mit einem schiefen Lächeln. „Wir sind auf einer einsamen Insel gestrandet. Niemand von außerhalb stört uns. Und die anderen schlafen. Das ist doch eine einmalige Gelegenheit, meinst du nicht?“

Sie blickte ihn an, sah sich selbst in seinen Augen und erkannte, wie schockiert sie aussah. „Wi-wir sitzen hier total in der Scheiße“, brach es aus ihr hervor. „Ich kann nicht mal schlafen wegen all dem verrückten Zeug, das uns passiert ist, und du willst …“

„Ich helfe dir beim Einschlafen“, bot er an. „Ich kann nämlich auch nicht schlafen.“ Sein Grinsen sollte vielleicht charmant wirken, aber nach all den Geschehnissen kam es Miyako einfach nur aufgesetzt vor.

„Ich schaffe das schon selbst“, murmelte sie verschnupft.

„Heißt das, du wirfst mich raus?“

„Nein. Ja. Ach, was weiß ich … Hör mal, ich weiß nicht, was du von mir erwartest, aber das mit uns wird nichts, okay? Ich meine, also, falls überhaupt, also, nicht hier, verstehst du? Das ist alles viel zu abgefahren, und ich …“ Sie verstummte verlegen.

Wallace seufzte schließlich und stand resigniert auf. „Dass ihr aber auch alle so furchtbar prüde sein müsst.“

Sie blickte auf. „Wen meinst du mit alle?“

„Nichts.“ Er lächelte unschuldig. „Euch Japaner im Allgemeinen.“ Zwinkernd ließ er sie allein, und Miyako war sich nicht sicher, ob er wirklich das gemeint hatte.

 

Takeru fand Hikari auf dem Hauptplatz sitzend vor, auf einem der Stühle rund um die verwüstete Festtafel. Sie sah in den Himmel hoch, wo gegen die finsteren Silhouetten der Gebäudetürmchen einige Sterne zu sehen waren. Es war eine laue Nacht.

„Wenn du hier so allein rumsitzt, verdächtigt dich am Ende jemand“, versuchte er einen Scherz und verwünschte sich im nächsten Moment dafür.

Hikari zuckte zusammen und drehte sich zu ihm um. „Du bist’s“, murmelte sie.

„Auch schlaflos in der Spielzeugstadt?“, fragte er und setzte sich neben sie. In der Hand hatte er eine Flasche, die er mit Cola aus dem Lagerhaus aufgefüllt hatte.

Hikari betrachtete das Getränk stirnrunzelnd. „Und da wunderst du dich, dass du nicht einschlafen kannst, wenn du so ein Zeug trinkst?“

Er zuckte mit den Schultern. „Macht auch keinen Unterschied mehr.“ Eine Weile schwieg er. „Das, was mit Sora passiert ist, war schrecklich.“

„Ja“, murmelte sie tonlos.

„Tut mir leid, dass dich die anderen verdächtigt haben. Das muss … hart gewesen sein.“ Er brachte es nicht über sich zu sagen, dass auch er sie kurz im Verdacht gehabt hatte, einfach weil die Beweislast so erdrückend gewesen war.

„Schon okay“, versuchte sie die Sache mit einem Schulterzucken abzutun. „Es hat sich ja alles gefügt.“

„Was Ken getan hat, war furchtbar“ brummte er finster. „Hätte ich ihm nie zugetraut.“

„Ich habe darüber nachgedacht“, gab sie zu. „Vielleicht hatte Ken einfach nur … mehr Ahnung von alledem hier.“

„Klar. Hat er uns ja lang und breit vorgeleiert“, schnaubte Takeru. Er konnte dem Jungen nicht verzeihen.

„Schon, aber irgendwie … hatte er vielleicht recht, oder? Er hat etwas von der DigiWelt gesagt und von Digimon, und allein damit hat er mehr gewusst als wir alle zusammen.“

„Das rechtfertigt nicht, dass er so was abzieht“, knurrte er und trank ein paar gewaltsame Schlucke aus seiner Flasche.

„Natürlich nicht“, sagte Hikari schnell und seufzte. „Tut mir leid. Ich hab oft komische Gedanken, wenn ich müde bin.“

„Geht mir auch so“, seufzte er. „Momentan zum Beispiel denke ich mir, ich muss unbedingt einen Ausweg von hier finden, obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist. Keine Ahnung, wie wir hergekommen sind, aber eins steht jedenfalls fest: Falls wir keinen Flughafen oder Hafen finden, kommen wir hier nicht wieder weg. Und wenn selbst eine Stadt wie diese hier unbewohnt ist, stehen unsere Chancen eher schlecht.“ Er starrte geradeaus in seine düsteren Gedanken, als er den nächsten Schluck machte, und kippte dabei die Flasche zu stark. Cola lief über sein Kinn und tropfte auf sein Hemd. „Toll“, murrte er. „Das gibt Flecken. Und hier kann ich es nicht mal waschen. Was kann jetzt noch alles schiefgehen?“

Sie lächelte schwach.

„Was?“

„Ich glaube, wenn du müde bist, wirst du auch schwarzmalerisch“, meinte sie verschmitzt.

Takeru schnaubte. „Und das, obwohl ich eigentlich als Ultimative Hoffnung auf die Hope‘s Peak aufgenommen wurde.“

„Echt? Das ist dein Talent?“

„Angeblich. Ganz schön bescheuert, oder?“

„Finde ich nicht“, sagte sie leise. „Hoffnung zu haben ist wichtig. In so einer Lage mehr denn je. Außerdem habe ich gelesen, dass die Hope‘s Peak genau zu diesem Zweck gegründet wurde.“

„Was meinst du?“

„Naja, sie wollen die Talente ihrer Schüler fördern und erforschen, damit sie irgendwann mal die ultimative Hoffnung der Menschheit ausbilden können, die … ich weiß auch nicht, total talentiert ist und so. Vielleicht suchen sie ja in Wahrheit Leute wie dich.“

Er lachte bitter. „Das wäre doch wohl zu komisch.“

„Wer weiß.“ Sie drückte seine Hand. „Hab ein bisschen Hoffnung.“

Jetzt musste er doch lächeln. „Und was ist dein ultimatives Talent, wegen dem sie dich aufgenommen haben?“, wechselte er das Thema.

Sie druckste herum. „Licht“, meinte sie schließlich.

„Licht?“

„Siehst du? Und du glaubst, dein Talent wäre verrückt.“

„Was macht man denn so als Ultimatives Licht?“, neckte er sie.

„Keine Ahnung, ehrlich. Ich hab vermutet, dass es ein Druckfehler ist oder dass sie mich damit veralbern wollen.“

Takeru sah in den Nachthimmel. „Weißt du, was ich sagen würde, was man als Ultimatives Licht so macht?“, sinnierte er. „Man verliert selbst in der Dunkelheit nicht das Ziel aus den Augen. Man sieht das Licht immer vor sich als etwas Erstrebenswertes, und man versucht es zu erreichen, und irgendwann schafft man es und führt alle anderen aus ihrer Verzweiflung raus. Ziemlich mächtiges Talent, wenn du mich fragst.“

Sie kicherte. „Du bist süß.“

„Nicht wahr? Das ist mein zweites Talent, gleich neben der Hoffnung“, sagte er. „Ich werde jedenfalls darauf hoffen, dass du uns mit deinem Licht schon irgendwie hier rausbringst.“

„Jetzt bist du albern“, meinte sie, rang sich aber ein Lächeln ab. Takeru konnte spüren, wie ihre Stimmung sich gehoben hatte. „Na dann“, meinte sie schließlich. „Vielleicht versuch ich noch mal, einzuschlafen.“

„Gute Idee.“

„Übrigens ist dort drüben ein Klamottenladen. Vielleicht findest du Ersatz für dein bekleckertes Hemd.“ Sie zwinkerte ihm zu.

Er grinste breit. „Gute Idee“, wiederholte er.

Sie standen auf. Hikari nahm seine Hand in ihre, ihre Finger waren warm. „Danke, Mister Hoffnung.“

„Immer wieder gern.“

Sie lächelten sich an und gingen dann ihrer Wege.

 

Der nächste Morgen brannte gleißend auf dem Kopfsteinpflaster der Spielzeugstadt. So gut wie jeder von ihnen wirkte müde, als sie sich an der Banketttafel einfanden. Die meisten murmelten nur einsilbige Begrüßungen. Ein paar Langschläfer wollten einfach nicht auftauchen, zum Beispiel Taichi und Daisuke.

„Was machen wir? Sollen wir auf sie warten?“, fragte Yamato.

„Mir knurrt der Magen“, seufzte Miyako. „Warum richten wir das Frühstück nicht schon mal her?“

„Wir haben abgemacht, nicht heimlich an die Vorräte zu gehen“, erinnerte sie Jou. Tatsächlich hatten sie nur darüber diskutiert, aber keine endgültige Entscheidung gefällt.

„Das ist ja wohl kaum heimlich, wenn wir fast alle da sind“, empörte sie sich.

„Sie könnten es aber als Verrat auffassen.“

„Schon gut“, meinte Hikari. „Ich werde dann mit Taichi reden. Und Daisuke kriegen wir auch wieder ein, wenn es ihm überhaupt was ausmacht.“ Daisuke war seit Kens Verrat ziemlich finster drauf, aber sie fürchtete, wenn die anderen knurrende Mägen bekamen, würde nur ein weiterer Streit ausbrechen.

Also griffen sie sich Brot, Butter und Käse aus den Vorräten, dazu getrocknete Beeren und was sie sonst noch Frühstückfertiges fanden. Koushiro war als Letzter der Anwesenden aufgestanden und sehnte sich seufzend nach Oolong-Tee oder wenigstens Kaffee. Jou half ihm beim Suchen, aber sie fanden nur Früchtetee und keine Möglichkeit, Wasser zu kochen.

Als endlich Taichi auftauchte, war er mürrisch, aber er schien gar nicht zu bemerken, dass die anderen ohne ihn angefangen hatten. Auch Daisuke verlor darüber kein Wort, als er am späten Vormittag zu ihnen stieß.

Da sie nichts Besseres zu tun hatten, überlegten sie gemeinsam, wie sie den heutigen Tag verbringen könnten. Koushiro hatte die Daten, die er auf seinen Laptop gespielt hatte, genauer analysiert und erklärte ihnen die Lage der Stadt und was es in der Nähe gab. Sie teilten sich in kleine Grüppchen auf, die teils die Umgebung erkunden, teils nach Essen suchen sollten. Die Vorräte der Stadt waren zwar nicht zu verachten, aber irgendwann würden auch sie zur Neige gehen, und es war besser, wenn sie vorbereitet waren.

Eine Gruppe durchstreifte die umliegende Hügellandschaft und brachte einfach alles mit, was sie fand und was irgendwie nützlich erschien, darunter Holzstöcke zur Verteidigung, seltsame Knochen, um vielleicht herauszufinden, von welchem Tier sie stammten, und hübsche Steine, von denen Daisuke behauptete, dass sie etwas wert wären.

So verging der Tag, und als sich die Sonne blutig rot senkte, hielten sie ein gemeinsames Abendmahl ab und sprachen über ihre Entdeckungen. Die Stimmung war schon etwas besser als am Morgen, obwohl es immer noch keinen Kaffee und keine Hoffnung gab, die Insel zu verlassen. Koushiro zeichnete in die lückenhafte Karte, die er von der File-Insel hatte, die Informationen ein, die die anderen ihm gebracht hatten, dann vereinbarten sie eine ungefähre Uhrzeit für das morgendliche Frühstück und gingen wieder schlafen.

 

„Wohl die gleiche Idee gehabt, was?“, fragte Taichi. „Oder läufst du mir nach?“

„Mach dich nicht lächerlich“, erwiderte Yamato.

Nach Einbruch der Nacht waren sie auf den obersten Turm des Rathauses geklettert – des höchsten Gebäudes der Stadt. Taichi wollte einfach noch nicht schlafen gehen und der hohe Turm hatte irgendwie sein Interesse geweckt.

„Ich wollte eigentlich schon tagsüber herkommen“, meinte Yamato und deutete aus dem Fenster. Es war finster in dem Turmraum und in der gähnenden Leere kitzelte ihnen Staub in der Nase. „Bei Tag hätte man hier sicher eine bessere Aussicht. Ich finde, das hat mehr Sinn, als zu versuchen, die Karte der Insel auf Koushiros Computer fertigzuzeichnen.“

„Wenn du die Aussicht genießen willst, müsstest du wohl auf diesen Berg da klettern“, meinte Taichi trocken und deutete auf den riesigen Monolithen, den man gewiss von überall auf der Insel sehen konnte.

„Hast du mir nicht zugehört? Es geht nicht um die Aussicht, sondern darum, eine vollständige Karte zu bekommen“, entgegnete Yamato. „Außerdem wäre es dumm, einfach so einen Berg zu erklimmen, ohne irgendwelche Ausrüstung.“

„Es wird ja wohl auch gangbare Wege geben“, stöhnte Taichi. „Ich sag ja nicht, dass man auf nacktem Fels klettern muss.“

Eine Weile schwiegen sie. „Merkst du was?“, fragte Yamato plötzlich.

„Was?“

„Wenn wir miteinander reden, streiten wir eigentlich fast immer.“

„Ach? An wem das wohl liegt?“, giftete Taichi.

„Zum Streiten gehören zwei“, erklärte Yamato ruhig. „Dabei halte ich dich eigentlich gar nicht für einen schlechten Kerl.“

„Ich dich eigentlich auch nicht“, brummte Taichi.

„Frieden?“, schlug Yamato vor.

„Von mir aus. Solange du nicht wieder Müll von dir gibst.“

Yamato seufzte. „Du bist unverbesserlich.“

„Musst du gerade sagen.“

Sie sahen einander an und mussten plötzlich lachen.

„Du solltest dich wieder mit Hikari vertragen“, meinte Yamato dann. „In so einer Lage muss man vor allem den eigenen Geschwistern vertrauen.“

Taichi verzichtete darauf ihm zu sagen, dass er und Hikari sich bereits ausgesprochen und gegenseitig um Verzeihung gebeten hatten. Zwischen ihnen brach schnell mal Streit aus, aber sie konnten ihn danach meistens ohne Probleme beilegen. „Du redest, als hättest du selbst Geschwister“, merkte Taichi an.

Yamato sah ihn verblüfft an. Dann lachte er leise. „Ach so. Wir haben es ja noch nicht öffentlich klargemacht. Hast du es noch nicht gemerkt?“

„Was denn?“

„Ich hab einen kleinen Bruder. Ich lasse dich raten, wie er heißt.“

Damit ging er die Turmteppen hinunter und ließ Taichi vor dem Fenster stehen. Dieser sah ihm verwirrt nach. Was sollte er? Den Namen von Yamatos Bruder erraten? Machte sich der Blondi jetzt über ihn lustig, oder was?

In Mimis Haus brannte noch Licht, als er daran vorbeikam. Auf den zweiten Blick sah er auch, wie sie vor dem Fenster saß und in die Nacht hinausstarrte. Als sie ihn entdeckte, winkte sie ihm zu. Er hob grüßend die Hand. Sie öffnete das Fenster. „Was machst du so spät noch auf?“, rief sie ihm zu.

„Könnte ich dich auch fragen Ich hab mir mal wieder Yamatos Spinnereien angehört.“ Da bemerkte er, dass er vielleicht zu laut gesprochen hatte – Yamatos Haus lag immerhin direkt neben Mimis.

Sie winkte ihn aufgeregt näher. „Komm her! Ich muss dir was zeigen!“

Verwundert ließ sich Taichi in ihr Haus bitten. Er fragte sich, was in sie gefahren war.

Sie führte ihn zu einer verwahrlosten Abstellkammer. Taichi hatte gedacht, dass er für heute bereits genug Staub eingeatmet hatte, und meinte mürrisch: „Willst du mir deine Spinnwebensammlung zeigen?“

„Hier.“ Sie drückte ihm ein rundes Gefäß mit einem Kabel in die Hand.

„Was ist das?“

„Ein Wasserkocher, du Genie.“

„Aha.“ Verdattert musterte er das Ding, dann wieder Mimi. „Und weiter?“

Sie rollte mit den Augen. „Damit können wir endlich was kochen. Tee zum Beispiel, oder Kaffee, wenn wir welchen finden. Und wir können Suppe und Fleisch kochen und eigentlich alles, ohne uns um ein Feuer oder so kümmern zu müssen.“

„Und deswegen bist du so aufgeregt?“ Taichi konnte das nicht nachvollziehen.

Sie seufzte auf. „Wenn man so lange abseits der Zivilisation ist, lernt man eben, sich über jeden noch so kleinen Luxus zu freuen.“

Da war etwas dran. Aber ob man deshalb so aus dem Häuschen sein musste? Vielleicht versuchte Mimi auch nur zwanghaft optimistisch zu sein. Oder sie sprach einfach laut aus, was immer ihr gerade durch den Kopf ging. „Sag mal, warum bist du eigentlich auf die Hope‘s Peak gekommen?“

„Was meinst du damit, warum?“, fragte sie. „Weil man danach gute Zukunftsaussichten hat, natürlich.“

„Schon klar, aber was ist dein Talent? Oder bist du auch so eine Reserve-Schülerin?“ Er hatte aufgeschnappt, wie Miyako und Iori darüber geredet hatten. Offenbar waren sie beide nicht wegen irgendwelcher Talente rekrutiert worden, sondern hatten es in den Reservekurs geschafft – was immer das genau war. Es klang irgendwie nach einer Möglichkeit für Normalsterbliche, auch auf die Akademie zu kommen.

Mimi dürfte ebenfalls so weit darüber informiert sein, denn sie zog eine Schnute. „Klar hab ich ein Talent. Stell dir vor, ich hab sogar eine ganze Menge Talente.“

„Ultimative Meckertante vielleicht?“, fragte er, als er sich daran erinnerte, dass sie sich bei jeder Gelegenheit über die Umstände beschwerte.

„Sehr witzig. Versuch’s weiter.“

„Hm.“ Er verengte die Augen zu Schlitzen. „Ultimatives Model?“

Sie starrte ihn an. „War das gerade ein Kompliment oder ein Anmachspruch?“

„Was? Äh, gute Frage.“ Eigentlich weder noch. Er hatte einfach nur ausgesprochen, was er sich gedacht hatte. Verlegen kratzte er sich am Kopf. „Ultimative Bescheidenheit ist es mal sicher nicht“, versuchte er das Thema zu wechseln.

„Ich kann mir auch ein paar Sachen ausmalen, die du eindeutig nicht kannst“, meinte sie spitz.

„Dann sag schon, weswegen haben sie dich ausgewählt?“

Sie zögerte. „Ehrlichkeit“, murmelte sie dann.

„Was?“

„Ehrlichkeit! Hast du was an den Ohren?“

„Ist das denn ein Talent?“

„Offenbar, ja. Keine Ahnung, vielleicht ist es ein Fehler. Oder die haben ein Rad ab. Als sie mich aufgenommen haben, hab ich nicht weiter nachgefragt. Was ist mit dir?“

„Ultimativer Mut“, meinte er und lächelte schief. „Ziemlich cool, oder?“

„Ziemlich nutzlos“, gab sie zurück.

„Besser als Ehrlichkeit“, gab er zurück. „Echt, sieht irgendwie so aus, als wüssten die keine richtigen Talente mehr, die sie verfolgen sollten.“

Mimi zuckte mit den Schultern. Eine kurze, peinliche Weile schwiegen sie. „Hör mal, willst du ein wenig die Zeit totschlagen?“, schlug Taichi dann vor. „Ich hab in einem der Lagerschuppen Kartenspiele gefunden.“

„Du willst spielen? In so einer Situation?“

Er zuckte die Achseln. „Die Situation wird auch nicht toller, wenn wir uns langweilen und gar keinen Spaß haben.“

Mimi sah ihn einen Moment zweifelnd an, ehe er spürte, wie etwas hinter ihrer Stirn umschaltete. „Naja, warum auch nicht?“

 

Der nächte Morgen war bewölkt und es herrschte Kopfwehwetter, aber er war eindeutig fröhlicher als die beiden vorherigen. Wieder trafen sich alle an der Banketttafel und frühstückten gemeinsam, und diesmal wurde sogar geplaudert.

Die lockere Stimmung hielt genau so lange an, bis Monokuma auftauchte.

Er sprang unvermittelt auf die Festtafel – nicht der Riesenbär, als der er sich zuletzt präsentiert hatte, sondern wieder als kleines Plüschtier. „Guten Morgen, Schüler!“

Taichi stöhnte auf. „Was willst du denn?“

„Puhuhuhu, nicht gleich so ruppig. Ich bringe euch gute Neuigkeiten.“

„Wie gut können die schon sein?“, fragte Yamato. Wenn es um Monokuma ging, schienen er und Taichi, die sonst wie Sonne und Mond waren, ganz einer Meinung.

„Es hat ja jetzt bald zwei Tage lang keinen Mord gegeben, da dachte ich, ein wenig Abwechslung würde euch allen gut tun“, sagte der schwarzweiße Bär. „Weil ihr alle so eine gute Führung gezeigt habt und es immerhin schon einen Mord gegeben hat, dachte ich, ich belohne euch ein bisschen. Da das hier eine Schulexkursion ist, muss euch euer Lehrer schließlich auch irgendwann erlauben, zuhause anzurufen.“

„Ist das wahr?“ Jou war aufgesprungen. „Du lässt uns telefonieren?“

„Aber ja, aber ja“, versprach Monokuma. „Koushiro hat doch eine Karte von der Insel, wenn ich mich nicht irre. Wir werden einen kleinen Wandertag zum Strand einlegen. Ich zeige ihn euch auf der Karte. Dort habe ich ein paar Telefonzellen aufgebaut.“

Dieser Ankündigung folgten gemischte Gefühle. Die meisten waren sich einig, dass an diesem verlockenden Versprechen etwas faul war. Schon die Tatsache, dass Monokuma Telefonzellen installiert haben sollte, war verdächtig – warum Telefonzellen und kein Satellitentelefon oder etwas anderes, womit sie von einer einsamen Insel aus ihre Eltern anrufen konnten?

Die andere Fraktion beharrte darauf, die Außenwelt zu kontaktieren. Und es schien auch ein sinnvoller Schritt: Sie wurden mittlerweile sicher schon vermisst. Wenn sie Bescheid geben konnten, dass sie entführt und auf einer Insel gestrandet waren, könnten ihre Eltern die Polizei einschalten und ihre Schritte nachverfolgen. Dann würde man vielleicht ausforschen, wer hinter der Sache steckte und wohin man sie verschleppt hatte.

Nur warum sollte Monokuma ihnen diese Möglichkeit überhaupt bieten? Der intellektuelle Teil der Gruppe fand das merkwürdiger als alles andere, doch die Hoffnung, endlich jemanden zu erreichen, der ihnen helfen konnte, gewann schließlich die Oberhand.

 

Es war früher Nachmittag, als sie den Strand erreichten. Erst hatten sie den Weg eher vorsichtig zurückgelegt, da sie ein Attentat von Monokuma erwarteten, aber da nichts geschah, wurden sie bald leichtsinniger. Und wenn man es genau nahm, hatte Monokuma nie direkt etwas gegen sie unternommen … Er hatte immer nur gewollt, dass sie sich gegenseitig umbrachten.

Jou konnte aber nicht behaupten, dass ihn der Gedanke sonderlich beruhigte.

Die Telefonzellen waren tatsächlich in einer Linie auf einem herrlichen Sandstrand aufgestellt. Es war das erste Mal, dass sie das Meer sahen. Es gab elf der Kästen, genau so viele, wie sie waren – ein Zufall? Monokuma wartete davor und winkte ihnen zu. Jou hatte es aufgegeben zu überlegen, wohin der Bär immer verschwand und wie er so schnell wieder an anderen Orten auftauchen konnte.

„Willkommen, Schülergruppe“, begrüßte er sie. „Seht ihr? Ich habe die Wahrheit gesagt.“

„Und die alten Dinger funktionieren?“, fragte Taichi wenig überzeugt.

„Ich habe sie so modifiziert, dass man damit Tokio erreichen kann“, erklärte Monokuma stolz. Früher haben sie nur generelle Informationen und Wettervorhersagen überbracht. Was bin ich doch schlau, nicht?“

Nicht“, betonte Yamato. „Ich kann’s irgendwie nicht glauben, dass du uns einfach so unsere Eltern anrufen lässt. Die Sache stinkt.“

„Puhuhu.“ Monokumas Kichern hatte etwas Unheilvolles. „Natürlich dürft ihr nicht einfach irgendwen anrufen. Ich als euer Schulleiter muss schließlich dafür sorgen, dass alles im Bereich des Ordentlichen bleibt.“

„Ich wusste, dass ein Haken dran ist“, sagte Daisuke düster.

„Ihr dürft als Schüler natürlich in eurer Heimat anrufen, aber ich will euch ja zur Selbstständigkeit erziehen. Darum will ich nicht, dass ihr eure Erziehungsberechtigten anruft, sondern andere Leute in Tokio. Ich habe die Leitungen fix verlegt, jede Telefonzelle verbindet genau zu einem Telefon in eurer Heimat. Und natürlich ist es genau vorgeschrieben, wer von euch welche Telefonzelle betreten darf.“

„Mit anderen Worten, du bestimmst, wen wir anrufen dürfen“, knurrte Yamato. „Na toll.“

„Glaubt ihr denn, der Lehrer hätte auf einem Schulausflug weniger Autorität als in einem Klassenzimmer?“, kicherte Monokuma. „Das ist ein Missverständnis, dem sich allzu viele Schüler jährlich hingeben. Nur weil wir abseits der Schulmauern sind, habt ihr keine Freikarte zur Zügellosigkeit.“

„Was ist denn Zügelloses daran, wenn man nur seine Eltern anrufen will?“, seufzte Jou, doch er stieß auf taube Ohren.

„Noch etwas“, sagte Monokuma, als sie sich den Telefonzellen näherten. „Ich werde streng darauf achten, dass ihr die Regeln nicht brecht. Wer in die falsche Telefonzelle geht, wird von Shellmon bestraft.“

„Shellmon?“, fragten sie wie aus einem Munde, und wie aufs Stichwort begann die Erde zu beben. Etwas bohrte sich mit einem Kreischen aus dem Sand hervor – ein riesiges Meeresschneckenhaus, so groß wie ein Kleinbus. Den Freunden blieb entweder die Luft weg oder sie stießen sie in einem Schrei aus. Aus dem Schneckenhaus kroch ein rosafarbenes, schleimig wirkendes Etwas mit einem großen Maul und dicken Pranken. Jou glaubte, im falschen Film zu sein.

„Ist das … Ist das eines dieser Digimon, von denen Ken geredet hat?“, platzte Koushiro heraus. Jou fiel der schwarze Ring auf, den das Wesen um die Kehle trug, und fühlte sich an Andromon erinnert … Aber während das noch ein Roboter und somit einigermaßen realistisch gewesen war, überstieg dieses Wesen hier seinen Horizont.

„Puhuhuhu“, machte Monokuma. „Ja, das ist ein Digimon, und es ist ein folgsames Helferlein von mir. Seid also genauso folgsam, wenn ihr nicht ein unschönes Ende finden wollt. Ich beobachte euch.“

Sprach er, und verschwand hinter einer Sanddüne. Shellmon fixierte die Menschen wachsam, rührte sich ansonsten aber nicht. Taichi war der Erste, der die Telefonzellen inspizierte. In den Rahmen einer jeden war der Namen desjenigen eingeritzt, der sie betreten durfte.

Jou wagte es zuerst gar nicht, tatsächlich zu telefonieren. Auch dabei war Taichi der Erste. Sie hörten nicht, was er sprach, da er die Tür hinter sich schloss, aber es dauerte nicht lange. Als er auf den Strand trat, wirkte er irgendwie … verstört.

„Und?“, wollte Yamato wissen.

„Alles Schwachsinn“, brummte Taichi. „Monokuma ist ein Arsch. Ich hab … um Hilfe gerufen, aber ich glaube nicht, dass die verstanden haben, was ich will.“

„Wen konntest du denn anrufen?“, fragte Mimi.

„Keine Ahnung, wer das war.“

„Dann eben ungefähr! Hat es wirklich nach Tokio verbunden? War es ein Mann oder eine Frau? Hast du irgendeinen Dialekt gehört? Wonach hat sich …“

„Verdammt, ruf doch selbst wen an, wenn du’s unbedingt wissen willst!“, fuhr er sie an und Mimi zuckte zusammen.

„Das war jetzt unnötig“, befand Yamato.

„Ach, lasst mich doch in Ruhe!“

Nach dieser Eröffnung fiel es Jou noch schwerer, seine Telefonzelle aufzusuchen. Auch die anderen zögerten, aber wieder triumphierten irgendwann Hoffnung und Neugier. Als er selbst die alte Box betrat, sah er einen kleinen Zettel auf dem Telefon kleben.

Regeln für die Benutzung der Telefonzelle, stand da.

1) Schließe die Tür, bevor du telefonierst.

2) Jeder Schüler kann nur eine bestimmte Person anrufen. Diese Person ist vorbestimmt. Damit die Schüler zur Selbstständigkeit erzogen werden, hat der Schulleiter sichergestellt, dass es sich dabei nicht um einen Erziehungsberechtigten, Freund, Bruder oder eine Schwester des Schülers handelt.

3) Über den Inhalt des Gesprächs ist Stillschweigen zu bewahren.

4) Der Schüler darf nach dem Gespräch nichts über seinen Gesprächspartner preisgeben.

5) Bei Nichteinhalten einer dieser Regeln droht eine schwere Strafe.

Daher wehte also der Wind. Taichi hatte auch so einen Zettel gefunden. Es war ihm nicht erlaubt gewesen, etwas von dem Gespräch zu erzählen … Die Sache wurde immer suspekter.

Jou war jemand, der sich gern an Regeln hielt. Aber diese Regeln, die so vollkommen willkürlich und boshaft waren, störten ihn ungemein. Vielleicht nahm er deswegen nun doch den Hörer ab und lauschte, während automatisch die Verbindung aufgebaut wurde. Das flaue Gefühl in seinem Magen steigerte sich bis ins Unerträgliche, ehe jemand abhob.

„Hallo?“, fragte eine weibliche Stimme.

„Äh, ja … hallo“, brachte Jou mit einiger Verspätung über die Lippen. Sein Herz pochte wie wild. Immerhin in einem schien Monokuma die Wahrheit gesagt zu haben: Sie konnten tatsächlich andere Menschen anrufen. „Hier ist Jou Kido von der … äh … Hope’s Peak-Akademie … Ich bin hier … Das heißt …“

„Hallo?“, unterbrach die Frau ihn.

Ihm brach der Schweiß aus. „Ähm … hallo?“

„Hallo? Hören Sie mich? Wer ist da?“

Er hätte am liebsten aufgeheult. Sie durften offenbar jemanden anrufen, aber diejenigen konnten sie nicht hören! Seufzend wollte er schon wieder auflegen, als die Frau ihn mit bebender Stimme fragte: „Sind Sie … auf der File-Insel? Bitte … wissen Sie, wo ich festgehalten werde? Sie wissen es doch, oder?“

Jou erstarrte wie vom Blitz getroffen. Obwohl ihm klar war, dass sie ihn nicht hören konnte, sprudelten die Worte aus seinem Mund. „Was meinen Sie? Wer sind Sie? Ja, ich bin auf der File-Insel, mein Name ist Jou Kido, und wir wurden entführt! Sind Sie auch hier? Sind Sie auch entführt worden?“

Ein ersticktes Schluchzen ertönte. Jou bekam eine Gänsehaut. „Bitte … wenn Sie wissen, was hier vorgeht, kommen Sie und retten Sie mich! Ich werde bedroht, ich darf Ihnen nur sagen, dass ich Yuuko heiße und … Und Sie sollen herkommen, wenn Sie mich retten wollen … Sie haben bis morgen Abend Zeit …“

„Wohin? Wer bedroht Sie? Was ist überhaupt los?“

„Ich muss auflegen … Ich hoffe, Sie hören mich … Bitte, beeilen Sie sich …“ Sie nannte ihm noch eine Adresse im Tokioter Innenbezirk, dann erstarb die Leitung mit einem Knacken.

Minutenlang stand Jou mit dem Hörer in der Hand in der Telefonzelle. Als er endlich wieder auf den Strand trat, bewegte er sich wie ein Roboter. Er war der Letzte, der fertig war – und die anderen waren ebenfalls äußerst still. Jou machte den Mund auf, erinnerte sich dann aber daran, dass er schweigen musste.

Was war das wieder für eine Teufelei, die Monokuma sich ausgedacht hatte?

Jener erwartete sie auf der Klippe, die den Strand eingrenzte. „So, da ihr nun sicher alle erleichtert seid, weil ihr die Gewissheit habt, dass es in der Zwischenzeit keine Zombieapokalypse gab und ihr die letzten lebenden Menschen seid, wird es Zeit zurückzugehen. Passt auf, wohin ihr eure Füße setzt. Bis ihr wieder in der Spielzeugstadt seid, ist es dunkel.“

Ausnahmsweise erwiderte keiner etwas auf die absurden Worte ihres absurden Schulleiters. Schweigsam trotteten sie los.

 

Der Rückweg war deprimierend. Sie kamen tatsächlich erst lange nach Einbruch der Nacht in der Spielzeugstadt an und verzichten sogar auf ein gemeinsames Abendessen. Stattdessen plünderte jeder von ihnen für sich die Speisekammer und verzog sich in sein Haus. Hikari hatte Lust, bei Taichi zu klingeln. Sie wusste, dass in jedem der Häuser nur genau ein Bett stand, aber im Moment fühlte sich die Erinnerung an die Tage, an denen sie nach einem Albtraum noch zu ihm unter die Decke gekrochen war, warm und angenehm an.

Letzten Endes erstickte dieses Vorhaben an der allgemeinen Schweigsamkeit. So schloss sie sich in ihr Haus ein, aß ein paar langsam schrumpelig werdende Äpfel als Abendessen und legte sich schlafen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken um diesen Mann, den sie an der Strippe gehabt hatte. Er hatte sie angefleht, ihm zu helfen – in Tokio, innerhalb des nächsten Tages. Was nichts anderes bedeutete, als dass sie jemanden ihrer Kameraden töten müsste, um von hier wegzukommen … falls Monokuma sie dann wirklich wegließ.

Sie schüttelte den Kopf und zog sich die Decke bis zur Nasenspitze. Allein diese Überlegung war verrückt. Sie würde keinen Mord begehen, schon gar nicht für einen Fremden, den sie nur übers Telefon gehört hatte und von dem sie nicht einmal wusste, ob er wirklich in Gefahr war. Zweifellos war es das, was Monokuma wollte. Ein Motiv für einen neuerlichen Mord schaffen.

Sie schnaubte. Als ob irgendjemand von ihnen so dumm wäre, anzubeißen.

Am nächsten Morgen war sie früh wach, aber obwohl die Sonne durch das Fenster schien, hatte sie keine Lust aufzustehen. So blieb sie im Bett liegen, während die finsteren Gedanken von gestern sie wieder einholten und in ihrem Gehirn herumtosten wie eine Horde gemeiner Kobolde.

Als die Stimme laut und klar von draußen ertönte, zuckte sie zusammen. Es war Monokuma, und es hörte sich an, als würde er durch ein Megaphon vom höchsten Turm der Spielzeugstadt brüllen. Und was er brüllte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

„Eine Leiche wurde gefunden. Nach einer gewissen Zeit werden wir den Klassenprozess abhalten. Ich wünsche frohes Ermitteln.“

„Nein“, keuchte Hikari. „Neinneinneinneinnein!“ Sie schwang die Beine aus dem Bett und war so schnell bei der Tür, dass ein plötzliches Schwindelgefühl sie beinahe wieder umwarf. Sie erinnerte sich gerade noch daran, sich etwas anzuziehen, und hüpfte schließlich auf einem Bein aus dem Haus, während sie noch in ihre Hose schlüpfte. Ihre Schuhe ließ sie stehen.

Sie musste nicht lange suchen. Zwei Häuser weiter sah sie die anderen. Taichi war noch in Unterwäsche, sein Haar zerzauster als üblich. Mimi war weiß wie die sprichwörtliche Wand. Miyako hatte ihre Brille in der Eile nicht aufgesetzt und Iori war barfuß unterwegs … Und dann kam die Leiche in Sicht, von der Monokuma gesprochen hatte.

Hikari schlug die Hände vors Gesicht. Das Opfer lag auf dem Bauch, und im ersten Moment erkannte sie nur einen blonden Haarschopf dort auf den Pflastersteinen. Ihr Herz drosch wie verrückt gegen ihren Brustbkorb, als ihr der Gedanke kam, dass es Takeru sein könnte, der dort lag … Als sie sah, dass er es nicht war, fühlte sie einen Hauch von Erleichterung und schämte sich sofort dafür.

„Scheiße!“, jaulte eben Taichi auf. „Wer macht so was?“

Nach und nach kamen auch die anderen hinzu. Hikari konnte nicht sagen, ob sie mittlerweile vollzählig waren. Sie konnte ihren Blick nicht von Yamato loseisen, der leblos dort auf der Straße lag.

Fall 02: Tödliches Leben – Mit Messern spielt man nicht

Nach und nach versammelten sie sich alle um die Leiche. Obwohl er ihn eigentlich nicht hatte riechen können, ging Taichi so weit, dass er Yamato herumdrehte, nach einem Puls tastete und nach einem Atem lauschte. Hikaris Intuition sagte ihr sofort, dass es sinnlos war. Monokuma hatte seinen Tod bereits verkündet. Es gab wohl keinen Weg, wieder Leben in seinen Körper zu atmen.

Dafür sah sie nun etwas anderes. Eine Wunde in Yamatos Hüfte. Sein Hemd hatte sich ringsum mit Blut vollgesogen. Hikari nagte an ihrer Unterlippe. Es sah schrecklich aus, aber … konnte man an so etwas wirklich sterben?

Das allgemeine verzweifelte und jammernde Rufen um Yamatos Leichnam erstarb nach und nach. Als Hikari merkte, dass sie weinte, wischte sie resolut die Tränen aus ihren Augen. Sie erinnerte sich an Sora und an Ken, der gewissenlos bis zu seiner Hinrichtung gewesen war. Und sie erinnerte sich daran, wie apathisch sie bei jenem letzten Mord gewesen und dass sie deswegen auch verdächtigt worden war.

Sie würde nicht wieder zu verschreckt sein und die anderen die ganze Denkarbeit machen lassen. Sie hatte Yamato gemocht – seine ruhige, besonnene Art, und auch wenn er und Taichi oft aneinander geraten waren, war er doch ein guter Kerl gewesen. Sie schwor sich, dass sie dieses Mal alles daran setzen würde, den Mörder seiner gerechten Strafe zukommen zu lassen.

„Koushiro“, murmelte Iori, „hol bitte deinen Laptop. Es ist sicher gut, wenn wir wieder alles festhalten, das uns auffällt.“

Normalerweise hätte diese nüchterne Aussage zumindest einen Streit mit Taichi oder Daisuke vom Zaun gebrochen, doch diese beiden wirkten diesmal völlig entkräftet. Koushiro tat, wie ihm geheißen, und kam bald darauf mit seinem Notebook zurück.

„Musst du den nie aufladen?“, fragte Wallace.

„Ich hatte ihn in meinem Haus angesteckt. Ich habe so etwas Ähnliches wie eine Steckdose gefunden“, erklärte Koushiro knapp und legte eine neue Datei an.

„Das Monokuma-File“, sagte Hikari plötzlich, als ihr der Ablauf vom letzten Mal einfiel. Sie tastete ihre Taschen ab. „Hat jemand von euch sein DigiVice dabei?“ Ihres lag noch auf ihrem Nachtkästchen.

„Du bist ja so voller Tatendrang“, merkte Wallace an. „Ganz anders als beim letzten Mal.“

Hikari wollte gerade entgegnen, dass es ihr fast das Herz zerriss und dass ein ziehendes Gefühl in ihrem Hals sie beinahe zum Losheulen brachte, als Daisuke sagte: „Und du bist wie immer ziemlich gut drauf, Wallace.“

Wallace zuckte mit den Schultern. „Man tut, was man kann, um hier nicht verrückt zu werden.“

„Dann verrat mir, wie man das anstellen soll?“ Miyako raufte sich stöhnend die Haare, die noch unordentlich vom Schlafen waren. „Ich dreh hier noch durch!“

„Ich dachte nicht, dass so etwas nochmal passiert“, flüsterte Mimi. „Das ist so schrecklich, ich …“ Sie warf sich Taichi in die Arme, der sie verdutzt festhielt, ehe er sie fest an sich drückte. „Wir werden hier alle noch verzweifeln, wenn das so weiter geht“, sagte er rau.

Hikari seufzte schwer. Verzweiflung, ja. Wahrscheinlich war es genau das, worauf Monokuma abzielte. Sie brachten einander um, verdächtigten einander, prangerten einander an und sahen dann zu, wie sie hingerichtet wurden. Es war furchtbar. Ihr Blick traf Takeru, der noch verschlafen in die Runde blickte, als bekäme er gar nichts von dem mit, was um ihn herum geschah. Hikari wünschte sich plötzlich, dass auch er sie in den Arm nahm … obwohl sie irgendwie das Gefühl hatte, dass eigentlich sie ihn halten müsste. „Denkst du, wir schaffen es, dass wir die Hoffnung nicht verlieren, Takeru?“, fragte sie leise. Er schwieg.

„Es ist tatsächlich schon überspielt“, berichtete Iori, der sein DigiVice gezückt hatte. „Hier.“

Koushiro tippte den Bericht des Files ab.

x Monokuma-File #2: Der Tote ist Yamato Ishida. Er wurde am Morgen in der Spielzeugstadt auf der Straße vor Mimis Haus gefunden. Der Todeszeitpunkt ist halb fünf Uhr morgens.

„Das war’s?“, fragte Wallace stirnrunzelnd. „Keine Todesursache? Bei Sora stand das auch dabei.“

„Jetzt, wo du es sagst … Das ist schon merkwürdig“, murmelte Koushiro.

„Ich bewundere euch gerade echt“, brummte Daisuke.

„Wieso?“

„Ihr könnt immer noch einen kühlen Kopf bewahren. Ich fühle mich, als würde mich irgendwas verbrennen. Als ob mein Kopf bald zu rauchen anfangen würde …“, sagte er tonlos. Es war eine erstaunlich reflektierte Beobachtung von ihm – wohl ein Zeichen dafür, wie geschockt er war.

„Ein kühler Kopf ist leider nichts, worauf man in so einem Fall stolz sein sollte“, sagte Iori, aber er klang fast sanft, bedachte man, dass er oft Zwist mit Daisuke gehabt hatte.

Koushiro räusperte sich. „Wer … wer hat ihn überhaupt entdeckt?“

Jou und Iori meldeten sich. Die beiden waren die Ersten auf den Beinen gewesen. Sie hatten sofort Alarm geschlagen und an der nächstbesten Tür gepocht – Mimis, denn Yamato lag fast auf den Stufen, die zu ihrer Haustür hochführten. Sie hatte die Tür aufgerissen und Matt ebenfalls erblickt, dann war Monokumas Verkündigung ertönt. Daraufhin war als Nächstes Miyako angestürmt gekommen, danach Hikari. Schließlich hatten sich auch alle anderen um die Fundstelle geschart.

x Zeugenaussagen: Jou und Iori haben die Leiche entdeckt. Als Drittes hat sie Mimi gesehen.

„Was haltet ihr von der Wunde?“, fragte Wallace.

Jou ging mit sichtlichem Widerstreben neben Yamatos Leiche in die Knie. „Ich bin zwar kein Experte“, begann er vorsichtig, „aber es sieht aus wie eine Stichwunde. Möglicherweise war es ein Messer.“

Daisuke zuckte zusammen. „Ein Messer? Heißt das nicht … Du hast doch eines aus der Fabrik mitgenommen, oder?“, fragte er Wallace misstrauisch.

„Es war ein anderes“, erwiderte der Amerikaner. „Hier.“ Er fischte sein Messer aus seinem Gürtel. Die Klinge war gezackt, genau wie Hikari sie in Erinnerung hatte. „Vergleich es mal mit der Wunde, Mister Pathologe.“ Er reichte es Jou, der darüber äußerst unglücklich schien.

„Ich … ich kenne mich leider nicht gut genug mit Messerwunden aus“, gab er zu.

„Es kann auch ein ganz normales Küchenmesser gewesen sein“, sagte Taichi mit grimmiger Miene. „Jedes der Häuser hat eine kleine Küche mit Einrichtung.“

Hikari sah aus den Augenwinkeln, dass Mimi sich immer noch an ihren Bruder klammerte und er keine Anstalten machte, näher an Yamato heranzutreten. So ging sie selbst einen Schritt auf die Leiche zu. Der Anblick war nicht halb so schrecklich wie der von Sora, dennoch war sie froh, dass sie noch nichts gegessen hatte. „Kann so eine Wunde überhaupt tödlich sein?“, fasste sie ihren Gedanken von vorhin in Worte.

„Es sieht wirklich nicht aus, als wäre viel Blut geflossen“, stellte Wallace fest.

Jou rückte seine Brille zurecht. „Ich bin nicht sicher … aber ich glaube es fast nicht. An der Stelle ist kein lebenswichtiges Organ, und die Wunde sieht auch nicht sonderlich tief aus.“ Hikaris Blick glitt weiter. Als Nächstes deutete sie auf Yamatos rechte Hand. Die Handfläche war tiefrot mit Blut beschmiert – vermutlich mit seinem eigenen, weil er die Hand auf die Wunde gepresst hatte. Koushiro hämmerte bereits wieder in die Tasten.

„Wir sollten vielleicht auch sein Haus unter die Lupe nehmen“, meinte Taichi mit gebrochener Stimme. Langsam fiel es auf, dass er nicht bereit schien, Mimi loszulassen, aber niemand sagte etwas deswegen. „Vielleicht finden wir einen Hinweis. Das hier ist doch eher dürftig.“

„Was ist mit Privatsphäre?“, wagte Jou einzuwenden.

„Scheiß drauf“, knurrte Taichi. „Yamato hätte gewollt, dass wir den Arsch entlarven, der ihm so was angetan hat. Außerdem wohnen wir ja nicht wirklich hier.“

Als sie sich auf den Weg zu Yamatos Haus machten, das am anderen Ende des Platzes lag, schloss Hikari zu Takeru auf. „Alles okay?“, flüsterte sie ihm zu.

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn überrascht. „Was? Äh, ja, klar. Wieso?“

„Ich dachte nur, dass es dir sicher … sehr nahe geht“, murmelte sie. „Du hast dich ja ziemlich gut mit Yamato verstanden.“ Sie wollte nicht genauer nachfragen, wie ihre Beziehung zueinander gewesen war. Sie hatte einen Verdacht, aber davon zu sprechen, riss sicher eine Wunde in Takerus Herzen auf. Im Moment sah es aus, als versuchte der Junge, alles, was um ihn herum geschah, auszublenden.

„Ist alles bestens“, behauptete er.

„Wenn du reden willst … Also, ich hör dir gern zu“, sagte sie leise.

Er lächelte zurückhaltend. „Danke. Ich komm vielleicht drauf zurück. Aber erst müssen wir den Mord aufklären.“

Hikari blinzelte verwirrt. Irgendwie überraschte sie diese Reaktion … Takeru wirkte nicht, als ob er Yamatos Tod sonderlich bedauerte.

Im nächsten Moment schalt sie sich für ihre Naivität. Es war einfach noch nicht der richtige Augenblick, so ein Angebot an ihn heranzutragen. Wahrscheinlich versuchte er gerade nach Kräften, die Realität zu leugnen, in der eine Person gestorben war, die ihm zweifellos nahe gestanden hatte.

Sie erreichten das Haus und stellten fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Koushiro notierte sich sogar diesen Umstand. Ein Stück weit konnte Hikari nachvollziehen, dass er das für einen Hinweis hielt: Yamato war zwar stets cool und lässig, aber garantiert nicht unvorsichtig gewesen. Hikari schluckte, als der Gedanke ihr abermals die Kehle zuschnürte. Würde sie sich irgendwann daran gewöhnen, dass sie von ihren Freunden als tot denken musste? Wollte sie das überhaupt?

Yamatos Zimmer war auf den ersten Blick penibel aufgeräumt, aber man sah bald, dass die Ordnung ziemlich gezwungen wirkte. Das Bett war nicht ganz mustergültig gemacht, der Stuhl stand mit der Sitzfläche unter den Schreibtisch geschoben, aber ein wenig schief da. Die Reste eines Abendessens lagen im Mülleimer, in der Spüle standen Teller, auf denen noch ein paar Krümel klebten. All diese Kleinigkeiten konnten wenig bis viel bedeuten. Auf Hikari machte die Wohnung irgendwie einen nervösen Eindruck.

Das Stück Papier war nicht zu übersehen. Es lag zusammengeknüllt auf dem Schreibtisch, nicht etwa im Papierkorb daneben. Die Freunde nickten einander zu, dann entfaltete Taichi es. „Eine Nachricht“, murmelte er und betrachtete das Schriftstück. Es handelte sich um eine der roten Papierservietten, die in jedem der Häuser zu finden waren. Während er las, wurde seine Miene hart. Schließlich knallte er die Serviette zurück auf den Schreibtisch und ließ die anderen die kunstvolle Schrift selbst entziffern. Sie hob sich nur undeutlich von dem roten Hintergrund mit den bunten Spielzeugmotiven ab.

Ich muss dich dringend sprechen. Es geht vielleicht um Leben und Tod. Komm bitte vor Sonnenaufgang in mein Haus. -Mimi.

Mimis Mund klappte auf. „Das ist … Ich habe das nie geschrieben!“, rief sie aus. Ihr Blick glitt zu Taichi. „Da … da versucht mir jemand was unterzuschieben!“

Taichi schwieg, die Augen ausdruckslos, aber als sie näher treten wollte, versteifte er sich. Entsetzt ließ sie von ihm ab.

„Wir sollten noch keine voreiligen Schlüsse ziehen“, erklärte Wallace, lächelnd wie immer. „Das letzte Mal standen die Zeichen dafür, dass Hikari die Täterin war. Und das war ein Missverständnis.“

„Aber wer sollte Yamato vor Sonnenaufgang außer Haus locken wollen, wenn nicht der Mörder?“, fragte Jou.

„Genau das ist es“, sagte Iori. „Der Mörder hat ihn herausgelockt. Aber er wäre doch kaum so dumm, seinen richtigen Namen preiszugeben.“

Da war etwas dran. Hikari atmete erleichtert auf. Sie hätte es nicht ertragen, wenn Mimi die Schuldige wäre – aus verschiedenen Gründen.

„Trotzdem haben wir Yamato direkt vor Mimis Haus vorgefunden“, überlegte Koushiro, der sich wieder Notizen machte. „Der Mörder muss ihn auf offener Straße angegriffen haben, nachdem er zu Mimis Haus gegangen ist.“

„Leute!“

Miyako kam außer Atem angerannt. Hikari hatte gar nicht gemerkt, dass sie abgängig war.

„Wo warst du?“, fragte Daisuke scharf.

„Im … im Lagerhaus“, erklärte sie kurzatmig. „Ihr müsst mit mir mitkommen!“

„Was wolltest du dort?“, fragte Taichi grimmig. „Einzelgängerisch rumzulaufen macht uns verdächtig, das ist dir doch klar, oder?“

„Naja, mir ist da plötzlich so ein Verdacht gekommen …“, erklärte sie vage. „Da bin ich direkt losgelaufen – tut mir leid!“

Hikari kam das wie eine Ausrede vor, andererseits war es genau das, was Miyako tun würde.

„Jetzt kommt schon“, drängelte sie.

„Was gibt es denn so Wichtiges?“, fragte Iori irritiert. „Wir sind gerade dabei, Yamatos Haus zu durchsuchen.“

„Ich habe rausgefunden, was die eigentliche Mordwaffe war!“

 

Auf diese Ankündigung hin liefen sie alle zu Monokumas Lagerschuppen – dorthin, wo sie gestern Abend noch jeder ihr Essen geholt hatten. Miyako führte sie bis ganz zur linken Seite des Regals.

„Seht ihr?“ Miyako klopfte mit den Knöcheln gegen den Glasbehälter mit Monokumas Spezial-Gift, der im hinteren Bereich des Lagers neben der Obststeige mit den Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilzen stand. „Da fehlt was. Jemand hat Gift abgezapft!“

„Scheiße“, entfuhr es Taichi. „Also hat der Mörder Yamato … vergiftet?“

„Das würde erklären, warum diese Wunde ausgereicht hat“, überlegte Koushiro. „Das Gift war sicher auf dem Messer.“

„Also Gift, hm“, murmelte Iori. Koushiro fügte seiner Liste zwei neue Punkte über das Gift und das Lagerhaus im Allgemeinen hinzu.

„Und das Gift wirkt binnen fünf Minuten tödlich“, las Hikari die Beschriftung auf dem Behälter vor. „Es hat gereicht, dass Yamato nur von dem Messer verletzt worden ist. Das Gift hat ihn dann umgebracht.“

„Und Monokuma wollte, dass wir das mit dem Gift selbst rausfinden“, meinte Wallace. „Deshalb hat er uns die Todesursache vorenthalten.“

Sie verließen das Lagerhaus und beschlossen, in kleinen Gruppen die Umgebung nach weiteren Hinweisen abzusuchen. Iori bestand hartnäckig darauf, dass man Mimis Haus durchsuchte, was sie vehement verweigerte, aber schließlich erklärte sich Taichi dazu bereit, dort nach dem Rechten zu sehen. Er machte klar, dass niemand ihnen zu folgen hatte, also gesellte sich Hikari zu Takeru.

Als sie über den Platz marschierten, schoss dieser unwohle Blicke in alle Richtungen ab, als erwartete er hinter jeder Ecke einen Feind.

„Tut mir wirklich leid“, sagte Hikari leise.

„Wieso? Hast du ihn umgebracht?“

„Was? Nein, ich meine nur …“ Warum war er nur so merkwürdig ihr gegenüber? Hatte sie etwas falsch gemacht? Verdächtigte er am Ende sie? Den Gedanken konnte sie nicht ertragen.

Takeru fasste in seine Hosentasche und zog ein zerknülltes Blatt Papier hervor. Sie bemerkte es nur beiläufig, da sie eben die Festtafel untersuchte. Er faltete es auseinander, las sich stirnrunzelnd den Inhalt durch und steckte es wieder weg. Dann schüttelte er den Kopf, als könnte er etwas von dem Geschriebenen nicht verstehen.

„Was war das?“, fragte Hikari, und er zuckte zusammen.

„Äh … nichts Wichtiges“, sagte er.

„Ist es ein Brief von Yamato?“ Sie wusste nicht, wie sie auf den Gedanken kam. „Oder eine Erinnerung an Zuhause?“

Er lächelte schwach. „Nein … eher ein Tagebuch. Oder ein Reisebericht.“

Hikari zog die Augenbrauen hoch. „Ein Reisebericht? Über unseren Aufenthalt auf der Insel hier?“

Takeru nickte.

„Etwa von dir?“

„Ist doch offensichtlich, oder? Ich würde ja wohl kaum einen Bericht von anderen Leuten mit mir herumschleppen.“

Hikari verzog den Mund. Er war eindeutig wegen irgendetwas verstimmt. Gleichzeitig fragte sie sich, warum er überhaupt einen Bericht schrieb. Sicher, man tat so etwas für gewöhnlich bei einem Schulausflug – aber das hier war doch wohl etwas ganz anderes, egal was Monokuma dazu sagen mochte. Oder wollte er am Ende Krimiautor werden und machte sich Notizen zu dieser verqueren Situation?

Andererseits war es sicher keine schlechte Idee, ihre Erlebnisse irgendwo festzuhalten. Seit sie hier waren, wurden sie mit Rätsel um Rätsel konfrontiert. Womöglich hatte Takeru Beobachtungen angestellt, die ihnen noch nutzen konnten.

Die anderen standen in der Nähe von Yamatos Haus. Auf der anderen Seite des Platzes lag seine Leiche. Takeru blieb stehen und sah mit ausdrucksloser Miene in die Richtung. Hikari tat es weh, ihn hier so stehen zu sehen – er wirkte unglaublich allein und verloren. Sie fasste sich ein Herz und griff nach seiner Hand, doch er zuckte zurück, rettete sich in ein verlegenes Lächeln und eilte zu den anderen. Hikari biss die Zähne zusammen. Er vertraute ihr tatsächlich nicht mehr.

„Habt ihr etwas gefunden?“, fragte er ihre Freunde. Etliche von ihnen, denen sein spezielles Verhältnis zu Yamato aufgefallen war, bedachten ihn mit mitleidigen Blicken. Jou sagte: „Das Messer. Es liegt auf der Rückseite von Mimis Haus.“

„Sicher, dass es das richtige Messer ist?“, fragte Hikari.

„Es ist zumindest blutig“, erzählte Wallace. „Interessanterweise nicht nur die Klinge. Auch der Griff ist verschmiert.“

„Der Griff auch? Ich frage mich, was das bedeutet“, grübelte Koushiro.

„Ach ja, und es ist wirklich nur ein gewöhnliches Küchenmesser“, fuhr Wallace fort.

„Es gibt im Lagerhaus übrigens noch ein paar leere Kanister, falls sie euch nicht aufgefallen sind“, erzählte Miyako. „Aber ich glaube, da war ursprünglich Cola drin.“

„Hätte ich dir auch sagen können“, meinte Daisuke. „Ich hab mir auch schon ein paar Flaschen damit aufgefüllt. Und sicher nicht nur ich. Zum Beispiel hab ich gesehen, dass Mimi sich mal welche geholt hat.“

„Mimi also auch, hm …“, machte Koushiro.

Die Flaschen hatten sie wohl aus ihren Häusern. Dort gab es etliche Behältnisse, in denen man etwas zu trinken abfüllen konnte.

„Es gibt noch jemanden, der auf das süße Zeug steht, sehe ich gerade“, grinste Wallace und deutete auf Takerus Hemd. „Du hast dich bekleckert.“

„Wo?“ Takeru versuchte die Flecken zu begutachten, aber sie waren so am Rand seines Kragens, dass er die Augen gar nicht genug verdrehen konnte. Kurzerhand zog er sich sein Hemd über den Kopf, um es zu mustern.

„Hey, mach hier nicht gleich auf Nudist“, sagte Wallace trocken. Hikari wandte beschämt den Blick ab. Takerus nackter Oberkörper war so durchtrainiert, wie man es von einem Sportler erwarten durfte.

Der Junge betrachtete die braunen Flecken und schien über irgendetwas nachzugrübeln. Dann zog er sich das Kleidungsstück wieder an.

„Ob das wirklich Colaflecken sind? Blut wird auch braun, wenn es trocknet“, sagte Daisuke lauernd.

„Was willst du mir damit sagen?“, fragte Takeru.

Daisuke zog kess eine Augenbraue hoch.

„Spiel nicht gleich den Detektiv, Daisuke“, grinste Wallace. „Es weiß doch jeder, dass Takeru ein Rivale für dich ist. Sicher ist das Cola. Als Amerikaner kenne ich mich damit aus.“

„Ach ja? Irgendjemand hat hier aber gesagt, wir müssen allen Hinweisen nachgehen. Vielleicht hat er mit der Cola Blutflecken zu übertünchen versucht!“

„Lass ihn zufrieden, Daisuke. Er hat sich schon vor Tagen bekleckert“, sprang Hikari für Takeru in die Bresche, die sich an den unbeschwerten Moment auf dem Hauptplatz erinnerte. Daisuke zuckte nur brummig die Achseln.

Endlich kamen auch Taichi und Mimi aus deren Haus zurück.

„Und?“, fragte Iori.

Er schüttelte den Kopf. „Mimi hat den Brief sicher nicht geschrieben“, erklärte er.

„Und was macht dich da so sicher?“

„In ihrem Haus ist überhaupt nichts Verdächtiges. Und seht euch mal das hier an.“ Er hielt einen kleinen Zettel in die Höhe.

„Was ist das?“

Hikari sah ein paar Zahlen und die Namen Taichi und Mimi auf dem Schmierzettel. Weitere Wörter, die ins Auge fielen, waren Hypothek und Schulden.

„Was soll das sein?“, fragte Daisuke.

„Der Beweis, dass der Brief nicht von ihr ist. Es ist uns erst wieder eingefallen, als wir im Haus waren.“ Taichi pfefferte den Wisch in die Mitte der Gruppe wie ein Volleyballspieler den Ball beim Smash. „Wir haben vorgestern Nacht Monopoly gespielt. Mimi hat den Punktestand und ein paar Zusatzinformationen aufgeschrieben. Jetzt seht euch mal die Handschrift an und vergleicht sie mit dieser verdammten Serviette.“

Sie steckten die Köpfe zusammen und prüften angestrengt die Handschrift auf der Serviette, die Yamato zu Mimis Haus zitiert hatte, gegen Mimis Schrift auf dem Notizzettel. Auf Letzterem gab es nur wenige Wörter, das meiste waren Zahlen, aber es schien doch ziemlich klar, dass die Handschrift eine andere war.

„Okay, dann sind wir also wieder auf Punkt null“, seufzte Koushiro und brachte seine Beweisliste auf den neuesten Stand.

„Richtig. Und den nächsten, der anfängt, Mimi – oder Hikari – zu verdächtigen, den vermöbel ich eigenhändig.“ Taichi ließ die Knöchel knacken. „Gleich nachdem ich dem Täter den Hals umgedreht habe.“ Es war alles andere als eine leere Drohung. Hikari wusste es, wenn Taichi etwas ernst meinte.

In dem Moment erscholl eine laute Turmglocke, und Monokumas Stimmchen ertönte wieder durch sein Megaphon. „Die Zeit ist um. Schüler, versammelt euch bitte im Rathaus.“

Das war wohl der Aufruf zum nächsten Klassenprozess. In Hikari zog sich alles zusammen, als sie sich daran erinnerte, was beim letzten Mal alles passiert war.

„Also los“, brummte Daisuke. „Bringen wir’s hinter uns.“

„Ich hätte gern noch weiter ermittelt.“ Koushiro verzog das Gesicht.

„Es muss reichen. Monokuma wird uns sicher rösten, wenn wir zu spät kommen“, brummte Taichi. Er stapfte als Erstes los, als könnte er den Mörder durch pure Willenskraft ausfindig machen.

„Sagt mal, glaubt ihr, es hängt mit unseren Telefonaten zusammen?“, fragte Miyako, als sie das hohe Rathaus mit seinen verspielten Türmchen ansteuerten.

„Mit den Telefonaten?“ Hikari hätte sie fast vergessen. Eine Männerstimme hatte sie angefleht, ihr zu helfen, aber was sollte sie schon tun? Sie saß hier fest, und sie hatte auch keine Ahnung, wer dieser Mann namens Hiroaki gewesen war.

„Ich meine, haltet ihr das für einen Zufall? Monokuma will doch, dass wir uns umbringen. Tagelang passiert nichts, dann lässt er uns diese komischen Telefonate machen, und in der folgenden Nacht – zack!“

„Du hast recht, ein Zufall ist das sicher nicht.“ Iori kratzte sich am Kinn. „Aber wir haben doch alle mit Leuten gesprochen, die wir nicht kennen, oder?“

„Pscht!“, zischte Miyako ihn an und hielt ihm den Mund zu. „Du darfst nicht darüber reden, das weißt du genau.“

Verstimmt machte er sich los, bedachte sie und Hikari mit einem bezeichnenden Blick, und folgte den anderen die Treppen zum Rathaustor hoch.

Hikari ließ sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen. Sie hatten allesamt nicht mit ihren Erziehungsberechtigten sprechen dürfen. Auch nicht mit ihren Geschwistern oder Freunden, so hatten die Regeln gelautet. Konnte es dennoch sein, dass der Mörder mit jemandem geredet hatte, den er unbedingt wiedersehen wollte? Hatte er deswegen jemanden umgebracht – damit er hier fortkam und zu dieser Adresse in Tokio fahren konnte?

Taichi stieß die Flügeltür auf, als könnte er es kaum erwarten. Mit klammem Herzen trottete Hikari hintendrein. Koushiro ging neben ihr und gab gar nicht acht, wohin er seine Füße setzte. Sein Blick klebte auf seinem Laptopbildschirm, wo er die Beweismittel durchging. Hikari lugte ihm über die Schulter und überflog die Liste auch noch einmal kurz.

„Das mit den Telefonzellen hast du schon aufgeschrieben?“, stellte sie fest. Unter dem letzten Punkt sah sie sogar ein unscharfes Foto.

Koushiro fuhr hoch, als hätte er nicht erwartet, angesprochen zu werden. „Äh, ja. Weißt du, irgendwie habe ich gestern schon vermutet, dass etwas daran faul ist. Ich habe die Regeln mit meinem Handy abfotografiert.“

Hikari nickte und ging die Liste rasch ein zweites Mal durch, dann hatten auch die letzten ihrer Freunde das Rathaus betreten. Es würde gleich wieder losgehen, sie würden um ihr Leben rätseln – und sie mussten den Schuldigen entlarven, um Yamatos und um ihrer selbst Willen. Diesmal würde Hikari alles geben und auch etwas Nützliches beisteuern, und nicht als unschuldiger Sündenbock in eine Ecke gedrängt werden. Sie überlegte, ob sie Koushiros Liste noch etwas hinzufügen konnte, aber was hätte sie ergänzen können? Dass Takeru einen Reisebericht schrieb? Dass da möglicherweise etwas zwischen Taichi und Mimi lief? Dass Takeru einen atemberaubenden Oberkörper hatte und selbst am kühlen Morgen mit nichts als seinem Hemd herumlief? Oder dass Taichi beim Monopoly eine Niete war? Die anderen würden sie höchstens auslachen, wenn überhaupt. Nein, sie ließ Koushiros Liste am besten, wie sie war – an härtere Fakten würden sie wohl nicht mehr gelangen.

 

x Monokuma-File #2: Der Tote ist Yamato Ishida. Er wurde am Morgen in der Spielzeugstadt auf der Straße vor Mimis Haus gefunden. Der Todeszeitpunkt ist halb fünf Uhr morgens.

x Zeugenaussagen: Jou und Iori haben die Leiche entdeckt. Als Drittes hat sie Mimi gesehen.

x Zustand von Yamatos Leiche: An Yamatos Hüfte befindet sich eine Wunde wie von einem Messerstich. Laut Jou war sie nicht die Todesursache. Außerdem ist seine rechte Handfläche blutbefleckt, ohne dass wir dort eine Wunde sehen konnten.

x Yamatos Haus: Die Tür zu Yamatos Haus war nicht abgeschlossen. Die Wohnung war halb aufgeräumt.

x Nachricht in Yamatos Haus: Auf Yamatos Schreibtisch lag eine zerknüllte Serviette mit der Aufschrift: Ich muss dich dringend sprechen. Es geht vielleicht um Leben und Tod. Komm bitte vor Sonnenaufgang in mein Haus. –Mimi. Wir haben die Handschrift mit der von Mimi verglichen und es sieht nicht so aus, als hätte wirklich sie diese Nachricht geschrieben.

x Lagerhaus: Monokuma hat uns Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt und bei einigen davon Warnhinweise angebracht, die uns zum Morden verleiten sollen. In einem Glasbehälter befindet sich Monokumas Spezial-Gift. Laut der Beschreibung wirkt es innerhalb von fünf Minuten tödlich. Auf einer Obststeige liegen Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilze. Laut der Beschreibung verliert man alle Erinnerungen, wenn man davon isst; Monokuma hat uns aber versprochen, dass wir sie wiedererlangen würden, sobald wir die Insel verlassen. Bei den Chilischoten steht eine Warnung, dass zu viel davon zu einem Kreislaufkollaps führen kann. Die anderen Beschriftungen wirken eher wie Scherze.

x Monokumas Spezial-Gift: Der Behälter im Lagerhaus ist nicht mehr ganz voll. Jemand hat Gift daraus abgezapft.

x Blutiges Messer: Hinter Mimis Haus wurde ein blutiges Küchenmesser gefunden. Wir vermuten, dass Yamato damit verletzt wurde. Nicht nur die Klinge ist blutig, sondern auch der Griff.

x Telefonzellen: Das Mordmotiv könnte mit den Anrufen zusammenhängen, die Monokuma uns erlaubt hat. Die Regeln für die Benützung der Telefonzellen waren: 1) Schließe die Tür, bevor du telefonierst. 2) Jeder Schüler darf nur eine bestimmte Person anrufen. Diese Person ist vorbestimmt. Damit die Schüler zur Selbstständigkeit erzogen werden, hat der Schulleiter sichergestellt, dass es sich dabei nicht um einen Erziehungsberechtigten, Freund oder einen Bruder oder eine Schwester des Schülers handelt. 3) Über den Inhalt des Gesprächs ist Stillschweigen zu bewahren. 4) Der Schüler darf nach dem Gespräch nichts über seinen Gesprächspartner preisgeben. 5) Bei Nichteinhalten einer dieser Regeln droht eine schwere Strafe.

Fall 02: Klassenprozess I

Es gab einen Sitzungssaal im Rathaus, den Hikari durch die Fenster schon mal gesehen hatte. Eine breiter, kreisrunder Tisch war darin gestanden, wie König Artus‘ Tafel. Nun war er verschwunden; die Stühle waren in einer Ecke gestapelt worden. Stattdessen beleuchteten die hohen Luster etwas, das genauso aussah wie die Prozessrunde in der Fabrik, nur dass sie hier aus dunklem Holz war. Diesmal waren drei der Plätze bereits mit Bildern versehen. Man sah Soras lächelndes Gesicht, Yamatos neutrales – und Kens grinsendes Gesicht, das er zur Schau gestellt hatte, nachdem er sich als DigimonKaiser offenbart hatte. Er war mitsamt Perücke und Brille abgebildet.

Monokuma saß auf einem thronartigen Stuhl am Ende des Saales und winkte sie eifrig näher. Obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, sich auf den Prozess vorzubereiten, fielen Hikari die letzten Schritte zu ihrem Platz unglaublich schwer. Sie stand wieder zwischen Koushiro und Miyako, genau wie beim letzten Mal.

„Also dann“, sagte Monokuma, als der Letzte von ihnen in seiner Anklagebucht stand, „ich erkläre den zweiten Klassenprozess für eröffnet. Fangen wir mit einer kurzen Erklärung an: Während des Prozesses bringen alle Schülerinnen und Schüler ihre Argumente vor, um die Mörderin oder den Mörder von Yamato Ishida zu entlarven. Wurde eine Verdächtige oder ein Verdächtiger bestimmt, wird per Mehrheitsbeschluss abgestimmt, ob er oder sie als Täterin oder Täter beschuldigt wird oder nicht. Wenn dabei der oder die wahre Schuldige angeklagt wird, wird er oder sie bestraft. Wird jemand anders angeklagt, werden alle anderen bestraft und der oder die Schuldige erhält das Recht, die Insel zu verlassen. So viel zu den Formalitäten. Fangt an!“

„Also schön“, brummte Taichi. Er hatte entschlossen die Hände zu Fäusten geballt. „Der Schuldige wird sich vermutlich kaum selbst stellen, also räuchern wir ihn einfach aus. Was können wir mit Sicherheit sagen?“

„Ich würde meinen, die Todesursache war Gift“, sagte Wallace. „Oder hab ich da was falsch verstanden?“

„Sicher, dass er nicht doch einfach nur verblutet ist?“, fragte Daisuke.

„Das ist unwahrscheinlich“, sagte Iori. „Die Wunde war dazu nicht tief genug und hat auch nicht genug geblutet. Das haben wird doch schon besprochen.“

„Jetzt hör mal auf, schon wieder den Klugscheißer raushängen zu lassen“, maulte Daisuke. „Ich geh nur sicher, dass wir nichts vergessen.“

Hikari merkte schon in den ersten Zügen des Strafprozesses, dass Yamatos beruhigende, vernünftige Stimme fehlte. Und Takeru war nach wie vor ziemlich schweigsam, was sie zwar wirklich nachvollziehen konnte, aber als Taichi und Daisuke wieder in ein Streitgespräch mit Iori verfielen, wünschte sie sich, jemand würde sie zur Ordnung rufen, wie Yamato es gekonnt hätte.

Aber dann musste eben jemand anders den Vernunftsengel spielen – auch wenn ihr absolut nicht danach zu zumute war. „Es war eindeutig das Gift“, sagte Hikari. „In dem Giftcontainer im Lagerhaus hat schließlich etwas davon gefehlt. Wahrscheinlich war die Klinge damit getränkt.“

„Oh – und was ist, wenn ihn jemand zwar mit einem Messer verletzt, er das Gift aber getrunken hat?“, fiel Miyako plötzlich ein. „Vielleicht wollte uns ja jemand täuschen … irgendwie. So wie der Tatablauf letztes Mal auch nicht sofort offensichtlich war.“

„Hm.“ Koushiro kratzte sich am Kinn.

„Gift also, und jemand hat ihn mit einem Messer angegriffen“, fasste Wallace zusammen. „Aber sofern es trotzdem nur einen Täter gab, der ihm ans Leder wollte, ist es ja nicht so wichtig, was zuerst kam oder ob beides zusammenhängt. Kommen wir lieber zu etwas Wichtigerem: Whodunnit?“

„Hä?“, fragte Daisuke.

Wallace verdrehte die Augen. „Krimisprache. Wer ist der Mörder?“

„Ihr habt in Yamatos Zimmer doch einen Brief gefunden, in dem der Mörder ihn zu Mimis Haus locken wollte“, rief Miyako ihnen in Erinnerung.

„Ich war es aber nicht“, sagte Mimi scharf.

„Hab ich ja auch nicht gesagt!“ Miyako hob abwehrend die Hände. „Jemand wollte es dir unterschieben, da bin ich mir auch sicher.“

„Ich nicht“, sagte Iori. Daisuke verdrehte die Augen.

„So kommen wir nicht weiter“, sagte Koushiro. „Es sei denn, jeder von uns hat irgendein Schriftstück da, damit wir die Handschrift vergleichen können. Aber ich fürchte fast, wenn wir jetzt jeder ein paar Zeilen schreiben, wird die Handschrift zu gar keinem passen.“

„Komplett verändern kann man seine Handschrift nicht“, behauptete Wallace. „Wir finden schon ein paar kleine Gemeinsamkeiten raus.“

„Du willst den Mörder festnageln, weil eine Handschrift ähnlich ist? Ich glaub’s nicht“, schnaubte Daisuke.

„Ich denke auch, dass das vielleicht übertrieben ist.“ Koushiro sah ihnen allen kaum in die Augen. Sein Blick bohrte sich in seinen Laptopbildschirm, als könnte er zwischen seinen Notizen irgendwann des Rätsels Lösung sehen.

„Warum sollte überhaupt jemand Yamato umbringen? Fangen wir mal so an“, schlug Hikari vor.

„Um hier wegzukommen, natürlich“, brummte Mimi.

„Ja, aber warum gerade jetzt? Es war seit der Sache mit … mit Ken … Seither war es doch ruhig? Denkt ihr nicht auch, dass das mit diesen Telefonzellen zusammenhängt?“

Iori nickte. „Monokuma hat uns erlaubt, in Tokio anzurufen – aber er hat uns nicht erlaubt, unsere Eltern oder Freunde zu kontaktieren, sondern hat uns die Gesprächspartner selbst vorgeschrieben. Noch dazu mussten wir darüber schweigen. Über allem haben drakonische Strafen geschwebt. Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Sinn das gehabt haben sollte, wenn nicht, um uns ein Motiv für einen neuen Mord zu liefern.“

„Und scheinbar hat es funktioniert“, seufzte Jou traurig.

„Wie ist es, Monokuma?“ Wallace schien der Einzige zu sein, der keine Scheu hatte, den Teddybären direkt anzusprechen. „Ist es immer noch nicht erlaubt, über die Telefonate zu reden, oder dürfen wir es zwecks Beweisführung tun?“

„Die Regel bleibt natürlich aufrecht“, verkündete Monokuma von seinem Aufseherstuhl aus. „Jeder, der über seinen Gesprächspartner oder den Gesprächsinhalt spricht oder die anderen irgendwie anders davon in Kenntnis setzt, wird hart bestraft.“

„Wie auch immer, ich schätze, die Telefonate sind für alle ungefähr gleich abgelaufen. Wir waren alle hinterher nicht sonderlich erbaut“, stellte Hikari fest.

„Okay, machen wir es der Einfachheit halber so“, grinste Wallace. „Wir brechen nicht die Regeln, wir biegen sie ein wenig. Alle, die sich vorstellen können, dass sie in ihrer Telefonzelle dasselbe erlebt haben wie die anderen, heben die Hand. Kein Problem, Monokuma, oder?“

Der Bär schwieg – eindeutig zu lange, als dass es nicht auffallen würde –, ehe er sagte: „Von mir aus.“

„Okay, dann los“, meinte Wallace mit blitzenden Augen. Neun Hände gingen in die Höhe. Alle glaubten zu wissen, was die anderen gehört hatten, und hielten es für ident mit ihrem eigenen Telefonat – alle bis auf einen. Takerus Hand blieb, wo sie war.

„Takeru?“, fragte Daisuke. „Du glaubst, dass du irgendein besonderes Telefonat hattest?“

Takeru lächelte ihn entschuldigend an. „Sorry, ich wusste nicht genau, wie ich abstimmen sollte. Ich scheine wohl der Einzige zu sein, der nicht telefoniert hat, also weiß ich natürlich nicht, worum es in den Telefonaten ging.“

Die anderen starrten ihn verblüfft an. „Du warst aber auch in deiner Telefonzelle“, meinte Mimi. „Und zwar ziemlich lang, wenn ich mich nicht irre.“

„Dann irrst du dich wirklich. Ja, ich war in meiner Telefonzelle und ich hatte auch schon den Hörer in der Hand, aber dann habe ich den Anruf nicht begonnen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich war wohl einfach skeptisch, weil ich vermutet habe, dass Monokuma irgendetwas plant. Also hab ich gar nicht erst telefoniert.“

„Du wolltest gar nicht versuchen, einen Hilferuf abzusetzen?“, fragte Miyako, die aus dem Staunen nicht mehr rauskam. „Ich dachte, wir wären alle ganz wild drauf gewesen.“

„Tja, alle bis auf mich, so wie es aussieht.“

„Das ist doch Blödsinn“, schimpfte Daisuke. „Jeder von uns hat telefoniert!“

„Hast du etwa alle genau dabei beobachtet?“, fragte Hikari.

„Nein, aber … das ist doch nur natürlich, oder? Wenn man auf einer Insel festsitzt und durch so ein krankes Spiel gejagt wird und wenn es auch schon Tote gibt, dann versucht man doch irgendwie Hilfe zu organisieren! Die Sache stinkt zum Himmel.“

„Wenn alle anderen nach Hilfe rufen, braucht man es selbst nicht zu tun“, sinnierte Wallace. Auf Daisukes zornigen Blick hin schien der Amerikaner Takerus entschuldigendes Lächeln kopieren zu wollen. „Hey, das war nur so dahergesagt. Aber im Prinzip stimmt es, oder nicht?“

„Und wenn Takeru uns absichtlich nicht die Wahrheit erzählt? Was, wenn er einen besonderen Anruf hatte, vielleicht von Monokuma selbst, der ihm befohlen hat, Yamato umzubringen?“, knurrte Taichi.

„Unsinn“, erwiderte Hikari sofort. „Er hätte doch einfach gerade eben die Hand heben müssen, und niemand hätte ihn verdächtigt. Es ergibt doch gar keinen Sinn, dass sich der Mörder hier outen sollte. Die ganze Idee mit dem Händeheben war Blödsinn“, sagte sie mit einem Seitenblick auf Wallace, der sie nur unpassend anlächelte.

„Ich finde, es war eine gute Idee“, sprang ausgerechnet Daisuke Wallace bei. „Immerhin ist Takeru die ganze Zeit schon auffallend ruhig gewesen, meint ihr nicht? Ich meine, da ist jemand gestorben, ein Freund, und er war so unbekümmert, als wäre Yamato ein Kaninchen gewesen, das sein Nachbar überfahren hat!“

„Mich überrascht eher, dass ausgerechnet dir das aufgefallen ist“, gab Hikari zurück. Plötzlich war sie wütend. Daisuke begann schon wieder, andere grundlos anzuschuldigen. Das letzte Mal war er auf ihrer Seite gewesen, ja, aber sie hatte nicht um seine Unterstützung gebeten, und auch damals hatten seine Argumente keinem zweiten Schlag standgehalten.

„Ich mach mir sehr wohl meine Gedanken“, knirschte er. „Und wenn Iori einfach so Leute verdächtigen darf, bitte, das kann ich auch! Ich finde nach wie vor, dass Takeru sich verdächtig benimmt, Punkt! Fängt ja schon damit an, wie er mit den Mädels herumflirtet.“

„Bitte?“ Hatte Hikari da etwas nicht mitbekommen?

„Du verwechselst ihn jetzt aber nicht gerade mit Wallace, oder?“, fragte Miyako vorsichtig.

„Nein, ich meine schon Takeru! Wir untersuchen eine Leiche, und er hat nichts Besseres zu tun, als euch seinen Adoniskörper vorzuführen! Schaut meinen Sixpack an, es ist zwar jemand gestorben, aber ich sehe einfach toll aus – wer so auf sich selbst fixiert ist, telefoniert natürlich nicht mit der Außenwelt, weil er ja verdammt noch mal mit seinem eigenen Spiegelbild in den Scheiben der Telefonzelle beschäftigt ist!“

Hikari fühlte sich im ersten Moment regelrecht überrumpelt, aber im zweiten konnte sie das Knäuel entwirren, das Daisukes Worte spannen. Er meinte nicht einfach die Mädels, bei denen Takeru angebandelt haben sollte. Er meinte ein bestimmtes. Sie selbst. Daisuke hatte irgendwie mitbekommen, dass sie und Takeru sich gut verstanden. Nach der Schelle, die er von Taichi für seine unbedachte Äußerung zu Beginn ihres Abenteuers kassiert hatte, schien sein Zorn neue Wellen zu schlagen. Aber dass er das jetzt ausgerechnet während des Strafprozesses an den anderen ausließ, war doch unerhört!

„Daisuke“, begann sie mit mühsam unterdrückter Wut. „Würdest du bitte …“

„Daisuke, du hast völlig recht“, sagte plötzlich Iori verblüfft.

„Hä?“ Auch Daisuke selbst schien erschrocken, dass ausgerechnet der Jüngste ihm Rückendeckung gab.

„Takeru hat sich auf dem Hauptplatz bis auf die nackte Haut ausgezogen. Zumindest sein Hemd.“

Hikari verdrehte die Augen. Sie meinte schon fast, Monokumas amüsiertes Gelächter zu hören. „Können wir bitte …“

„Scheiße“, sagte plötzlich Taichi. „Und ich hab’s verpasst … War‘n Scherz, habt ihr sie eigentlich noch alle? Was ist so wichtig daran? Oder küren wir neuerdings Mister File-Insel, ohne dass ich davon weiß?“

„Du und Mimi wart ja nicht dabei“, sagte Iori, „aber uns ist aufgefallen, dass Takeru unter dem Hemd nichts weiter anhatte.“

„Im Ernst?“ Taichi verdrehte die Augen. „Steht irgendwo in den Schulregeln, dass man nicht oben ohne rumlaufen darf? Oder hat er sich komplett nackig gemacht? Ich kann nicht glauben, worüber wir hier diskutieren.“

„Man fragt sich doch, wieso“, murmelte Koushiro. „Ich meine, es war früh am Morgen, es war dementsprechend kühl und ich glaube, Takeru hatte sonst auch immer zumindest ein Unterhemd an.“

„Vielleicht schläft er ja nackt und hat sich nur schnell das Nötigste angezogen“, griente Wallace. „Wir müssten Yamato dazu fragen. Der hat sich ja mit ihm in der Fabrik ein Zimmer geteilt.“

„Ich hab mich bekleckert“, gab Takeru zu. „Mit Cola. Darum hab ich mein Unterhemd in den Müllschlucker geworfen.“

„Mit Cola. Sicher“, schnaubte Mimi.

„Die Sache ist die“, begann Koushiro wieder langsam. „Wer auch immer mit Yamato gekämpft hat, hat ihm ein Messer in die Hüfte gerammt. Dabei hat er vielleicht zumindest ein paar Blutspritzer abbekommen. Es kann also sein – rein theoretisch –, dass dein Unterhemd in Wahrheit blutig ist und du es deshalb entsorgt hast.“

„Wir dürfen nicht zufällig in Takerus Haus gehen und uns mal seinen Mülleimer ansehen?“, fragte Wallace Monokuma.

„Niemand verlässt den Prozess“, sagte der Bär. „Das hättet ihr vorher tun müssen! Ich kann keine unaufmerksamen Schüler belohnen!“

„Dann bleibt es bei der Theorie“, knurrte Taichi. „Aber es ist eine harte Theorie. Takeru, du stehst unter Mordverdacht.“

Hikari brach der Schweiß aus. Das konnte doch nicht … Sie verdächtigten Takeru? Sie war sich sicher, dass er nichts mit dem Mord zu tun hatte, dass er gar nichts damit zu tun haben konnte! Er und Yamato hatten sich doch immer so gut verstanden! Es musste ein Missverständnis sein …

„Auf Takerus Hemdkragen sind auch Colaflecken“, platzte sie heraus. „Und ich war dabei, als er sich bekleckert hat. Es stimmt, was er sagt.“

„Er hat trotzdem am ehesten von uns mit Yamato gekämpft …“, sagte Iori nachdenklich.

„Im Unterhemd?“, entgegnete Hikari.

„… und auch seine Aussage mit den Telefonzellen ist mehr als zweifelhaft.“

„Ihr … ihr meint das doch nicht ernst?“, keuchte Takeru. „Ich habe keinen Mord begangen! Ich könnte keinen von euch umbringen!“

„Das haben wir von Ken auch gedacht“, sagte Taichi düster.

„Vielleich sollten wir abstimmen“, meinte Daisuke, „und es hinter uns bringen. Mehr Hinweise haben wir ja doch nicht.“

„Das wäre äußerst unklug“, sagte Jou. „Wir brauchen auf jeden Fall eine vollständige Rekonstruktion des Falls. Oder noch besser, ein Geständnis. Sonst begeben wir uns in große Gefahr.“

„Hab‘s kapiert“, brummte Daisuke. „Dann rück mal raus mit der Rekonstruktion.“

„Ähm, also …“ Jou fehlten die Worte. „Wir wissen, dass der Mörder Mimi anschuldigen wollte … Vielleicht war es jemand, der Mimi nicht leiden konnte …“

„Ah!“, machte Miyako plötzlich, als wäre ihr des Rätsels Lösung eingefallen. „Vielleicht hatte Yamato ein kleines Techtelmechtel mit Mimi, und jemand war eifersüchtig und hat dann diesen Mord inszeniert?“

Taichi zuckte zusammen und begegnete Mimis Blick, die unwirsch den Kopf schüttelte. „So ein Schwachsinn. Wir haben kaum mehr miteinander geredet als notwendig.“

„‘tschuldigung“, meinte Miyako geknickt. „Ich hab mal wieder geredet, ohne vorher nachgedacht zu haben …“

„Es ging um Takeru.“ Daisuke klopfte zu jedem Wort auf den Holzrahmen vor ihm. „Und das Motiv muss sein Telefonat gewesen sein, keine Liebesaffäre oder sonst was. Er hat am Telefon was erfahren, das ihn dazu veranlasst hat, Yamato umzubringen. Ich glaube, es waren direkte Anweisungen von Monokuma!“

„Das ist doch lächerlich“, sagt Takeru impulsiv. Endlich beteiligte er sich richtig an der Diskussion – aber es war so, wie Hikari es beim letzten Mal getan hatte. Damals war auch sie geschockt gewesen, und dann plötzlich stand sie selbst im Kreuzfeuer des Verdachts.

Sie wusste, wie schlimm das war, und versuchte ihm beizuspringen. „Das sind ungeheuerliche Anschuldigungen, Daisuke. Kannst du das irgendwie beweisen?“

„Kann ich nicht“, sagte er bissig. „Aber wenn ihr euch an Ken erinnert – er hat ja auch um einiges mehr gewusst als wir, was diese ganze Insel und diese Digimon und das alles angeht! Vielleicht ist Takeru genauso? Vielleicht steckt er mit Monokuma unter einer Decke!“

„Ich bin genauso unfreiwillig hier wie ihr“, rief Takeru verzweifelt. „So glaubt mir doch! Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, und ich weiß auch nichts über diese Insel!“

„Das kann ja jeder sagen. Kannst du das auch irgendwie beweisen?“

„Erst mal beweist du den Quatsch, den du von dir gibst“, verlangte Hikari wütend von Daisuke.

„Hab ich schon! Takerus Hemd ist möglicherweise blutbefleckt, er hat als Einziger etwas Unnatürliches bei den Telefonzellen getan, und er hat als Einziger kaum eine Reaktion gezeigt, obwohl wir einen neuen Toten haben! Das sind meine Argumente, jetzt soll er sie mal entkräften!“

Hikari holte Luft zu einer scharfen Erwiderung, als Iori ruhig sagte: „Vielleicht stand er einfach unter Schock. Das würde erklären, warum er bei den Ermittlungen nicht richtig mitgearbeitet hat.“

Daisuke hatte dafür nur ein Schnauben übrig, als Hikari plötzlich etwas einfiel.

„Takeru hat einen Beweis für seine Unschuld“, sagte sie. Nun waren alle verblüfft – Takeru selbst ebenso, wie es aussah. „Zeig es ihnen, Takeru. Dein Reisetagebuch.“

„Ein Reisetagebuch?“ Mimi hob erstaunt die Augenbrauen.

Takeru biss sich auf die Unterlippe. „Das ist … privat“, sagte er.

„Umso besser. Dann kann es dich vielleicht von dem Verdacht befreien“, meinte Wallace lächelnd.

„Wartet, das könnt ihr nicht von ihm verlangen“, mischte sich Jou ein. „Das … gehört sich einfach nicht.“

Taichi lachte trocken auf. „Weißt du, was sich noch nicht gehört? Jemanden umzubringen. Was ist das für ein Tagebuch, Hikari?“

„Tut mir leid, dass ich damit angefangen habe“, murmelte sie entschuldigend, „aber ich glaube, es könnte dich entlasten. Takeru hat darin die Geschehnisse auf der Insel aufgeschrieben. Nicht wahr?“

Takeru nickte langsam.

„Und wir sollen etwas glauben, was er selbst geschrieben hat?“, höhnte Daisuke. „Da kann er ja gleich reinschreiben, dass wir alle die Mörder sind. Schwupps, hat er gewonnen.“

„Ich weiß nicht“, murmelte Iori. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er mit Monokuma zusammenarbeitet. Monokuma wollte uns die ganze Zeit über dazu bringen, uns gegenseitig zu töten. Was hätte er davon, wenn sein Gefolgsmann das plötzlich übernimmt? Dann könnte er gleich Andromon oder Shellmon auf uns hetzen und hätte den gleichen Effekt.“

„Ich glaube auch, dass er das Mordmotiv durch die Telefongespräche geschaffen hat“, meinte Mimi. „Ohne direkte Anweisungen oder so etwas. Zeigst du uns das Tagebuch mal, Takeru? Vielleicht hilft es uns ja wirklich weiter.“

Takeru rang sichtlich mit sich, ehe er einige zerknitterte Zettel aus der Hosentasche zog. Unglücklich reichte er sie Iori, der neben ihm stand. Dieser zeigte sie Jou neben sich, und während dieser ihm über die Schulter sah, las er vor.

Tag 1. Mein Name ist Takeru Takaishi. Ich bin Schüler der Hope’s-Peak-Akademie, einer Schule, die besondere Talente rekrutiert. Mein Talent ist die Ultimative Hoffnung. Ich bin zusammen mit zwölf anderen Schülern in einem unbekannten Waldstück aufgewacht, ohne dass wir uns erinnern können, wie wir hierher gelangen. Da sind Yamato Ishida, ein blonder Junge mit dunkler Kleidung; Taichi Yagami, ein aufbrausender Typ mit brauner Mähne; der rothaarige Computerfreak Koushiro Izumi; die zurückhaltende Hikari Yagami, Taichis Schwester, mit ihrer schlichten braunen Frisur; Wallace, ein blonder Amerikaner; Daisuke Motomiya mit der Igelfrisur; der Kleinste von uns, Iori Hida; Miyako Ionoue mit der Brille und dem langen Haar; Jou Kido, ebenfalls Brillenträger; die hübsche Mimi Tachikawa; der eher unscheinbare Ken Ichijouji und die rothaarige Sora Takenouchi. Uns ist plötzlich ein weißschwarzer Bär erschienen, der behauptet hat, unser Schulleiter zu sein …“

Alle lauschten gebannt Ioris Vortrag. Nach der Einführung ging es wesentlich weniger detailliert weiter, aber die wichtigsten Ereignisse ihres gemeinsamen Lebens waren wahrheitsgemäß aufgelistet: das Übernachten in der Straßenbahn, dann in dem Wüstendorf, der Vorfall in der Fabrik mit Sora und Ken, und schließlich ihre Ankunft in der Spielzeugstadt. Der letzte Eintrag lautete:

Tag 6: Monokuma hat uns erlaubt, Anrufe zu tätigen. Er hat uns zu einem Strand geführt, wo wir telefonieren sollten. Niemand durfte unter Androhung der Todesstrafe erzählen, was oder mit wem er telefoniert hatte. Monokuma hat die Gesprächspartner angeblich selbst ausgesucht, wir durften sie nicht selbst wählen. Ich bin auch in eine Telefonzelle gegangen, aber weil ich der Sache nicht getraut habe, habe ich gar nicht erst telefoniert. Die anderen waren aber alle ziemlich geknickt. Dann sind wir nachhause gegangen.

Damit endete das Tagebuch. Iori reichte die Zettel wortlos wieder Takeru, der sie rasch in seiner Tasche verschwinden ließ.

„Hat alles seine Richtigkeit“, meinte Miyako. „Es klingt zumindest nicht so, als ob er irgendwas geplant hätte.“

„Klar.“ Daisuke verdrehte die Augen. „Weil er so was ja auch aufschreiben würde.“

„Ich weiß nicht“, murmelte Hikari. „Wenn ihr den Stil betrachtet, dann ist der doch auch unauffällig. Stellt euch vor, Takeru hätte wirklich den Plan gefasst, jemanden umzubringen. Und hätte dann in dem Tagebuch gelogen. Denkt ihr nicht, man würde die Lüge irgendwie herauslesen?“

„Nicht unbedingt“, war Wallace‘ Kommentar dazu. „Aber ich glaube trotzdem, dass das Tagebuch stichfest und er unschuldig ist.“

„Ach ja?“, giftete Daisuke. „Vielleicht hat er alles noch schnell gestern Nacht geschrieben, damit er einen Beweis für seine Unschuld hat!“

„Hätte er damit so hinter‘m Berg gehalten, wenn es so wäre?“, widersprach ihm der Amerikaner. „Wir mussten ihn ja regelrecht anflehen, damit er uns das Tagebuch zeigt. Er hat es nicht für uns geschrieben, sondern wirklich für sich selbst.“

„Du meinst, weil er damit nicht seine Unschuld beteuern wollte, können wir dem Inhalt vertrauen? Hm.“ Koushiro betrachtete schon wieder seine Beweisliste. „Wir sind so weit wie am Anfang.“

Das war der Moment, in dem Jou plötzlich zusammenzuckte. „L-Leute“, stotterte er. „Wer von euch hat die Nachricht, die der Täter Yamato geschickt hat?“

Die anderen starrten ihn an – bis mehr als einer von ihnen zu wissen glaubte, was er meinte. Hikari drehte sich fast der Magen um.

„Ich. Hier.“ Koushiro ließ die Serviette mit der Nachricht bis zu Jou weiterwandern. Der studierte sie kurz und sog scharf die Luft ein.

„Ich wusste es.“

„Was denn?“, rief Taichi.

„Die Handschrift. Takerus Tagebuch und diese Botschaft … Es ist dieselbe Handschrift!“, keuchte Jou.

Der Wirbel, der nun ausbrach, war nicht mit Worten zu beschreiben.

„Also warst du es doch!“, schrie Daisuke Takeru an.

„Du Mörder!“, knurrte Taichi.

„Ich .. aber ich …“ Hikari hatte Takeru noch nie so ratlos gesehen. Er blickte auf die Serviette und dann auf seine Tagebuch-Zettel und schien nicht glauben zu können, was er da sah. „Aber das ist unmöglich … Ich habe diese Serviette nie vorher in der Hand gehabt, ich schwöre es! Ich hätte es doch wohl aufgeschrieben, wenn ich so etwas Wichtiges getan hätte, meint ihr nicht?“

Etwas an dieser Aussage kam Hikari falsch vor, aber sie wusste nicht, was. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Sie hatte versucht, Takeru rauszuhauen. Dabei hatte sie nur einen weiteren Hinweis aufgedeckt, der zu seiner Hinrichtung führte … Warum hatte sie nicht einfach die Klappe gehalten!

Andererseits sah es nicht so aus, als ob Takerus Verwirrtheit gespielt wäre. Sie konnte deutlich an seinen Augen ablesen, dass er unschuldig war, Himmel noch mal! Sahen das die anderen denn nicht?

„Dann ist es jetzt ja wohl amtlich“, meinte Taichi. „Takeru hat Yamato umgebracht und wollte nicht, dass wir seine Handschrift sehen. Deswegen hat er sein Tagebuch auch geheim halten wollen.“

„Aber dann fehlt uns immer noch das Motiv“, hielt Wallace dagegen. „Wenn er sein Tagebuch geheim halten wollte, stimmt es, dass er nicht telefoniert hat. Das heißt, er hatte auch kein Motiv.“

„Dann hat er nur ausgenutzt, dass jetzt jemand ein Motiv haben könnte, und hat in Wahrheit schon lange geplant, jemanden umzubringen!“, hetzte Daisuke.

„Ich war es nicht!“, rief Takeru verzweifelt.

„Es macht aber alles Sinn!“

„Nein!“, schrie Hikari dazwischen, dass Daisuke zusammenzuckte. „Nein, nein, nein! Es macht überhaupt keinen Sinn! Es kann einfach nicht sein, dass Takeru Yamato umgebracht hat! Sie waren einander so nah wie Brüder!“

„So nah wie Brüder?“, fragte Mimi. „Und ich dachte, sie wären Brüder.“

„Was?“ Taichi starrte sie erschrocken an. „Die beiden? Brüder?“

„Hast du das nicht bemerkt?“, fragte sie schnippisch. „Also wirklich. Man hat doch ganz klar die Ähnlichkeit gesehen.“

„Ich dachte, das ist einfach, weil sie beide blond …“ Hikaris Bruder verstummte plötzlich, als hätte er sich gerade eine Frage selbst beantwortet, die er schon eine Weile mit sich herumgeschleppt hatte. „Scheiße! Nein, mir ist das echt nicht aufgefallen.“

„Mir schon“, meinte Iori. „Das merkt doch wohl jeder allein daran, wie sie miteinander umgegangen sind.“

„Ich hab’s auch nicht bemerkt“, brummte Daisuke. „Außerdem haben sie unterschiedliche Familiennamen. Wer könnte das denn ahnen?“

„Wie gesagt, ein paar von uns haben es geahnt“, sagte Wallace. „Können wir zum Thema zurückkommen? Takeru könnte also seinen Bruder nicht umbringen, das ist euer Argument?“

„Ein Mörder denkt nicht wie ein normaler Mensch“, murmelte Miyako. „Ich glaube nicht, dass er vor seinem Bruder Halt machen würde. Wenn er es wirklich war.“

„Vielleicht hatten sie auch einen wilden Streit“, schlug Wallace vor. „Hikari und Taichi hatten ja auch einen Mordskrach. Sorry für diese Wortwahl.“

„Das kann man ja wohl nicht vergleichen“, sagte Taichi impulsiv.

„Wieso nicht?“ Daisukes Augen funkelten schon wieder. „Taichi wollte nicht, dass Hikari und ich uns näherkommen. Vielleicht wollte Yamato nicht, dass sein Bruder was mit Hikari anfängt, und das hat Takeru nicht gepasst?“

„Kannst du bitte endlich damit aufhören, uns eine Liebschaft zu unterstellen?“, fuhr Hikari ihn mit geröteten Wangen an.

„Es könnte in der Tat diesmal gerade andersherum sein“, überlegte Iori.

„Was meinst du?“, fragte Miyako.

„Das letzte Mal ist ein Mord geschehen, weil wir uns alle nicht kannten. Keiner wusste, wie die anderen wirklich ticken, und Ken hat das ausgenutzt. Vielleicht ist dieses Mal das Gegenteil der Fall. Vielleicht gab es diesmal tatsächlich einen Mord, eben weil es ein paar von uns gibt, die sich doch kennen und Einfluss aufeinander haben.“

Hikari glaubte nicht recht zu hören. War ihnen denn jedes Mittel recht, um Takeru zu belasten? Allmählich glaubte sie, dass die anderen sich gegen ihn verschworen hatten. Selbst entlastende Argumente wurden von ihnen herumgedreht, bis sie wie ein schillernder Leuchtpfeil auf ihn deuteten!

„Ihr seid da total auf dem Holzweg“, sagte Takeru. „Das ist lächerlich. Wir sind … Wir waren keine Brüder. Ich habe Yamato vorher noch nie gesehen.“

Er sagte es mit einer Überzeugung, die regelrecht unheimlich war. Hikari war sich nie sicher gewesen, ob sie tatsächlich Brüder waren. Streng genommen hätten sie auch Cousins oder einfach gute Bekannte sein können – das war es, was sie geglaubt hatte. Aber nun war das ein Irrtum?

„Das kann jetzt genauso gut gelogen sein“, meinte Wallace. Er schien nicht wirklich auf einer Seite zu stehen – er sprach wohl einfach aus, was er sich gerade dachte.

„Ist es aber nicht. Denkt mal nach, sein Nachname ist Ishida. Meiner ist Takaishi. Wie sollen wir Brüder sein?“

„Da würde mir schon was dazu einfallen …“, begann Iori, doch Takeru unterbrach ihn.

„Und außerdem, hätte ich so was Wichtiges nicht in mein Tagebuch geschrieben?“

Wieder stutzte Hikari. So etwas in der Art hatte er doch schon mal …

„Verdammt noch mal, wieso musst du alles, was du sagst, irgendwie auf dein Scheiß-Tagebuch stützen?“, fluchte Daisuke.

Takeru lächelte traurig und schloss fest die Hand um die Papierfetzen. „Weil ich nichts glauben kann, was nicht da drin steht.“ Er sah ihnen nacheinander in die Augen, und sein Blick war verzweifelt. „Weil es die einzigen Erinnerungen sind, die ich habe.“

Fall 02: Klassenprozess II

„Du … du verscheißerst uns doch gerade“, murmelte Daisuke fassungslos. „Was Iori da aus deinem Reisetagebuch vorgelesen hat, sind deine einzigen Erinnerungen?“

Takeru zuckte unglücklich mit den Schultern und schwieg.

Hikari fühlte sich ganz hibbelig. Das war doch wohl unmöglich … Takeru erinnerte sich an nichts außer … Bedeutete das etwa …?

„Hast du … Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen?“, fragte Miyako.

Er starrte sie an, als wäre ihm der Gedanke noch gar nicht gekommen, und betastete seinen Hinterkopf. „Ich weiß nicht … Ich habe da schon eine Beule, aber kann man dadurch Dinge vergessen?“

„Takeru“, murmelte Hikari. Ihre Stimme zitterte. „Weißt du noch, als wir uns am Abend bei der Festtafel getroffen haben? Erinnerst du dich an unser Gespräch?“

An seinem ratlosen Blick erkannte sie die Antwort.

„Die Pilze“, sagte Koushiro überzeugt. „Das müssen die Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilze gewesen sein.“

„Haben im Lagerhaus denn welche gefehlt?“, fragte Miyako.

„Schwer zu sagen. Die lagen recht locker in dieser Obsttrage …“, meinte Wallace. „Aber es ist gut möglich.“

„Hast du die gegessen?“, rief Daisuke. Alle Wut und alle Ablehnung waren aus seiner Stimme verschwunden. Er klang ehrlich entsetzt.

Takeru hob nur die Schultern.

„Das kommt ihm doch zu gelegen, oder?“, fragte Iori. „In so einer Situation das Gedächtnis zu verlieren. Natürlich. Wir können nicht überprüfen, ob das die Wahrheit ist.“

Doch, dachte Hikari. Sieh in seine Augen, dann weißt du es. Aber so etwas ließen die anderen unmöglich als Beweis gelten.

Wallace lachte plötzlich.

„Das ist nicht gerade witzig“, fuhr Taichi ihn an.

„Entschuldige“, gluckste der Amerikaner, „ich kann nicht anders, ich finde es so ulkig … Takeru, sag uns mal, was das Letzte ist, an das du dich noch genau erinnerst.“

Takeru überlegte. „Ich war in meinem Haus. Ich wusste nicht, dass es mein Haus ist und dass wir in der Spielzeugstadt sind … Ehrlich gesagt wusste ich überhaupt nichts. Dann habe ich auf meinem Schreibtisch mein Tagebuch gefunden. Ich war wirklich erleichtert. Hätte ich nicht aufgeschrieben, was wir hier erlebt haben, hätte ich überhaupt keinen Anhaltspunkt gehabt. Ich wusste im ersten Moment nicht mal meinen eigenen Namen.“

„Ich hätte noch eine Frage, Monokuma“, sagte Wallace. „Kann man durch diese Pilze wirklich all diese Sachen vergessen, sich aber trotzdem daran erinnern, was ein Haus oder ein Schreibtisch ist? Und Lesen verlernt man dadurch auch nicht?“

„Du bist da ja wirklich sehr genau“, stellte Monokuma fest. „Es ist, wie du es sagst. Wir können später noch eine Extrastunde zu den Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilzen machen, aber du hast damit Recht. Man vergisst, wer man ist und was man getan hat, aber solche Sachen wie Fahrradfahren bleiben einem im Gedächtnis.“

„Also könnte es rein theoretisch wahr sein.“

„Das heißt, dass Takeru unschuldig ist?“ Miyako kratzte sich am Kopf. „Nein, oder? Oder doch? Tut mir leid, ich weiß im Moment überhaupt nicht mehr, wonach wir eigentlich Ausschau halten.“

„Takeru wurde quasi unter Drogen gesetzt. So gibt er natürlich einen perfekten Sündenbock ab“, überlegte Iori. „Aber wer soll es sonst gewesen sein?“

Takeru zitterte. „Vielleicht … war ich es ja wirklich“, sagte er leise. „Man kann es ja nicht ausschließen …“

„Wo genau in deinem Zimmer warst du, zu der Zeit, als du dich wieder erinnern konntest?“, fragte Koushiro.

„Auf dem … Auf dem Boden. Und ich hatte Kopfweh.“

„Und hast du nicht gesagt, du hättest eine Beule?“

Takeru nickte.

„Und wann war das?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen, aber draußen war es dunkel.“

„Dann wurde Takeru eindeutig von jemandem niedergeschlagen und ihm wurden die Pilze gewaltsam eingeflößt“, kombinierte Mimi.

„Jemand hat ihm die Pilze den Hals runtergeschoben? Das zeigst du mir“, schnaubte Daisuke.

Sie verdrehte die Augen. „Dann hat sie jemand eben einfach zermixt und mit Wasser versetzt. In unseren Küchen gibt es ja genug Werkzeug, um die Dinger kleinzuschneiden und zu zermatschen.“

„Mit Wasser … oder mit Cola“, sagte Hikari. „Das würde den Fleck auf seinem Hemdkragen erklären … wenn es nicht noch der von vor ein paar Tagen ist. Und laut der Beschreibung im Lagerhaus braucht es nur eine ganz kleine Dosis, damit man sein Gedächtnis verliert.“

„Und wer hat Takeru das angetan? Der Täter?“, fragte Miyako. „Warum hat er dann nicht gleich Takeru ermordet, als er bewusstlos war? Warum hat er stattdessen noch Yamato aus seinem Haus gelockt und ihn dann umgebracht?“

„Vielleicht, weil er einen Sündenbock brauchte?“, meinte Wallace.

„Irgendetwas übersehen wir“, brummte Koushiro.

„Da muss noch ein Hinweis sein. Etwas ist in dieser Nacht noch geschehen, aber ich komm einfach nicht drauf“, murmelte Iori.

Jou kratzte sich am Kinn und sein Blick war abwesend. Hikari hatte diesen Ausdruck auch schon das letzte Mal gesehen. Er hatte etwas Nützliches beizutragen, war sich dessen aber nicht sicher. Es war garantiert gut, alle Meinungen zuhören. „Jou, dich beschäftigt doch was, oder? Lass hören, was überlegst du dir?“

„Naja, mich beschäftigt das Messer, das wir gefunden haben“, murmelte er.

„Was ist damit? Spuck‘s schon aus“, forderte Taichi ihn auf.

„Wir wissen, dass die Klinge ihn verletzt hat. Sie war ja mit seinem Blut verschmiert. Aber das Heft war auch blutig – wieso?“

„Wieso auch nicht? Wenn man blutet, blutet man doch sicher über die ganze Waffe“, war sich Daisuke sicher.

„Aber so viel Blut war an Yamatos Hemd nicht. Die Wunde war wirklich nicht tief. Es wäre nicht so viel über das Messer gelaufen.“

Hikari fiel etwas ein. „Seine Hand war auch blutig, obwohl keine Wunde zu sehen war. Fast so, als ob …“ Und hinter ihrer Stirn rastete etwas ein. „Als ob er das Messer selbst in der Hand gehabt hätte, nachdem er die Hand auf seine Wunde gepresst hatte!“

„Du meinst, er hat versucht zurückzuschlagen, ehe er gestorben ist?“

„Nein, eher dass …“ Sie konnte nicht weitersprechen. Es war einfach zu unvorstellbar, zu weit hergeholt, aber … Hikari fing neu an. „Wir haben das Messer hinter Mimis Haus gefunden. Ein weiterer Versuch, es Mimi in die Schuhe zu schieben. Aber wenn Yamato seinem Mörder das Messer entrissen hätte …“

„Wäre er trotzdem gestorben. Das Gift“, erinnerte Taichi.

„Das meine ich nicht.“ Es fiel ihr immer noch schwer, ihre Schlussfolgerungen auszusprechen, obwohl sie in ihrem Kopf nachvollziehbar klangen.

Koushiro sprang ihr bei. „Wenn Yamato dem Mörder das Messer entrissen hätte, dann gestorben wäre, und der Mörder das Messer anschließend wieder an sich genommen und hinter Mimis Haus weggeworfen hätte, dann wäre auf dem Griff nicht mehr so viel Blut gewesen. Wolltest du das sagen, Hikari?“

„Genau.“

„Augenblick mal. Auszeit.“ Taichi rieb sich die Augen, als hätte er stundenlang ferngesehen. „Kann es nicht sein, dass trotzdem ein wenig Blut am Griff kleben bleibt?“

„Es war aber wirklich viel Blut darauf. Es sah nicht so aus, als hätte noch jemand das Messer in der Hand gehabt.“

„Und wenn er es mit spitzen Fingern angefasst hat?“

Koushiro unterbrach ihren geschwisterlichen Dialog. „Falls nicht, kann das jedenfalls nur bedeuten, dass Yamato das Messer selbst hinter Mimis Haus gelegt hat, ehe er vor ihrer Tür zusammengebrochen ist.“

„Eben, und das ist hirnrissig“, sagte Tai.

War es das? Ja, eindeutig. Hikari stimmte mit ihrem Bruder darin überein, dass der Gedanke vollkommen verrückt war, aber war er deshalb falsch?

„Mir geht da noch etwas anderes nicht aus dem Kopf“, sagte Koushiro. „Takeru hat Yamato einen Drohbrief geschrieben, um Mimi zu belasten. Dann hat jemand Takeru in seinem Haus angegriffen, ihn niedergeschlagen und ihm die Pilze eingeflößt. Und jemand hat Yamato ermordet und wiederum das Messer so platziert, als wäre Mimi die Täterin. Wie passt das alles zusammen? Es ist fast so, als hätten hier mehrere Leute dieselbe Idee gehabt.“

„Vielleicht war es ja auch so!“ rief Daisuke impulsiv. „Wer sagt, dass es nur einen Täter gibt? In den ganzen Krimis gibt es ja auch oft Komplizen!“

„Es ergibt keinen Sinn, mit jemandem zusammen einen Mord zu planen“, sagte Wallace sofort. „Nur der Mörder kommt frei, während alle anderen sterben, wenn sie ihn nicht enttarnen. Und der Mörder ist derjenige, der letzten Endes den Tod des Opfers ausgelöst hat. Ist doch so, oder?“

„Präziso-präzuso“, erklärte Monokuma fröhlich.

„Aber es können immer noch mehrere Mörder jeder für sich versucht haben, jemanden umzubringen“, meinte Daisuke überzeugt. „Ohne von dem jeweils anderen zu wissen.“

„Und beide wollten Mimi beschuldigen? Ziemlich unwahrscheinlich“, erwiderte Iori.

„Einen Moment“, sagte Mimi. „Wissen wir überhaupt mit Sicherheit, dass das Gekritzel Takerus Handschrift ist?“

Neun Augenpaare wandten sich ihr verblüfft zu. „Ich meine, er hat doch sein Gedächtnis verloren? Weiß er noch, wie seine Handschrift aussieht? Hat er seitdem versucht, was zu schreiben?“

„Ähm“, war Takerus einziger Kommentar dazu.

„Das auszuprobieren, ist jetzt aber echt lächerlich“, meinte Taichi, als Mimi in ihrer Tasche kramte und einen Kuli zutageförderte, den sie ihm zuwarf.

Takerus Hand zitterte, als er seinen Namen auf die Rückseite eines seiner Tagebuchzettel schrieb. Iori und Wallace sahen ihm über die Schulter. „Sieht zumindest nach einer anderen Handschrift aus.“

„Also bitte, das ist billig“, beschwerte sich Daisuke. „Als ob er jetzt in seiner normalen Schrift schreiben würde.“

Takeru jedoch wirkte einmal mehr verwirrt. „Aber … bedeutet das, mein Tagebuch … stammt gar nicht von mir?“

„Hab ich’s doch gewusst“, sagte Mimi triumphierend.

„Was gewusst?“, stöhnte Taichi. „Muss man euch allen ständig alles aus der Nase ziehen?“

„Denk halt selbst mal richtig mit“, erwiderte sie schnippisch. „Mir ist dieses Tagebuch suspekt vorgekommen. Ich habe auch schon mal Tagebuch geschrieben, aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, am Anfang meinen vollen Namen reinzuschreiben und die Schule, auf die ich gehe. Das weiß ich doch im Normalfall sowieso! Und wenn es andere Leute in die Finger kriegen, Gott bewahre, dann brauchen sie das auch nicht zu erfahren! Ich hätte höchstens Mimi geschrieben und halt meine Schule oder meine neue Schule. Und die Leute, die man neu kennenlernt, so aufzuzählen und dabei noch ein paar Auffälligkeiten dazuzuschreiben? Das ist übertrieben, wenn ihr mich fragt.“

„Wenn du etwas übertrieben findest, muss das echt was heißen“, murmelte Taichi und fing sich einen giftigen Blick von ihr ein.

„Vielleicht wollte er sichergehen, dass er sich die Namen wirklich merkt“, schlug Iori vor.

„Aber ein Tagebuch schreibt man für gewöhnlich abends, wenn der Tag vorbei ist. Und es hört sich auch danach an, als wären die Einträge jeweils am Ende des Tages verfasst worden. Bis zum ersten Abend hatten wir uns doch hoffentlich längst gemerkt, wer von uns wer ist. Schließlich waren wir die ganze Zeit miteinander unterwegs“, gab sich Mimi überzeugt.

„Wenn du es so ausdrückst …“, grübelte Koushiro. „Es klingt tatsächlich so, als hätte Takeru gewusst, dass er alles vergessen würde.“

„Weil das Tagebuch nicht von ihm ist! Yamatos Mörder hat ihn niedergeschlagen und ihn alles vergessen lassen! Dann hat er ihm diesen Bericht hingelegt, damit wir nicht gleich merken, was mit ihm los ist. Er hat ihm alles Wichtige aufgeschrieben, was in den letzten Tagen passiert ist. Und im ersten Moment haben wir ja wirklich nichts gemerkt. Und die Serviette hat natürlich auch der Mörder beschriftet.“

„Wow“, machte Miyako. „Das ist echt gut kombiniert, Mimi.“

„Ja, echt gut“, murmelte Taichi anerkennend. Als sie ihn triumphierend anlächelte, fügte er hinzu: „Für jemanden wie dich“, und der nächste böse Blick folgte.

„Aber wer würde erst Takeru niederschlagen und dann Yamato ermorden?“, fragte Iori.

„Ich bin immer noch dafür, dass wir einfach einen Handschriftenvergleich machen“, sagte Wallace. „Dann haben wir den Täter gleich.“

„Na gut, tun wir’s“, seufzte Taichi. „Dann reizen wir immerhin alle Möglichkeiten aus. Mimi, darf ich bitten?“

Sie gaben den Kuli im Kreis weiter und jeder schrieb sein paar Sätze auf einen Notizzettel. Das Ergebnis war ernüchternd. „Sieht alles ganz anders aus als die Nachricht an Yamato und das Tagebuch“, stellte Taichi fest.

„Was für eine Überraschung“, knurrte Daisuke.

Hikari war drauf und dran, den Mut zu verlieren. Sie kamen einfach keinen Schritt vorwärts – es war eher, als bewegten sie sich immer weiter vom Täter weg. „Das Motiv“, murmelte sie. „Wenn wir das Motiv herausfinden, finden wir vielleicht auch den Täter.“

„Leichter gesagt als getan“, meinte Miyako. „Wenn es nicht die Telefonzellen waren, was war es dann?“

„Moment mal“, meinte plötzlich Iori. „Takeru kann sich doch an nichts erinnern, oder? Du weißt nicht, dass du mit niemandem gesprochen hast, stimmt’s? Du hast es nur gelesen.“ Takeru nickte unbehaglich.

„Der Täter konnte unmöglich wissen, was Takeru am Telefon gehört hat. Und seinen Gesprächspartner kannte er auch nicht. Darum hat er das Tagebuch dahingehend gefälscht, dass Takeru angeblich gar nicht telefoniert hat“, kombinierte Koushiro. „Aber ist das schon alles, was dahintersteckt?“

„Die Gespräche waren wahrscheinlich doch gleich“, meinte Taichi. „Takeru hat ungefähr dasselbe gehört wie wir. Der Mörder durfte aber auch nicht in diesen Bericht schreiben, was er selbst am Telefon gehört hat – das wäre garantiert auch gegen die Regeln gewesen, und außerdem konnte es immer noch sein, dass wir doch alle etwas anderes gehört haben.“

„Gehen wir doch nochmal davon aus, dass der Mörder die Person am Telefon gekannt hat“, schlug Wallace vor. „Wir waren alle schockiert, aber wir hätten niemanden umgebracht, um von der Insel zu fliehen. Aber stellt euch vor, ihr hättet die Person am anderen Ende der Leitung erkannt. Was hättet ihr getan?“

„Ich würde nie einen Mord … begehen“, murmelte Jou, aber mit jedem Wort wurde seine Stimme schleppender. Die anderen schwiegen nachdenklich.

„Die Leute, mit denen wir geredet haben, waren weder unsere Eltern, noch Freunde oder Geschwister“, fasste Wallace zusammen. „Wen kann man sonst noch kennen, der einem wichtig ist? Geliebte? Fällt das unter Freunde? Was ist mit Cousins und dergleichen?“

„Warte!“ Mimi zuckte plötzlich zusammen. „Das stimmt nicht. Es hieß nicht, keine Eltern – es hieß, keine Erziehungsberechtigten!“

„Macht das einen Unterschied?“

„Wenn man Eltern hat, die nicht gleichzeitig die Erziehungsberechtigten sind, dann ja“, sagte Mimi bestimmt. „Die wären nämlich von der Regelung ausgenommen.“

Hikari sog scharf die Luft ein. So hatte sie das noch gar nicht gesehen … Was für ein fieser Trick, den Monokuma sich da überlegt hatte!

„Ach du Scheiße“, ächzte Taichi. „Das heißt, falls Yamato und Takeru doch Brüder sind …“

„Aber er hat doch gesagt, dass sie keine Brüder oh“, unterbrach sich Miyako. „Er erinnert sich ja nicht.“

Takeru blinzelte nur irritiert. Wahrscheinlich dachte er gerade angestrengt nach, ob er nicht doch einen Bruder hatte …

„Und wenn die beiden Brüder sind, aber einen anderen Familiennamen haben, sind ihre Eltern vielleicht geschieden“, sagte Mimi eifrig. „Und wenn je ein Elternteil für einen der beiden Söhne das Sorgerecht hat, ist der andere Elternteil kein Erziehungsberechtigter!“

„Das ist doch nur eine wilde Theorie“, murmelte Hikari.

„Aber sie ist gar nicht so unwahrscheinlich“, behauptete Wallace. „Ich würde es Monokuma zutrauen, so ein Finte zu legen.“

„Wartet, aber hieße das nicht …“ Hikari konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft ihr im Laufe dieses Klassenprozesses ein heißkalter Schauer über den Rücken gelaufen war, doch dieses Mal war er schlimmer als alle vorhergehenden.

„Dass Yamato und Takeru die Einzigen waren, die tatsächlich ein Motiv haben könnten“, beendete Iori ihren Satz. „Jeder von ihnen könnte seinen verlorenen Elternteil am Telefon gehört haben, und deswegen könnte auch jeder von beiden verzweifelt versucht haben, von der Insel fortzukommen.“

„Verdammt noch mal, dann ist Takeru ja wirklich der Mörder!“ Daisuke raufte sich die Haare. „Das heißt dann wohl, er hat die Pilze selbst gegessen, damit er sich nicht verraten kann! Wahrscheinlich, um sein Gewissen zu beruhigen.“

„Nicht so schnell. Da passt immer noch etwas nicht zusammen“, sagte Koushiro. „Angenommen, der Vater würde bei Matt leben und die Mutter bei Takeru. Wenn Takeru nun mit seinem Vater telefoniert und den Entschluss gefasst hat, jemanden umzubringen, um von hier wegzukommen – warum hat er dann ausgerechnet Yamato ermordet? Ausgerechnet seinen Bruder?“

„Es würde so aber alles Sinn ergeben“, überlegte Miyako. „Ich meine, wenn Takeru doch die Nachricht geschrieben hat, um Yamato herauszulocken. Und sich selbst das Tagebuch geschrieben hat, damit er nicht ganz von Null anfangen muss, nachdem er die Pilze geschluckt hat.“

„Aber was ist mit seiner Beule?“, fragte Iori.

„Tarnung“, brummte Daisuke.

„Vergesst die Beule“, knurrte Taichi. „Die beiden waren ja wohl kaum so schlechte Kerle, dass sie ihren Bruder umbringen könnten! Allein die Vorstellung ist absurd!“

„Im Endeffekt würde es keinen Unterschied machen“, sagte Wallace. „Sobald einer von ihnen einen Mord begeht und beim Strafprozess ungeschoren davonkommt, werden alle anderen getötet, inklusive dem Bruder, den sie verschont haben.“

„Klar, aber es ist noch mal eine ganze Ecke härter, den eigenen Bruder selbst umzubringen!“

Taichi bedachte Hikari mit einem harten Blick. „Ich meine, wenn ich draufkäme, dass Hikari jemanden umgebracht hat, würde ich sie trotzdem beschützen, und meinetwegen sterbe ich dafür, dass sie freikommt.“

Hikari schluckte bei dem Gedanken … und plötzlich wusste sie die Antwort.

Sie öffnete den Mund, wagte es aber nicht, zu sprechen. Ihr ging durch den Kopf, welche Auswirkungen es haben würde, wenn sie ihre Gedanken nun laut aussprach. Wenn die betreffende Person tatsächlich überführt wurde … dann würde Monokuma sie umbringen, wie er Ken umgebracht hatte … diese Person, die gar nichts für den Mord konnte … Aber ansonsten würden sie alle sterben. Was war das nur für eine hoffnungslose Situation? Das konnte doch wohl nur ein schlechter Scherz sein! Sie sollte einen Unschuldigen ausliefern, damit die anderen überlebten und dieses kranke Spiel weiterging … Mit einem Mal krallte sie die Hände in ihr Haar und schrie laut auf.

Die anderen zuckten zusammen. „Hi-Hikari … Was ist los?“, fragte Daisuke verdattert, als er sie so sah.

Sie blickte ihn voller Qual an. „Ich weiß es“, hauchte sie. Tränen stiegen in ihre Augenwinkel. „Takeru, erinnerst du dich daran, was wir damals auf dem Hauptplatz besprochen haben?“, flüsterte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. „Wir haben über Hoffnung gesprochen …“ Wo war die Hoffnung nun hin? Sie wollte plötzlich einfach einschlafen und in einer Welt aufwachen, die freundlicher war.

„Was denn? Jetzt red‘ schon, was hast du rausgefunden?“, drängte Miyako sie aufgeregt.

„Die Wahrheit“, schluchzte sie. Sie versuchte gar nicht erst, die Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen rollten und auf das Holz der Brüstung vor ihr tropften. Es war ihr egal, dass die anderen sie so sahen – es könnte ihr nicht egaler sein, was noch alles passierte! Nur die beiden Schicksale, die sie erwarteten, bedeuteten ihr etwas, und das eine schloss das andere aus, und sie waren beide gleich schrecklich! Sie biss die Zähne zusammen. „Die brutale, traurige, bittere Wahrheit … Ich bring es nicht über mich, ich kann das nicht sagen …“

„Mach schon“, herrschte Taichi sie an. „Erzähl uns davon! Sonst sterben wir alle!“

„Ich weiß!“, jammerte sie. „Aber das ist auch keine Entschuldigung! Denn der Mörder … Yamatos Mörder … Er weiß wirklich nicht, was er getan hat, er hat keine Ahnung!“

Mit einem Schlag war es totenstill. Nur Hikaris Schluchzen war zu hören, die sich langsam von ihrem Ausbruch erholte. Die anderen waren allesamt erbleicht, und nach und nach ging ihnen auf, was sie meinte. Ihre Blicke wanderten einmal mehr zu Takeru.

„Takeru hat ihn getötet“, schluchzte Hikari und presste sich die Hand vor den Mund, als könnte sie ihre Worte dadurch irgendwie abmildern. „Aber er wollte es nicht. Es war alles Yamatos Plan.“

„Wie jetzt, was?“, rief Daisuke aus. „Was soll das heißen, sein Plan? Er hatte doch wohl nicht vor, ermordet zu werden?“

„Doch“, presste Hikari hervor.

Wieder herrschte Stille. „Du meinst … Yamato war derjenige, der mit, sagen wir, seiner Mutter telefoniert hat?“, fragte Jou entgeistert.

Hikari nickte fahrig. „Taichis Bemerkung eben hat mich darauf gebracht … Yamato hat gewusst, mit wem er gesprochen hat. Seine Mutter war nicht seine Erziehungsberechtigte, aber es war immer noch seine Mutter. Er wollte ihr unbedingt zu Hilfe kommen, aber dafür hätte er jemanden umbringen müssen. Und im Anschluss daran hätten alle anderen sterben müssen, auch sein kleiner Bruder.“ Hikari scherte sich nicht mehr darum, ob sie geheime Informationen zu den Telefonaten preisgab oder nicht, sie redete einfach weiter. „Also hat Yamato beschlossen, stattdessen seinem Bruder zur Freiheit zu verhelfen. Er hat alles so eingefädelt, dass Takeru einen Mord begeht und anschließend den Strafprozess überlebt … damit er seine Mutter retten kann!“

„Dann hat also Yamato diese Nachricht …“, murmelte Taichi.

Hikari hätte sich nicht elender fühlen können, nickte aber. „Er hat sie selbst geschrieben. Er hat versucht, den Strafprozess zu beeinflussen, indem er Mimi als mögliche Täterin vorschob. Er hat einen Brief von ihr gefälscht und in sein Haus gelegt – dorthin, wo wir ihn leicht finden würden.“

„Seine Haustür war nicht abgesperrt, wenn ich mich richtig erinnere“, murmelte Koushiro. „Verstehe. Er wollte, dass wir ohne Probleme diese Nachricht finden.“

„Er hat ein … Tut mir leid, ich kann nicht mehr.“ Hikaris Stimme drohte zu versagen, aber sie hatte bereits genug gesagt. Der Stein war ins Rollen gebracht worden, und die anderen konnten sich den Rest selbst zusammenreimen.

„Er hat die Pilze aus dem Lagerhaus zermatscht und in eine Colaflasche gemischt. Dann hat er ein Messer aus seiner eigenen Küche genommen und mit Monokumas Gift getränkt. Mit diesen beiden Dingen ist er zu Takerus Haus gegangen“, sagte Wallace. „Der hat seinem Bruder natürlich bereitwillig geöffnet. Wahrscheinlich hat Yamato ihm sogar von der Cola angeboten – und Takeru hatte keinen Grund, sie abzulehnen. Und dann hat die Tragödie angefangen. Das meintest du damit, dass er unschuldig, ist, oder, Hikari?“

Sie nickte.

Mimis Augen waren tellergroß. „Das heißt, er hat Takeru die Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilze zu trinken gegeben, damit er seine Erinnerungen verliert? Da schon? Aber wieso?“

„Ganz einfach“, sagte Taichi bitter. „Damit Takeru ihn nicht mehr erkennt. Er muss total verwirrt gewesen sein, nachdem er einen Schluck getrunken hat. Plötzlich war er in einem fremden Haus, konnte sich an nichts mehr erinnern … und Yamato hat das Messer ausgepackt und so getan, als wollte er auf ihn losgehen.“ Taichi wischte sich über die Stirn und ließ dann die Hand gleich dort, bedeckte seine Augen. „Ich fass es nicht … Yamato … Du Vollidiot.“

„Takeru wird sich gewehrt haben“, fuhr Wallace fort. „Yamato hat sich das Messer entreißen lassen und sich dann auf Takeru gestürzt, sodass dieser ihn im Affekt damit verletzt hat. Monokumas Gift wirkt angeblich erst nach fünf Minuten – so viel Zeit hatte Yamato noch für seinen Plan. Er muss es noch geschafft haben, Takerus Kopf gegen die Wand oder gegen den Boden zu schlagen, damit dieser das Bewusstsein verliert. Als er ohnmächtig war, hat er ihm nochmal einen Schluck von der Pilzlimonade gegeben, damit er sich nicht an den Mord erinnert. Dann hat er das Reisetagebuch, das er im Vorhinein angefertigt hatte, auf Takerus Schreibtisch platziert, damit sein Bruder wenigstens ein paar Anhaltspunkte hat, wenn er wieder aufwacht. Natürlich hat er darin mit keinem Wort erwähnt, dass sie verwandt sind. Anschließend ist er getürmt und hat das Messer hinter Mimis Haus weggeworfen. Er ist noch bis zu ihrer Vordertür gekommen, ehe er zusammengebrochen ist. Ich bewundere gerade seine Idee.“

„Das wollen wir jetzt überhört haben“, sagte Mimi scharf.

„War es so?“, fragte Iori Monokuma. „Ist es so in der Art abgelaufen?“

„Puhuhu, das kann ich euch nicht sagen, ehe ihr nicht abgestimmt habt“, erklärte der Bär.

„Es passt aber alles zusammen. Das Blut auf dem Messer, die Flecken auf Takerus Hemd, der Brief mit derselben Handschrift wie Takerus Tagebuch … So könnte es tatsächlich gewesen sein“, sagte Jou.

„Scheiße.“ Selbst Daisuke, der Takeru ständig verteufelt hatte, wirkte geknickt. „Das ist echt … gemein.“

Takerus eigene Miene war bei jedem Wort verzweifelter geworden. „Das ist ein Scherz, oder?“, hauchte er. „Ich habe einen Bruder? Und ich habe ihn umgebracht? Ich … ich hatte ja keine Ahnung! Ich … ich hab das nicht getan, das müsst ihr mir glauben!“

„Leider ist es sehr wohl möglich“, sagte Taichi traurig. Takerus Blick glitt über alle Versammelten. Hikari hätte es nicht ertragen, wenn er länger als nötig auf ihr verharrt wäre, doch das tat er nicht. Was immer zwischen ihnen gewesen war, diese angenehme Verbundenheit, die sie bei ihrem Gespräch gefühlt hatte … es war nicht mehr. Ausgelöscht von diesen Pilzen. Ausgelöscht von Takerus eigenem Bruder.

Monokuma hatte versprochen, dass sie jedwede durch die Pilze verlorene Erinnerung wiedererlangen würden, sobald sie von der Insel fortkämen. Yamato hatte es seinem Bruder wegen der Telefonzellen-Regel nicht mitteilen können, aber er hatte darauf gesetzt, dass Takeru sich an sein eigenes Telefonat erinnerte und den Sinn hinter der Tat seines Bruders erkannte, und dass er im Anschluss nach seiner Mutter suchte.

„Aber müsste nicht auch das Tagebuch blutig sein, wenn Yamato den Messergriff schon verschmiert hat?“, wagte Miyako noch einen Einwand.

„Nicht unbedingt“, sagte Iori. „Vielleicht hat er den Zettel mit der Linken hervorgeholt, oder er hat später beide Hände auf die Wunde gepresst, weil der Schmerz unerträglich wurde … Ich bin sicher, wenn wir in Takerus Haus gehen, würden wir irgendwo die Colaflasche finden.“

„Ihr müsst gar nicht so weit gehen … Da war wirklich eine Flasche in meinem Zimmer, als ich aufgewacht bin … O Gott …“ Takeru vergrub das Gesicht in Händen. „Und eine Nachricht.“

„Das Tagebuch“, vermutete Taichi.

„Nein, noch eine andere Nachricht … Ich wusste nicht, von wem sie ist, ich hab auch gar nicht auf die Handschrift geachtet, aber es war sicher dieselbe … Ich war so verwirrt …“ Er sah aus, als würde er gleich zu weinen beginnen. Es brach Hikari das Herz. Mit zittriger Stimme fuhr Takeru fort. „Es war eine Anweisung. Ich sollte, egal was passiert, nicht verzweifeln. Ich würde mich bald wieder an alles erinnern, hat er mir versprochen. Dazu sollte ich nur möglichst unauffällig sein. Ich sollte mein Tagebuch lesen, und es wäre in dieser Nacht noch einer von den Leuten, von denen es erzählt, gestorben, aber ich sollte mich nicht zu sehr damit auseinandersetzen. Und ich sollte die Nachricht vernichten und das Tagebuch gleich mit, sobald ich es gelesen habe … Und meine Kleidung auf Schmutz untersuchen. Wenn sie wo rote Flecken hätte, wäre das wegen einem Streich von einem von euch, und ich sollte jedes betroffene Kleidungsstück entsorgen, weil mir sonst jemand etwas anhängen würde. Ich war in Unterwäsche, als ich aufgewacht bin, gerade fertig zum Schlafengehen, und mein Unterhemd war rot bekleckert … Ich habe sogar geahnt, dass es Blut ist, aber was hätte ich tun sollen? Derjenige, der mir die Nachricht geschrieben hat, war der Einzige, dem ich vertrauen konnte! Ich wusste ja gar nichts über mich und über diese ganze Situation hier! Also habe ich es ausgezogen und versteckt. Dann war es also wirklich … Oh nein …“

„Kein Zweifel, das waren Yamatos Anweisungen“, sagte Taichi. „Aber an alle hast du dich dann doch nicht gehalten. Du hast das Tagebuch behalten.“

Takeru nickte langsam. „Es war mein einziger Anhaltspunkt. Ich habe es nicht über mich gebracht … Wenn ich wieder alles vergessen hätte, wäre ich verloren gewesen …“

Die anderen schwiegen betreten, bis Monokuma sagte: „Also, das war jetzt das langweiligste Geständnis, das ich je gehört habe. Wir können doch sicher mit der Abstimmung beginnen, oder? Also los!“

Hikari enthielt sich. Sie brachte es nicht über sich, den Hebel zu bewegen, und sie glaubte, dass es den anderen auch so ging. Aber zumindest einer aus ihrer Gruppe bewegte den Hebel. Vielleicht Daisuke – nein, so durfte sie nicht denken. Wenn sie Takeru nicht anschuldigten, würden sie alle sterben.

Jedenfalls verkündete Monokuma: „Und es wurde für Takeru Takaishi gestimmt! Gratulation, ihr habt den Mörder ausfindig gemacht!“

„Es tut mir so leid“, hauchte Hikari in Takerus Richtung. Sie hatte wieder Tränen in den Augen.

„Wir werden gleich mit der Bestrafung anfangen“, verkündete der monochrome Bär vergnügt. „Allerdings möchte ich unserem armen Mörder – Schrägstrich Opfer – vorher noch einen Gefallen tun.“

„Einen Gefallen?“, fragte Taichi misstrauisch.

„Es wäre ja wirklich unfair, wenn er sterben würde, ohne genau zu wissen, warum. Darum werde ich ihm seine Erinnerungen jetzt wieder zurückgeben.“

Was sagte er da …? „Nein!“, rief Hikari. „Warte! Tu das nicht!“

„Zu spät“, kicherte Monokuma.

Etwas geschah in der Luft um Takerus Kopf herum. Schillernde Staubpartikel tauchten aus dem Nichts auf und strömten durch seine Schädeldecke – der Anblick war surreal, aber wenn man es genau nahm, geschahen auf dieser Insel sowieso einige unerklärliche Dinge.

„Nicht!“, schrie Hikari. „Stopp!“

Monokumas halbseitiges Grinsen war allgegenwärtig. Dann schrie Takeru auf.

Und wie er schrie. Seine Augen traten hervor, er hämmerte sich die Fäuste gegen die Schläfen, als er sich an alles erinnerte, was geschehen war. Zweifellos drängten sich ihm die gemeinsamen Erlebnisse mit Yamato auf, er erinnerte sich an alles, was seinen Bruder betraf – und auch, wie er ihn, benebelt vor Angst, mit dem Messer angegriffen hatte. Bald liefen Tränen über Takerus Wangen, tropften zu Boden, während er sich heulend das Haar raufte.

„Yamato!“, keuchte er, als er schließlich am Boden zusammenbrach. „Was habe ich getan … Yamato … Das wollte ich nicht … Ich wollte es nicht …“ Seine Faust hämmerte gegen die Holzdielen.

„Monokuma, das büßt du uns!“, knurrte Taichi wie ein wildes Tier. „Wenn wir dich in die Finger kriegen, kannst du was erleben! Keiner von uns wird das vergessen, hörst du?“

„Puhuhu“, kicherte Monokuma. „Dabei sind wir noch gar nicht fertig. Die Bestrafung für den unartigen kleinen Bruder!“ Er schlug auf die Schelle vor sich. „Der Schiedsspruch der Spielzeuge! Wahahaha!“

Während Monokumas haltlosem Gelächter stieg plötzlich etwas aus dem Boden unter Takerus Füßen auf. Es sah aus wie ein Luftballon, nein, eine herzförmige Seifenblase. Sie umschloss den am Boden kauernden Jungen und trug ihn fort bis zur Tür des Rathauses, die vor ihm aufsprang.

„Hinterher!“, kommandierte Taichi. „Holt ihn da raus!“

Die Seifenblase war zu schnell. Kaum dass sie im Freien war, fiel die Tür mit einem Knall wieder ins Schloss. Die Freunde rüttelten an der Klinke, doch sie ließ sich nicht bewegen.

„Schlagt die Fenster ein“, schrie jemand, doch Hikari sah sofort, dass es sinnlos war. Die Fensterkreuze waren aus etwas wie Stein und genauso widerstandsfähig, die Scheiben dazwischen zu klein, als dass man sich hindurchzwängen könnte.

Dafür konnten sie sehen, was draußen vor sich ging. Die herzförmige Blase zerplatzte auf der Hauptstraße und ließ Takeru fallen. Im nächsten Moment raste eine Spielzeuglok heran, in der wohl ein Kind sitzen könnte – ohne Schienen, ohne Fahrer. Sie prallte in Takerus Rücken, gerade als er sich aufrappelte, und stieß ihn abermals um.

„Takeru!“, schrie Hikari.

Mühsam kämpfte er sich wieder in die Höhe, als weitere Herzblasen herangeflogen kamen. Sie schlossen sich um seine Hand- und Fußgelenke und nagelten ihn aufrecht in der Luft fest. Takeru versuchte sich zu befreien, doch er zappelte nur hilflos herum.

„Tut irgendwas!“, brüllte nun auch Daisuke. Hikari hörte, wie er einen Stuhl gegen eines der Fenster warf. Das Glas zerbrach, aber mehr geschah nicht.

Hikari konnte den Blick nicht von den Geschehnissen draußen abwenden. Was dort geschah, kam ihr so unwirklich vor …

Ein aufziehbares Affenplüschtier mit Handzimbeln marschierte auf Takeru zu und schlug dabei kräftig die Becken zusammen. Zu diesem Rhythmus marschierte ihm eine Armee aus Spielzeugsoldaten entgegen – es waren die typischen Zinnsoldaten, wie Kinder vor langer Zeit zum Spielen hatten, nur dass sie etwa dreißig Zentimeter groß waren. Sie formierten sich in einem Halbkreis um Takeru. Dann fiel das Affenplüschtier einfach um, als hätte man es umgetreten, und die Spielzeugsoldaten hoben ihre winzigen Gewehre und legten an.

„Nein!“, keuchte Hikari, und auch einige andere stießen erschrockene Rufe aus.

Die Spielzeugsoldaten schossen. Und schossen. Und schossen erneut. Hunderte winzige Kugeln prasselten auf Takeru ein, durchschlugen sein Hemd, seine Haut, verspritzten sein Blut auf den Pflastersteinen. Er erzitterte unter den Projektilen, die seinen Körper durchbohrten, und als die Soldaten aufhörten, sackte er schlaff in der Luft zusammen. Hikari hatte gar nicht bemerkt, wann sie zu schreien begonnen hatte.

Die Zinnsoldaten marschieren davon, verstreuten sich in allen Gassen. Die Blasen ließen Takeru ins Führerhaus der Spielzeuglok sinken, dann raste diese mit seiner Leiche davon.

Fall 03: Tägliches Leben I – Der Herr der Dunkelheit

Es war noch helllichter Tag, als sich Taichi in sein Bett warf, aber er fühlte sich so müde und so elend wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Sora. Ken. Yamato. Takeru. Vier von ihnen waren bereits tot. Und nichts, absolut gar nichts hatte sich an ihrer Situation geändert! Sie saßen immer noch auf dieser Insel fest, und man konnte den Himmel oder die Umgebung absuchen, so sehr man wollte – keine Anzeichen eines Suchtrupps, keine anderen Menschen, nichts!

Unter seiner Decke brütete er finster vor sich hin. Dass Yamato die Person gekannt hatte, mit der er am Strand telefoniert hatte, verhieß nichts Gutes. Vielleicht hatte auch Taichi mit der Mutter eines der anderen telefoniert – vielleicht hatte einer der anderen seine Eltern gehört, die um Hilfe flehten! Es war ihnen weiterhin verboten, darüber zu reden, und die Ungewissheit machte ihn rasend.

Von Yamatos Leiche war keine Spur mehr zu sehen gewesen, als sie das Rathaus wieder verlassen durften, das nun eher ein Gerichtsgebäude geworden war. Nicht mal mehr ein Blutspritzer war übrig.

Hikari war seit Takerus Tod am Boden zerstört – vermutlich ging er ihr von allen am nächsten. Taichi schwor sich, bei allem, was ihm heilig war, dass er seine kleine Schwester am Leben halten und hier rausbringen würde, komme, was da wolle! Er hatte das Gefühl, als hätte Yamato ihn noch im Tod zu einem Streit herausgefordert. Als wollte er ihm nun sagen: Sieh her, wie weit ich dafür gegangen bin, um mein kleines Geschwisterchen zu retten. Mach‘s besser.

Als sie Takerus Haus noch einmal durchsucht hatten, waren sie auf Hinweise gestoßen, die seine Geschichte bestätigten. Dennoch hätte Taichi zu gern gewusst, was genau die Person am Telefon Yamato gesagt hatte. Ob die Nachricht wirklich so ähnlich war wie die, die er selbst erhalten hatte?

Als hätte er seine Gedanken erraten, war dann plötzlich Monokuma auf der Türschwelle erschienen. „Puhuhu, es sieht aus, als hättet ihr alle eine Menge Fragen. Also schön, bei einem Schulausflug soll man ja etwas lernen. Ich werde euch Antworten geben!“

Damit war er verschwunden, und eine Mail war auf Koushiros Laptop aufgetaucht. Es war eine Aufforderung, dass er mal wieder die Karte der File-Insel aufrufen sollte. Ein neues Gebiet war darin eingezeichnet worden. Labyrinth stand daneben, und darunter die Erklärung: Alles Wissenswerte über die DigiWelt, die DigiRitter und den Schultrip! Es war ein reißerisches Angebot, auf das sie nicht eingehen sollten, wenn man Taichi fragte.

Dennoch waren sie es ihren toten Freunden wohl schuldig. Sie tappten nur im Dunkeln und schlugen nach allen Richtungen aus, und dabei hatte es nun schon vier Todesopfer gegeben. Wenn schon so viel Leid passierte, sollten sie wenigstens wissen, wieso!

Und außerdem wollte niemand mehr in der Spielzeugstadt bleiben. Das stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Es gab immer noch Gift und diese verfluchten Pilze in der Stadt, und die Erinnerung an die Verschiedenen wog schwer. Nachdem Taichi einen wenig erholsamen Schlaf hinter sich gebracht hatte, trottete er am späten Nachmittag zum Platz mit der Festtafel. Die anderen waren bereits versammelt, wie in stiller Übereinkunft. Manche hatten sich Bündel geknüpft, in denen sie Gebrauchsgegenstände aus ihren Häusern mitnehmen wollten. Es herrschte Aufbruchsstimmung.

„Zu dem Labyrinth?“, fragte Koushiro und sah dabei Taichi an. Dieser wusste nicht, wieso gerade er das entscheiden sollte – vermutlich weil er der Letzte war und die anderen behauptet hatten, es wäre ihnen egal. Also nickte er nur. Bevor sie ohne Ziel in der Wildnis umherirrten, konnten sie genausogut einen Ort ansteuern, von dem sie zumindest wussten, dass es dort etwas gab.

„Meint ihr nicht, dass es wieder eine Falle von Monokuma ist?“, fragte Miyako zaghaft.

„Klar ist es das.“ Wallace legte den Arm um ihre Schultern. Er schien als Einziger gut gelaunt. Sie streifte seinen Arm nicht mal ab, so apathisch war sie. „Aber eine Falle ist erst gefährlich, wenn man sie zuschnappen lässt. Egal was passiert, ich glaube nicht, dass noch jemand von uns einen Mord begehen wird.“

„Du hast da ja ziemlich großes Vertrauen in Leute, die du kaum kennst“, meinte Daisuke.

„Du irrst dich“, sagte Wallace plötzlich ernst. „Ich habe zwei von diesen Strafprozessen mit euch durchgestanden. Ich weiß ungefähr, woran ich bei euch bin.“

Daisuke senkte betreten den Kopf. „Ja … ich schätze, du hast recht. Wenn wir uns nur von Anfang an schon besser gekannt hätten … dann hätte uns Ken nie so kalt erwischen können.“ Er ballte die Fäuste. Die Sache nagte also noch immer an ihm.

So wurde es beschlossen. Mit Trauer und Wut als ihren Wegbegleitern, machten sich die Freunde auf, dieses Labyrinth zu suchen.

Sie marschierten über Nacht und lagerten unter freiem Himmel. Irgendwie schienen sich die Überlebenden stärker zusammenzuraufen, denn obwohl kaum jemand etwas redete, fühlte man doch eine seltsame Eintracht. Sie stellten nicht einmal eine Wache auf – vielleicht, weil es jedem von ihnen gleichgültig war, ob sie von wilden Tieren angegriffen werden könnten. Bisher hatten sie solche sowieso nicht gesehen.

Am nächsten Tag marschierten sie bis zum frühen Nachmittag, ehe sie in das auf Koushiros Karte vermerkte Gebiet gelangten. Der Eingang zu den Ruinen war ein von Ranken überwuchertes Steingebäude, an dem der Zahn der Zeit üble Spuren hinterlassen hatte. Sie betraten den Eingangsraum. Kalt war er und aus schmutzigem Stein. Die Wände waren voller fremdartiger Schriftzeichen. In einer Ecke war ein breiter Spalt im Boden eingelassen, so als steckte hier üblicherweise etwas, das man jedoch entfernt hatte.

„Und jetzt?“, fragte Mimi. „Ich habe keine Lust, mich in dem Labyrinth da zu verlaufen.“ Sie deutete auf den einzigen Tunnel, der von hier abzweigte – und sich bald darauf in mehrere Gänge teilte.

„Das ist vielleicht gar nicht nötig“, meinte Koushiro und schloss seinen Laptop an ein Kabel an, das aus der Wand ragte. „Es sieht so aus, als könnte ich von hier auf die Daten zugreifen. Gebt mir ein paar Minuten.“

Aus den Minuten wurde eine gute Stunde. Schließlich rief er sie alle wieder zu sich.

Die Neuigkeiten waren geradezu verstörend. Unter den Daten, die Koushiro ausgegraben hatte, waren zuallererst Videoaufzeichnungen, auf denen sie zu sehen waren.

Die Freunde schnappten nach Luft. Man sah sie durch die Wildnis wandern, in der Straßenbahn campen, in die Fabrik hinabsteigen … obwohl jeder von ihnen schwor, nirgends eine Kamera gesehen zu haben.

„Ich glaube, ich habe eine Erklärung dafür“, meinte Koushiro. „Nach dem, was ich in der Fabrik und jetzt, gerade eben, herausgefunden habe, sind wir nicht mehr in der … wie soll ich sagen … in unserer Welt.“

„Jetzt nimm uns nicht auf den Arm“, brummte Taichi. „Wenn du durchdrehst, sag’s gleich.“

„Ich meine es ernst. Diese Welt ist in mehr als nur einem Aspekt sonderbar. Ich habe hier eine Weltkarte gefunden, seht ihr? Wir sind hier, auf dieser Insel. Es gibt aber auch noch einen Kontinent, nämlich hier.“

Eine dreidimensionale Karte erschien in der Luft, wie ein Hologramm. Taichi beschloss, sich über gar nichts mehr zu wundern.

„Das ist nicht die Erde, oder?“, fragte Miyako beklommen.

„Fast. Seht euch mal diese Karte hier an – das sind die Computernetzwerke der Erde. Die Knotenpunkte sind Server, da seht ihr das große Backbone, und …“ Er bemerkte, dass er genauso gut eine andere Sprache hätte sprechen können. „Sagen wir, diese Karte zeigt, wie das Computernetz der Erde aussehen würde, wenn es statt Leitungen und Daten und Rechnern aus Landmassen bestehen würde.“

Die beiden Karten waren identisch.

„Aha“, sagte Taichi. „Und was sagt uns das?“

„Das ist vielleicht ein ziemlich krasse Theorie“, meinte Koushiro, „allerdings würde es gleichzeitig erklären, warum hier so merkwürdige Dinge passieren können wie bei Kens und Takerus Hinrichtung. Und warum ich hier, obwohl es nirgendwo Projektoren gibt, eine Weltkarte erscheinen lassen kann, nur weil ich in dem Programm in diesen Ruinen etwas verändere. Und es erklärt, wie Monokuma uns filmen und überwachen kann, ohne dass wir etwas davon merken.“

„Und zwar?“, fragte Taichi. „Mach‘s nicht so spannend, Mensch.“

„Alles um uns herum ist nicht echt“, sagte Koushiro mit erschütternder Endgültigkeit. „Alles, was ihr hier seht, auch wir selbst, besteht aus Daten. Und Daten kann man leichter manipulieren als die Dinge in unserer Welt.“

„Moment, soll das heißen, wir träumen das hier nur?“

Es folgte eine für alle Beteiligten ermüdende Diskussion, was denn nun echt war und was nicht, ob die Toten wirklich tot waren und ob das überhaupt alles möglich sein konnte. Im Endeffekt fanden sich alle damit ab, in einem merkwürdigen Paralleluniversum gefangen zu sein.

„Das Video“, murmelte Daisuke. „Spiel es weiter ab. Bitte.“

Koushiros Bildschirm zeigte immer noch als Standbild die Kantine in der Fabrik.

„Ich weiß nicht, ob das …“

„Tu es. Bitte.“

Schulterzuckend drückte der Rotschopf auf Play. Man sah, wie eine Zeitlang nichts passierte, nachdem sie sich alle schlafengelegt hatten. Dann öffnete sich irgendwann die Tür, und Ken war zu sehen, der Sora auf dem Arztwägelchen in den Raum schob. Daisuke verkrampfte sich bei dem Anblick, und auch die anderen vergaßen zu atmen. Mimi wandte den Blick ab, Jou ebenfalls, Wallace inspizierte desinteressiert die Inschrift an den Wänden, aber die anderen sahen klar und deutlich, wie Ken Sora fesselte und an den Ventilator band. Dann verschwand er. Zwei Stunden nach diesem Zeitpunkt würden die Ventilatoren hochfahren und sie umbringen.

„Okay“, murmelte Daisuke. „Das reicht.“

„Was für einen Grund hatte es jetzt, dass wir uns das ansehen mussten?“, fragte Miyako erregt. Das Video hatte eindeutig alte Wunden aufgerissen.

„Hast du sein Gesicht gesehen?“, fragte Daisuke. „Du mochtest Ken auch, nicht wahr, Miyako? Hast du sein Gesicht gesehen, als er sie aufgeknüpft hat? Er hat gegrinst! Kannst du dir vorstellen, dass jemand bei so einer Aktion grinst?“

„Ken war ja wohl nicht richtig im Kopf“, sagte Taichi unwirsch. „Vergessen wir es endlich.“

„Vergessen? Er war ein guter Kerl, ich weiß es! Die Art, wie er sich mit uns unterhalten hat … Er kann nicht einfach nur ein psychopathischer Mörder gewesen sein!“

Koushiro nickte. „Zu ihm habe ich auch etwas Interessantes ausgegraben“, kündigte er an. „Aber zuerst will ich euch was anderes zeigen.“

Er öffnete ein Video, das die Telefonzellen zeigte.

„Wir begehen jetzt doch keinen Regelbruch, oder?“, fragte Mimi ängstlich, die ahnte, was jetzt kam.

„Monokuma hat uns verboten, uns untereinander über die Telefongespräche auszutauschen. Er hat nichts davon gesagt, dass wir nicht an seine eigenen Aufzeichnungen dürfen. Im Gegenteil, er hat uns ja quasi hierher eingeladen.“ Koushiro spielte das Video ab.

Man sah Yamato in der Enge der Telefonzelle wie durch ein Fischaugenobjektiv. Dann hörte man eine weibliche Stimme.

„Hallo? Ist da jemand?“

Yamato erstarrte sichtlich. „Hallo? Wer ist da?“

„Ich kann Sie nicht hören“, erwiderte die Frau. „Bitte, ich soll Ihnen sagen, dass ich Natsuko bin und hier festgehalten werde …“

Der Rest des Telefonats war so, wie Taichi es von seinem eigenen kannte. Es war jedoch eindeutig, was geschehen war. Yamato hatte tatsächlich mit seiner Mutter gesprochen. Das war aus seinen Reaktionen eindeutig herauszulesen.

Sie sahen sich, obwohl es Taichi fast schon wie ein Frevel vorkam, noch den Rest seiner tragischen Geschichte an. Wie er Takeru nachts noch störte, als dieser bereits im Bett lag, wie er ihm Cola zu trinken anbot und ihm somit das Gedächtnis tilgte. Wie er ihn anfiel, dann von Takeru verwundet wurde; wie er seinen Bruder niederschlug, ihm erneut die Pilzlimonade einflößte und schließlich die Nachrichten auf den Schreibtisch legte. Es war alles so, wie sie es geschlussfolgert hatten.

„Wartet mal, geh nochmal zurück zu den Telefonzellen“, brachte Miyako atemlos hervor. „Ich will wissen, was ihr anderen gehört habt! Vielleicht sind da meine Eltern dabei!“

„Das sollten wir uns sparen“, meinte Koushiro.

„Warum? Wenn es ihnen schlecht geht, muss ich …“

„… jemanden töten? Die Frist ist längst vorbei, Miyako“, sagte Koushiro eindringlich. „Aber es ist sowieso egal. Wenn diese Welt hier wirklich aus Daten besteht, kann Monokuma die Stimmen unserer Eltern auch ganz einfach gefälscht haben. Ich traue ihm das zu. Sogar wenn das hier unsere Welt wäre – nachdem ich das Techniklevel von Andromon gesehen habe, traue ich ihm eine ganze Menge zu!“

Das mussten die anderen erst mal verdauen. Taichi fühlte sich ein kleines bisschen erleichtert.

„Hier, das habe ich sonst noch zu dieser Welt gefunden.“ Das Bild eines der DigiVices erschien. „Man nennt diese Welt die DigiWelt – genauso, wie Ken es gesagt hat. Und auf einem Kontinent jenseits des Meeres gibt es tatsächlich einen DigimonKaiser, der die Wesen, die hier leben, knechtet. Sie heißen Digimon. Der DigimonKaiser ist aber seit geraumer Zeit inaktiv.“

„Weil er hier war“, stellte Taichi fest. „Und jetzt ist er tot.“ Daisuke knirschte erneut mit den Zähnen.

„Diese Digimon, was ist das genau?“, fragte Iori.

„Digitale Monster. Sie können alle möglichen Formen annehmen.“ Koushiro zappte durch ein Sammelsurium aus obskuren Gestalten. Auch Andromon und Shellmon waren darunter. „Laut den Informationen müssten hier auf der Insel auch überall welche leben. Ich frage mich, wo sie hinverschwunden sind.“

„Sieht es nicht so aus, als hätte Monokuma sie unter Kontrolle?“, fragte Hikari.

„Möglich. Er hat auch etwas mit unseren DigiVices angestellt.“ Das Bild von vorhin erschien wieder. „Die DigiVices sind nämlich so etwas wie heilige Artefakte. Ihnen werden ganz unglaubliche Kräfte zugeschrieben, mit denen die Macht der Dunkelheit – also ich nehme an, das bedeutet einfach, das Böse – bekämpft werden kann. Nur die DigiRitter besitzen sie, und sie ermöglichen es Digimon, sich weiterzuentwickeln.“

„DigiRitter“, murmelte Mimi. „Das hab ich doch schon mal gehört …“

„Das Wort habe ich gefunden, als ich in der Fabrik über die DigiVices recherchiert habe. Dort wurde auch erwähnt, dass es irgendwo auf der Insel dieses Labyrinth hier gibt“, sagte Koushiro. „Angeblich sind die DigiRitter dazu ausersehen, sozusagen die Welt zu retten. Sie haben Digimon-Partner, die an ihrer Seite kämpfen, und es hat schon mal eine frühere Generation von DigiRittern gegeben, die irgendetwas Böses bekämpft haben, das durch eine sogenannte Feuerwand kam. Feuerwand – wie eine Firewall. Das ist sicher kein Zufall.“

„Das klingt ja alles sehr abenteuerlich. Seid ihr jetzt bald fertig?“, fragte Wallace ungeduldig. „Wir können dem, was wir hier finden, sowieso nicht trauen.“

„Eine Sache noch.“ Koushiros Stimme wurde düster. „Es geht um etwas, was sich die Saat der Finsternis nennt. Laut den Informationen hier ist es eine Art digitales Programm, das sich auch in unserer Welt manifestieren kann. Und Ken Ichijouji war damit infiziert. Es sind eine Art … Sporen, die durch den Nacken ins Rückenmark des Betroffenen eindringen.“ Er zeigte ihnen Bild von etwas, das wie mikroskopische schwarze, stachelige Kugeln aussah – fast wie Treibminen. „Hier stehen übrigens auch andere Übertragungsmöglichkeiten. Man kann mit einem gewöhnlichen Scanner wie einem Kartenlesegerät die Saat aus dem Nacken des Betroffenen kopieren und dann jedem anderen einsetzen. Die Saat bewirkt, dass man unglaublich intelligent und sportlich wird – aber gleichzeitig entwickelt sich damit die Macht der Finsternis. Man wird kaltherzig und grausam und machtgierig. Soweit die Informationen, die hier stehen. Ich schätze, das ist genau, was Ken passiert ist. Darum ist er der DigimonKaiser geworden. Und darum hatte er keine Skrupel, jemanden zu ermorden.“

Es war still geworden in dem kalten Steinraum. „Wegen so einer komischen Saat also“, knurrte Daisuke verbissen.

„Hast du sonst noch etwas gefunden?“, fragte Taichi, der sich lieber mit der Zukunft als mit der wenig freudvollen Vergangenheit beschäftigen wollte.

„Nur, dass es hier angeblich einen Wächter geben soll, der die Ruinen bewacht. Aber der scheint auch verschwunden zu sein, genau wie die meisten anderen Digimon.“

„Irgendeinen Weg zurück in unsere Welt?“, hakte Taichi nach.

Koushiro schüttelte den Kopf. „Da bin ich leider überfragt.“

„Wie es aussieht, ist unsere Lage nur noch schlimmer geworden“, sagte Joe mutlos. „Wir haben gedacht, wir wären einfach nur auf einer Insel. Dann hätten wir lediglich ein Schiff finden oder ein Boot bauen müssen, um fortzukommen … Aber wenn wir in einer anderen Welt sind, wie sollen wir dann je von hier wegkommen?“

„Außer, indem wir jemanden töten?“ Wallace schnalzte mit der Zunge. „Ich sehe da gerade wenig Chancen. Vorausgesetzt, man glaubt den Mist, der da in diesen Datenarchiven steht.“

Ein Blick in die Runde sagte Taichi, dass die anderen es glaubten.

„Hoffnung“, murmelte Hikari plötzlich.

„Was?“, fragte er seine Schwester.

„Takeru wurde von der Hope‘s Peak wegen seiner Hoffnung ausgewählt. Er war die Ultimative Hoffnung – und jetzt ist er tot. Er hat einfach seine Hoffnung vergessen. Und für uns ist jetzt auch alles hoffnungslos.“

Niemand konnte dieser traurigen, aber wahren Bemerkung widersprechen.

 

Wenn man die Stimmung der angeblichen DigiRitter bedachte, hätte es eigentlich regnen müssen, als sie am späten Nachmittag das Labyrinth verließen und sich durch den Dschungel schlugen. Mimi hatte bereits Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, so viel waren sie in letzter Zeit marschiert. Ohne ein Ziel vor Augen tappten sie über Stock und Stein, während es beständig dunkler wurde. Mimis Magen knurrte bereits vernehmlich, und sie stellte sich darauf ein, eine weitere Nacht unter dem Sternenzelt zu verbringen, wo allerlei Kriechtier über sie krabbeln konnte und wo Äste und Steine einem in den Rücken stachen.

So schrecklich die jüngsten Erlebnisse auch waren, die Erschöpfung ließ Mimi sich nichts sehnlicher wünschen als ein ganz normales Haus, in dem sie schlafen konnte. Nicht das aus der Spielzeugstadt mit ihren mörderischen Spielzeugen, sondern irgendein neues, unbescholtenes.

Und als hätte irgendeine höhere Macht ihre Gebete erhört, fanden sie genau das.

Sie marschierten in die Nähe des großen Berges, der die Inselmitte beherrschte. Ein festgetretener Pfad, wie eine Einfahrt, stach zuerst ins Auge, und dann sahen sie, wie sich aus den Dämmerschatten ein herrschaftliches Haus schälte, das sich an die Felswand drängte.

Der Anblick weckte ihre keuchenden Lebensgeister. Im Nu hatten sie sich vor dem Tor versammelt. Das Gebäude wirkte aus der Nähe noch größer, fast wie eine Villa. Zwei Stockwerke voller Fensterreihen, ein ausladendes Dachgeschoss, ein Balkon und drei runde Türme mit Spitzdächern.

„Was meint ihr?“, fragte Wallace. „Ob es sicher ist?“

„Ich finde, es wirkt auf jeden Fall merkwürdig“, sagte Jou.

„Ach, mir ist egal, ob es merkwürdig ist, ich will einfach nur ein Dach über dem Kopf und schlafen.“ Miyako gähnte. Sie sprach Mimi aus der Seele.

„Es ist jedenfalls nicht auf der Karte verzeichnet“, stellte Koushiro mit raschem Blick auf seinen Blechkasten fest. „Zumindest hat Monokuma wohl nicht versucht, uns herzulocken.“

„Meinst du, er findet uns nicht, wenn wir uns da drin verstecken?“, fragte Mimi hoffnungsvoll.

„Ich glaube nicht, dass wir ihm entkommen können. Er kann sicher die ganze Insel überwachen. Denkt dran, dass hier alles aus Daten besteht“, erinnerte sie Koushiro.

„Jaja, ich hab’s nicht vergessen“, murrte Mimi, die das Ganze immer noch nicht glauben konnte. „Gehen wir nun rein oder nicht?“

Sie gingen rein. Was hatten sie zu verlieren? Es war mehr oder weniger jedem klar, dass die einzige Gefahr auf dieser Insel sie selbst waren.

Das Haus war von innen genauso herrschaftlich wie von außen und erweckte einen westlichen Eindruck. Ein edler, roter Teppich war in der riesige Eingangshalle ausgelegt. Gegenüber der Tür hing das lebensgroße Gemälde eines strahlenden Engels, das eine beruhigende Atmosphäre verströmte. In der Luft hing ein köstlicher Duft, der Mimis Magenknurren erneut entfachte. Dem Geruch gingen sie als Erstes nach.

Sie fanden einen richtigen Speisesaal. Die lange Tafel war leer, aber eine Tür weiter lag die Küche. Dort standen einige benutzte Teller herum und Essensreste, aber auf einem riesigen Herd dufteten halb erkaltete Töpfe.

Mimi meinte, hinter einer Theke etwas davonhuschen zu sehen, und zuckte zusammen. „Was ist?“, fragte Taichi alarmiert.

„Ich … ich glaube, ich habe eine Ratte gesehen“, meinte sie kleinlaut.

Taichi runzelte die Stirn. „Hier gibt’s keine Ratten. Hier gibt es gar keine Tiere.“

Mimi zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte sie sich die Bewegung auch nur eingebildet.

„Wer, denkt ihr, wohnt hier?“, fragte Hikari und sah in die Töpfe. Der Duft verstärkte sich.

„Die Frage ist eher, ob er es uns übelnehmen wird, wenn wir uns einfach bedienen.“ Taichi krempelte die Ärmel hoch und nahm frische Teller aus einem Schrank.

„Das … das sollten wir nicht machen“, sagte Joe, obwohl sein Magen wohl am lautesten knurrte. „Das ist Diebstahl.“

„Die Eingangstür war doch offen. Und wir sind halb verhungert. Wer immer hier wohnt, hat sicher genug Kohle, um den Verlust zu verkraften“, sagte Taichi.

„Und wenn er hereinplatzt, während wir noch essen?“

„Dann erklären wir ihm die Sache einfach“, sagte Wallace. „Außerdem sind wir doch alle gewissenlose Mörder, oder? Lebensmitteldiebstahl ist in unserer Lage harmlos. Und wer soll das überhaupt sein, dem das Essen hier gehört? Das köchelt hier sicher schon Ewigkeiten vor sich hin. Vielleicht haben hier Digimon gewohnt, die jetzt verschwunden sind.“

Das würde aber nicht erklären, warum es hier vor allem frisches Essen gab, aber Mimi wollte nicht kleinlich sein. Wer dachte schon noch an gute Erziehung nach einem kräftezehrenden Marsch und im Angesicht so vieler Köstlichkeiten?

Sie beluden ihre Teller mit Eintopf, Suppe und Fleisch mit dunkler Soße. Auch Brot fanden sie und mehrere Flaschen Saft. Damit veranstalteten sie einen Festschmaus im Speisesaal, bis sie platzten.

Im Anschluss erkundeten sie in kleinen Gruppen das Haus. Es schien tatsächlich verlassen. Im oberen Stock gab es eine ganze Reihe von Gästezimmern, in denen je mindestens acht Personen schlafen konnten. Sie stellten gerade fest, dass das Dachgeschoss versperrt war, als Miyako die Treppe hochgestürmt kam.

„Ihr ahnt nicht, was ich gefunden habe“, rief sie strahlend.

Sie führte die anderen in den Keller. Dort, in einem hohen Saal mit Spitzbögen, dampfte ein heißes Bad in einem Steinbecken vor sich hin. Der Saal war mit einer hohen Trennwand in einen Bereich für Männchen und einen für Weibchen geteilt. In einem Vorraum lagen weiche Frotteemäntel bereit. Mimi stieß einen glücklichen Seufzer aus. Hier würde sie endlich ihr Kleid waschen und trocknen können.

So wurde das Bad in dieser Villa zum nächsten Zwischenstopp erklärt.

 

Iori seufzte, als er sich in das heiße Wasser gleiten ließ. Er hatte noch nie etwas Angenehmeres gespürt. Die Hitze lockerte seine verspannten Muskeln und der Dampf trieb die dunklen Gedanken aus seinem Kopf. Für einen Moment konnte er seine Sorgen vergessen. Er beobachtete, wie Taichi und Wallace Jou neckten, der es erst nicht wagte, zu ihnen in das Becken zu steigen, und sich letztendlich doch einen Ruck gab. Leise hörte er über die Trennwand die drei Mädchen miteinander reden.

„Wie lange sind wir wohl schon hier?“, fragte sich Iori laut.

„Neun Tage“, sagte Jou, der sich bis zum Hals ins Wasser hatte gleiten lassen. Daisuke starrte nur die ferne Decke an, als wären seine Gedanken ganz weit weg.

„Nur Mut“, sagte Taichi. „Wir sind hier vielleicht in einer Welt aus Daten, aber wir haben jemanden, der sich mit Daten echt gut auskennt. Koushiro, ich verlass mich auf dich.“

„Hm.“ Der Rotschopf wirkte darüber nicht gerade glücklich, aber er schloss die Augen und ließ sich so weit ins Wasser sinken, wie es ging, ohne dass er dabei ertrank. Er schien so müde, als könnte er jeden Moment einschlafen. „Heute nicht mehr. Heute verlass dich nur darauf, dass ich schlafen werde.“

„Dein ultimatives Talent hat sicher was mit Computern zu tun“, mutmaßte Wallace.

„Nicht ganz“, murmelte Koushiro halb ins Wasser. „Wissen.“

„Wissen? Na, immerhin.“

„Was ist dein Talent, Wallace?“, fragte Taichi.

„Das ist eher was Spezielles. Ich hab einen Brief von der Hope‘s Peak bekommen, in dem sie schreiben, sie hätten mich ausgelost. Und weil es mein Schicksal wäre, aufgenommen worden zu sein, bin ich der Ultimative vom Schicksal begünstigte Schüler.“ Wallace grinste, und Iori wusste nicht, ob er das ernst meinte. „Was ist mit euch?“

Daisuke schwieg weiterhin, Joe murmelte etwas von „Zuverlässigkeit“, und Iori sah sich genötigt, die Wahrheit über seine eigene Aufnahme preiszugeben. „Ich bin im Reserve-Kurs“, gab er zu.

„Echt? Das sind die Leute, die kein besonderes Talent haben, aber dafür zahlen, aufgenommen zu werden, oder?“

„Nur weil mir die Akademie kein spezielles Talent zugesteht, heißt das nicht, dass ich unfähig bin“, sagte Iori verärgert.

Taichi winkte ab. „Jetzt reg dich nicht gleich auf. Ist doch egal, warum wir dabei sind. Das Ganze war sowieso nur eine Farce. Die haben irgendwas erfunden, damit wir die Akademie betreten. Alles, damit sie uns hier in diese Welt schicken und uns gegenseitig umbringen lassen können.“

„Kommen wir zu erfreulicheren Themen“, verkündete Wallace versonnen und senkte seine Stimme. „Welches unserer drei Mädels findet ihr am schärfsten?“

Der Themenwechsel war so abrupt, dass Taichi kurz auflachte, ehe er wieder ernst wurde. „Wenn ich dran denke, dass wir hier alle in Lebensgefahr schweben, will ich da eigentlich gar nicht näher drüber nachdenken.“

„Du hast es ja einfach. Für dich kommen nur zwei infrage“, meinte Wallace.

„Für euch andere auch“, sagte Taichi scharf, und diesmal lachte der Amerikaner.

„Dann sagen wir, rein hypothetisch. Um uns auf andere Gedanken zu bringen. Wir sind sechs Jungs und nur drei Mädchen. Wird also ein harter Kampf.“

„Dann fang du doch an“, sagte Taichi missmutig.

„Ist doch ganz klar. Sie sind alle toll. Ich würde mit jeder von ihnen etwas anfangen, wenn ich die Chance hätte.“ Wallace fuhr sich theatralisch durchs Haar.

„Du machst dich gerade extrem unbeliebt bei jemandem, weißt du das?“

„Was ist mit dir, Taichi? Läuft da nicht was zwischen dir und Mimi?“

„Quatsch“, sagte er impulsiv. „Ich finde sie … Sie ist total zickig, okay? Das verwöhnte Prinzesschen. Viel zu anstrengend.“

„Du kennst sie also schon ziemlich gut“, grinste Wallace.

Taichi spritzte ihm einen Schwall Wasser ins Gesicht. „Halt die Klappe.“

Der Amerikaner wischte sich die Augen aus und wandte sich an die anderen. „Und ihr? Daisuke frag ich erst gar nicht.“

Dieser brummte nur etwas Unwilliges.

„Ähm, ich finde sie auch alle sehr sympathisch“, wich Jou der Frage aus, „aber ich könnte mir nicht vorstellen, also …“

Iori schwieg eisern.

Wallace seufzte. „Oh Mann, mit euch Spießern macht das keinen Spaß.“

 

Es geschah auf dem Weg zurück nach oben. Nachdem sie ihre Kleidung gewaschen und zum Trocknen aufgehängt hatten, hatten sich die DigiRitter in die Morgenmäntel gehüllt und schlurften die Treppen hoch. Um zu ihren Zimmern zu gelangen, mussten sie erneut die gähnend leere Eingangshalle des Hauses durchqueren.

Die plötzlich nicht mehr leer war. Vor dem Bild mit dem Engel stand eine düstere Gestalt.

Die Freunde blieben abrupt stehen, als sie sie bemerkten. Draußen war es längst stockdunkle Nacht, nur aus einigen Türen hier im Erdgeschoss drang Licht, wo sie es nicht ausgeschaltet hatten, und so ertrank die Gestalt bis auf ihre Umrisse in den Schatten. Jou bekam nur den Eindruck eines langen, dunklen Mantels. So, wie die Gestalt dastand, hatte sie die Arme verschränkt.

„Ihr Bastarde.“ Die Stimme rollte tief und düster durch die kahle Halle. „Was habt ihr hier zu suchen? Habt ihr geglaubt, ich würde es nicht spüren, wenn jemand mein Haus betritt?“

Als Vernünftigster und Ältester der Gruppe fühlte sich Jou verpflichtet, zu antworten. Er trat einen Schritt vor – was gar nicht so einfach war, denn diese stillstehende Gestalt in der dunklen Halle flößte ihm ungeheure Angst ein. Und sicher nicht nur ihm, nach allem, was passiert war … Zumindest hoffte er das. Er wollte nicht der Einzige sein, dem die Knie schlotterten.

„Ähm, entschuldigen Sie bitte“, begann er, „meine Freunde und ich waren nicht sicher, ob das Haus bewohnt ist oder nicht, und wir waren auf der Suche nach einer … Unterkunft, und …“

„Wer hat euch geschickt?“, unterbrach die Gestalt sein Gestammel. „Welchem der Dämonenkönige habt ihr die Treue geschworen?“

„Äh, niemandem, wir … sind ganz zufällig hier langgekommen“, sagte Jou hilflos. „Wir entschuldigen uns, dass wir Ihr Essen genommen und Ihr Bad benutzt haben.“ Er verbeugte sich tief, während Taichi ihm in die Seite knuffte.

„Du Idiot! Musst du ihm das verraten?“

„Hm“, machte der Schatten. „Ihr habt euch also ohne Erlaubnis an meinen Besitztümern gütlich getan? Ihr Unholde habt großes Glück gehabt, dass meine Devas euch dabei nicht erwischt haben.“ Die Gestalt ließ ein kehliges Lachen ertönen und bewegte sich erstmals. Joe hörte, wie schwere Stiefel über den Boden schleiften. Schließlich kam die Person unter der Galerie hervor, wo die Schatten am dichtesten waren, und der Lichtschein erfasste sie.

Es handelte sich um einen jungen Mann. Seine tiefe Stimme ließ ihn älter wirken, als er vermutlich war, und auch sein Körperbau war verhältnismäßig schmächtig. Sein Gesicht wirkte fast bedrohlich, die Haut war blass, als würde er nur wenig Sonne sehen. Eine breite Narbe zog sich über sein linkes Auge, von einem seiner Ohren baumelte ein Ring. Unter dem schwarzen Mantel trug die Gestalt ein weißes Hemd, und um den Hals hatte sie einen violetten Schal gewickelt. „Ich frage euch noch einmal: Wer seid ihr, und wer hat euch geschickt?“, rief er lauter und zeigte mit anklagende Geste auf die DigiRitter, die ihn anstarrten. Trotz der finsteren Aura, die ihn umgab, wirkte er wie ein Mensch. Jou war erleichtert. Der erste andere Mensch, den sie hier auf der Insel trafen …

„Was Jou gesagt hat, stimmt“, sagte Mimi. „Wir sind den ganzen Tag gewandert und müde und hungrig, und als wir das Haus gesehen haben, haben wir eben die Chance ergriffen. Du bist selbst schuld, wenn du die Tür nicht abschließt“, fügte sie schnippisch hinzu.

Der Junge lachte leise. „Du Einfaltspinsel glaubst, ich bräuchte ein Schloss, um meine Besitztümer zu schützen?“ Schließlich brach er in schallendes Gelächter aus. „Närrin! Als ob der Herr dieser Insel sich hinter Schlössern und Mauern zu verstecken bräuchte!“

„Der Herr dieser Insel?“, wiederholte Miyako.

„Davon stand nichts in den Daten in dem Labyrinth“, flüsterte Koushiro den anderen zu.

„Das heißt, du weißt nicht, wer das ist?“, gab Taichi ebenso flüsternd zurück.

„Ich frage euch ein letztes Mal. Wagt es nicht, meine Geduld auf die Probe zu stellen – wer seid ihr?“

„A-also ich bin Jou“, stellte Jou sich vor, sich bewusst, dass sie als Eindringlinge wohl zuerst ihre Namen nennen mussten. „Das da sind Taichi, Hikari, Koushiro, Wallace, Mimi, Iori, Miyako und Daisuke.“

„Ist das so?“, grollte der andere. „Seid ihr allein hier? Habt ihr irgendwelche Monster bei euch, die ihr ausbildet?“

„Ähm, nein, wir sind allein.“ Jou erinnerte sich an die Sache mit den DigiVices und den Digimon, die sie angeblich zur Seite hätten haben sollen.

„Wir haben gehört, dass wir DigiRitter sein sollen, aber wir hatten von Anfang an nur das hier.“ Koushiro holte sein DigiVice aus der Tasche seines Mantels. Anders als Jou hatte er sich selbst im Bad nicht davon trennen wollen.

Der junge Mann zuckte zusammen. „Wie? Ihr seid im Besitz der heiligen Waffe des Lichts? Seid ihr etwa gekommen, um meine Herrschaft der Finsternis zu beenden?“ Im nächsten Augenblick erschien ein herausforderndes Grinsen auf seinem Gesicht. „Nun denn, DigiRitter, ich bin bereit. Falls ihr es wagt, den ersten Streich zu führen, werde ich nicht zögern, euch zu zermalmen.“

„St-stopp!“, ging Hikari dazwischen. „Wir wissen gar nicht, was von uns erwartet wird, und wir wollen auch garantiert keinen Streit mit dir … Wir haben nur gehört, dass wir die DigiRitter sind, aber wir wissen nicht, was genau wir tun sollen.“

„Wir wissen nur, dass wir die Macht der Dunkelheit bekämpfen müssten – aber wir haben eigentlich ganz andere Sorgen“, fügte Miyako hinzu.

„Die Macht der Dunkelheit? Da kommt ihr zu spät. Die Macht der Dunkelheit hat diese Insel bereits fest in ihrem Würgegriff!“ Der andere breitete theatralisch die Arme aus. „Doch bin ich heute guter Laune. Anstatt euch Unholde für eure Unverfrorenheit zu bestrafen, werde ich euch für die Nacht Unterschlupf in meinem Allerheiligsten gewähren. Fühlt euch geehrt, denn nicht viele, die meine geheimen Kammern erblickt haben, weilen noch unter den Lebenden!“

Jou fragte sich, was an dem Speisesaal, den Zimmern und dem Bad so geheim sein sollte, aber vielleicht spielte der Mann auch auf die Türen im Untergeschoss an, die verschlossen gewesen waren – oder auf die Tür zum Dachboden.

„Äh, vielen Dank. Wenn möglich, werden wir dich dafür entschädigen“, sagte er. „Und …“

„Wenn wir hier wegkommen. Wir sitzen leider auf dieser Insel fest“, nahm Wallace ihm das Wort aus dem Mund. „Du weißt nicht zufällig, wie man von hier fortkommt?“

„Hm“, schnaubte der andere. „Es gibt kein Geheimnis dieser Insel, das ich nicht kenne. Allerdings hat die Flucht von hier einen hohen Preis.“

„Dann weißt du, wie wir nachhause kommen?“, fragte Mimi atemlos.

„Wenn ihr willens seid, durch den finsteren Schlund der Hölle zu schreiten und den Monstern entgegenzutreten, die dort auf euch lauern, kann ich euch den Weg zeigen“, sagte er. „Doch noch stehen sind die Sterne nicht in der richtigen Konstellation dafür. Das Tor zur Hölle aufzureißen, während Krieger des Lichts in der Nähe sind, ist selbst für mich keine leichte Aufgabe.“

Jou wurde dieser Junge von Minute zu Minute unheimlicher. Plötzlich ergriff Daisuke das Wort, der bisher geschwiegen hatte: „Wenn du so viel über die Macht der Dunkelheit und das alles weißt, was weißt du dann über die Saat der Finsternis?“

Zwei verschiedenfarbige Augen taxierten Daisuke wachsam. Die anderen schwiegen erwartungsvoll. Wieder lachte der Unbekannte sein kehliges Lachen. „Es gelüstet dich nach gefährlichem Wissen, du Unhold. Über die Saat der Finsternis sollte kein Sterblicher je sprechen. Sie stammt aus dem Untiefen der Finsteren Dimension, die sich bei jedem Kataklysmus anschickt, die Welt zu zerstören. Nur einigen wenigen ist es zu verdanken, dass dieses Chaos diese Welt noch nicht überflutet hat.“

„Meinst du damit dieses Übel, das aus der Feuerwand gekommen ist? Das die ersten DigiRitter besiegt haben?“, fragte Koushiro.

„Die Geschichten über die Feuerwand sind weit untertrieben“, sagte ihr Gastgeber bedeutungsschwer. „Aber lasst es mich so sagen. Das Übel, von dem du sprichst, ist nicht das Einzige, was durch das Feuer geschritten ist. Ich sehe, wir haben die gleichen Interessen. Doch der Weg dorthin ist euch versperrt. Selbst ich hätte beinahe das Leben verloren, als ich von dort meine Devas beschworen habe.“

Jou hatte plötzlich das Gefühl, dass es nicht ratsam wäre, im Haus dieses Fremden zu übernachten. „Wir … danken für das Angebot wegen den Schlafmöglichkeiten, aber …“, begann er.

„Wir nehmen es sehr gern an“, fiel ihm Taichi ins Wort.

„Aber …“

„Mach dir mal nicht ins Hemd. Wenn er uns was tun wollte, hätte er es längst getan.“

„Und er weiß, wie wir hier wegkommen“, sagte Mimi.

„Ja, aber warum sagt er es uns nicht einfach?“

„Er kann uns vielleicht noch mehr über unsere DigiVices sagen und über die DigiWelt“, meinte Koushiro. „Entschuldige, aber du kennst dich doch sicher hier auf der Insel aus, oder?“

Der Mann lächelte schief. „Es gibt wenige Orte in dieser Welt, die ich nicht kenne. Sprich, was ist dein Begehr, Unhold?“

„Hast du schon einmal etwas von Monokuma gehört?“, fragte Koushiro.

Für einen Moment schwieg der Fremde. „Monokuma“, murmelte er dann in seinen Schal. „Dieser Name weckt Erinnerungen. Ist er etwa wieder zurückgekehrt aus den Abgründen des Nichts, in das ich ihn gestoßen habe?“

„Also kennst du ihn?“

„Nur zu gut“, sagte der andere düster. „In einem früheren Leben war er mein Erzfeind. Er schwor mir und meinen Schützlingen den Tod und wollte uns elendig verrecken lassen, doch er hatte meine Macht unterschätzt.“

Das klang zur Abwechslung einmal erleichternd. „Es sieht so aus, als hätte Monokuma es auf uns abgesehen“, meinte Jou. Iori hüstelte, als wollte er etwas sagen, aber dafür war ja wohl später noch Zeit. Es war sicher nicht ratsam, einen Mann mit derartigen Stimmungsschwankungen mitten im Gespräch zu unterbrechen.

„Keine Sorge“, erwiderte der andere großspurig. „Wenn er seine schmutzgien Pfoten auf meinen Boden setzt, werde ich ihn hinfortfegen wie ein Wintersturm die letzten Blätter des Herbstes. Ihr seid hier völlig sicher. Gundham Tanaka hat noch nie seine Schutzbefohlenen im Stich gelassen.“

„Gundham?“, fragte Hikari. „Dein Name ist Gundham Tanaka?“

„So ist es, Unterweltlerin.“ Gundham reckte stolz sein Kinn. „Ich bin Gundham, Herr des Tanaka-Imperiums, Meister der Vier Dunklen Devas der Zerstörung und der beste Monsterbändiger, den diese Welt je gesehen hat.“

„Monster?“, fragte Miyako. „Meinst du zufällig die Digimon, die hier leben sollen?“

„Ich meine alles, was die Bezeichnung Monster verdient.“

„Du bändigst sie? Dann bist du also dafür verantwortlich, dass es auf dieser Insel keine Digimon mehr gibt?“, fragte Mimi verwirrt.

Plötzlich schlug Gundhams Stimmung abermals um. „Es ist spät, ihr Unholde. Der Mond hat längst den feurigen Ball der Sonne vom Himmel verdrängt. Bezieht eure Zimmer. Ich werde einen Bannkreis der Stählernen Befestigung erschaffen, für den Fall, dass wir in der Nacht angegriffen werden. Und ich hoffe, dass Monokuma sich blicken lassen wird. Er ist nur ein kleiner Happen, doch ich werde ihn als Futter für meine Dunklen Devas verwenden.“

Lachend schritt er davon, erklomm die Treppen. Jou glaubte im letzten Moment, ehe er wieder aus dem Lichtschein trat, zu sehen, wie sich sein Schal bewegte – als würde er tatsächlich mit den Schatten verschmelzen wollen und sehnte sich bereits nach der Dunkelheit. Aber Jou hörte immer noch seine Schritte, und während sie ihm im Dunkeln hinterhersahen, betrat er ein Zimmer ganz am Ende der Galerie. Dann war es wieder still in dem Haus.

Die DigiRitter tauschten bezeichnende Blicke. Es war noch nicht an der Zeit zu schlafen. Erst einmal mussten sie sich über den einzigen anderen Menschen unterhalten, der auf dieser Insel lebte – und der zugleich ihr Gastgeber, Monokumas Feind und angeblich der Herrscher über die File-Insel war.

Fall 03: Tägliches Leben II – Versiegelung geöffnet

Noch in der Halle steckten sie die Köpfe zusammen und senkten die Stimmen, um zu diskutieren.

„Was haltet ihr von ihm?“, fragte Miyako.

„Er nimmt sich ziemlich viel heraus, aber ich glaube, er ist nicht böse“, sagte Iori.

„Mir ist er unheimlich“, gab Jou zu.

„Er scheint sich aber gut mit der Insel, den Digimon und den DigiRittern und allem auszukennen“, sagte Mimi. „Vielleicht kann er uns ja wirklich helfen.“

„Ich weiß nicht, irgendwie finde ich ihn seltsam“, sagte Wallace. „Er hatte zwar auf alles eine Antwort, aber wenn wir uns ehrlich sind, hat er nur zu allem, was wir ihn gefragt haben, gemeint, dass es irrsinnig gefährlich ist. Etwas Nützliches hat er uns bisher nicht gesagt.“

„Wie auch immer, es ist sein Haus“, sagte Koushiro. „Für den Anfang reicht es ja, dass er uns nicht hinauswerfen will.“

„Pah“, meinte Taichi großspurig, „das soll er uns erst mal zeigen – einer gegen neun.“

„Taichi, du bist unmöglich“, schimpfte Mimi.

„Immerhin scheint er auch ein Feind von Monokuma zu sein“, sprach Iori schließlich das Killerkriterium an. „Also ist es vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns mit ihm zusammentun. Vielleicht hat er auch eine Ahnung, was in der wirklichen Welt mit unseren Eltern geschehen ist, oder ob hier irgendwo noch mehr Menschen leben.“

„Und warum hat er uns das dann nicht einfach gesagt?“, fragte Jou und zog am Kragen seines Morgenmantels, der ihn kratzte. „Er hat sich nicht mal gewundert, dass wir plötzlich hier sind. So als wären Menschen auf der File-Insel gar nichts Ungewöhnliches …“

„Ich vermute, er ist einfach genauso müde wie wir“, meinte Miyako. „Er war ja nicht im Haus, als wir angekommen sind. Sicher ist er auf der Insel herumgewandert und wollte sich nur einen netten Abend machen. Und deswegen war er so ruppig.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, sagte Jou.

Auch wenn sie ihren Gastgeber nicht einschätzen konnten, immerhin hatten sie einen Platz für die Nacht. Sie teilten sich dennoch auf nur zwei Zimmer auf – die Mädchen bezogen das eine, die Jungs das andere, und kaum dass sie die federweichen Betten berührten, schliefen sie auch schon.

Bis auf Hikari. Sie lag noch lange wach. In der Dunkelheit sah sie wechselweise Takerus Gesicht vor sich oder – noch schlimmer – den Augenblick seines Todes. Es fiel ihr immer noch schwer, alles zu verarbeiten, was in den letzten Tagen geschehen war. Er war so ein herzensguter Mensch gewesen … und für Yamato hatte das Gleiche gegolten. Es zerriss sie fast, dass sie sich ohnmächtig damit abfinden musste, dass beide tot waren.

Hikari hielt eigentlich gar nichts von Rachegedanken und dergleichen. Aber als sie in völliger Dunkelheit erneut gegen die Tränen ankämpfen musste, wünschte sie sich, sie könnte es Monokuma irgendwie heimzahlen.

In dem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen zwängte sich plötzlich ein Gedanke in ihre Synapsen. Sie konnte gar nicht mehr sagen, über wie viele Gedankensprünge sie darauf gekommen war, aber ihr war etwas eingefallen. Etwas, das sie morgen überprüfen wollte.

Seit sie im Bett lag, war das die erste Überlegung, die sich nicht um Takeru drehte. Als hätte der Schlaf nur darauf gewartet, dass sie etwas ruhiger wurde, stürzte er sich wie ein Greifvogel auf sie.

 

Miyako erwachte mit einem adrenalinhaltigen Ruck, als Mimi ein schrilles Kreischen ausstieß. „Was ist denn los?“, keuchte sie und tastete auf dem Nachtkästchen nach ihrer Brille.

„Ra-ra-ra-ra…“, stammelte Mimi, die sich kerzengerade in ihrem Bett aufgesetzt hatte. „Ratte!“

„Schon wieder eine Ratte?“ Hikari wischte sich müde den Schlaf aus den Augen. „Wie spät ist es?“

„So hört mir doch zu, da war diesmal wirklich eine Ratte! Ich hab sie gespürt, so kleine fiese Krallen, die über mich drübergeschuscht sind!“

„Besser eine Ratte als Monokuma“, murmelte Miyako schlaftrunken. „Die tut dir schon nichts, also keine Sorge.“

Die Tür flog auf, und Taichi und Iori stürmten herein. „Was ist los? Mimi, alles in Ordnung?“

Mimi stieß ein neuerliches Kreischen aus, schleuderte ihr Kissen und riss sich die Decke bis zu den Schultern hoch. Das Kissen traf Taichi ins Gesicht; Iori war gerade rechtzeitig ausgewichen.

„Sag mal, spinnst du?“, knurrte Taichi.

Iori besaß den Anstand, den Blick abzuwenden. Auch die beiden Jungs waren nur in Unterwäsche. Wahrscheinlich sollte Miyako ihnen danken, dass sie so schnell zur Stelle waren …

„Es ist alles in Ordnung“, sagte Hikari ungehalten, „also raus mit euch!“

„Und warum schreit sie dann wie am Spieß?“, knurrte Taichi, während ihn Iori schon wieder in den Flur zog.

 

„Was ist das für ein Lärm, ihr Bastarde?“

Taichi wirbelte herum. Kaum dass sie die Tür zum Mädchenzimmer geschlossen hatten, stand Gundham hinter ihnen, in derselben finsteren Kluft wie gestern und mit demselben ungesunden Gesichtsausdruck.

„Angeblich ist alles in Ordnung“, ließ Taichi seinen Frust an ihm aus. „Bestimmte Frauen schreien offenbar immer, wenn sie am Morgen aufwachen.“

Gundham schmunzelte. „Das Mädchen muss aus den Untiefen eines wahren Nachtmahrs erwacht sein. Kein Wunder, dass ihre Träume vom Chaos vergiftet werden. Es durchdringt selbst die Räume meiner Bastion hier.“

„Gibt‘s schon Frühstück?“ Wallace streckte seinen vom Schlaf zerstruwwelten Blondschopf aus dem Jungenzimmer.

„Für euer leibliches Wohl müsst ihr selbst sorgen“, verkündete Gundham. „Sucht in der Speisekammer. Ein Gundham Tanaka braucht keine Nahrung, und meine Devas haben sich bereits am Blut ihrer Opfer gelabt.“

Damit marschierte er an ihnen vorbei und die Treppe runter.

 

Nach und nach versammelten sie sich in der Küche. Jou war ganz gut im Kochen und erledigte das meiste – das heißt, was er da fabrizierte, sah ziemlich genießbar und nach einem anständigen Mahl aus, aber er schnitt sich auch am öftesten in die Finger. Mimi und Hikari gingen ihm zur Hand, während Taichi es gerade fertig brachte, die Zwiebeln in gleich große Würfelchen zu schneiden.

„Du benimmst dich wie der letzte Tölpel“, stöhnte Mimi und nahm ihm schließlich das Messer aus der Hand.

„Was soll ich machen, wenn das Zeug so in den Augen brennt“, beschwerte sich Taichi.

„Heulen, Zähne zusammenbeißen und weitermachen!“

Hikari kicherte. „Das Kochen wirst du Taichi nie beibringen können. Seine Zukünftige wird gut in der Küche sein müssen, sonst wird er verhungern.“

„Vielen Dank auch“, maulte er. Die anderen lachten. Mit dem sicheren Dach über ihren Köpfen waren die Schrecken der letzten Morde etwas von ihnen abgefallen – zumindest gaben sie sich Mühe, an etwas anderes zu denken.

Nach dem Essen boten diejenigen, die keine große Hilfe beim Kochen gewesen waren, an, den Abwasch zu erledigen. Es waren auch die Teller von gestern zu waschen und was schon hier stand, noch bevor sie ins Haus gekommen waren. Bei Letzterem handelte es sich wohl, entgegen seiner Behauptungen, um Gundhams Teller. Joe war so eifrig, auch noch in der Küche zu putzen, und Hikari verkündete plötzlich, dass sie sich etwas im Haus umsehen wollte – was dazu führte, dass Taichi und Mimi plötzlich allein in dem riesigen Speisesaal saßen und die anderen in der Küche klappern hörten.

„Tja“, meinte er nach einer Weile peinlichen Schweigens. „Jetzt haben wir wieder ein Dach über dem Kopf.“

Mimi nickte. „Vielleicht sollten wir bald wieder hier weggehen.“

Er war sichtlich überrascht, das ausgerechnet von ihr zu hören. „Wegen Gundham?“

„Nein, ich denke mir nur … Es war bisher immer so, dass, wenn wir geglaubt haben, dass wir mal einen ruhigen, sicheren Platz gefunden haben … dass dann ein …“

„… ein Mord passiert ist“, setzte er den Satz düster fort. „Stimmt, bisher war es so. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich glaube nicht, dass so etwas wieder passiert.“

Sie sah in zweifelnd an.

„Hör mal, wir verstehen uns doch ganz gut miteinander, oder? Wir sind alle ziemlich schockiert wegen dem, was passiert ist, aber wir müssen nach vorn schauen. Und eben weil wir schockiert sind, wird das nie wieder vorkommen!“

„Dein Vertrauen möchte ich haben“, murmelte Mimi bitter. „Ich kann immer noch nicht Soras Gesicht vergessen, wie sie da gehangen hat … Und wie Takeru geschrien hat, als er seine Erinnerungen wiederhatte, und …“

„Schluss damit.“ Er packte forsch ihre Hand. „Denk nicht mehr dran.“

„Wie könnte ich nicht dran denken?“, rief sie aus. „Sie waren unsere Freunde! Und dann ist ihnen so etwas Schreckliches passiert, und …“ Sie atmete schwer. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sie zu wenig Luft bekommen.

„Mimi!“, sagte Taichi scharf, als sie sich mehr und mehr hineinsteigerte.

„Du tust mir weh“, brachte sie gepresst hervor. In ihren Augen funkelten Tränen.

Taichi ließ erschrocken ihr Handgelenk los, wich unbehaglich ihrem Blick aus und meinte dann: „Sorry. Aber du darfst dich nicht so fertigmachen, verstanden? Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen es akzeptieren.“

„Ich will aber nicht“, sagte sie stur.

„Aber du musst“, beharrte er. „Wenn wir nicht nach vorn schauen, haben wir schon verloren und Monokuma lacht sich nur ins Fäustchen.“

„Und was genau ist das vor uns?“, fragte sie bitter. „Wir kommen ja sowieso nicht von hier weg. Es ist alles zwecklos.“

Taichi seufzte. „Mann, du bist kaum auszuhalten. Willst du ewig den Toten nachtrauern oder was? Du würdest einen Weg von dieser Insel gar nicht sehen, wenn er direkt vor dir wäre! Wir müssen einfach nur gründlich danach suchen. Wir bringen Gundham dazu, alles über die File-Insel auszuspucken, was er weiß, und Koushiro wird einen Weg finden. Dann sind wir wieder in unserer Welt und dann können wir meinetwegen trauern.“

Sie sah die Entschlossenheit in seinen Augen. „Wie kannst du nur so unbeugsam sein?“, fragte sie. „Ich fühle mich, als würde mich die Ungewissheit bald entzweireißen. Und am liebsten würde ich heulen.“

Taichi schnaubte und wandte grimmig den Blick ab. „Ganz einfach. Weil ich hier wegwill. Ich muss Hikari hier fortschaffen. Yamato war unglaublich, weißt du? Er hat sich selbst geopfert, damit Takeru nachhause kann. Verglichen mit ihm bin ich ein Weichling.“

Seine Hände zitterten. Mimi zögerte, ehe sie sie berührte. „Ich finde, du bist sehr mutig“, flüsterte sie und lehnte sich gegen seine Schulter.

Taichi schien überrascht von der Geste, denn er zuckte kurz zurück. „Nicht mutig genug.“

„Doch“, sagte sie versonnen. „Ich glaube, du schaffst es wirklich, Hikari hier wegzubringen. Wenn es einer schafft, dann du.“

Er schnaubte.

„Darf ich dich um was Egoistisches bitten?“, fragte sie.

„Was denn?“, wollte er misstrauisch wissen.

„Wenn du mit Hikari hier fortkommst … nimm mich bitte auch mit.“

Taichi schwieg, dann lachte er leise. „Klar doch. Ich nehme euch alle mit. Ich sorge dafür, dass niemand mehr sterben muss.“

„Du bist ein richtiger Anführer“, meinte sie. „Ich glaube, ich bin ein klein wenig froh darüber, dass wir hier im Schlamassel stecken.“

„Im Ernst?“

„Hm. Sonst hätte ich wahrscheinlich nie gemerkt, wie sehr … ich dich mag.“

Jetzt zuckte er wirklich zurück. „Was soll das auf einmal?“, fragte er verdattert.

„Was denn? Das sind meine innersten Gefühle, weißt du?“, fragte sie empört. Seine entgeisterte Reaktion verletzte sie.

„Deine innersten Gefühle“, wiederholte er skeptisch.

„Ja, stell dir vor, ich habe Gefühle“, schnappte sie.

„Das ist mir schon klar“, sagte er, „aber … das klang gerade eben wie eine halbe Liebeserklärung.“

„Jetzt übertreibst du aber“, sagte sie spitz. „Das habe ich nie gesagt. Ich hab nur gesagt, dass ich dich mag, mehr nicht.“

„Aber das ist ja wohl die Wahrheit, oder?“, grinste er. „Wenn ich mich nicht täusche, bist du ja die Ultimative Ehrlichkeit oder so was, richtig?“

Sie starrte in sein Grinsen. Er hatte es sich also gemerkt … den lächerlichen Grund, warum sie überhaupt erst hier festsaß. „Und du der ultimative Blödkopf“, sagte sie halbherzig. „Vergiss es einfach. Ich mag dich nicht mehr und nicht weniger als die anderen auch.“

„Ach, Mimi“, lachte er und zog sie plötzlich in seine Arme. „Man merkt wirklich genau, wann du lügst.“

Ihr stieg das Blut in den Kopf, als er ihren Kopf an seine Brust drückte. Mit einem Mal fühlte sie sich seltsam warm … und geborgen.

„Ich mag dich doch auch“, murmelte er in ihr Ohr. Sie hörte sein Grinsen heraus, aber sie konnte wohl nicht erwarten, dass jemand wie er bei solchen Worten ernst blieb. „Wir kommen hier alle wieder raus“, fuhr er fort. „Alle. Ich verspreche es.“

 

„Entschuldige bitte!“

Hikari war Gundham in den Keller gefolgt. Er schritt eben mit bedeutungsschweren Schritten an dem luxuriösen Bad vorbei und drehte sich um, als er ihre Stimme hörte.

„Du hast gute Nerven, Sterbliche“, sagte er, „mir in die finsteren Tiefen meines Hortes zu folgen.“

„Mir ist eingefallen, dass ich deinen Namen schon mal gehört habe“, sagte sie. „Gundham Tanaka, oder? Ich habe ein paar Einträge in deinem Haustier-Blog gelesen. Wir haben eine Katze zuhause.“

Ein amüsiertes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „So, so. Ich wusste sofort, dass du kein gewöhnlicher Mensch bist. Du hast also meinen Namen in den Tiefen des Netzes gefunden und beschäftigst dich selbst mit Bestienzucht. Nicht übel. Du solltest bei mir in die Lehre gehen. Ich spüre großes Potenzial in dir. Unter meinen Fittichen könntest du Großes erreichen. Von dir kam also diese Aura der Dunkelheit, die ich fühlte.“

„Eigentlich“, konnte sich Hikari nicht verkneifen zu sagen und zwinkerte dabei, „hat die Hope‘s Peak mich als das Ultimative Licht angeworben.“

„Wie?“ Gundham prallte zurück und sah sie regelrecht entsetzt an. Dann ballte er die Fäuste. „Eine Gebieterin des Lichts ist über meine Schwelle getreten, ohne dass ich es bemerkt habe? Bedeutet das etwa, dass die Streiter des Lichts ebenfalls Untergebene sammeln? Das ist nicht gut.“ Er machte eine theatralische Handbewegung. „Aber sorge dich nicht. Ich werde ein Mystisches Energiefeld des Vollendeten Schutzes zwischen uns auffahren, damit unsere Kräfte nicht resonieren und sich gegenseitig auslöschen!“

„Eigentlich … wollte ich nur fragen, ob du das wirklich bist“, sagte Hikari langsam. „Der Gundham Tanaka, den ich aus dem Internet kenne. Aber das heißt wohl ja, oder? Stimmt es, dass du auch an der Hope’s Peak aufgenommen wurdest? Das hast du in einem deiner Postings angedeutet.“

„Ha! Und ob! Eine Schule zu besuchen, ist für einen Dunklen Herrscher wie mich kein Grundbedürfnis, aber von Zeit zu Zeit ist etwas Abwechslung gut.“

„Kennst du von daher auch Monokuma?“ Sie beschloss ihre Fragen direkter zu stellen und sich nicht zu lange mit seinen ausschweifenden Antworten herumzuschlagen. „Wir sind nämlich auch an dieser Schule aufgenommen worden. Wir haben alle das Schulgebäude betreten, und das war das Letzte, an das wir uns erinnern, bevor wir hier aufwachten.“

„Hm. Das wundert mich nicht. Der Feind besitzt eine mächtige Fähigkeit. Er kann Erinnerungen frei kontrollieren. Gut möglich also, dass ihr euch an die Reise hierher nicht erinnert.“

„Hast du so etwas also auch erlebt?“

„Die tiefsten Eindrücke meiner Seele können nicht verlorengehen“, behauptete er. „Doch meine Kraft wurde derart geschwächt, dass ich nicht darauf zugreifen konnte. Auch ich betrat die kalten Hallen dieser Schule einst und wachte danach auf einer Insel des Chaos und der Verzweiflung auf.“

„Und du bist von dort entkommen, hast du gesagt“, meinte Hikari hoffnungsvoll. Die Tatsache, dass er ein Junge war, der etwas so Normales wie einen Blog über den richtigen Umgang mit Haustieren führte, ließ ihre Ehrfurcht schwanken und so konnte sie ihm zumindest auf Augenhöhe begegnen. Wenngleich das vielleicht eine einseitige Vorstellung war. „Du hast gesagt, du hättest Monokuma besiegt.“

„Dafür bin ich durch das Höllenfeuer gekrochen“, behauptete er mit ernster Miene. „Ich habe einen Festschmaus der Dämonen überlebt, die ihre Klauen in mein Fleisch schlagen wollten. Ich musste eine Achterbahn des Todes überstehen, nur um in einer Wüste der Illusionen ausgesetzt zu werden, ohne Nahrung und ohne Wasser. Drei Wochen musste ich ausharren, ehe ich den stählernen Golem, der den Ausgang bewachte, zum Kampf herausforderte.“

Während er seine merkwürdigen Geschichten erzählte, schritt er weiter den Gang entlang – und blieb abrupt stehen. Seine Erzählung stockte ebenso plötzlich. „Dieses Schloss“, murmelte er. „Das ist doch nicht möglich.“

Hikari tappte näher. Es war ziemlich dunkel, aber sie konnte sehen, dass eine der Türen des Ganges einen Spaltbreit offen stand. „Ich bin ziemlich sicher, dass die gestern abgeschlossen war“, sagte sie.

„Nicht nur gestern“, erwiderte Gundham. „Ein Bannfluch lag auf dieser Tür. Selbst ich konnte sie nicht öffnen. Ich hatte bereits überlegt, ob ich die Horizont-Klage-Kunst der Dämonenmaus anwenden sollte, um sie mit Gewalt zu öffnen … Aber jemand scheint mir zuvorgekommen zu sein.“

Das bedeutete vermutlich, dass auch er keinen Schlüssel zu dieser Tür hatte und, seit er hier wohnte, keinen Blick hatte hineinwerfen können.

Er stieß sie mit einer forschen Bewegung vollends auf.

Dahinter war es stockdunkel. Hikari tastete die Wand ab und fand einen altmodischen Lichtschalter, der umso modernere Neonröhren entflammen ließ.

Was sie sah, verschlug ihr den Atem.

 

Die anderen waren gerade in der Küche fertig, als aus einem unsichtbaren Lautsprecher Monokumas Stimme ertönte. „Bam-bam-bam-baah! Eine Leiche wurde gefunden. Seht am besten schnell im Keller nach.“

Miyako zucke so heftig zusammen, dass sie die sauberen Teller, die sie in der Hand hielt, zu Boden fallen und zerdeppern ließ. Die Gruppe stürmte in den Speisesaal hinaus, wo Mimi und Taichi aufgesprungen waren. „Was ist los?“, frage Jou aufgeregt. „Eine Leiche? Aber … wir sind doch alle hier?“

„Hikari!“, stieß Taichi hervor und stürme sofort los. Die anderen folgten ihm die Treppe hinunter in den Keller. Miyako atmete erleichtert auf, als sie Hikari neben Gundham am Ende des Flurs in einer offenen Tür stehen sah.

„Hikari!“, rief Taichi. „Alles in Ordnung?“ Er stürmte in den Raum hinein und verstummte. Miyako drängte sich an den anderen vorbei.

Es war eine Gruft. Die Wände wirkten schimmlig, die Luft war eiskalt. Und es standen vier gläserne Särge in dem Raum. Darin lagen ihre Freunde – Sora, Ken, Yamato, Takeru. Sie sahen aus, als würden sie friedlich schlafen. Miyako traute ihren Augen kaum – sie hatte gesehen, wie Ken von Raketen zerfetzt worden war, und Takeru müsste von hunderten Kugeln durchsiebt worden sein. Dennoch wirkten ihre Körper unversehrt. Sogar ihre Kleidung war wie neu.

„Sogar vier Leichen, um genau zu sein“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Die DigiRitter fuhren herum. Monokuma stand im Flur und legte keck den Kopf schief. „Was denn? Hab ich euch erschreckt? Puhuhuhu. Ich dachte, ihr würdet es begrüßen, wenn ich euch einen richtigen Abschied von euren Freunden gönne. Man lebt sich doch viel leichter, wenn man die Toten richtig bestattet weiß, oder?“

„Bastard“, knurrte Gundham finster. „Wie bist du durch mein Bannnetz gelangt?“

„Hm? War da irgendwas?“ Monokuma neigte den Kopf noch weiter.

„… Bastard“, wiederholte Gundham nur.

„Aber sie müssten doch … Sie sind doch …“, stammelte Miyako.

„Das ist richtig, das können nicht unsere Freunde sein!“, sagte Koushiro, der wusste, was sie meinte.

„Und wie sie das sind. Ich habe ihre Körper mit überschüssigen Daten vollgestopft, damit sie wieder wie neu aussehen. Ihr hättet es sagen müssen, wenn ihr lieber ihre zerfetzten, grässlich entstellten, hässlichen, versehrten Leichen gehabt hättet. Wahaha!“ Monokuma hielt sich den Bauch vor Lachen.

Gundham trat ihm mit wehendem Mantel entgegen. „Deine Taten müssen gestoppt werden, du Unhold. Meine Vier Dunklen Devas der Zerstörung werden sich deiner annehmen.“ Er nahm eine angriffslustige Pose ein. In seinem Schal bewegte sich etwas – und vier kleine, pelzige Tiere sprangen daraus hervor auf seine Schultern und Arme.

„Da!“, rief Mimi. „Ich wusste, dass es hier Mäuse gibt!“

„Sieh mal genauer hin“, murmelte Daisuke. „Das sind Hamster.“

„Ach, ach“, sagte Monokuma. „Was mache ich nur mit dir? Du bist nur ein penetranter Datenrest, der mit herübergerutscht ist, als ich in diese Welt gekommen bin. Ein Backup eines Backups eines Backups. Weder up-to-date noch irgendwie nützlich. Es wird Zeit, dass du aus diese Welt entfernt wirst, du störender, digitaler Datenmüll.“

„Deine ketzerischen Worte können mich nicht beeindrucken!“, verkündete Gundham und schien voll in seinem Element. „Lass es uns austragen! Möge der Verlierer in der kältesten aller Höllen vermodern!“

„Ich werde darauf nichts antworten“, beschloss Monokuma. „Mit einem Computervirus redet man ja auch nicht, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Er hielt plötzlich einen schwarzen Stick in der Hand, ähnlich den Apparaten, die sie an Supermarktkassen benutzten. „Ta-daa! Monokumas Allzweckscanner! Liest, schreibt und löscht Daten aller Art! Sehr praktisch in einer Welt, die aus Daten besteht.“ Monokuma zuckte zusammen, sah die DigiRitter an und brach plötzlich in Schweiß aus, der gut sichtbar aus seinem Pelz strömte. „Oh, das war doch wohl eben kein Spoiler, oder?“

„Deine blöden Scherze stehen mir bis hier“, knurrte Taichi. „Kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen?“

„Erst, nachdem ich die Störfaktoren aus dem Weg geräumt habe. Mal sehen … Grün war Scannen, gelb war Schreiben … ah, rot war Löschen.“ Monokuma betätigte den Scanner irgendwie mit seinen Pfoten, bis ein rotes Lämpchen aufblinkte. Dann richtete er ihn auf Gundham.

„Deine technischen Spielereien beeindrucken einen Herrn der Finsternis nicht im Geringsten!“, behauptete Gundham gut gelaunt. „Lass sehen, wie du mit dem Zorn des Schwarzen Eroberungsdrachen …“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er sich, von den Händen ausgehend, in kleine, schillernde Polygone zersetzte. „Unmöglich!“, stieß er noch aus, die Augen geweitet, dann zerbarst er in tausend funkelnde Splitter, mitsamt seinen Hamstern. Er verschwand in Monokumas Scanner, und Miyako hatte keine Ahnung, was gerade geschehen war.

„So. Was kommt jetzt? Ah, ja. Papierkorb leeren.“ Monokuma drückte noch eine Taste, und der Glitzersturm stob an der Rückseite des Scanners wieder heraus, wie Rauch, und löste sich ebenso wie Rauch in der Luft auf. Dann warf Monokuma das Ding lässig über die Schulter in die Gruft hinein und stolzierte davon. „Auftrag erfüllt und wieder für Frieden in der DigiWelt gesorgt. Ich könnte auch ein DigiRitter sein, oh ja. Ich wäre mein eigener, supersüßer Digimon-Partner. Puhuhuhu.“

Am Ende des Flurs verschwand er.

„Was war das jetzt?“, brach es aus Miyako heraus. „Der Kerl … und Hamster … Datenreste? Ich begreife gerade gar nichts mehr.“

„Das bedeutet, dass Monokuma uns gerade den einzigen Hinweis genommen hat, wie wir von hier fortkommen können“, knurrte Taichi und ballte die Fäuste.

„Ich weiß nicht“, meinte Wallace. „Dieser Gundham war schon sehr suspekt. Das Gerede von den Devas war ziemlich überzeugend, aber ich hätte mir da schon ein paar eindrucksvollere Digimon erwartet als … Hamster.“

„Wie auch immer“, sagte Koushiro mühsam beherrscht, „Gundham schien tatsächlich schon mal etwas mit Monokuma zu tun gehabt haben. Das hat Monokuma ja selbst zugegeben. Er hätte uns sicher noch irgendwie helfen können.“

„Dafür haben wir jetzt … sie zurück“, murmelte Hikari. Sie betrachtete Takerus Leiche in dem Glassarg. Er lächelte sogar.

„Sollen wir sie rausholen?“, fragte Taichi und deutete auf die Scharniere, die die Särge verschlossen. Es sah so aus, als könnte man sie öffnen.

„Was willst du denn mit ihnen machen? Sie sind doch so ganz gut bestattet“, murmelte Iori.

„Ja, aber ich will sie ungern in etwas zurücklassen, das Monokuma gebaut hat“, knurrte Taichi.

Dennoch wagte es im Endeffekt niemand, die Ruhe der Toten zu stören. Sie ließen sie in ihrer Gruft allein.

 

Danach passierte – nichts. Als wäre Monokuma endlich zufrieden, gab es keine weiteren Einmischungen seinerseits in das friedliche Zusammenleben der Gestrandeten. Sie blieben selbst zwar nicht untätig, aber die Tage schienen dennoch entönig. Sie durchstreiften in Dreiergruppen die Umgebung, erklommen den Berg, passten dabei immer gut auf sich auf und achteten mit Argusaugen über die Tätigkeiten der jeweils anderen – jeder für sich, auch wenn ihre Wachsamkeit langsam nachließ.

Sie sammelten Früchte, um die Vorratskammer aufzustocken, kochten mittags in der Küche des Hauses und aßen meistens kalt zu Abend, vertrieben sich die Zeit erst damit, über Gundhams Auftauchen und anschließendes Verschwinden nachzugrübeln, dann mit Schweigen, später mit einfachen Spielen, die keine zusätzlichen Utensilien benötigten. Eine dämmrige Schläfrigkeit erfüllte sie. Alles war ruhig, alles war ungefährlich, und dennoch schleppten sie Trauer mit sich rum, hatten urplötzlich keine Aufgabe mehr und wussten immer noch nicht, wie sie jemals von dieser Insel kommen sollten.

Hikari bemerkte, dass Mimi und Taichi sich einander immer mehr annäherten, aber dann stagnierte irgendwie der Fortschritt zwischen den beiden, als stießen sie auf eine Glaswand zwischen sich. Vermutlich hielt die unangenehme Gesamtsituation sie davon ab, sich ernsthaft näherzukommen. Hikari selbst wusste nicht, was sie davon halten sollte – auf der einen Seite freute sie sich darüber, dass Taichi eine Ablenkung hatte, auf der anderen kam es ihr selbst falsch vor, nach all den Todesfällen etwas wie eine Beziehung aufzubauen.

Mimis Streitlustigkeit flammte zunächst auf, doch dann legte sie sich fast völlig. Die Momente mit Taichi schienen ihr gut zu tun, auch das Nichtstun färbte nicht wirklich negativ auf ihre Laune ab. Sie vertrieb sich meist die Zeit mit Baden – das Bad in diesem Haus war wirklich luxuriös. Miyako hatte irgendwann einmal den Einfall, eine Pyjama-Party nur für Mädchen zu schmeißen, mit Mädchengesprächen rund um Mädchenthemen und allem drum und dran. Wallace meinte im Scherz, dass er versuchen würde, sich um jeden Preis einzuschleichen, aber der Abend ging ganz nett und ohne Zwischenfälle über die Bühne.

Am fünften Tag nach Gundhams Verschwinden kamen Miyako, Iori und Daisuke aufgeregt von einer Erkundungstour zurück. Sie hatten, fast auf der Spitze des Berges, ein weiteres Bauwerk entdeckt.

Als die ganze Gruppe davor versammelt war, stockte ihnen der Atem: Es sah aus wie eine uralte Kathedrale oder ein Dom, ganz aus Stein, der nicht gemeißelt oder aufeinander geschichtet, sondern ineinander geflossen zu sein schien. Das schwere, eiserne Tor stand einen Spalt offen, doch noch hatten die drei es nicht gewagt, das Innere des gewaltigen Bauwerks zu erkunden.

Gemeinsam gingen sie hinein. Obwohl es keine sichtbare Lichtquelle gab, herrschte düsterblaues Dämmerlicht. Unkenntliche Statuen und Säulen säumten die breite Halle. Eine Empore war über wenige Stufen zu erreichen. Darauf standen zwei weitere Statuen … wenn es denn welche waren.

Bei näherer Betrachtung erkannte Hikari, dass es auch Digimon sein konnten, die in einer Art Hülle aus Eis oder Harz eigeschlossen waren. Wie versteinert standen sie nebeneinander. Das eine sah aus wie ein Löwe mit menschlichem Körperbau. Die Augen waren blicklos, die Mähne gesträubt. Das Maul hatte er zu einem Brüllen aufgerissen. In der Hand hielt der Löwe ein wuchtiges Schwert. Er schien gerade auf dem Weg die Stufen hinab gewesen zu sein, als er versteinert wurde.

Die zweite Gestalt stand hinter ihm und sah auf ihre Weise noch furchterregender aus. Eine dämonische Gestalt mit zerfetzten Flügeln, gehörntem Helm, Vampirzähnen und überlangen Armen mit riesigen Händen. Ihr erstarrtes Grinsen war unheimlich.

„Du meine Güte, ihr habt sie gefunden!“, ertönte eine Stimme und ließ die DigiRitter zusammenzucken.

Monokuma trat hinter einer der Säulen hervor und sah dabei aus wie ein begossener Pudel. „Dabei habe ich sie versteckt, so gut ich konnte … Naja, eigentlich habe ich sie gar nicht versteckt. Aber ich dachte nicht, dass meine dermaßen faule klasse so sportlich wäre, den ganzen Berg hinaufzuklettern.“

„Dann hast du sie versteinert“, sagte Miyako anklagend. „Was ist das schon wieder für ein Spiel von dir?“

„Wieso?“ Monokuma spielte den Ahnungslosen entweder ziemlich gut, oder er war tatsächlich ausnahmsweise unschuldig. „Dieser Ort ist, wie gesagt, nicht für eure Augen bestimmt. Er zeigt nämlich, dass auch euer Direktor seine Grenzen hat – jaja, obwohl es mir schwer fällt, das zuzugeben.“

„Hör auf, in Rätseln zu sprechen“, sagte Wallace müde.

„Na gut. Ihr könnt mir dankbar sein. Diese zwei da haben euch nach dem Leben getrachtet.“

Nun starrten die DigiRitter ihn entsetzt an.

„Wirklich!“, warf Monokuma ihren sprachlosen Mündern entgegen. „Das sind Devimon und Leomon. Und wie es der Zufall will, wollten sie, ich zitiere, die DigiRitter vernichten.“

„Wa-warum denn?“, fragte Jou verdattert.

„Keine Ahnung. Haben befürchtet, ihr könntet ihre Pläne durchkreuzen oder so.“ Monokuma pfiff ein unschuldiges Liedchen.

„Und du hast sie eingefroren? Das sollen wir glauben?“, schnaubte Taichi. „Du wärst doch zufrieden damit, wenn sie uns umbringen!“

„Wo denkt ihr hin!“, rief Monokuma empört. „Die zwei sind nicht meine Schüler. Was habe ich davon, wenn sie euch umbringen? Ihr sollt euch gegenseitig umbringen!“

„Danke für die Erinnerung“, knurrte Daisuke.

„Ich glaube dir auch kein Wort“, sagte Iori. „Warum hast du sie nicht einfach unter deine Kontrolle gebracht wie Andromon und Shellmon? Da ist doch wieder etwas faul. Jedes Mal, wenn wir auf irgendetwas Merkwürdiges stoßen, ziehst du irgendeinen Vorteil daraus.“

„Hat euch schon mal jemand gesagt, dass Schüler einem Lehrer gefälligst zu glauben haben?“, rief Monokuma zornig. „Das lässt sich ganz einfach erklären! Devimon – das Schwarze – hat Leomon mit seiner eigenen dunklen Macht unter Kontrolle gebracht. Ich habe versucht, es zu beherrschen, aber Devimon war irgendwie gegen meine Manipulation immun und Leomon, nachdem es Devimons Todeskralle zum Opfer gefallen ist, ebenfalls. Also habe ich ein kompliziertes Programm geschrieben und die beiden in eine Datenquarantäne gesteckt.“

„Quarantäne?“, fragte Taichi. „Wie bei Leuten mit der Pest?“

„Ich glaube, er meint eher eine Virenquarantäne“, sagte Koushiro. „Ein Raum, in dem sie keinen Schaden anrichten und nicht mit ihrer Umwelt interagieren können.“

„Genau. Und da drin bleiben sie auch. Ich bin doppelt sichergegangen, dass sie niemand befreit. Seht ihr?“ Monokuma deutete auf die Wand hinter den beiden Digimon. Sie war über und über mit den rätselhaften Zeichen übersät, die sie schon in dem Labyrinth gesehen hatten. Nur dass diese Zeichen tatsächlich in den Stein geritzt waren.

„Ihr könnt also ganz beruhigt schlafen. Und euch gegenseitig umbringen“, meinte Monokuma, plötzlich wieder gut gelaunt. „Die zwei hier können euch nichts tun. Der Zugangscode zu den Quarantäneblöcken ist viel zu kompliziert für eure einfach gestrickten Köpfchen.“

Damit marschierte er mit stoffbärwackeligen Schritten wieder hinter seine Säule.

Als sie offenbar wieder allein waren, trat Koushiro auf die beschriftete Wand zu. „Was tust du da?“, fragte Taichi scharf.

„Wenn dieses Programm zwei gefährliche Digimon versiegelt, sollten wir es in Ruhe lassen“, meinte Wallace.

„Ich möchte ja nur überprüfen, ob Monokuma auch die Wahrheit gesagt hat.“ Koushiro stellte seinen Laptop am Boden ab. Seine Finger flogen über die Tasten. Währenddessen fuhr er fort: „Ich traue es ihm nämlich zu, dass das Ganze eine Falle ist. Am Ende ist das Programm in Wahrheit ein Countdown, der diese Digimon nach ein paar ruhigen Tagen in die Freiheit entlässt, um uns ein wenig aufzumischen. Oder“, er hielt inne, als käme ihm eben eine Idee, „vielleicht hilft uns dieses Programm dabei, von hier fortzukommen, und er will nur nicht, dass wir es lesen!“

„Aber du kannst es analysieren, ohne die beiden aufzuwecken, oder?“, fragte Hikari ein wenig unwohl.

„Natürlich. Ich hab’s gleich.“

Gleich bedeutete diesmal eine halbe Stunde. Die anderen tigerten rastlos in der Halle umher, bis Koushiro sich unsichtbaren Schweiß von der Stirn wischte und seufzte: „So. Also, Monokuma hat die Wahrheit gesagt. Es ist ein Programm, das die beiden Digimon in diese Glaskokons sperrt. Und um die zu öffnen, muss man einen Code eingeben. Und die Verschlüsselung ist echt verdammt kompliziert. Ich hab selten so was Ausgefeiltes gesehen.“

„Aber du als Computergenie kannst dich doch sicher reinhacken“, vermutete Daisuke.

Koushiro überlegte angestrengt und schüttelte dann den Kopf. „Nein, das ist mir ehrlich gesagt auch zu hoch. Ich kann es versuchen, aber wir hätten ohnehin nichts davon. Ich bräuchte einen Supercomputer und ein Jahr Zeit, um alle Möglichkeiten durchzuprobieren. Die einzige andere Möglichkeit wäre, den Code zu knacken, aber wenn ich mir die Verschlüsselung so ansehe, glaube ich nicht, dass ich da von alleine auf eine Schwachstelle draufkommen würde. Ehrlich gesagt verstehe ich die Details kaum.“

„Gut“, sagte Taichi. „Das heißt, wir können wieder gehen. Hier sind zwei Digimon eingesperrt, die uns – was wir nicht mit Sicherheit wissen – ans Leder wollten, und Monokuma hat uns geholfen und sie so gut verwahrt, wie es geht. Bin ich der Einzige, der das seltsam findet?“

Niemand erwiderte etwas, aber es war immerhin beruhigend zu wissen, dass diese Wesen nicht plötzlich erwachen würden.

 

Dieser gänsehauterregende Zwischenfall war bald vergessen. Sie hatten die Kathedrale nach weiteren Räumen abgesucht, aber nichts Interessantes gefunden. Am Abend brütete Koushiro wieder über seiner Karte. Wallace und Hikari hatten erzählt, sie hätten an einem besonders klaren Tag von einem Felsvorsprung aus etwas gesehen, das von oben wie eine Kirche aussah – am Rand der Insel. Beim Abendessen wurde überlegt, ob man diese auch besuchen sollte, aber sie konnten wohl erst aufgeben, wenn sie jeden Winkel der Insel erkundet hatten.

Am nächsten Morgen gab es wie immer Toastscheiben mit Butter und Honig zu essen. Anfangs hatten sie noch alle gemeinsam gefrühstückt, mittlerweile standen sie wieder zu verschiedenen Zeiten auf. Iori und Jou waren meist die Ersten und aßen ziemlich schweigsam. Später kamen Wallace und Hikari hinzu und heiterten das Ganze auf, dann gähnte ihnen Koushiro entgegen, dessen Augenringe verrieten, wie lange er gestern noch am Pläneschmieden gewesen war. Miyako kam bald nach ihm, aber die ersten hatten bereits ihr Geschirr abgewaschen und gingen ihrer Wege. Taichi, Mimi und Daisuke waren wie immer die Letzten, die verschlafen am Frühstücksstisch eintrudelten. Nicht lange danach begannen die für den Küchendienst Eingeteilten damit, das Mittagessen herzurichten. Heute waren es Wallace und Jou. So verschieden die beiden auch waren, wenn sie gemeinsam an etwas arbeiteten, verstanden sie sich überraschend gut.

Als sich alle zum Mittagessen versammelten, war Koushiro aufgeregt. „Hat jemand von euch meinen Laptop gesehen?“, fragte er in die Runde. Acht fragende Augenpaare begegneten seinem Blick.

„Wieso? Ist er weg?“, stellte Miyako eine nicht besonders geistreiche Frage.

„Ja, er ist weg“, brummte Koushiro. „Ich hab ihn gestern in meine Nachttischschublade gelegt, und nach dem Frühstück war er weg.“

„Und jetzt beschuldigst du uns, oder was?“, fragte Mimi lauernd.

„Nein! Aber ich suche ihn jetzt schon den ganzen Vormittag. Ich wollte nur wissen, ob ihn jemand von euch gesehen hat.“

Alle schüttelten die Köpfe.

„Wahrscheinlich war‘s Monokuma“, meinte Wallace achselzuckend. „Er hat erkannt, dass uns dein Laptop bisher immer gut zu Diensten war. Bei den Strafprozessen und auch sonst. Wahrscheinlich fürchtet er, wir kämen mit seiner Hilfe bald von hier fort. Ein gutes Zeichen, wenn ihr mich fragt.“

„Das nur gut wäre, wenn der Laptop noch hier wäre“, brummte Taichi.

Das Haus wurde noch mal auf den Kopf gestellt, jeder Winkel durchsucht, aber niemand fand ihn.

„Also gut“, seufzte Iori. „Wer hätte denn Gelegenheit gehabt, ihn zu stehlen?“

„Stehlen?“, fragte Mimi. „Also werden wir doch verdächtigt?“

„Nur mal angenommen.“ Daisuke rollte mit den Augen. „Sei doch nicht gleich so eine unkooperative Ziege.“

Sie funkelte ihn zornig an. „Wahrscheinlich hätte ich den Laptop sogar nehmen können. Als ich aufgestanden bin, war das Jungenzimmer wahrscheinlich leer, weil ich unter den Letzten am Frühstückstisch war. Willst du das damit sagen?“

„Ganz ruhig“, sagte ausgerechnet Taichi. „Das beweist gar nichts. Dann könnte ich ihn auch genommen haben.“ Sein Blick traf finster Daisuke. „Und du auch.“

Dieser hob entwaffnend die Hände. „Schon klar, ich sag ja nur, dass wir alle ehrlich sein sollten. Wir drei waren die Letzten, ja. Kann es sonst noch jemand gewesen sein?“

„Ich war am Frühstückstisch, als Koushiro reingekommen ist“, erklärte Wallace grinsend. „Danach war ich nur kurz auf der Toilette, ansonsten habe ich mit den anderen geredet. Dann sind Jou und ich schon in die Küche gegangen. Wasserdichtes Alibi, möchte ich sagen.“

„Ich habe auch mit Koushiro gefrühstückt“, sagte Miyako.

„Und ich bin nach dem Frühstück wieder in unser Zimmer gegangen und habe gesehen, dass der Laptop weg ist“, betonte Koushiro.

„Also fällt Miyako auch weg“, sagte Hikari.

„Aber sie ist nach Koushiro gekommen, oder?“, fragte Wallace. Auf Miyakos verletzten Blick hin meinte er: „Was nicht heißt, dass wir sie verdächtigen sollten.“

„Wir anderen könnten es auch alle gewesen sein“, meinte Hikari. „Wir haben früher gegessen und dann das Esszimmer wieder verlassen.“

„Da seht ihr‘s, wir können niemanden festnageln“, sagte Mimi. „Vielleicht löst sich das Ganze ja von selbst auf.“

„Ach ja? Und wie?“, fragte Daisuke. „Sollte der Dieb plötzlich Gewissensbisse kriegen oder was?“

Der Dieb schein tatsächlich Gewissensbisse zu bekommen. Nach dem Abendessen spielten sie im Esszimmer mit Karten, die Wallace aus einfachem Papier gebastelt hatte, und Koushiro kam mit wichtiger Miene hereinspaziert. Im Arm trug er seinen Laptop wie ein Neugeborenes. „Er war unter meinem Bett“, erklärte er.

„Na bitte“, sagte Taichi und sah nur kurz von seinem Blatt auf. „Also war das alles viel Wind um nichts.“

„Könnte man meinen“, sagte Koushiro. „Allerdings bin ich mir sicher, dass ich unter dem Bett mindestens zweimal nachgesehen habe.“

„War dann wohl einmal zu wenig“, meinte Taichi achselzuckend und schmetterte seine Karten auf Wallace‘. „Mein Stich.“

„Fehlt denn irgendetwas darauf?“, fragte Miyako, die sich etwas interessierter zeigte.

„Ich hab genau nachgesehen. Meine Dateien sind noch alle drauf. Nichts gelöscht oder so.“

„Dann ist ja alles in Butter.“ Taichi machte auch den nächsten Stich. Er war in Höchstform.

„Du scheinst das ja sehr leicht zu nehmen“, meinte Koushiro verärgert. „Wenn einer von uns falsch spielt …“

„Stopp!“, sagte Mimi entschieden. „Keine Verdächtigungen mehr, bitte. Ich halte das nicht aus. Es war die letzten Tage ruhig, oder? Wenn wir uns immer nur gegenseitig verdächtigen, kommen wir nie hier weg.“

Koushiro betrachtete die Runde mit einem leicht säuerlichen Blick, als wollte er sagen: Mit Kartenspielen aber auch nicht.

Am nächsten Tag nahm das Unheil seinen Lauf. Einer der DigiRitter fehlte plötzlich.

„Hat irgendjemand Iori gesehen?“, fragte Hikari, als sie beim Mittagessen auf ihn warteten. Die anderen verneinten und sahen sich verwundert an. Dass ausgerechnet Iori zu spät kam, wollte niemand von ihnen glauben. Obwohl ihre Mägen knurrten – die von manchen mehr als die von anderen – sprangen sie auf und begannen, im ganzen Haus nach ihm zu suchen.

„Ich glaube, er ist nicht hier“, meinte Daisuke plötzlich.

„Wieso?“, fragte Hikari.

„Miyako, er und ich, wir drei sind ja am Vormittag den Weg abstecken gegangen, den wir nehmen können, um zu dieser Kirche zu kommen“, sagte er. Jetzt erinnerte sich Hikari auch. Koushiro hatte gemeint, einfach drauflos zu marschieren wäre zu riskant, also hatten sie erst einen Pfad ausfindig machen wollen, der schnell auf die andere Seite des Berges und von dort weiter zu dem Teil der Insel führte, auf dem die rätselhafte Kirche lag. Während die anderen die Zeit mit Kochen, Feuerholzsammeln und Nahrungssuche – denn die Vorratskammer war beinahe leer – verbracht hatten, waren diese drei losgegangen.

„Ist er denn nicht mit euch zurückgekommen?“, fragte Joe.

„Doch“, sagte Miyako. „Das heißt, wir haben uns knapp vor dem Haus aufgeteilt.“

„Wie knapp?“, fragte Taichi. „Und warum?“

„Vielleicht einen Kilometer oder zwei vorher … Wallace hat uns erzählt, dass sie ziemlich wenige Beeren gesammelt haben, also wollten wir auch noch welche suchen gehen. Weil von den Beeren immer so wenige auf einem Fleck wachsen, haben wir uns verschiedene Stellen vorgenommen.“

„Dann ist die ganze Sache deine Schuld“, knurrte Taichi Wallace an, der abwehrend die Hände hob.

„Hey, ganz ruhig. Wir anderen haben uns ja auch aufgeteilt. Uns ist nichts passiert. Warum sollte es schließlich auch?“

„Warum euch was passieren sollte?“, blaffte Taichi ihn an. „Es ist gefährlich, allein herumzulaufen! Jemand könnte …“ Er verstummte.

Hikari sah ihn traurig an. Kaum war der Aufenthaltsort von einem von ihnen nicht ganz geklärt, fingen sie schon wieder an, sich als Mörder zu verdächtigen. Auch wenn es ihnen wohl niemand verübeln konnte, verabscheute sie diese Einstellung. „Lasst uns erst mal nach ihm suchen“, schlug sie vor. „Vielleicht hat das alles einen ganz harmlosen Grund.“

Sie riefen vor dem Haus Ioris Namen, aber er antwortete nicht. Taichi begann wüst herumzufluchen und fuhr jeden gereizt an, der das Pech hatte, ihm im Weg zu stehen. „Wo sind diese dämlichen Beerensträucher, die ihr abernten wolltet?“, fragte er Miyako und Daisuke.

„Die wachsen hier überall“, sagte Daisuke.

„Nur eben nicht alle auf einem Fleck“, ergänzte Miyako. „Im Umkreis von zwei Kilometern kann er wahrscheinlich überall sein.“

„Wir sollten uns beeilen“, murmelte Daisuke. „Irgendwie hab ich ein mieses Gefühl. Vielleicht ist Iori verletzt und braucht unsere Hilfe …“

„Wenn es wirklich einen Mord gab, dann ist es sicher schon zu spät“, sagte Wallace freimütig und fing sich damit die entsetzten Blicke der anderen ein. „Wenn nicht, ist alles in Ordnung. Wir sind alle hier, keiner kann ihm was anhaben.“

„Aber vielleicht ist er die Klippen runtergefallen oder in eine Felsspalte gerutscht“, murmelte Joe.

„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass einer von uns ihm etwas getan haben soll“, sagte Daisuke. „Wir wollen hier zwar alle weg, aber wir haben uns doch zusammengerauft – oder seht ihr das anders?“

Die Meinungen waren da wohl gespalten, denn ihre Gesichtsausdrücke reichten von zustimmend bis zweifelnd.

„Leute, kommt schon“, stöhnte Daisuke.

„Die letzten paar Mal hat es uns auch überrascht“, sagte Wallace. „Eigentlich wäre es seltsam, wenn es diesmal kein Mord wäre.“

„Natürlich, ihr Amis seid doch ganz von Paranoia zerfressen“, giftete Daisuke.

„Beruhigt euch“, ermahnte sie Taichi, selbst alles andere als ruhig. „Suchen wir lieber weiter.“

Sie umrundeten das Haus zweimal und prüften auch die dahinterliegende Felswand, ohne auf eine Spur von Iori zu stoßen. „Wenn wir ihn nicht bald finden, wird es Nacht“, stellte Daisuke fest. „Das hat so keinen Sinn. Wenn er wirklich irgendwo abgestürzt ist, könnte er jetzt in diesem Moment verbluten.“

„Nur nicht zu optimistisch sein“, knurrte Taichi gereizt.

„Ich bin ja optimistisch“, empörte sich Daisuke. „Wir finden ihn sicher. Ich will ihn nur eher früher als später gefunden haben.“

„Was schlägst du denn vor, um die Sache zu beschleunigen?“, fragte Wallace. „Einen größeren Radius absuchen, klar. Aber sollen wir uns etwa wieder aufteilen, damit es schneller geht?“

Daisuke zuckte mit den Schultern.

„Ich bin dagegen“, sagte Koushiro. „Es ist zu gefährlich, allein in den Bergen herumzustolpern.“

„Jetzt auf einmal. Weil einer von uns auf die Idee kommen könnte, jemand anderes umzubringen?“, fragte Taichi streitlustig.

„Nein! Nein, das meine ich nicht. Aber auf dem Berg kann man wirklich schnell abstürzen. Und einer allein … Es ist vielleicht schon Iori abgestürzt, ohne dass wir wissen, wo.“

„Wir sollten mindestens zu zweit losgehen“, überlegte Miyako. „Auf die Art braucht sich niemand zu fürchten. Jeder passt gut auf seinen Partner auf, okay?“

„Von mir aus. Ich warte jetzt nur auf das Gegenargument“, knurrte Daisuke. Die Suche schien auch an seinen Nerven zu reiben.

„Was für ein Gegenargument?“, fragte Hikari.

„Dass man zu zweit ein noch leichteres Ziel ist, wenn der Partner jemanden umbringen will. Kommt schon, sagt es. Ihr könnt es ja nicht lassen, ständig Leute zu verdächtigen.“

„Hältst du jetzt mal den Rand?“, fuhr Taichi ihn an. „Niemand bringt hier jemanden um. Und niemand verdächtigt irgendwen!“

„Das ist ja auch meine Meinung“, sagte Daisuke laut. „Aber weil sicher jemand wieder damit anfangen wird, wollte ich es gleich im Vorhinein ansprechen!“

„Und damit jemand das Gegenargument entkräftet: Sollte sich, rein hypothetisch, jemand diese Frage stellen“, sinnierte Wallace, „legen wir fest, dass jeder, der ohne seinen Partner zurückkommt, verdächtig ist. Beruhigt euch das?“

„Nicht wirklich“, murmelte Mimi. Hikari wusste, worauf Wallace hinauswollte, aber ihr gefiel es auch nicht, dass sie nun tatsächlich wieder Was-wäre-wenn-Spiele spielen mussten.

„Also schön, dann bilden wir unsere Zweierteams, sonst geht wirklich noch die Sonne unter“, sagte Taichi. „Ich gehe mit Hikari, das ist ja wohl klar.“

Seine Schwester rollte mit den Augen.

„Du solltest mit Mimi gehen“, sagte plötzlich Daisuke. „Ihr zwei scheint ja neuerdings recht vertraut.“ Er hob abwehrend die Arme, als Taichis funkelnder Blick ihn traf. „Hey, das meine ich nicht böse. Ich sag ja nur, dass Vertrauen gut ist. Du gehst mit Mimi, das ist für euch beide am sichersten, und ich beschütze Hikari.“

„Und wer beschützt Hikari dann vor dir?“, grollte Taichi.

„Ich muss von niemandem beschützt werden“, schnappte Hikari. „Behandelt mich nicht wie ein kleines Kind.“

„Du bist aber meine kleine Schwester“, sagte Taichi.

„Ja, leider“, murmelte sie, schluckte dann. Es war nicht fair, ihre Nervosität an ihrem Bruder auszulassen. Auch wenn er mal wieder überfürsorglich war. Sie drehte sich mit einem Ruck um. „Ich gehe allein“, verkündete sie.

„Was …“, wollte Taichi auffahren, doch sie sagte laut: „Es ist jetzt wichtiger, dass wir an Iori denken. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Das konnte ich bisher auch, und ich werde es euch ein für alle Mal beweisen.“

„Dann lass mich dich wenigstens begleiten“, meinte Wallace lächelnd. „Ganz ohne Hintergedanken.“

„Tut mir leid, aber allein heißt allein“, sagte sie schnippisch und machte sich schon mal auf den Weg.

„Schön.“ Daisuke rollte mit den Augen. „Da die Familie Yagami heute mal wieder äußerst unkooperativ ist … habt mich doch alle mal gern.“ Auch er stapfte los.

„Darf ich dann wenigstens dir meine Begleitung anbieten?“, fragte Wallace Miyako.

„Das hier ist keine Dating-Veranstaltung“, sagte Mimi bissig. „Wir sollten Iori suchen, und zwar so schnell wie möglich.“

„Also sollen wir uns tatsächlich aufteilen?“, murmelte Jou unbehaglich.

„Um Himmels willen, ja! Ich glaube, wir kennen uns mittlerweile gut genug, dass wir uns vertrauen können, oder nicht? Und wenn einer von uns jemandem etwas tun wollte, hätte er in den letzten Tagen ausreichend Gelegenheit gehabt. Also los, wir teilen uns auf.“

Schließlich trennten sich die DigiRitter. Die Tage, in denen nichts geschehen war, hatten sie eingelullt. Es würde schon alles gut gehen. Für Ioris Verschwinden gab es eine harmlose Erklärung. Keiner von ihnen würde einen Mord begehen, nicht nach all der Zeit, in der sie immer weiter zusammengewachsen waren. Das war es, was sie dachten.

Und natürlich war es ein Riesenirrtum. Und dass sie sich trennten, ein Riesenfehler.

 

Sie waren noch gar nicht lange unterwegs – zumindest kam es Hikari nicht so vor. Die Sonne ging hinter dem Berg unter und ließ die Felshänge in einem sanften Ockerton leuchten. Die DigiRitter suchten kreuz und quer den ganzen Berg ab – Hikari kam der Gedanke, dass sie sich doch zu schnell auf den Weg gemacht hatten. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Berg in Gebiete aufzuteilen, sodass jeder woanders suchte. Dann konnten sie mehrere Bereiche in kürzerer Zeit durchkämmen.

Sie kämpfte sich über kleine Geröllhänge und zwängte sich an Dornensträuchern vorbei, immer weiter auf die Bergspitze zuhaltend, als sie den Schrei hörte.

Sie fuhr herum. Sie hatte die Stimme sofort erkannt. „Miyako!“

Nicht weit unter ihr, am anderen Ende einer Steilwand, raschelte es, halb verdorrte Sträucher erzitterten, und mit hochrotem Kopf brach Miyako aus dem Dickicht hervor. Sie stolperte mehr, als dass sie lief.

Hikari rief erneut ihren Namen und winkte ihr zu.

„Hikari …“, japste ihre Freundin. Sie war so außer Atem, dass sie taumelte. „Schnell … renn weg …“

Hinter Miyako teilte sich das Gebüsch – nein, es wurde regelrecht auseinandergerissen. Eine massige Gestalt sprang rücksichtslos aus dem Unterholz und schien die Äste und Dornen, die an ihrem bloßen Oberkörper kratzten, gar nicht zu spüren.

Hikari verschlug es den Atem. Miyako wurde von einem riesigen Löwenmenschen verfolgt. Eine wallende, goldene Mähne wehte hinter der Gestalt her. Die Abendsonne brach sich auf der Klinge eines brachialen Schwertes. Ein durchdringendes Knurren, wie es nur Raubtiere zustande brachten, rollte aus der Kehle des Digimons.

Es war eines der beiden, die eigentlich auf der Spitze des Berges in Kristall eingeschlossen sein sollten. Leomon.

„Miyako!“, schrie Hikari aufgelöst. „Schnell! Mach, dass du hier raufkommst!“ Etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein.

Miyako biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mit der Kraft der Verzweiflung weiter, nahm die Hände zur Hilfe und zerrte sich an der Felswand in Laufrichtung weiter. Sie wurde an dieser Stelle bald zu steil, um sie zu erklimmen, aber wenn Miyako noch ein paar Dutzend Meter weiterlief, kam sie zu dem Geröllhaufen, über den auch Hikari geklettert war.

Leomon bemerkte Hikari, wie sie ihre Freundin von der Kante aus anfeuerte, und sah zu ihr hoch. Seine Augen wirkten … leer. „Noch ein DigiRitter“, knurrte es. „Ich vernichte euch.“

Dann stürmte es wieder los.

„Miyako!“, kreischte Hikari, als das Digimon ihre Freundin fast eingeholt hatte. Diese erklomm eben den abgerutschten Hang, kroch völlig entkräftet auf allen Vieren über die Felsbrocken, die unter ihren Füßen immer wieder wegrutschten. Fast war es, als würde Leomon sie anziehen wie ein Magnet …

„Nimm meine Hand, schnell!“ Hikaris Stimme war schrill geworden. Sie kletterte Miyako so gut es ging entgegen, schürfte sich Hände und Knie an den scharfen Gesteinsbrocken auf und streckte dem Mädchen den Arm hin.

„Hi…kari …“ Mehr brachte Miyako nicht heraus. Dann ragte Leomon wie ein Baumstamm hinter ihr auf. Hikari packte Miyakos Schulter, gerade als das Digimon mit seinem Schwert hoch über dem Kopf ausholte. Sie meinte, den heißen Atem des Löwen auf ihrer Haut zu spüren …

Dann flog etwas aus dem Nichts heran und explodierte genau zwischen ihnen. Mit einem Aufschrei wurden Hikari und Miyako von dem Geröllhaufen gefegt, Steine polterten ihnen hinterher, als wären sie so leicht wie Styroporkügelchen.

Eine zweite Detonation folgte, noch während die beiden Mädchen in der Luft waren. Hikari schlug hart auf den Felsen auf, rumpelte über den Boden und fühlte sich wie über ein Waschbrett gezogen. Sie stieß sich das Knie so heftig, dass sie vor ihrem inneren Auge schon ihre Kniescheibe zersplittern sah. Dann dämpfte irgendein halbverdorrter Strauch ihre Rutschpartie, und im nächsten Moment landete Miyako quer auf ihrer Brust und presste ihr den Rest ihres Atems aus der Lunge.

Ein bestialisches Brüllen wurde laut. Mit tränenverschleiertem Blick erkannte Hikari Leomon, das die Explosion ebenfalls einige Schritte weit fortgeweht hatte, doch es stand noch aufrecht. Ein halbes Dutzend riesiger Insekten umkreiste es, und es hackte auf mehrere zangenbewehrte Käfer ein. Eine Art Biene schoss Stacheln auf es, die sich in seinen nackten Oberkörper bohrten – und dann sprang der Cyborg aus der Fabrik, Andromon, wie aus dem Nichts heran. Seine Hand war eine rotierende Klinge geworden, die Leomons Rücken durchbohrte und an der Brust wieder hervorkam. Leomon brüllte vor Schmerz mit einer schrecklichen Mischung aus Tier- und Menschenstimme, Andromons Brustklappen öffneten sich, Rauch entwich – und mit einem gewaltigen Krachen explodierten seine Raketen aus nächster Nähe.

Nach dieser selbstmörderischen Aktion war von den beiden Digimon nichts mehr übrig. Nur ein Krater im Boden war Zeuge des Kampfes. Die Insekten kurvten noch eine Runde durch die Luft und drehten dann ab.

Das alles hatte weniger als zehn Sekunden gedauert. Hikari war noch immer ganz benommen. Wenn sie nicht wüsste, dass sie keine solche Fantasie hatte, hätte sie die Szene auch für einen Traum halten können.

Erst jetzt spürte sie die hundert Schmerzherde auf ihrem Körper wieder. Ächzend schob sie Miyako von sich herunter. „Ist alles … okay?“, fragte sie mit gepresster Stimme.

Miyako konnte nicht von alleine aufstehen. Als Hikari sie stützte, pochte ein hohler Schmerz durch ihr Knie.

Ihre Freundin sah furchtbar aus. Das Haar zerzaust, die Brille zersprungen, und von einer Wunde an der Stirn lief ihr Blut übers Gesicht.

Aber sie lebten. Hikaris Herz klopfte noch einmal schneller, als ihr bewusst wurde, dass dieses Digimon sie beinahe getötet hätte, wenn nicht … Ja, was war eigentlich geschehen?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sprang Monokuma aus einer Baumkrone hervor und jagte den beiden Mädchen einen Heidenschreck ein. „Du!“, stieß Miyako mit gutturaler Stimme aus, noch ehe der kleine Bär zu Wort kam. „Das warst du! Du hast uns dieses Ding auf den Hals gehetzt!“

Sie wollte nach Monokuma treten, knickte aber ein und ging nach Atem ringend in die Knie.

„Miyako – ist alles in Ordnung?“ Hikari kniete sich besorgt neben sie.

Miyako krallte die Hand in ihre Schulter, um sich an ihr hochzustemmen. „Geht … schon …“, ächzte sie. „Wegen diesem Mistkerl … hab ich … nur einen ganzen … Marathon hinter mir!“ Sie funkelte Monokuma wütend an.

„Puhuhuhu“, machte der Bär. „Also wirklich. Da eilt man auf einem edlen Schimmel den Jungfrauen in Not zur Hilfe, und was ist der Dank?“

„Hi-Hilfe?“, machte Hikari verdattert. Der Gedanke kam ihr eben zum ersten Mal, aber wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Monokuma behauptet, Leomon nicht beherrschen zu können – und Andromon dafür schon.

Der Bär winkte gut gelaunt ab. „Kein Grund, gleich in Begeisterungsstürme auszubrechen, mir euer Eigentum zu vermachen und eure Kinder nach mir zu benennen. Ich kann nur nicht zulassen, dass jemand unser schönes Sterbecamp unterbricht. Jemand muss ja dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden – und ich habe euch versprochen, genau das zu tun.“

Während Miyako und Hikari ihn noch fassungslos anstarrten, wurden von der anderen Seite der Felswand Schritte laut. „Hikari! Miyako! Was ist los, warum habt ihr so geschrien?“ Es war Daisuke. Als er Monokuma sah, blieb er wie erstarrt stehen. „Hast du sie angegriffen?“, blaffte er.

„Puhuhuhu, heutzutage wird ein Retter in Not wirklich nicht mehr gewürdigt“, meinte der kleine Bär. „Aber ich will es euch nachsehen. Ich habe schließlich ein ganzes Regiment an Digimon gebraucht, um Leomon zu besiegen. Andererseits – wisst ihr, dass ihr jetzt schuld daran seid, dass ich Andromon nicht mehr habe?“

„Wie schade“, knurrte Daisuke. „Was war denn los?“, fragte er, freundlicher, an Hikari gewandt.

Als die beiden zu erzählen begannen, trollte sich Monokuma hinter den nächsten Baumstamm und war wieder einmal verschwunden.

„Das … das ist ja …“, murmelte Daisuke. „Ich meine, hat Monokuma nicht gesagt, dass dieses Leomon unmöglich freikommen kann?“

„Das hat er gesagt“, sagte Hikari düster. „Und wir haben ihm offenbar geglaubt, obwohl er hinter all dem hier steckt.“

Daisuke machte ein nachdenkliches Gesicht. Miyako fragte: „Aber warum sollte Monokuma Leomon in Stücke sprengen, wenn er es uns erst auf den Hals gehetzt hat? Nur so zum Spaß, damit wir uns ängstigen? Er hat schon recht, Andromon war wahrscheinlich ein ziemlich starker Untergebener, mit dem er uns gut in Schach hätte halten können.“

Daisuke kniff die Augen zusammen und sah zur Spitze des Berges hoch. „Ich hab da ein ganz mieses Gefühl … Kommt.“ Damit lief er los.

„Daisuke, warte!“ Obwohl Hikari der Schreck noch in allen Knochen steckte – und Miyako die Erschöpfung –, rannten sie ihm hinterher. Er schlug die Richtung ein, die zu jenem Pfad führte, den sie das erste Mal zur Bergspitze genommen hatten.

Unterwegs stießen sie auf Taichi und Mimi. Die beiden waren wohl die Einzigen, die letzten Endes wirklich zu zweit losgezogen waren. Als Taichi Hikari mit zerrissenen, schmutzigen Klamotten den Weg entlang humpeln sah, umwölkte sich seine Miene. „Was ist passiert?“, fragte er düster, und sofort spießte er Daisuke regelrecht mit Blicken auf.

„Hey, ich bin erst zu ihnen gestoßen, als es schon vorbei war!“, wehrte dieser ab. „Und außerdem, wenn ich von Anfang an bei Hikari geblieben wäre, so wie ich es wollte, dann wäre …“

„Dann wäre es trotzdem passiert“, unterbrach ihn Hikari. „Leomon ist freigekommen“, erklärte sie knapp.

Mimi und Taichi machten große Augen. „Le-Leomon? Das Löwenbiest in dem Kristall?“, fragte sie.

„Ist alles in Ordnung mit euch?“ Taichis Zorn war auf einen Schlag verraucht und machte reiner Sorge Platz.

„Den Umständen entsprechend“, sagte Miyako. „Monokumas Digimon haben uns gerettet.“

„Wieso sollten die das tun?“, fragte Mimi. Auf Taichis Blick hin zuckte sie zusammen. „Ich meine, ich bin froh, dass sie es getan haben, aber …“

Hikari wusste, dass Taichis Miene nicht vorwurfsvoll gewesen war. Der Blick, den er Mimi zugeworfen hatte, hatte etwas anders bedeutet. Und nun, da der Schock langsam abklang, stellte sie sich dieselbe Frage wie ihr Bruder.

Wenn Monokuma nicht gewollt hatte, dass Leomon freikam, und sonst alle Digimon auf der Insel beherrschte … wer hatte Leomon dann befreit?

„Einer von uns muss den Code geknackt haben“, sagte Daisuke in die angespannte Stille hinein. „Das ist die einzige Möglichkeit.“

„Warte – ist es nicht ein wenig früh, das zu schlussfolgern?“, fragte Miyako. „Vielleicht war Monokumas Eiskristall einfach undicht, oder der Code hatte einen … einen Bug. Leomon könnte sich von selbst befreit haben.“

„So oder so, wir sollten das überprüfen“, beschloss Taichi. „Seid ihr auf dem Weg zum Gipfel?“

Daisuke nickte.

„Okay. Hikari, Mimi, Miyako: Ihr geht die anderen suchen. Und diesmal bleibt ihr zusammen.“ Taichi nickte Daisuke zu. „Wir sehen oben in dieser Kathedrale nach dem Rechten. Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, was hier los ist.“

„Seid vorsichtig“, warnte Hikari. „Da ist noch das zweite Digimon – dieses Devimon. Das könnte ebenfalls freigekommen sein.“

„Wir beeilen uns. Wenn’s brenzlig wird, sind wir sofort wieder weg.“

„Aber wenn ich mich recht erinnere, hatte Devimon Flügel!“ Mimi ergriff fest Taichis Hand. „Ich lass dich sicher nicht dort hinauf. Wir sollten alle sofort zum Haus zurückgehen.“

„Sollen wir uns etwa einfach verstecken? Wir haben Iori immer noch nicht gefunden“, empörte sich Taichi.

„Puhuhuhu …“

Mit einem Satz sprangen die DigiRitter auseinander. Monokuma war zwischen sie gehopst – wie immer direkt aus einem nahen Gebüsch.

„Mach das noch einmal, und ich nehm dich auseinander“, zischte Taichi mit geballten Fäusten.

„Keine Gewalt gegenüber eurem Direktor“, ermahnte Monokuma sie. „Ich bin nur hier, um die Diskussion abzukürzen. Devimon ist nicht freigekommen. Es ist weiterhin tiefgefroren und wird die nächsten tausend Jahre nicht rauskommen … Vorausgesetzt natürlich, der Codeknacker hackt sich nicht wieder in mein Versiegelungsprogramm“, verkündete er nach einer Kunstpause. Dann verschwand er auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war, und ließ die DigiRitter mit dieser Offenbarung stehen.

„Also hat doch jemand …“, murmelte Miyako.

„Koushiro!“, rief Taichi. „Wo ist Koushiro? Habt ihr ihn während der Suche gesehen?“ Hikari verstand. Der Rotschopf war der Einzige, der auch nur annähernd das Zeug dazu hatte, einen digitalen Code zu knacken. Aber hatte er nicht selbst gesagt, dass dieser hier zu kompliziert wäre, selbst für ihn?

 

Die Mädchen liefen schließlich los, um die anderen zu finden. Taichi und Daisuke erklommen ein weiteres Mal den Berg. Sie waren es, die als Erstes jemanden fanden – nämlich Koushiro.

Es war gar nicht mehr weit bis zur Bergspitze. Der Weg schlängelte sich hier durch schroffe Felszacken nach oben, aus der Felswand entsprang ein kleiner Wasserfall mit eisigem Quellwasser, und davor lag Koushiro, leblos.

Die beiden Jungen stießen einen Schrei aus und stürzten zu ihm. „Koushiro!“, rief Daisuke und rüttelte ihn an der Schulter. „Verdammt, mach die Augen auf!“

Der Rotschopf lag auf dem Bauch in einer Lache aus Blut. Vor ihm, gerade so in Reichweite, stand sein Laptop, aufgeklappt.

„Verflucht, und dabei hab ich ihn eben noch verdächtigt!“, stöhnte Daisuke auf. „Reiß dich zusammen, Koushiro! Koushiro! Tu uns das nicht an, Alter!“

„Er hört dich nicht“, murmelte Taichi.

„Er ist noch nicht tot!“, beharrte Daisuke kurzatmig. „Monokuma hat noch nicht seine übliche Verlautbarung gemacht, dass wir eine Leiche gefunden haben – also ist das hier keine Leiche!“ Er tastete nach Koushiros Schlagader, um seinen Puls zu fühlen, und zuckte zurück. Seine Finger waren nass von Blut.

„Gib’s auf“, murmelte Taichi und ließ sich kraftlos auf einen Felsen sinken. „Monokuma macht die Meldung nur, wenn drei Leute eine Leiche gesehen haben. Wir sind nur zu zweit.“

Daisuke hatte eben noch ausgesehen, als wollte er den Toten auf den Rücken drehen, doch bei diesen Worten erstarrte er. Dann glitt sein Blick auf den Laptop. „Sieh mal“, hauchte er.

Taichi hob den Blick.

Koushiros leblose Hand lag auf der Tastatur des Laptops. Die Tasten waren rot verschmiert. Der Laptop war eingeschaltet, und auf dem Bildschirm sah man endlose Zahlenkolonnen, und die letzten Worte, die dort wie Koushiros Sterbebotschaft standen, lauteten: Versiegelung geöffnet.

 

Hikari, Mimi und Miyako blieben in gut einsehbarem Gelände, um einen möglichst weiten Blick zu haben. Während sie zurück Richtung Haus liefen, riefen sie immer wieder nach den anderen. Der Berg war einfach zu riesig, das Gelände zu weitläufig – es würde ewig dauern, all ihre Freunde zusammenzutrommeln.

Doch schon nach fünf Minuten wurden sie fündig. Miyako blieb plötzlich stehen. „Da!“ Ihr Arm schwenkte herum. Hikaris Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger. Dort stand Jou, am Rand eines kleinen Wäldchens am Berghang. Wieso hatte er nicht geantwortet? Er musste sie doch rufen gehört haben?

„Jou!“, rief Mimi. Sie liefen auf den Jungen zu. „Taichi will, dass wir …“

Als Jou sich zu ihr umdrehte, verstummte sie. Er war leichenblass. Schweiß lief über seine Stirn. „Wa-wartet! Bleibt weg!“

„Was meinst du mit bleibt weg?“, fragte Hikari irritiert. Miyako stapfte wie aus Trotz noch näher heran. Die Lebensgefahr, in der sie geschwebt waren, hatte ihre kühne Seite geweckt. Sie war gereizt, und Hikari fühlte sich genauso.

Jou benahm sich komisch. Er trat Miyako sogar in den Weg und hob halb die Arme, als wollte er sie tatsächlich aufhalten. Sie musterte ihn mit blitzenden Augen. „Was soll das? Was ist da?“

Jou machte den Mund auf, dann schlug er die Augen nieder und trat zur Seite. Miyako ging an ihm vorbei auf den Waldrand zu und sog scharf die Luft ein.

Das genügte. In Windeseile waren Mimi und Hikari an ihrer Seite und starrten auf die Szene, die sich ihnen bot.

„Pam-pam-pam-paaam“, erklang es fröhlich. Wieder einmal tauchte Monokuma hinter ihnen auf, doch diesmal drehte sich niemand zu ihm um. Der Bär amüsierte sich sicherlich königlich, als er sagte: „Eine Leiche wurde gefunden. Es wird endlich wieder ein Klassentribunal geben, also ermittelt ordentlich! Ich lade sofort das neue Monokuma-File auf eure DigiVices. Viel Spaß!“

Hikari hörte kaum hin. Was sie alle befürchtet hatten, war eingetreten. Doch es sah ungleich schlimmer aus.

Selbst aus einigen Schritten Entfernung konnte man sehen, dass Iori nicht gestorben war, weil er die Felswand hinuntergefallen war. Es sah eher so aus, als hätte etwas Scharfes, Längliches seine Brust durchbohrt. Er lag leblos in dem Wäldchen, und da war so viel Blut …

Mimi würge und kauerte sich zusammen. Miyako begann am ganzen Leib zu zittern und zusammenhanglose Wortfetzen zu stammeln. Was Jou tat, sah Hikari nicht. Sie selbst konnte nur die Leiche anstarren.

Es war wieder geschehen. Und dabei hatten sie geglaubt, es hinter sich zu haben.

Fall 03: Tödliches Leben – Verhasste Routine

„Es … es ist nicht so, wie es aussieht“, brachte Jou irgendwann hervor. Hikari konnte den Blick immer noch nicht von der Leiche abwenden, fast war es, als müsste sie sich jede grauenhafte Einzelheit einprägen, damit sie begriff, dass das hier Realität und kein böser Traum oder eine Sinnestäuschung war.

Miyako hingegen explodierte. „Was soll das heißen, nicht so, wie es aussieht? Du bist hier herumgestanden, direkt vor der Leiche, und als wir gerufen haben, hast du getan, als würdest du uns nicht hören!“, schimpfte sie los, Tränen in den Augen. Sie hatte in den letzten Minuten so viel durchgemacht, dass es schon erstaunlich war, dass sie überhaupt ihre Sinne beieinander halten konnte.

Jou hob abwehrend die Hände, als es aussah, als würde sie ihn schlagen wollen. „Das … das meine ich ja! Ich habe ihn eben erst hier legen gesehen! Ich habe euch nicht mal gehört … Das war ein Schock, versteht ihr? Ich habe nie und nimmer … Das könnte ich gar nicht!“

Hikari glaubte es ihm sogar. Ioris Anblick hätte jeden von ihnen auf der Stelle in eine Salzsäule verwandelt. Bei den drei Mädchen war es nicht anders gewesen. Irgendetwas hatte Iori regelrecht aufgespießt, und die Blutlache unter ihm war riesig.

„Ahem, ahem“, räusperte sich jemand gekünstelt.

Schon wieder Monokumas Stimme. Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe?

„Aufgepasst, Schüler. Da ihr alle gerade über den ganzen Berg verstreut seid, seht in den Himmel. Über dem Fundort der Leiche kreist ein Digimon namens Kuwagamon. Das rote Insekt. Ihr könnt es nicht verfehlen. Bis dann!“

Tatsächlich brummte eines der Digimon, die vorhin Leomon attackiert hatten, gut sichtbar über ihnen. Hikari konnte nicht sehen, wo genau die Stimme hergekommen war, aber sie hatte ziemlich nah geklungen. Am Rande ihres schockierten Bewusstseins fragte sie sich, was diese Ansage bringen sollte, wo sie doch ohnehin hier waren – ehe ein anderer, ebenso peripherer Bereich ihres Verstandes die Frage beantwortete. Es würde sie mittlerweile nicht mehr wundern, wenn Monokuma mehrere Klone hätte oder diese Stimme auch anderswo auf der Insel erklingen lassen könnte. Dann wären auch die anderen benachrichtigt worden.

In der Tat dauerte es nicht lange, bis die anderen den Mordschauplatz erreichten. Taichi und Wallace kamen fast gleichzeitig an, aus verschiedenen Richtungen. Als Hikaris Bruder die Mädchen sah, atmete er erleichtert auf, nur um dann mit versteinertem Gesicht auf Ioris Leiche zu starren.

„Hier also auch“, murmelte er.

Sofort war Hikari hellhörig. „Was meinst du mit auch?“

Ehe Taichi antworten konnte, war Wallace an den Tatort getreten. „Ach du heilige …“, entfuhr es ihm, als er Iori in dem Wäldchen liegen sah, aber er wirkte nicht besonders überrascht. Hikari wusste selten, was er dachte, aber offenbar hatte er nicht geglaubt, dass das Sterbecamp der Vergangenheit angehörte.

Taichi leckte sich über die Lippen und sagte mit belegter Stimme: „Kommt mal mit, bitte.“ Sein gezwungen ruhiger Tonfall alarmierte Hikari mehr als alles andere. „Was ist los?“

„Koushiro“, sagte er leise. „Wir haben Koushiro gefunden.“

Allein die Art, wie er es sagte, sprach Bände.

„Sollte nicht jemand den Tatort im Auge behalten?“, rief Wallace, als alle bergan losliefen.

„Wenn alle mitkommen, wird auch niemand hier herumpfuschen“, knurrte Taichi. „Wenn du dich auch endlich bewegst, heißt das.“

Wallace zuckte mit den Schultern und folgte ihnen.

Taichi hüllte sich in eisernes Schweigen, ehe sie die Stelle erreichten, wo Daisuke auf sie wartete. Er stand neben Koushiros Leiche, und kaum dass der am Boden liegende DigiRitter in Sicht gekommen war, plapperte Monokumas Stimme schon wieder los.

„Pam-pam-pam! Uuuund noch eine Leiche wurde gefunden! Heute ist aber viel los auf der File-Insel! Vielleicht sollte man tatsächlich mal einen Touristenort daraus machen. Ständig passiert etwas, nie ist es langweilig!“ Der Bär spazierte hinter einem Felszacken hervor und marschierte zwischen Koushiro und den Lebenden hin und her. „Wie auch immer, dieser Mord wird natürlich auch im folgenden Klassenprozess behandelt. Ich habe euch noch ein Monokuma-File ausgestellt. Der Fall scheint dieses Mal ja ein wenig anspruchsvoller zu sein, also lest genau und strengt eure Köpfe an!“ Damit sprang er von der nächstbesten Felskante und war ihrem Blick entschwunden.

 

Sie fühlten sich allesamt so mies wie schon lange nicht mehr. Tagelang war nichts passiert – und nun, wie als Ausgleich, gleich zwei Morde auf einmal. Zwei! Hikari glaubte in einem Albtraum gefangen zu sein, der vielleicht schon zu Beginn ihres Inselabenteuers begonnen, nun aber ein völlig neues Level erreicht hatte.

Und am meisten erschreckte sie die Routine, mit der sie mittlerweile zu Werke gingen. Sie brauchten merkbar weniger Zeit, um sich zu fassen, als bei den ersten beiden Morden. Hikari erwischte sich dabei, viel rationaler alles zu analysieren, was mit den Morden zu tun hatte. Bei Sora hatte sie sich noch gegen das Ermitteln gesträubt – nun war sie von einem geradezu unheimlichen Pflichtgefühl beseelt. Sie musste ihren Beitrag leisten, damit sie den Klassenprozess überlebten … Koushiro war immer ein zuverlässiger Streiter der Logik gewesen und hatte stets gute Gedanken gehabt, die sie zum Schuldigen geführt hatten. Nun war er tot. Irgendjemand musste diesen Part übernehmen, sonst waren sie alle verloren!

Dieser Gedanke erzeugte gemischte Gefühle in ihr – derart ineinander verschlungen, dass sie ihr die Kehle zuschnürten. Zum einen war da die Panik. Wenn sie den Mörder nicht fanden, würden sie alle sterben. Und zum anderen blankes Entsetzen, weil sie schon so rational über diese Dinge nachdenken konnte, wo doch zwei ihrer Freunde getötet worden waren!

Da sie nicht wussten, wie viel Zeit Monokuma ihnen gönnen würde, teilten sie sich in zwei Gruppen auf, um die beiden Leichen zu untersuchen. Hikari blieb mit Taichi, Mimi und Daisuke bei Koushiro, während Jou, Miyako und Wallace noch einmal nach Iori sahen. Hikari fiel ein, dass es im Labyrinth Videoaufzeichnungen zu allen Geschehnissen auf der Insel gab und man dort bestimmt auch den Mörder sehen würde – doch die Zeit, die sie bis dorthin bräuchten, würde ihnen Monokuma gewiss nicht geben.

Als Allererstes fiel Hikari Koushiros Laptop auf. Versiegelung geöffnet stand am Ende eines Programms, das darauf ausgeführt worden war … und irgendwie hatte sie eine ziemlich genaue Vorstellung, welche Versiegelung damit gemeint war.

„Heißt das, die Barriere um dieses Leomon wurde von Koushiros Laptop aus geöffnet?“, fragte Daisuke.

„Klar wurde sie das“, murmelte Taichi. „Eine andere Möglichkeit gab es ja wohl gar nicht. Leomon ist freigekommen und hat erst Koushiro selbst getötet, dann Iori.“

„Also hat Koushiro das Programm doch geknackt? Ich meine, er hat doch gesagt, dass er es nicht schaffen würde, weil es zu kompliziert wäre, oder?“

Darauf konnte Taichi nur mit einem Achselzucken antworten.

„Seht mal.“ Mimi war etwas an der Felswand aufgefallen, in deren Nähe Koushiro lag. Nicht nur, dass die Wand über und über mit seinem Blut bespritzt war – was Mimi entdeckt hatte, war zwischen und unter den Blutflecken zu sehen. Hikari hätte ihr gar nicht zugetraut, sich eine so grausige Szene genauer ansehen zu können.

„Sind das … Schriftzeichen?“, fragte Taichi.

Hikari musste ihm recht geben. Es handelte sich offensichtlich um dieselben Schriftzeichen, die die Wände in dem Labyrinth übersät hatten. Sie waren mit violetter Farbe auf die Felswand geschmiert. Es musste sich um die Schrift handeln, die in der DigiWelt gebräuchlich war.

„Die konnte wohl höchstens Koushiro entziffern“, murmelte Daisuke.

„Meint ihr, er wollte sie gerade übersetzen, als er …“, begann Hikari.

„Vermutlich“, meinte Daisuke. „Aber selbst wenn er nicht abgelenkt gewesen wäre … dieses Leomon hätte ihn sicher so oder so erwischt, wenn es so furchterregend ist, wie ihr erzählt habt.“

Hikari erschauerte allein bei der Erinnerung. Sie nahm ihr DigiVice zur Hand, um sich das Monokuma-File durchzulesen. Monokuma hatte nur einen recht kurzen Text auf Koushiro verschwendet.

Monokuma-File #4: Das Opfer ist Koushiro Izumi. Er starb, weil seine Halsschlagader aufgeschlitzt wurde. Andere Verletzungen gibt es nicht.

Daisuke verzog das Gesicht, als er erneut neben Koushiro in die Hocke ging. „Wie scharf war denn das Schwert von diesem Leomon? Denkt ihr, dass es … schnell und schmerzlos gegangen ist?“

Hikari wusste nicht, was sie antworten sollte. Allein sich vorzustellen, wie Leomon zugeschlagen hatte, war entsetzlich.

„Hier gibt es sonst nichts“, sagte Taichi irgendwann. „Keine Fußspuren, weil hier fast alles Felsenboden ist. Aber der Weg führt hoch zu dieser Kathedrale, das ist eindeutig.“

„Dann sollten wir jetzt vielleicht auch zu Iori gehen“, schlug Daisuke vor. „Wenn wir noch etwas Zeit haben, müssen wir sie nutzen.“

Taichi nickte.

„So eine Ironie“, meinte Mimi lethargisch, als sie hinter den anderen her trottete. „Die ganze Sache nur wegen dieser Beerensuche … und dann haben wir Iori gesucht, und Koushiro ist hier gestorben, wo er Iori nicht gefunden hat, wo es dafür aber Beeren gibt.“ Sie deutete auf die dornigen Sträucher etwas abseits des Weges. Dicke, dunkelviolette Beeren wuchsen darauf, die im Abendlicht köstlich ausgesehen hätten, wäre Hikaris Magen nicht ein mehliger, übersäuerter Klumpen gewesen.

Auf halbem Weg kam ihnen die andere Gruppe entgegen. „Seid ihr auch fertig?“, fragte Taichi.

„Es gibt nicht wirklich viel zu untersuchen“, erklärte Miyako. „Was habt ihr denn herausgefunden?“

„Sparen wir uns das für später auf“, sagte Wallace. „Ihr seid auf dem Weg zu Ioris Leiche, oder? Wir gehen zu Koushiro. Ermitteln wir, solange Monokuma es zulässt.“

Taichi nickte, und beide Gruppen setzten ihren Weg fort.

Ioris Anblick war trotz allem der schrecklichere. Die Farnwedel, die nur unter seiner Leiche plattgedrückt waren, kündeten davon, dass er aufgespießt und in das Wäldchen hineingeschleudert worden war. Sein Tod war garantiert nicht so schnell vonstattengegangen wie der von Koushiro … Und die ausgefranste Wunde, die in seinem Rücken zu sehen war, war grässlich.

Ehe sie sich einen noch genaueren Anblick antaten, kontrollierten sie das entsprechende Monokuma-File auf ihren DigiVices.

Monokuma-File #3: Das Opfer ist Iori Hida. Er wurde von einem spitzen, scharfen Gegenstand durchbohrt und starb an einem Schock durch Blutverlust.

Mehr gab das File auch hierzu nicht her.

„Fällt euch was auf?“, murmelte Mimi. „Es wird kein Todeszeitpunkt genannt.“

„Ist das wichtig?“, fragte Taichi mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Wenn Monokuma uns etwas verschweigt, ist es immer wichtig. Bei Sora und Yamato hat er den Todeszeitpunkt genau angeführt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er diesmal einfach darauf vergessen hat – gleich zweimal.“

Das gab Taichi zu denken.

Hikari konnte nachvollziehen, warum die anderen so schnell alles um Iori herum fertig abgesucht hatten. Auch hier gab es wenig zu entdecken – abgesehen davon, dass es fast körperlich wehtat, Ioris Leiche zu betrachten.

Unter seinem Körper hatte sich eine Blutlache gebildet. Rote Spritzer markierten sogar mehr oder weniger die Distanz, die er in das Wäldchen geschleudert worden war. Mimi fand schließlich sogar einen Fußabdruck: Dort, wo die Felsen langsam in das Moos des Wäldchens übergingen, war der tiefe Abdruck einer Art Tatze zu sehen. Hikari versuchte sich daran zu erinnern, wie Leomons Füße ausgesehen hatten, aber sie hatte zu keiner Zeit genau darauf geachtet. Bedachte sie das Äußere des Digimons im Allgemeinen, stammte der Abdruck aber eindeutig von ihm.

„Wenn Leomon nach dem Mord an Koushiro den Weg hinuntergelaufen ist, den wir genommen haben“, überlegte Taichi und kaute auf seiner Unterlippe, „dann hat er vielleicht hier Iori erwischt.“

„Und dann ist es in diese Richtung weitergelaufen und hat Miyako und Hikari gefunden.“ Daisuke deutete in die Richtung, in der sie sich ursprünglich getroffen hatten.

„Und dort wurde es dann vernichtet, ja?“, fragte Mimi hoffnungsvoll. „Bist du sicher, dass es tot ist, Hikari? Ich will nicht, dass es noch einmal auftaucht, wenn es so … brutal ist.“

„Absolut.“ Hikari nickte. „Ich meine, es ist ein Wesen aus einer fremden Welt, aber ich habe gesehen, wie es explodiert ist. Wenn uns das Schicksal überhaupt irgendeine Chance gibt, diese Insel lebend zu verlassen, dann war es das mit ihm.“

„Gut, und was jetzt?“, fragte Daisuke, als sie keine neuen Spuren mehr ausfindig machen konnten.

„Zurück zur Villa“, beschloss Taichi. „Vielleicht finden wir dort noch irgendetwas.“

„Und was genau sollen wir finden?“, fragte Daisuke stirnrunzelnd.

„Keine Ahnung. Einen Grund, warum Iori so lange fort war. Und Koushiro hatte seinen Laptop verloren, wenn ihr euch erinnert. Vielleicht ist das wichtig.“

Daisuke zuckte mit den Achseln zum Zeichen, dass er einverstanden war.

Sie hatten jedoch noch keine drei Schritte in Richtung Villa getan, als ihnen Monokuma in den Weg sprang. „Pam-Pam-Pam!“, quietschte er. „Die Zeit fürs Ermitteln ist um.“

„Schon?“, entfuhr es Mimi. War es kürzer gewesen als die letzten Male? Oder fühlte es sich nur so an, weil sie zwischen den beiden Leichen hin und her hatten gehen müssen?

„Findet euch bitte in der Kathedrale auf der Spitze des Berges ein. Wer bei der Anwesenheitskontrolle fehlt, den holen meine Insektendigimon ab“, drohte Monokuma, hopste zur Seite und war wieder einmal verschwunden. Hikari hatte es aufgegeben, sich über ihn zu wundern.

„Ich gehe da sicher nicht hoch!“ Mimi klammerte sich an Taichis Arm. „Dort oben ist dieses Leomon ausgebrochen! Wenn auch noch das andere Digimon entkommen ist … Selbst wenn es noch eingefroren dort steht, ich … Ich will nicht!“

„Dir wird nichts anderes übrig bleiben“, meinte Daisuke und verzog den Mund. „Kommt ihr?“

Hikari blickte in die Richtung, in der die Villa lag. Sie hätte sich gern noch einmal dort umgesehen, auch wenn sie ebenfalls nicht wusste, was sie sich dort zu finden erhoffte.

Die anderen warteten bei Koushiros Leiche auf sie, und sie gingen schweigen den Bergpfad entlang. Es war wie ein Weg zum Richtblock, und er war anstrengend und schweißtreibend dazu. Hikari hatte das Gefühl, es würde die letzte Wanderung in ihrem Leben sein.

Sie wusste, sie mussten den Mörder von Koushiro und Iori finden. Der Fall schien klar – aber ob Monokuma Leomon als Täter würde gelten lassen? Es sollte sie froh stimmen, dass keiner ihrer Freunde zum Mörder geworden war – oder stimmte das nicht? Und wenn Leomon der Täter war, wie sollten sie dann im Prozess argumentieren? Warum gab es denn überhaupt einen Prozess, wenn der Mörder nicht unter ihnen war? An ihr nagte der Verdacht, dass Monokuma es ihnen nicht so einfach machen würde.

Wallace und Jou unterhielten sich mit gedämpften Stimmen über genau diesen Sachverhalt. „Und wenn Monokuma Leomon quasi als … Mordwerkzeug sieht?“, fragte Wallace soeben. „Ich kann mir nämlich gut vorstellen, dass er das tut. Demnach wäre derjengie von uns der Mörder, der dafür verantwortlich ist, dass Leomon jemanden töten konnte, meinst du nicht auch?  Er hat quasi den Löwen losgelassen. Das heißt, als Mörder gilt derjenige, der die Versiegelung geöffnet hat.“

Hikari überlegte. Ja, das konnte sein. Aber auch in diesem Fall schien es klar. Es war, als gäbe es endlich mal ein einfaches Klassentribunal.

Und genau deshalb glaubte sie nicht so recht daran.

Als die Bergspitze endlich in die Nähe kam, versank die Sonne bereits tiefrot am Horizont im Meer. Hikari wurde bewusst, dass sie dieses Mal wesentlich unstrukturierter zu Werke gegangen waren. Koushiro und seine Checkliste fehlte ihr schon jetzt. Aber sie hatten ohnehin kaum etwas gefunden, was sie an Hinweisen hätten aufschreiben können.

In Gedanken ging Hikari deshalb alles durch, was seit ihrer Ankunft auf der File-Insel geschehen war. Wenn sie schon aus den jetzigen Mordfällen zu wenige Hinweise ziehen konnte, dann gab es ihr wenigstens Halt, wenn sie alles im Blick hatte, was irgendwie mit den Vorkommnissen auf dieser Insel zu tun hatte.

Sie fing bei dem an, was sie von Ken und in dem Labyrinth erfahren hatten.

Das hier ist die DigiWelt. Hier leben die sogenannten Digimon. Wir sind DigiRitter und sollten eigentlich eine wichtige Rolle für diese Welt spielen. Aber Monokuma hat irgendein krummes Ding gedreht. Er hat die Digimon von dieser Insel entfernt und ein paar wenige versklavt, damit sie uns in Schach halten.

Uns hat er irgendwie hierhergebracht. Er will, dass wir uns gegenseitig töten. Das war es, was er uns bei unserer allerersten Begegnung in einem Wald gesagt hat.

Wir haben daraufhin eine Nacht in einer Straßenbahn auf einem See verbracht und sind tagsüber marschiert. Wir haben ein Liliputanerdorf in der Wüste durchquert und sind schließlich in die Fabrik gekommen.

Dort fand der erste Mord statt. Monokuma hatte Kisten mit Waffen vorbereitet. Wir haben im unteren Stockwerk geschlafen, und in der Nacht wurde Sora ermordet. Wir konnten den Mord aufklären. Der Täter war Ken, der mehr als wir anderen von der DigiWelt wusste. Als Daisuke ihm verzweifelt gestanden hatte, dass er ihn nicht verstehe, gab sich Ken äußerst arrogant und meinte, dass das kein Wunder sei. Später fanden wir heraus, was der Grund für dieses Gebaren war. Er war von der Saat der Finsternis beherrscht, die ihm unglaubliche Intelligenz und körperliche Fitness verlieh und die seinen Verstand verdrehte. Er hat Sora ermordet, um von dieser Insel fortzukommen, damit er seine Welteroberungspläne auf einem Kontinent in der DigiWelt umsetzen konnte. Er wurde hingerichtet.

Wir haben eine Stadt ausfindig gemacht und sind dem Lauf eines Abwasserrohrs oberirdisch dorthin gefolgt. Wir kamen in die Spielzeugstadt, die verlassen war. Monokuma hat uns dort ein Festmahl aufgetischt, aber es waren auch Gift und Pilze, die die Erinnerungen löschen konnten, dabei.

Monokuma brachte uns bald darauf zu den Telefonzellen, um uns ein neues Motiv zu geben. Jeder von uns telefonierte mit einem Erziehungsberechtigten der anderen, und wir alle erfuhren, dass sie offenbar in großer Gefahr schwebten. Doch keiner von uns durfte darüber sprechen, und ohne die Gewissheit, dass unsere eigenen Angehörigen ebenfalls in Gefahr waren, wollte keiner einen Mord begehen.

Bis auf einen. Monokuma wusste, dass Takeru und Yamato Brüder und ihre Eltern geschieden waren. Dieses Schlupfloch in seinen eigenen Regeln nutzte er, um Yamato mit seiner Mutter, Takerus Erziehungsberechtigter, telefonieren zu lassen. Yamato fasste daraufhin den Entschluss, sich zu opfern, damit Takeru freikommen konnte. Er ließ sich von Takeru im Affekt vergiften und löschte ihm dann die Erinnerungen mit Pilzsaft. Wir kamen aber bei dem Klassenprozess wieder hinter die Wahrheit, und Takeru wurde hingerichtet.

In einem alten Labyrinth fanden wir endlich mehr über diese Welt und die DigiRitter heraus, auch über die Saat der Finsternis, und wir konnten uns Soras Mord und Yamatos Telefonat als Videoaufzeichnung ansehen. Koushiro erzählte uns, dass diese Welt nur aus Daten besteht. Allerdings entdeckten wir keinen Hinweis, wie wir von hier fortkommen könnten.

Schließlich fanden wir die Villa, in der wir die letzten Tage verbracht haben. Wir trafen auf Gundham Tanaka, eine rätselhafte Gestalt, die laut Monokuma nicht in diese Welt gehörte. Er konnte uns nicht wirklich weiterhelfen, und als Monokuma auf ihn aufmerksam wurde, nannte er ihn einen Datenrest und löschte ihn mit einem digitalen Scanner.

Uns anderen machte er eines seiner zweifelhaften Geschenke: Er hatte irgendwie die Leichen unserer Freunde aufbereitet, sodass ihre Wunden verschwunden waren, und im Keller der Villa in gläserne Särge gelegt. Er meinte, so könnten wir von Sora, Ken, Yamato und Takeru besser Abschied nehmen.

Danach war es vier Tage lang ruhig. Am fünften fanden wir auf der Spitze dieses Berges die Kathedrale, zu der wir nun unterwegs sind. Dort bewahrte Monokuma zwei Digimon auf, die, laut seiner Worte, zu mächtig gewesen wären, um sie zu kontrollieren. Sie waren in Kristalle eingeschlossen und konnten nur befreit werden, wenn jemand das Programm entschlüsselte, das sie gefangen hielt. Koushiro analysierte es, aber er meinte, selbst für ihn wäre es zu komplex, und er war immerhin unser Computergenie.

Gegen Mittag am nächsten Tag meldete Koushiro, dass sein Laptop verschwunden wäre. Wir suchten gemeinsam danach, aber er fand ihn am Abend schließlich selbst. Wohin der Laptop in der Zwischenzeit verschwunden war, haben wir nicht herausgefunden.

Am darauffolgenden Tag, als wir alle Besorgungsgänge erledigten, kam Iori nicht rechtzeitig zum Mittagessen in die Villa. Nachdem wir eine Weile erfolglos gesucht hatten, teilten wir uns auf, um einen größeren Bereich abdecken zu können. Dabei habe ich Miyako getroffen, die von Leomon verfolgt wurde – einem der Digimon, die eigentlich in einem Kristall eingeschlossen sein sollten. Es hätte uns fast getötet, aber da hat Monokuma eingegriffen und es mit seinen Sklaven-Digimon zerstört.

Kurz darauf haben wir Daisuke getroffen, und dann Taichi und Mimi. Wir wollten den anderen Bescheid sagen und außerdem die Kristalle in der Kathedrale überprüfen. Dafür teilten wir uns abermals in zwei Gruppen auf. Miyako, Mimi und ich fanden Jou, der Ioris Leiche entdeckt hatte. Währenddessen fanden Daisuke und Taichi Koushiros Leiche.

Koushiro wurde laut Monokuma-File die Kehle aufgeschlitzt. Noch im Tod hatte er seine Hand auf der Tastatur seines Laptops liegen gehabt, auf dem ein Programm gelaufen war, das offensichtlich die Versiegelung von Leomon aufgehoben hatte. In Koushiros Nähe haben wir eine blutbespritzte Felswand gefunden, auf der violette Symbole der Digimon-Schrift zu sehen waren. Keiner von uns konnte sie entziffern.

Ioris Leiche lag etwas weiter den Weg runter. Er wurde von einer scharfen Waffe aufgespießt und in ein Wäldchen geschleudert. Dort ist er verblutet. Am Rand des Wäldchens haben wir einen Pfotenabdruck gefunden, der wahrscheinlich von Leomon stammt.

Sie konnte nur hoffen, dass sie den Prozess mit diesen Informationen überstanden. Die Tür der Kathedrale schwang von alleine vor ihnen auf, und Hikari war es, als würde sie, das angebliche ultimative Licht, nun in pure Dunkelheit eintauchen.

Fall 03: Klassenprozess I

Zuerst erschrak Hikari, als sie Devimons Gestalt anders vorfand, als sie sie in Erinnerung hatte. Das schattenhafte Digimon hatte einen so … bösen Eindruck auf sie gemacht, dass sich der Anblick in ihr Gedächtnis gebrannt hatte, und nun stand es anders da als zuletzt.

Allerdings stellte sie auf den zweiten Blick fest, dass es immer noch in seinem Kristall eingeschlossen war. Die einzelnen Auswüchse des Kristalls hatten sich nur irgendwie … verschoben und das ganze Gebilde stand nun auf einem Podest. Devimons Arme waren dadurch nach oben gedrückt worden, und in seinen Handflächen ruhte jetzt ein breites, weiches Kissen. Und darauf hockte niemand anders als – natürlich – Monokuma. Es sah aus, als würde Devimon den Bären als seinen unumstrittenen Meister anerkennen und ihn hochheben – buchstäblich auf Händen tragend.

Vor Monokumas neuem Podest reihten sich wieder einmal die Anklagebänke im Kreis aneinander. Diesmal bestanden sie, zur kalten Würde des Tempels passend, aus schwarzem Gusseisen.

Die DigiRitter kannten die Prozedur. Auch wenn noch kein Austragungsort so düster und kalt gewirkt hatte, nahmen sie ihre Plätze ein und sahen einander in die Augen. Die Atmosphäre war drückend, aber Hikari sah in den Gesichtern der anderen nicht nur stille Resignation, sondern dann und wann auch einen Funken Entschlossenheit. Sie hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, und sie waren auch bereit alles zu geben, um den Prozess erneut zu überleben. Vielleicht stärkte der scheinbar einfache Fall auch einfach ihre Moral.

„Beginnen wir mit einer einfachen Erklärung des Klassenprozesses“, läutete Monokuma die Diskussionsrunde wie gewohnt ein. „Während des Prozesses bringt ihr eure Argumente vor, um den Mörder oder die Mörderin von Iori Hida und Koushiro Izumi zu entlarven. Seid ihr zu einem Entschluss gekommen, bewegt ihr die Hebel vor euch, um diese Person zu beschuldigen. Wurde dabei der oder die tatsächlich Schuldige gewählt, wird diese Person allein bestraft. Andernfalls werden alle anderen bestraft, und der Mörder oder die Mörderin darf die Insel verlassen.“

„Bevor wir anfangen, hätte ich eine Frage, Monokuma“, sagte Wallace. „Es deutet ja so einiges darauf hin, dass Leomon unsere Freunde umgebracht hat. Was genau versuchen wir dann hier eigentlich herauszufinden?“

„Puhuhuhu.“ Monokuma lachte in seine Tatzen. „Versuchst du mir gerade wichtige Hinweise zu entlocken? Du schlauer, böser Junge. Schäm dich.“

Wallace seufzte nur. „Ohne eine Antwort hat das hier keinen Sinn.“

„Hmm. Lasst mich folgende Regel hinzufügen, damit es zu keinen Missverständnissen kommt“, sagte Monokuma. „Ich habe alle Digimon von der File-Insel entfernt, damit sie meinen teuren Schülern nicht gefährlich werden können. Alle außer die, die ich selbst im Griff habe, und die zwei, die ich hier in dieser Halle verwahrt habe. Das verschlüsselte Programm ist ein Schutzmechanismus von mir. Sollte der Fall eintreten, dass die Versiegelung sich öffnet und eines der beiden eingefrorenen Digimon jemanden umbringt, dann ist natürlich derjenige schuld, der meine Sicherheitsmechanismen ausgehebelt hat. Mit anderen Worten, derjenige, der die Verschlüsselung geknackt und das Digimon befreit hat.“

„Wie ich es mir gedacht habe. Das heißt also, Leomon würde – sofern es jemanden getötet hat“, ergänzte Wallace betont, „als Werkzeug des Mörders gelten, und der Mörder ist dennoch einer von uns?“

„So kannst du es auch ausdrücken“, bestätigte Monokuma. „Ich spiele euch die entsprechende Regel auf eure DigiVices.“

Hikari hörte das kleine Ding in ihrer Hosentasche piepen. Obwohl Monokuma sich nicht mal bewegt hatte, fand sie nun die entsprechende Regel, als sie die Tasten drückte.

Regel #7: Sollte ein Todesfall durch das unerwartete Freikommen von Devimon oder Leomon stattfinden, so gilt der- oder diejenige als verantwortlich und somit als Täter oder Täterin, der oder die die Versiegelung aufgehoben hat.

„Dann habe ich auch noch eine Frage“, meinte Hikari mit belegter Stimme. Es fühlte sich … falsch an, sich von Monokuma die Regeln dieses kranken Spiels erklären zu lassen. „Wir haben bisher immer nur für einen Täter abgestimmt. Jetzt gab es aber zwei Morde.“

„Sie wurden trotzdem beide von Leomon begangen“, sagte Daisuke.

„Das ist noch nicht bewiesen“, hielt Wallace dagegen. „Wir sollten die Sonderregeln für alle Eventualitäten erfahren, denke ich.“

Man konnte in Monokumas Gesicht nicht lesen. Er saß reglos wie ein Plüschtier auf seinem Kissen und antwortete erst nach ein paar Sekunden –als hätte er abwägen müssen, ob eine Antwort bereits zu viel verraten würde. Schließlich erklärte er: „Ihr stimmt weiterhin für einen einzigen Täter ab“, erklärte er. „Puhuhuhu. Wie ihr es vielleicht schon ahnt, gibt es nur einen einzigen, der etwas mit dem Tod eurer Freunde zu tun hat. Außer natürlich euch anderen, die nicht fähig waren, ihre Freunde zu beschützen.“ Der kleine Bär hielt sich lachend den Bauch und bleckte dabei seine Reißzähne.

„Halt doch den Mund“, knirschte Taichi.

„Also, wollen wir beginnen?“, fragte Wallace. „Wir sollten den Tathergang so gut es geht rekonstruieren. Zuallererst: Leomon scheint freigekommen und, den Regeln entsprechend, als Werkzeug für den Mörder gehandelt zu haben. Hier im Tempel ist es nicht mehr. Aber können wir wirklich davon ausgehen, dass es freigekommen ist?“

Hikari und Miyako nickten unisono. „Wir haben es beide gesehen“, sagte Hikari.

„Gut, dann ist das geklärt.“

„Sicher?“, warf Jou ein und zuckte zusammen, als ihn alle anstarrten. „Ich meine, ich will sie natürlich nicht verdächtigen oder so, aber … außer den beiden hat Leomon ja niemand gesehen, und … nun ja …“

„Ich weiß schon, was du sagen willst“, sagte Daisuke, „aber du darfst nicht vergessen, dass man in diesem Spiel keine Komplizen gewinnen kann.“

„Wie meinst du das?“, fragte Mimi.

„Ist doch ganz klar: Nur derjenige, der jemanden umbringt und alle anderen täuscht, kommt frei. Wenn zwei zusammenarbeiten würden, dann würde auch einer der beiden sterben müssen – nämlich der, der nur Helfer und nicht Mörder war“, sagte Daisuke. „Also können wir ausschließen, dass Miyako und Hikari gelogen haben. Ich dachte, das hätten wir im letzten Prozess schon geklärt.“

„Ich, ich wollte nur … noch einmal die Sache ansprechen“, sagte Jou mit zur Verteidigung erhobenen Händen.

„Alles klar. Niemand wird es dir nachtragen. Wir sollten wirklich alles bedenken“, sagte Wallace. „Selbst jede falsche Theorie ist gut, wie sie uns zur richtigen lenkt.“

Hikaris Blick glitt durch die Runde. So wenige von ihnen waren noch übrig … Die Hälfte der Plätze in dem Kreis war leer, und stattdessen standen Schilder mit den Gesichtern der Verschiedenen in den verwaisten Buchten. Es war eindeutig ruhiger als bei den letzten Prozessen.

„Also schön.“ Taichi räusperte sich, nachdem kurz geschwiegen wurde. Wallace hatte die Einleitung gemacht, aber er schien nicht der Wortführer im folgenden Prozess werden zu wollen. „Dann weiter im Text: Leomon ist hier aus seinem Kristall freigekommen, dann runter den Weg bis zu der Stelle, wo wir Koushiro gefunden haben. Dort hat es zugeschlagen, richtig?“

„Es gab dort eine Menge Blut“, erinnerte sich Miyako. „Auf dieser Wand mit den Schriftzeichen und auf dem Boden. Und keine Blutspuren, die anderswo hingeführt hätten.“

„Also können wir davon ausgehen, dass Koushiro dort ermordet wurde, wo wir ihn gefunden haben, und nicht etwa post mortem dorthin geschleppt wurde“, schlussfolgerte Daisuke.

„Richtig“, murmelte Jou. „Und dann …“

„Dann ist Leomon weiter den Berg runter und hat Iori gefunden“, sagte Taichi. „Und es hat ihn regelrecht aufgespießt, dieses Monster!“

„Und dann hat es die Fährte von Hikari und Miyako aufgenommen“, ergänzte Daisuke.

„Nur von Miyako“, murmelte Hikari. „Ich habe es erst gesehen, als Miyako schon vor ihm davongerannt ist.“

„Erzähl uns, was genau passiert ist“, verlangte Taichi von Miyako.

„Ähm …“ Das Mädchen spielte mit den Haarspitzen. „Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Ich habe im Unterholz nach Iori gesucht. Ich dachte mir, wenn er sich dort irgendwo im Geäst oder in Dornen verheddert hat, wäre es schwer, ihn zu finden … Dann habe ich hinter mir schwere Schritte gehört, und dann ist Leomon plötzlich hinter mir gestanden. Es hat geknurrt, und ich bin gerannt. Kurz darauf habe ich Hikari getroffen.“

„Und dann ist Monokuma eingeschritten und hat Leomon in die Luft gejagt, richtig?“, fragte Wallace. „Warum sollte er das überhaupt tun?“

„Puhuhuhu“, sagte Monokuma. „Ich kann doch nicht zulassen, dass es die ganze Klasse ausrottet. Außerdem wäre das gegen die Schulregeln.“

„Wie bitte?“, machte Miyako. „Wieso Schulregeln? Was hat Leomon mit unseren Schulregeln zu tun?“

„Monokuma meint sicher die hier.“ Daisuke hielt ihr sein DigiVice hin, als könnte sie auf die Entfernung die Schrift lesen, die darauf leuchtete. „Regel Nummer zwei. Ein Täter darf maximal zwei Opfer umbringen. Da Leomon als Werkzeug gilt, hat Monokuma es ausgeschaltet, nachdem es schon Koushiro und dann Iori umgebracht hat. Sonst wäre der Täter, wer auch immer es befreit hat, für drei Morde verantwortlich gewesen.“

„Klingt nach etwas, was Monokuma tun würde“, knurrt Taichi und ballte die Fäuste. „Einfach zusehen, wie zwei von uns sterben, und dann erst die Notbremse ziehen. Ich wünsche mir fast, er hätte Leomon nicht mehr aufhalten können und sich das Spiel damit selbst versaut.“

„Taichi!“, rief Mimi erschrocken.

Er atmete tief durch und sah sie traurig an. „Sorry. War natürlich nicht so gemeint.“

„Die Frage, vor der wir jetzt also stehen, ist“, nahm Wallace den Faden wieder auf, „wer von uns Leomon befreit hat. Richtig?“

„Rein vom Bauchgefühl würde ich da auf Koushiro tippen“, murmelte Daisuke. „Er war der Einzige vorn uns, der mehr als ein bisschen Ahnung von Computern hatte.“

Miyako sah aus, als wollte sie etwas einwerfen, aber sie klappte den Mund wieder zu.

„Aber Koushiro war es nicht, oder?“, fragte Jou. „Sonst würden wir ja kaum einen Klassenprozess abhalten. Er ist ja schon …“

„Er wäre selbst sein erstes Opfer gewesen“, schnaubte Taichi. „Obwohl, Monokuma würde das gefallen.“

„Und wenn es wirklich so war?“, warf Hikari ein. „Wer immer es getan hat, konnte Leomon ja nur befreien – aber nicht steuern. Oder hab ich das falsch verstanden?“ Sie sah Monokuma bei diesen Worten an, und er antwortete ihr sogar.

„Natürlich könnt ihr Leomon nicht kontrollieren, wenn ihr mein Versiegelungsprogramm knackt“, sagte er abwinkend. „Wenn nicht einmal ich es kontrollieren konnte … Es hört ironischerweise auf dieses Digimon hier unter mir. Devimon hat es mit der Macht der Dunkelheit infiziert und ihm den Auftrag gegeben, alle DigiRitter zu töten, wann immer es auf sie trifft. Auch wenn jetzt nur Leomon freigekommen ist und Devimon nicht, würde es dennoch nur diesen Auftrag ausführen.“

„Dann ist es tatsächlich möglich, dass Koushiro Leomon befreit hat und dann selbst dessen erstes Opfer geworden ist.“ Daisuke schnaubte. „Er war ja auch wirklich nah an dem Tempel, wenn ich das so sagen darf. Ziemlich riskant.“

„Aber wir können doch nicht für einen Toten stimmen – oder?“, fragte Jou.

„Puhuhu, natürlich könnt ihr das“, erwiderte Monokuma. „Was glaubt ihr, warum ich jedes Mal Bilder von euren Freunden in eurem Kreis aufstelle? Sicher nicht, weil ihre Visagen so hübsch anzusehen waren!“

Hikari musterte nachdenklich Koushiros Bild, das auf dem Ständer in seiner Anklagebucht stand. Das Porträt war mit roter Farbe ausgekreuzt, wie um zu verdeutlichen, dass diese Person tot war. Sie sah zu dem Abstimm-Hebel an ihrem Pult. Schuldig oder nicht schuldig. Wenn sie Koushiro als Täter vermuteten, konnten sie auch einfach für ihn stimmen.

„Also war es das schon?“, fragte Mimi mit vorsichtiger Hoffnung in der Stimme. „Koushiro ist der Täter, weil er Leomon befreit hat, was dann ihn und Iori das Leben gekostet hat?“

„Wartet noch“, sagte Miyako. „Mich hat da die ganze Zeit über schon etwas gestört …“ Sofort hatte sie die Aufmerksamkeit aller. Eine solche Ankündigung blieb nie ohne eine dramatische Verlagerung des Fokus. „Koushiro hatte im Tod die Hand auf seiner Notebook-Tastatur liegen, und da war das Programm geöffnet, das Leomon befreit hat, stimmt’s? Aber ist das nicht eigentlich hochverdächtig? Er stand ja nicht direkt vor dem Kristall, aus dem Leomon sich auf ihn hätte stürzen können.“

„Ich glaube, ich weiß, was Miyako damit sagen will“, meldete sich Wallace zu Wort. „Ich habe mir das auch gedacht. Es wirkt, als hätte er Leomons Befreiung eingeleitet und wäre dann – zack – von ihm getötet worden. Aber Leomon hätte aus der Kathedrale gehen und dem Weg nach unten folgen müssen. Noch dazu wäre es nicht der einzige Weg gewesen, und es hat sicher auch nicht gewusst, wo es Koushiro finden würde. Koushiro hätte sich kaum vor seinen Laptop gelegt, mit der Hand auf der Tastatur, und gewartet, bis Leomon endlich vorbeikommt und ihm die Kehle aufschneidet. Verzeiht die harten Worte“, fügte er mit Blick auf die Mädchen in der Runde hinzu.

„Das ist echt seltsam.“ Taichi massierte sein Kinn.

„Du hast recht“, sagte Daisuke. „Es ist fast so, als wollte jemand, dass wir denken, Koushiros letzte Tat wäre Leomons Befreiung gewesen. Also steckt in Wahrheit etwas anderes dahinter?“

„Mir ist … noch etwas aufgefallen“, begann Miyako zögerlich. „Ich … also …“ Wieder sahen die anderen sie an, und sie wich ihren Blicken aus.

„Ja?“, hakte Taichi nach.

„Ähm … Also … Es ist nur eine Kleinigkeit.“

„Raus damit.“

„Na schön … Als Leomon mich gejagt hat, da wollte es auch mit dem Schwert auf mich losgehen … und auf Hikari. Und ich glaube, da waren tatsächlich Blutspuren an der Klinge.“

„Natürlich waren da welche“, brummte Taichi. „Leomon hat vorher ja schon zwei Morde begangen.“

„Ja, ich meine ja nur … Das beweist, dass Leomon tatsächlich selbst einen Mord begangen hat.“

„Das haben wir uns auch so denken können“, sagte Taichi. „Es zählt trotzdem nur als Werkzeug des Täters. Wer immer es befreit hat, der ist es, den wir suchen. Hast du vorher nicht aufgepasst?“

„Sie hat ja gesagt, dass es nur eine Kleinigkeit ist“, zischte Mimi. „Hör auf, sie fertigzumachen.“

„Mache ich doch gar nicht“, empörte er sich.

„Alles klar, ist schon in Ordnung“, sagte Miyako schnell. „Ihr müsst meinetwegen wirklich nicht streiten.“

„Wo ihr doch schließlich ein so hübsches Paar abgebt“, ergänzte Wallace mit einem unpassenden Grinsen.

„Tun wir gar nicht!“, schnappten Taichi und Mimi wie aus einem Munde.

Hikari nutzte das Geplänkel, um Miyako kritisch zu mustern. Was war das gerade gewesen? War das wirklich alles, was Miyako bemerkt haben wollte? Es war fast, als ob …

„Zurück zum Thema“, sagte Taichi. „Dass Koushiros Hand auf der Laptoptastatur gelegen ist, kann also auch eine Täuschungsaktion gewesen sein?“

„Möglich ist es“, erwiderte Daisuke. „Ich bezweifle, dass eine Killermaschine wie Leomon – das noch dazu laut Monokuma irgendwie mit der Dunkelheit infiziert war, was ominös genug klingt – Koushiros Leiche hinterher verändert hätte, um irgendwelche falschen Spuren zu legen. Es hätte ihn getötet und sich dann sofort nach einem neuen Opfer umgesehen.“

„Der Meinung bin ich auch“, nickte Taichi grimmig.

„Es wäre doch auch eine Möglichkeit, dass Leomon Koushiro getötet, und jemand anderes von uns seine Leiche gefunden und entsprechend bewegt hat. Derjenige hat den Laptop vor ihm aufgestellt und Koushiros Hand darauf gelegt. Und der Einzige, der etwas davon haben könnte, einen Tatort zu verändern, ist der Mörder. Fragt mich aber nicht, warum er es getan haben sollte“, überlegte Hikari.

„Kann es nicht auch sein, dass Koushiros Hand zufällig auf den Laptop gefallen ist?“, fragte Daisuke. „Vielleicht hat er diese Schriftzeichen an der Wand analysieren wollen und das Notebook auf dem Boden abgestellt, und als Leomon ihn getötet hat, ist er so gefallen, dass seine Hand direkt auf der Tastatur gelandet ist?“

„Ganz ausschließen kann man es vielleicht nicht“, meinte Hikari, „aber ich halte das doch für einen ziemlich großen Zufall.“

„Außerdem, hätte er wirklich diesen Versiegelung-geöffnet-Text auf dem Bildschirm gelassen und den Laptop abgestellt, ohne noch irgendwie aufzuräumen?“, fragte Wallace. „Ich weiß ja nicht, wie es in Japan so üblich ist, aber wenn ich an meinem Computer mit irgendeiner Tätigkeit fertig bin, dann schließe ich das Programm. Und wenn ich meinen Laptop nicht mehr brauche, fahre ich ihn gleich ganz runter. Vor allem, wenn ich unterwegs bin und den Akku schonen will.“

„Diese Schriftzeichen auf der Wand“, sagte Miyako. „Von euch hat niemand zufällig eine Ahnung, was die bedeuten könnten?“

Alle schüttelten den Kopf. „Koushiro hätte sich auf jeden Fall dafür interessiert“, sagte Hikari.

„Wahrscheinlich so sehr, dass er nicht bemerkt, wie sich jemand an ihn heranschleicht“, sagte Mimi melancholisch.

„Aber wenn er sich schon damit beschäftigt – würde er das ohne seinen Laptop tun? Ich denke, er würde sie mit anderen Zeichen vergleichen, die er schon abgespeichert hat, oder eine Bilderkennungssoftware darüber laufen lassen, oder sonst was“, meinte Miyako.

„Sind wir jetzt wieder bei seinem Laptop?“ Daisuke hob eine Augenbraue. „Der Laptop ist nun mal vor ihm auf dem Boden gelegen, das ist eine Tatsache. Also hatte er ihn vermutlich nicht in den Händen, um die Symbole zu entziffern. Es waren auch keine Dellen oder Kratzer darauf, so als ob er ihm aus der Hand gefallen wäre.“

„Wisst ihr, was noch merkwürdig ist?“, sagte Jou. „Wir haben Iori seit heute Mittag nicht mehr gesehen. Das alles ist ja erst passiert, weil wir ihn gesucht haben. Wo war er die ganze Zeit?“

„Stimmt!“, rief Miyako aus. „Er sah nicht so aus, als hätte er sich verirrt oder in einer Felsspalte festgesteckt. Warum ist er nicht schon längst wieder zum Haus zurückgekommen?“

„Vielleicht, weil er tot war?“, sagte Mimi schnippisch. Kurz darauf zog sie den Kopf ein, als schämte sie sich für die Bemerkung.

„Das halte ich für unwahrscheinlich“, sagte Daisuke. „Wir können wohl davon ausgehen, dass Leomon mit Koushiros Laptop befreit wurde – dem einzigen Gegenstand, der irgendwie dazu in der Lage wäre zu helfen, das Programm zu entschlüsseln. Koushiro war aber noch bei uns, als wir Iori suchen gegangen sind. Denkt ihr, er hätte vorher schon die Versiegelung geöffnet, und Leomon hätte daraufhin Iori in den Bergen überrascht?“

„Daisuke hat recht“, sagte Hikari. „Das würde bedeuten, dass Koushiro die ganze Zeit den Beweis, dass er das Programm geknackt hat, mit sich herumgeschleppt hätte.“

„In Form des offenen Programms auf seinem Laptop, ja.“ Daisuke deutete auf Wallace. „Ich glaube kaum, dass nur unser amerikanischer Austauschschüler ein Programm nach dessen Beendigung schließen würde. Wenn irgendjemand von uns bemerkt hätte, was da auf Koushiros Bildschirm angezeigt wird, wäre er sofort in Verdacht geraten.“

„Schön“, brummte Taichi. „Was glaubt ihr dann, warum Iori so lange abgängig war?“

Hikari überlegte angestrengt. So einfach der Fall zunächst ausgesehen hatte, so sperrig erwiesen sich die Puzzlestücke, die zur Lösung führen sollten. Es war, als hätte jemand die Verbindungsstücke eines Kinderpuzzles mit einer Schere bearbeitet – es sah einfach aus, es gab auch nicht viele Teile, aber wenn man sie genau betrachtete, passten sie einfach nicht zueinander.

Iori war relativ weit vom Haus entfernt gewesen, das stimmte. Für ihre Versorgungs- und Erkundungsgänge hatten die Freunde mittlerweile recht lange Wege zurückgelegt. Aber er hatte sich doch wohl nicht verirrt, oder? Es war keine allzu versteckte Stelle gewesen, an der sie ihn gefunden hatten. Sonst wären sie schließlich nicht so sehr mit der Nase darauf gestoßen.

Hikari klickte durch die beiden Monokuma-Files. Sie enthielten genauso wenige Hinweise, wie die Freunde ansonsten zusammengetragen hatten.

Allerdings war das Fehlen dieser Hinweise auch schon ein Hinweis für sich … Als Hikari zu den Files über Yamato und Sora zurückblätterte, fiel ihr wieder auf, dass Monokuma diesmal mit den Todeszeitpunkten gegeizt hatte. Was, wenn sich darin irgendein gewaltiger Hinweis versteckt hielt? Ihr fiel auch auf, dass Ioris File als Monokuma-File #3 und Koushiros als #4 nummeriert war, aber das spiegelte vielleicht nur die Reihenfolge wider, in der sie die beiden entdeckt hatten.

Daisuke und Wallace diskutierten gerade darüber, wie Koushiro seinen Laptop all die Tage gehandhabt hatte. Mimi warf hin und wieder ein, wie sie seine Techniksucht empfunden hatte, was aber eher in die Richtung ging, dass es sie genervt hatte.

Hikari klickte zwischen Koushiros und Ioris File hin und her, als könnte sie damit Zusatzinformationen zum Aufpoppen bringen – dann stutzte sie. „Leute“, sagte sie plötzlich. „Wir haben vielleicht etwas übersehen …“

Taichi wandte sich ihr als Erstes zu. Miyako beteiligte sich am Gespräch der anderen, das relativ intensiv geworden war, und so schenkten sie Hikari nur nach und nach ihre Aufmerksamkeit. Sie wartete, bis sie im Zentrum des Interesses stand, und fuhr mit belegter Stimme fort: „Oder eher, wir haben vielleicht eine vorschnelle Annahme getroffen.“

„Und zwar?“, fragte Daisuke. Wallace nickte ihr ermutigend zu – eine Geste, die er sich auch hätte sparen können. Es war nicht so, dass sie sich nicht zu argumentieren traute – sie wusste nur nicht, wie sie es am besten in Worte fasste.

„Wenn ihr euch die Monokuma-Files anseht“, sagte sie, „dann achtet mal auf die Todesursachen.“

Die anderen folgten ihrer Aufforderung.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte Taichi. „Sie wurden beide von etwas scharfem umgebracht, oder?“

„Von Leomons Schwert“, fügte Jou hinzu.

 Hikari schüttelte den Kopf. „Erinnert euch daran, was wir gesehen haben … auch wenn es schmerzt. Iori ist regelrecht durchbohrt worden und dann tragisch verblutet. Wenn ich an Leomons Körperbau denke, kann ich mir gut vorstellen, dass es mit dem Schwert zugestoßen und ihn so getötet hat.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit – sie würgte nämlich ihre Vorstellungskraft mit aller Macht ab, kurz bevor sie sich die tatsächliche Tat ausmalen konnte.

„Hm … Es gab da auch diese Spuren am Waldrand, wo wir Iori gefunden haben“, sagte Wallace. „Das sah so aus, als hätte jemand Iori in das Wäldchen geschleudert. Leomon hat ihn sicher aufgespießt und hineingeworfen. Und wenn mich nicht alles täuscht, war da auch so etwas wie ein Pfotenabdruck. Der deutet auch auf Leomon hin. Aber davon sind wir doch ohnehin ausgegangen, oder?“

Hikari nickte. „Aber dann seht euch im Vergleich dazu Koushiros Mord an. Es gab auch eine Menge Blut, keine Frage. Das ist, weil der Täter seine Halsschlagader durchtrennt hat – da spritzt angeblich eine ganze Menge Blut.“ Auch wenn Hikari wenig Erfahrung mit Krimis oder Horror-Filmen hatte, so viel wusste sie. „Aber das ist auch seine einzige Wunde. Er war vermutlich sofort tot, weil sein Gehirn zu wenig Sauerstoff erhalten hat. Das heißt, es hat ihn jemand ganz gezielt mit einem Schnitt an der Kehle umgebracht, und sein Körper hat sonst keine Verletzungen erhalten.“

„Jetzt, wo du es sagst …“ Miyakos Blick wanderte nachdenklich nach oben und verlor sich in den Schatten der hohen Saaldecke. „Leomon wirkt auf mich nicht wie der … Typ, der jemandem die Kehle aufschneidet. Nicht mit so einer Präzision.“

„Mimi hat vorhin etwas gesagt, das uns eigentlich zu denken hätte geben müssen“, erinnerte sich Hikari.

Das Mädchen zuckte zusammen. „Ich? Wann?“

„Du hast gemeint, du könntest es dir sehr wohl vorstellen, dass Koushiro von diesen Schriftzeichen so abgelenkt war, dass sich jemand an ihn heranschleichen könnte.“

Mimi erwiderte Hikaris Blick misstrauisch. „Ja, und? Ist daran etwas falsch?“

„Ganz und gar nicht. Es ist genau, wie du gesagt hast: Wenn man sich an ihn anschleicht, könnte es sein, dass Koushiro es nicht bemerkt. Wir haben alle schon beobachtet, wie er alles um sich herum vergisst, wenn er die DigiWelt weiter erforscht. Aber Miyako hat erzählt, dass Leomon plötzlich hinter ihr durch das Gebüsch getrampelt ist. Es hat sich nicht die Mühe gemacht, lautlos zu sein. Es ist eine blutrünstige Killermaschine, und es ist körperlich jedem von uns überlegen. Es braucht sich nicht anzuschleichen. Es muss uns nur lange genug verfolgen und dann zustechen. Ich glaube, dass es auch Koushiro frontal angegriffen hätte – wenn es sein Mörder gewesen wäre.“

„Warte mal, das geht mir gerade ein wenig zu schnell“, wehrte Taichi ab. „Leomon ist nicht der Mörder?“

„Nicht der von Koushiro.“ Je weiter Hikari ihre Überlegungen fortführte, desto sicherer war sie sich dieser Sache. Sie hielt unbewusst den Atem an, als ihr noch eine viel unglaublichere Möglichkeit einfiel. „Noch etwas … Was, wenn Iori schon eine ganze Weile tot gewesen wäre? Wenn er Leomons erstes Opfer war? Danach haben wir ihn gesucht, und der Mörder hat sich schließlich an Koushiro herangeschlichen, als dieser gerade abgelenkt war. Wir waren zu der Zeit alle einzeln unterwegs. So passt alles zusammen!“

„Keine üble Gedankenkette“, stellte Daisuke anerkennend fest. „Aber was ist mit der Tatwaffe? Leomon hatte ein Schwert bei sich, mit dem es stechen und schneiden konnte, aber wir?“

„Es könnte ein Messer aus der Küche gewesen sein“, sagte Hikari. „Wir konnten während unserer Ermittlungen nicht mehr in die Villa, um nachzusehen. Wenn der Mörder das alles geplant hat, dann hat er natürlich eine Waffe mitgebracht.“

Daisuke warf einen Blick in die Runde. „Ihr habt Hikari gehört. Wir werden uns am besten gegenseitig untersuchen, ob jemand die Tatwaffe eingesteckt hat.“

„Die Mühe kannst du dir sparen“, sagte Taichi sarkastisch. „Der Mörder hatte ausreichend Gelegenheit, das Ding wegzuwerfen. Vielleicht in eine möglichst tiefe Felsspalte, wo nie jemand einen Blick reinwerfen würde.“

„Also hat Leomon nur einen Mord begangen? Meinst du, dass es doch noch jemanden gibt, der die Gunst der Stunde genutzt hat und schnell jemanden umbringen wollte, und wir doch zwei Mörder suchen?“, fragte Wallace stirnrunzelnd.

Hikari schüttelte überzeugt den Kopf. „Nein, Monokuma hat deutlich gemacht, dass es nur einen Mörder gibt. Die Regeln besagen, dass jeder nur zwei Morde begehen kann. Wir haben uns nur in der Reihenfolge geirrt. Monokuma hat Leomon zerstört, nachdem der Mörder Koushiro umgebracht hat – mit eigenen Händen.“

Taichi stieß einen Pfiff aus. „Nicht übel, kleine Schwester.“

„So weit klingt alles logisch“, meinte Daisuke. „Aber ich frage mich doch, ob das Timing in dem Fall zu deiner Theorie passt. Wir sind uns doch mehr oder minder einig, dass man den Laptop braucht, um die Versiegelung zu öffnen, richtig? Wenn Koushiro nach Iori gestorben ist, dann hätte jemand Leomon befreien müssen, obwohl Koushiro seinen Laptop bei sich gehabt hatte. Ihm wäre das doch wohl auffallen.“

„Darauf gibt es eine ganz klare Antwort“, sagte Wallace.

„Jaja, ich weiß.“ Daisuke winkte ab. „Der Laptop war eine Weile verschwunden, ehe ihn Koushiro wiedergefunden hat. Also wenn es so war, wie Hikari vermutet, dann hat der Täter ihn entwendet und die Barriere geöffnet. Da sind wir doch einer Meinung, oder? Leomon wäre somit seit gestern Nachmittag frei gewesen und hätte in aller Seelenruhe auf dem Berg herumschlendern können, ehe es endlich ein Opfer findet.

Aber der Täter hat den Laptop dann ja offenbar wieder zurückgestellt. Koushiro hat ihn ja wieder gefunden. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Koushiro – ausgerechnet ihm, wo er doch ohne das Ding kaum leben kann – nicht auffällt, dass ganz groß auf seinem Bildschirm Versiegelung geöffnet steht!“

Das gab Hikari zu denken. Hatte sie irgendwo einen Fehler gemacht?

„Wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass Koushiro vermutlich der Einzige war, der Leomon hätte befreien können“, überlegte Wallace. „So blöd es klingt, niemand von uns ist vermutlich intelligent genug, eine derart komplizierte Verschlüsselung zu knacken, wenn sogar unser Computer-Crack zugegeben hat, dass es ihm zu hoch ist. Ich meine, ich bin auch nicht ganz unbewandert in Computer-Dingen. Ich habe mir schon ziemlich früh Programmieren und dergleichen beigebracht. Aber mit Koushiro kann ich noch lange nicht mithalten, und im Hacken bin ich sowieso miserabel. Bevor ihr fragt, ja, ich habe ihn sogar gefragt, ob er mir den Code zeigt. Ich dachte mir, wenn wir nur Koushiro die Verschlüsselung untersuchen lassen … Naja. Ihr wisst ja.“

„Du warst misstrauisch, dass er nur so getan haben könnte, als ob es wahnsinnig kompliziert wäre, und in Wirklichkeit wären die Digimon mit einem Knopfdruck zu befreien gewesen“, vermutete Hikari.

Wallace hob um Verzeihung heischend die Hände. „War nur als Vorbeugung gedacht. Ich habe ihn nicht wirklich verdächtigt. Außerdem hat es mich tatsächlich interessiert.“

„Und?“, fragte Taichi ungeduldig.

„Wie Koushiro es gesagt hat. Sehr komplex. Man braucht nicht mal wirklich Programmierkenntnisse dafür, sondern einfach ein gewaltiges logisches Verständnis. Als würde man ein Schachspiel von vorn bis hinten durchplanen und dann jeden möglichen Zug in einen Computer eintippen, ohne einen davon zu vergessen. Oder als würde man eine total komplizierte Rechenaufgabe im Kopf lösen. Das war jedenfalls mein Eindruck von der Verschlüsselung. Also entweder kann man das, oder man ist ein Profi-Hacker, der auf Wege kommt, die mir nicht eingefallen sind.“

„Dann wären wir wieder bei Koushiro.“ Taichi kratzte sich im Nacken. „Keine Ahnung, wie er im Kopfrechnen war, aber wenn es um Programme und Computer und Codes ging, hatte er klar die Nase vorn. Das heißt, all unsere Überlegungen bisher waren für die Katz. Warum auch immer er es getan haben soll – offenbar hat Koushiro selbst Leomon befreit. Vielleicht hat er auch einfach nicht erwartet, dass wir einen Blick auf den Bildschirm erhaschen könnten, und das Programm deshalb ein paar Stunden geöffnet gelassen.“

„Um sich dann selbst in Gefahr zu bringen?“, fragte Wallace stirnrunzelnd. „Und wie gesagt, niemand würde so etwas Riskantes einfach auf dem Laptop stehen lassen.“

„Ah! Dann weiß ich es!“ Taichi sah aus, als hätte er eben einen gedanklichen Durchbruch erlebt. „Das Programm musste offen bleiben! Hätte er es geschlossen, wäre Leomon wieder versteinert. Kann es nicht so gewesen sein?“

Hikari unterdrückte den Drang, zu Monokuma zu schielen, aber Miyako murmelte: „Nein. Das war ein ganz normales Programm, das wird ausgeführt und tut dann etwas, und irgendwann ist es damit fertig. Was wir gesehen haben, war einfach nur die Bestätigung, dass es funktioniert hat.“

„In erster Linie hat das Programm ja einen digitalen Code geknackt und die Versiegelung dadurch geöffnet. Den Kristall wieder aufzubauen, hätte sicher ein ganz anderes Programm erfordert“, sagte Wallace.

„Wie ihr meint – dann her mit euren Erklärungen“, schnaubte Taichi beleidigt.

Hikari fasste wieder Miyako ins Auge. Als das Gespräch wieder auf das Programm gelenkt worden war, schien sie irgendwie … nervös geworden zu sein. Sie sah niemandem mehr in die Augen und knetete ihre Finger. Außerdem hatte ihre letzte Erklärung regelrecht duckmäuserisch geklungen – so etwas war man gar nicht von ihr gewohnt.

„Was ist los, Miyako?“, fragte Hikari.

„W-was?“ Das Mädchen zuckte zusammen. „Was soll sein?“

„Naja, du wirkst, als würde dich etwas beschäftigen. Oder als wüsstest du irgendetwas, das du uns vorenthältst.“

„Ach, echt?“ Miyako lachte verlegen. „Sorry, ich bin nur ein wenig müde. Hab schlecht geschlafen, und dann die Sache mit Leomon … und die Morde …“

Doch Hikari gab nicht auf. „Vorher, als wir schon mal über Koushiros Laptop geredet haben, da hast du doch gemeint, dir wäre noch eine Kleinigkeit eingefallen.“

„Ich erinnere mich“, sagte Daisuke. „Etwas über Leomons Schwert, nicht?“

„Das hat Miyako behauptet.“ Hikari ließ ihre Freundin bei diesen Worten nicht aus den Augen. „Aber ich glaube, sie hat ursprünglich etwas anderes sagen wollen. Es war ein so krasser Themenwechsel, als hätte sie sich verplappert und wollte unbedingt von etwas anderem ablenken.“

„Spuck’s aus, Miyako“, sagte Wallace grinsend. „Du siehst eindeutig ertappt aus. Das schlechte Gewissen steht dir förmlich ins Gesicht geschrieben.“

Miyako kaute auf ihrer Lippe herum. „Es war wirklich nichts …“

„Hast du Koushiro umgebracht?“, fragte Mimi hart.

„Was? Nein!“, empörte Miyako sich.

„Dann hast du nichts zu befürchten. Also sag uns, wenn dir was aufgefallen ist. Wenn wir den Fall nicht lösen, sterben wir alle. Das willst du doch nicht, oder?“

Aha, dachte Hikari. Mimi konnte offenbar auch anders.

Miyako atmete tief durch. „Na schön … Ich hab mir das Programm auf Koushiros Laptop ein wenig genauer angesehen, als wir seine Leiche untersucht haben. Ich habe es … ein zweites Mal ausgeführt.“

„Bist du verrückt?“, entfuhr es Taichi. „Wegen dem Ding wären wir beinahe draufgegangen! Was, wenn dieses Mal Devimon erwacht wäre?“

„Reg dich ab und lass sie ausreden“, sagte Daisuke.

Miyako spielte wieder mit ihren Haarsträhnen. Sie wirkte wie ein Kind, das seiner Mutter gerade beichtete, an die Zuckerdose gegangen zu sein. „Ich weiß, es war vielleicht dumm … Aber ich habe damit gerechnet, dass dieses eine Programm nur für Leomon war. Sonst wäre Devimon schon beim ersten Mal mit ihm erwacht. Und Leomon war zu dem Zeitpunkt ja schon tot. So ein Programm tut schließlich immer dasselbe – es öffnet sicher nicht zufällig eines der beiden Kristallgefängnisse.“

Taichi wirkte etwas beruhigt. „Das war trotzdem leichtsinnig.“

„Jetzt weiß ich, was du an dem Laptop gemacht hast“, sagte Wallace locker. Hikari erinnerte sich, dass sie mit ihm und Jou zusammen unterwegs gewesen war. „Und ich dachte, du wolltest die Blutspritzer auf den Tasten untersuchen oder so.“

„Du hast gewusst, dass sie mit dem Ding herumhantiert hat, und hast bis jetzt damit hinter’m Berg gehalten?“, fragte Taichi gereizt.

Wallace zuckte mit den Schultern. „Ich dachte mir nicht, dass sie damit noch etwas Schlimmes anrichten könnte.“

„Und es ist ja auch nichts passiert, also hör endlich auf, dich so aufzuregen“, sagte Mimi leise zu Taichi.

„Ich soll aufhören, mir um euch Sorgen zu machen?“ Er klang fassungslos. „Wenn wir hier einen Fehler machen, sterben wir! Hast du selbst eben erst gesagt! Ich hab mir geschworen, euch alle hier rauszubringen, und das habe ich verdammt noch mal auch vor!“

Die Offenbarung kam nicht überraschend für Hikari, aber seine Worte berührten sie trotzdem. Er war so unausstehlich während des Prozesses, weil er mit aller Macht versuchte, sie in die Freiheit zu führen.

„Hast du auch irgendetwas über das Programm herausgefunden, als du es erneut gestartet hast?“, brachte Jou das Gespräch wieder auf Kurs.

„Allerdings. Das Programm läuft nur ein paar Sekunden lang. Ein paar Berechnungen laufen durch, und dann schreibt es auch schon Versiegelung geöffnet hin. Obwohl die Versiegelung bereits geöffnet war, war das die letzte Meldung. Ich schätze, es zeigt einfach den Status der Kristallbarriere an und nicht, ob sie gerade jetzt geöffnet wurde.“

„Mich überrascht, dass du dich mit Computern so gut auskennst“, meinte Daisuke und ließ eine Augenbraue hochwandern. „Ich hätte nicht gewusst, wie ich das Programm starte.“

„Das war echt nicht schwierig“, winkte Miyako hastig ab. „Es war ziemlich gut in den Ordnerstrukturen auf der Festplatte versteckt, aber da das Fenster offen war, als wir den Laptop gefunden haben, wusste ich, wie das Programm heißt, und konnte es recht schnell finden.“

„Trotzdem, ich hätte es dir gar nicht zugetraut.“

Miyako schoss einen vernichtenden Blick auf ihn ab. „Jawohl, Mister Motomiya, ich kenne mich auch mit Computern aus, stell dir vor. Vielleicht nicht so gut wie Koushiro, aber ich hab tatsächlich was mit Technik am Hut.“

„Verstehe“, sagte Wallace, der mal wieder nur für den weiblichen Teil der Gruppe so viel Verständnis aufbrachte. „Darum wolltest du zuerst auch nichts sagen. Wenn wir dahintergekommen wären, dass du dich auch mit Computerprogrammen auskennst, hätten wir dich verdächtigt, die Verschlüsselung geknackt zu haben.“

Sie nickte unglücklich.

„Das war ziemlich unverantwortlich“, tadelte Taichi, aber er riss sich zusammen und klang dabei sogar versöhnlich. „Wir müssen alle Fakten berücksichtigen, die wir in die Finger kriegen.“

„Ich weiß“, murmelte Miyako. „Tut mir leid.“

„Das heißt also, das Programm war ein Fake?“, fragte Daisuke. „Weil es so schnell durchgelaufen ist? Hat am Ende etwas anderes als Koushiros Laptop Leomons Versiegelung durchbrochen?“

Miyako schüttelte den Kopf. „Es war eindeutig dieses Programm. Die wahre Kunst bestand darin, es zu schreiben. Wie Wallace schon gesagt hat, mehr als ein paar Zeilen musste man nicht programmieren, aber man musste dafür schon die Verschlüsselung geknackt haben. Wenn man es ausführt, sendet es einfach nur das Signal an den Kristall. Darum war es so schnell abgearbeitet.“ Sie überlegte. „Ihr könnt euch das in etwa so vorstellen. Das Programm ist ein Schlüssel. Man muss wirklich gewitzt sein und hart arbeiten, bis man ihn so geformt hat, dass er ins Schlüsselloch passt. Wenn man das Programm ausführt, ist das so, als würde man ihn einfach nur mehr im Schloss herumdrehen.“

„Und … hilft uns diese Erkenntnis jetzt weiter?“, fragte Mimi vorsichtig.

Hikari ging ihre mentale Zusammenfassung der Ereignisse durch. „Allerdings. Das bedeutet nämlich, dass das Programm nicht die ganze Zeit über auf dem Laptop geöffnet gewesen sein musste. Wir haben ja schon vermutet, dass gar nicht Leomon Koushiro getötet hat. Was, wenn der wahre Täter Leomon tatsächlich schon gestern befreit hat, nachdem er Koushiros Laptop gestohlen hat? Er hat das Programm geschrieben, einmal ausgeführt und es dann wieder geschlossen und in den Tiefen des Laptopspeichers versteckt. Koushiro hat das nicht bemerkt. Und heute hat er sich an Koushiro herangeschlichen, ihm mit einem Küchenmesser die Kehle aufgeschlitzt und das Programm anschließend wieder gestartet. Es hat nichts mehr bewirkt, weil die Versiegelung längst offen war, aber es sollte so aussehen, als hätte Koushiro kurz vor seinem Tod Leomon befreit.“

„Nicht übel, Schwesterchen“, meinte Taichi anerkennend.

„Du wiederholst dich“, sagte sie augenrollend. „Ich versuche einfach nur mein Bestes.“

„Dann stehen wir immer noch vor dem Rätsel, wer es denn nun war“, sagte Wallace. „Wer hat Koushiro umgebracht? Und wer wäre überhaupt in der Lage, diesen Code zu knacken?“

„Ich kann bestätigen, dass das Programm wirklich unglaublich kompliziert war“, schaltete sich Miyako ein. „Ich habe selbst nicht verstanden, was genau es tut. Monokumas Code muss wirklich eine harte Nuss gewesen sein.“

Hikari seufzte. Egal, wie nahe sie der Wahrheit auch kamen und wie viele Entdeckungen sie in diesem Fall machten, sie kamen also immer wieder an diesen einen Punkt zurück, dass nur Koushiro die Versiegelung hätte öffnen können. Aber wie passte das ins Bild? Hatte er sich mit dem Täter abgesprochen? Laut Monokumas Regeln waren Leomons Befreier und Koushiros Mörder ein- und dieselbe Person – sonst hätte er das Löwenungeheuer nicht in die Luft gejagt. Koushiro hatte sich doch wohl nicht selbst umgebracht, oder?

Sie hörte zu, wie die anderen diese Möglichkeiten ebenfalls diskutierten. Dabei fiel ihr etwas auf, was sie schon die ganze Zeit gestört hatte – seit Beginn des Klassenprozesses. Es war immer nur ein Gefühl gewesen, hatte sich am Rande des Wahrnehmbaren versteckt … Aber je länger der Prozess dauerte, desto greifbarer wurde es.

Und als sie den anderen jetzt lauschte, wurde das Gefühl plötzlich zu Gewissheit. Einer von ihnen verhielt sich, seit der Prozess begonnen hatte, anders als sonst. Als wäre die Veränderung erst in der Anklagerunde wirklich spürbar geworden.

Hikari grub in ihren Erinnerungen, schürfte nach den früheren Geschehnissen auf der Insel. Als sie meinte, fündig geworden zu sein, wurde ihr so schwindlig, dass sie sich am Geländer ihrer Anklagebucht festhalten musste.

Das ist es, dachte sie. Natürlich.

„Ich muss euch etwas sagen“, schnitt sie in die Diskussion. Plötzlich schwitzte sie so stark, dass ihr ihre Haare auf der Stirn klebten. Sie strich sie nervös zur Seite. „Ich glaube, ich habe … einen ziemlich konkreten Verdacht. Ich glaube, ich weiß, wer es war.“

Sie sah dieser Person fest in die Augen.

Fall 03: Klassenprozess II

„Das … war jetzt gerade ein bisschen schnell“, meinte Miyako und sah nervös zu Hikari. „Oder hab ich irgendwas nicht mitbekommen?“

„Daisuke? Es ist Daisuke?“, fragte Taichi. „Oder was genau willst du uns sagen?“

Daisuke, dem Hikari unverwandt in die Augen starrte, starrte ebenso unverwandt zurück. „Wenn du mich nicht gerade zufällig so ansiehst, sondern damit ausdrücken willst, dass du mich verdächtigst, dann hast du besser einen guten Grund dafür“, sagte er.

Sie nickte – langsam, als wöge ihr Kopf plötzlich Tonnen. „Den habe ich. Du hast den Code für Leomons Kristallgefängnis geknackt und Koushiro getötet. Ist es nicht so?“

Was?“, brach es aus Wallace heraus, als würde ein Luftballon platzen. Pures Unverständnis stand in seinem Gesicht – wie auch in denen der anderen. Und trotzdem glaubte Hikari zu sehen, dass Daisuke verstand.

„Jetzt machst du dich lächerlich“, sagte Taichi. „Ich meine, Daisuke ist doch …“

„Strohdumm?“, fragte Hikari mit funkelnden Augen. „Ich denke eher nicht.“

„Ich lass euch das mal durchgehen“, knurrte Daisuke. „Aber im Ernst – wir haben doch längst festgestellt, dass diese Verschlüsselung verdammt kompliziert ist und dass nicht einmal Koushiro, der am meisten Erfahrung in solchen Sachen hat, sie hätte knacken können.“

„Stimmt. Wallace und Miyako haben das auch bestätigt“, sagte Hikari. „Und trotzdem hat irgendjemand Leomons Gefängnis geöffnet.“

„Ja, weil Koushiro vermutlich ein bisschen übertrieben hat“, erwiderte Daisuke.

„Das scheint mir auch am logischsten“, meinte Jou zaghaft. „Vielleicht war es eine Herausforderung für ihn, aber Koushiro konnte sich ja richtig in etwas hinein tigern. Wahrscheinlich hat er es irgendwie geschafft, und …“

„Nein, ich bleibe dabei. Es war Daisuke.“ Oder? Machte sie hier gerade einen fatalen Fehler? Interpretierte sie zu viel hinein? Das Herz pochte ihr bis zum Hals.

„Daisuke … du könntest so ein Programm ebenfalls durchschauen, stimmt‘s? Nicht nur das, wahrscheinlich kennst du sogar die Bedeutung hinter den Zeichen auf der Felswand, die Koushiro gefunden hat, oder?“

„Wie bitte?“, entfuhr es Taichi. „Schwesterlein, langsam wird es lächerlich.“

„Ich bin überzeugt, man kann auch diese Zeichen entschlüsseln. Wenn man zum Beispiel die Referenzdaten hat, die Koushiro garantiert auf seinem Laptop verwahrt hat. Er hat doch sicherlich Fotos und alle möglichen Vermutungen drauf abgespeichert, in denen es um die Digimon-Schrift geht. Wenn jemand Talentiertes sich die zu Gemüte führt, könnte er draufkommen. Vielleicht wusste Koushiro es auch schon, aber das ist gar nicht der springende Punkt. Ich bin mir sicher, die Schriftzeichen an der Wand sollten Koushiro nur ablenken. Jemand hat sie dorthin gemalt, jemand, der immerhin wusste, welche Zeichen es gibt und wie sie aussehen.“

„Was hat das jetzt alles mit den Zeichen zu tun? Mir schwirrt der Kopf“, stöhnte Taichi.

„Mir auch“, murmelte Mimi.

„Es war genau, wie wir zuletzt vermutet haben“, sagte Hikari „Koushiro war nicht das erste Opfer. Jemand hatte seinen Laptop geklaut und die Versiegelung geöffnet, und Leomon kam frei. Dann, tagsüber, als wir alle auf der Suche nach Essen und neuen gangbaren Wegen waren, hat Leomon Iori erwischt. Wir haben nach ihm gesucht – und derjenige, der Leomon befreit hat, hat beschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen und Koushiro zu töten. Er hat sich in seine Nähe geschlichen und die Zeichen auf die Felswand geschrieben. Ich kann mir vorstellen, dass er dachte, Koushiro würde sofort daran interessiert sein. Und so war es vermutlich auch.

Der Täter hat getan, als würde er zufällig auf Koushiro treffen und als müsste er ihm etwas zeigen. Vermutlich war Koushiro sofort Feuer und Flamme für die Felswand – aber selbst wenn er sie sich nur kurz angesehen hat, weil wir ja eigentlich Iori hatten suchen wollen, dürfte es dem Täter gereicht haben. Er hat ihm von hinten mit einem Küchenmesser die Kehle aufgeschnitten. Dabei ist Koushiros Blut auf die Felswand mit den Zeichen gespritzt, dann ist er zusammengebrochen.

Dann hat der Täter den Laptop an sich genommen und das Programm noch einmal ausgeführt. Es hat nichts mehr getan, nur Berechnungen angestellt und dann den Text auf den Bildschirm geschrieben, dass die Versiegelung nun offen ist. Das war das Ziel des Täters. Wir sollten glauben, dass Koushiro Leomon kurz vor seinem Tod befreit hat – alles nur, um uns in die Irre zu führen, um uns glauben zu machen, Koushiro wäre der Täter, der unglücklicherweise selbst von Leomon erwischt wurde. Und fast wären wir dem Täter auf den Leim gegangen.“

„So weit stimme ich ja mit dir überein“, sagte Daisuke finster. „Aber kannst du mir mal verraten, was ich damit zu tun habe? Es könnte sich ja wohl jeder an Koushiro herangeschlichen, ihm die Kehle aufgeschlitzt und seinen Laptop vor ihm aufgestellt haben, oder?“

„Eben nicht“, widersprach Hikari. „Nur derjenige, der es tatsächlich geschafft hätte, die Versiegelung zu knacken und Leomon zu befreien. Kein anderer hätte etwas von dieser Aktion gehabt. Würde jemand einfach nur die Gelegenheit nutzen, um während der Suche nach Iori einen Mord zu begehen, hätte er sich nicht die Mühe machen müssen, die Sache mit der Versiegelung anzudeuten. Mehr noch, er hätte nicht mal gewusst, dass jemand auf Koushiros Laptop ein Programm zum Öffnen des Kristalls geschrieben hat – geschweige denn, wo es zu finden wäre! Miyako hat uns ja gesagt, dass der Täter es ziemlich gut im Speicher versteckt hat.“

„Da fällt mir noch etwas dazu ein“, sagte Miyako. „Koushiro hat seinen Laptop ja garantiert mit einem Passwort geschützt. Er ist sicher keiner dieser leichtsinnigen Typen, die einfach kein Passwort verwenden.“

„Das ist auch kein Problem“, erklärte Hikari. „Eher noch ein Beweis. Wenn jemand es schafft, Monokumas Verschlüsselung zu knacken, dann kann er sich sicher auch ganz leicht in ein normales Benutzerkonto auf einem normalen Laptop hacken.“

„Sperrt sich so was nicht nach ein paar falschen Versuchen?“, fragte Mimi.

„Üblicherweise nicht“, sagte Miyako. „Bei Koushiros Betriebssystem kenne ich auch keine Option, mit der man das einstellen könnte. Vielleich interessiert es euch auch noch, dass der Täter offenbar den Sperrbildschirm und den automatischen Energiesparmodus deaktiviert hat, damit der Bildschirm mit dem Text drauf auch wirklich zu sehen ist, wenn wir ihn finden … Oder es ist vielleicht auch nebensächlich“, fügte Miyako kleinlaut hinzu, als sie sah, dass sich Hikari und Daisuke immer noch ein konzentriertes Starrduell lieferten. Die Zeit für neue Hinweise schien vorbei. Es ging nur noch um den Showdown.

„Ich verstehe deine Argumente“, sagte Daisuke. „Ja, ich stimme dir sogar vollkommen zu. Das ergibt alles Sinn. Aber vielleicht erklärst du mir endlich, warum gerade ich es geschafft haben soll, nicht nur Koushiros Passwort, sondern auch die Verschlüsselung zu Leomons Gefängnis zu knacken?“

„Ich denke auch, dass das ein ziemlich unbegründeter Verdacht ist“, sagte Jou und rückte seine Brille zurecht. „Wir sollten uns nicht grundlos verdächtigen. Das erzeugt nur mehr Misstrauen und Feindseligkeit.“

„Es ist kein grundloser Verdacht“, sagte Hikari hart.

„Klar ist es das!“, rief Taichi. Obwohl er und Daisuke sich anfangs nicht sonderlich gut verstanden hatten, tickten sie doch ähnlich. Ihr Bruder schien ihn doch sympathisch zu finden, wenn er ihn nun verteidigte. „Wenn Koushiro die Verschlüsselung nicht durchschauen konnte und Miyako auch nicht … Man müsste schon eine wahre Intelligenzbestie sein, sag ich mal!“

„Gut gesagt“, erwiderte Hikari. „Intelligenzbestie trifft es genau.“

„Du meinst, Daisuke ist eine Intelligenzbestie?“, schaltete sich Wallace ein. „Sei mir jetzt nicht böse, Daisuke, aber vom Intelligenzquotienten her halte ich dich eher für … unter dem Durchschnitt der hier Versammelten.“

„Sicher?“, fragte Hikari lauernd.

„Damit deine Theorie stimmt“, sagte Mimi, „hätte Daisuke uns all die Zeit über was vorspielen müssen. Er hätte sich zwei Wochen lang dümmer stellen müssen, als er ist … Das schafft kein Mensch.“

„Nicht zwei Wochen“, widersprach Hikari und beobachtete genau Daisukes Reaktion. „Ich glaube, es waren nur ein paar Tage, wenn überhaupt. Es ist auch niemandem aufgefallen – außer jetzt, im Klassenprozess. Da ist es mir merkwürdig vorgekommen.“

Daisuke biss die Zähne zusammen.

„Und was?“, fragte Miyako. Sie schien nicht zu wissen, für wen sie Partei ergreifen sollte.

„Genau das, was Mimi und Wallace gesagt haben. Seit wir ihn kennen, hat Daisuke sein Bestes gegeben, keine Frage. Aber seine Argumente in den Klassenprozessen waren immer ein bisschen … naiv.“ Bekomm jetzt bloß kein schlechtes Gewissen, wenn du so über ihn redest, schalt sie sich. Er hat Koushiro und Iori auf dem Gewissen! „Er hat selten etwas Brauchbares zu den Diskussionen beigesteuert, und auch sonst war er eher einfach gestrickt. Und dazu ist mir heute ein krasser Unterschied aufgefallen.“

„Ich versteh’s immer noch nicht“, murmelte Taichi.

„Habt ihr ihm nicht zugehört? Seine Argumente heute, in diesem Prozess, sind viel pointierter. Seine Aussagen sind klarer, sein Satzbau ist komplexer. Er hat sich viel mehr eingebracht, viel sinnvollere Sachen gesagt, reflektiertere Beobachtungen angestellt, und er hat neue Gedankengänge viel schneller begriffen als früher.“

„Wie nett von dir, dass du mich anfangs für einen solchen Nullchecker gehalten hast“, sagte Daisuke mit zäher Stimme.

„Ja. Tut mir leid. Das ist mein ehrlicher Eindruck“, sagte sie schnippisch.

„Na schön. Da kann ich nichts dran ändern. Und sonst? Hast du außer deinem Eindruck von mir noch was vorzubringen? Sonst können wir diese Farce beenden und endlich nach dem wirklichen Täter suchen.“

„Ja, ich habe noch etwas“, beharrte sie. „Der Gedanke, dass du plötzlich … klüger scheinst als vorher, hat mich überlegen lassen, wo ich so etwas schon mal gehört habe. Und mir ist tatsächlich etwas eingefallen.“

„Da bin ich ja mal gespannt.“

„Es hat während unseres Abenteuers ein paar … Sachverhalte gegeben, die mit Daisukes Veränderung zu tun haben könnten“, sagte Hikari. Sie war gespannt, wann die anderen darauf kommen würden, wovon sie sprach. Momentan blickte sie noch in ratlose Gesichter, aber immerhin Wallace und Miyako schienen heftig nachzugrübeln. „Ich gebe euch einen Hinweis“, fuhr sie fort. „Es hätte vermutlich noch jemanden gegeben, der Monokumas Verschlüsselung hätte knacken können. Zumindest, wenn man das glaubt, was er selbst über sich gesagt hat.“

„Redest du von Ken?“, fragte Miyako.

„Erraten“, sagte Hikari und sah zu, wie Daisukes Maske bröckelte. Für einen Moment sah er wirklich … schockiert aus. Ertappt.

„Ken hat von sich behauptet, um so vieles schlauer zu sein als wir, dass er Dinge durchschauen könne, die unseren Horizont übersteigen“, sagte Hikari. „Das war kurz vor seiner Hinrichtung, und wir haben es für Prahlerei gehalten. Auf der anderen Seite hat er in seinen letzten Momenten bewiesen, dass er immerhin mehr über die DigiWelt wusste als wir.

Später haben wir herausgefunden, dass an seinen Worten wahrscheinlich doch etwas dran war. In diesem Labyrinth, wenn ihr euch erinnert. Da hat Koushiro unter anderem Daten über die sogenannte Saat der Finsternis heruntergeladen. Die Saat ist eine Art Programm, das auch einen Menschen befallen kann. Es macht ihn klüger und sportlicher – und offenbar auch gewissenloser und brutaler. Ken hat einen hohen Preis für seine Intelligenz bezahlt, auch wenn er sich dessen vielleicht gar nicht bewusst war. Er ist ein eiskalter Tyrann und Mörder geworden, und deshalb hat er Sora umgebracht.“ Sie musste sich bei der Erinnerung an seinen teilnahmslosen Gesichtsausdruck und sein irres Lachen schütteln. „Und wenn man den Informationen aus dem Labyrinth Glauben schenken kann, lässt sich die Saat der Finsternis auch von einem Menschen auf einen anderen übertragen, und sie braucht einige Tage, bis sie ihre Wirkung entfaltet. Und dazu gehört dann eben auch eine drastische Steigerung der Intelligenz. Jemand, dessen IQ so von dieser Saat gepusht wird, könnte es schaffen, Monokumas Versiegelungscode zu knacken und Leomon zu befreien!“

Der Raum schwieg, und Hikari wusste gar nicht, ob sie verblüfft waren oder ihre Gedankengänge für absoluten Humbug hielten. Daisuke kratzte sich am Kinn. „Deine Theorie klingt vielleicht für dich glaubhaft, Hikari, aber sie ist voller Schwachstellen. Ken hat uns offenbart, dass er der DigimonKaiser ist, und er hat damit angegeben, dass er unendlich mal klüger ist als wir, ja. Aber gleich darauf hat Monokuma ihn hingerichtet. Wie hätte sich jemand mit dieser Saat infizieren können, wo Ken doch vor unseren Augen in Stücke gesprengt wurde? Wie könnte man sich überhaupt mit so etwas infizieren?“

„Darauf hatten die Schriften in dem Labyrinth auch eine Antwort“, erinnerte sie. „Die Saat besteht nur aus Daten – so wie alles hier. Man kann sie ganz einfach scannen und jemand anderem in den Körper pflanzen.“

„Und wie?“

„Mit Monokumas Scanner, zum Beispiel.“ Sie wandte sich zu dem schwarzweißen Bären auf seinem Devimon-Podest um. „Er hat ihn benutzt, als er diesen Gundham gelöscht hat, erinnert ihr euch? Und dann hat er den Scanner einfach in die Gruft geworfen. Wenn ich mich nicht irre, hatte er drei Funktionen: Scannen, Schreiben und Löschen. Mit Letzterem hat Monokuma Gundhams Datenreste vernichtet, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die anderen zwei Funktionen ebenfalls mit Daten funktionieren.“

„Verstehe.“ Wallace lachte kurz und hart auf. „Und Monokuma hat uns sogar – im selben Raum – die Leichen unserer Freunde aufgebahrt. So wiederhergestellt, als würden sie nur schlafen. Ich habe es nicht ausprobiert, aber ich glaube, die Särge hatten einfache Scharniere. Man hätte ganz einfach den Deckel herabheben können und …“

Er ließ die anderen den Satz selbst zu Ende denken.

„Heilige …“, entfuhr es Taichi. „Daisuke hat Kens Sarg geöffnet?“

„Ich habe sogar die Vermutung, dass das Monokumas eigentlicher Plan war“, sagte Hikari bitter. „Er hat unsere Freunde wiederhergestellt und vor unseren Augen mit diesem Scanner herumgespielt, als wollte er, dass genau das geschieht: dass jemand die Saat von Ken kopieren und sich selbst einpflanzen würde. Ich bin mir sicher, dass es auch bei einer Leiche funktioniert. Und in den Daten des Labyrinths stand sogar genau, wie man es machen muss: von Nacken zu Nacken.“

„Jetzt mal halblang“, wehrte Daisuke ab. „Ich applaudiere dir für deine Scharfsinnigkeit, wirklich. Aber alles, was ich aus dieser Beweiskette heraushöre, ist, dass es jeder von uns getan haben könnte. Auch du oder Taichi oder unser blonder Schönling – wir alle hätten Kens letzte Ruhe stören und die Saat auf uns selbst übertragen können, um schlauer zu werden und Leomons Kristall zu durchbrechen.“

„Vielleicht“, schränkte Hikari ein, „aber das stärkste Motiv hattest du, Daisuke.“

Er verschränkte die Arme. „Ach, hatte ich das?“

„Du warst von uns allen am verzweifeltsten, als Ken sich offenbart hat. Ihr erinnert euch sicher alle daran, oder? Daisuke hat wiederholt versucht, Ken zu verstehen. Er hat ihn angefleht, sich ihm zu erklären. Und alles, was Ken zu dir gesagt hat, Daisuke, war, dass du ihn nie verstehen könntest, weil du seinen gedanklichen Horizont nicht erreichen würdest. Ich habe gesehen, wie dich das gekränkt hat und wie es dich hinterher beschäftigt hat. Auch im Labyrinth wolltest du mehr als alle anderen etwas über Kens Beweggründe erfahren; du wolltest sogar Soras Mordvideo ansehen, so sehr warst du auf ihn fixiert.

Und dann hat sich dir plötzlich ein Weg eröffnet, wie du Kens Level erreichen konntest. Was gäbe es Besseres, als eins zu eins nachempfinden zu können, was in Ken vorgegangen ist? Ich bin mir sicher, du wolltest niemanden töten“, sagte sie milde. „Du wolltest einfach nur deinen Freund verstehen.“

Alle klebten an ihren Lippen. Hikari runzelte finster die Stirn.

„Aber die Saat hat dich korrumpiert, Daisuke, genau wie Ken. Und du bist wirklich genau wie er geworden: Du hast verstanden, was er verstanden hat, und du hast jemanden getötet mit demselben teuflischen Plan, damit durchzukommen und uns andere auch sterben zu lassen.“

Die Worte schlugen ein wie eine Bombe, obwohl sie wohl jeder von ihnen längst erwartet hatte. Mimi war die Erste, die die Sprache wiederfand. „Wenn ich mir das so anhöre … Dann scheint es irgendwie vorherbestimmt zu sein, dass man andere umbringt, sobald man eine gewisse Intelligenz erreicht hat.“

„Das glaube ich nicht“, knurrte Taichi mit zusammengebissenen Zähnen. „Es muss an dieser Saat liegen! Das ist irgendein halluzinogenes Zeug!“

„Es wird vermutlich nicht umsonst Saat der Finsternis heißen“, sagte Hikari, die nicht glauben konnte, dass Daisuke und Ken nur Halluzinationen hatten – auch wenn sie es sich mehr als alles andere wünschte. „Was hast du dazu zu sagen, Daisuke?“

Er sah sie nur an, lange. Dann strich er sich mit der Hand die Haarsträhnen aus dem Gesicht und presste den Handballen schließlich gegen die Stirn. Und er legte den Kopf in den Nacken, als wollte er Regentropfen auf seinem Gesicht auskosten, ohne dass sie ihm in die Augen spritzten.

Und er lachte.

Es war ein anderes Lachen als bei Ken, nicht grausam und höhnisch, sondern ehrlich amüsiert und irgendwie … stolz.

„Das ist meine Hikari!“, rief er. „Wenn man es so sieht, kann wirklich nur ich der Täter gewesen sein, was? Aber seid ihr sicher? Wollt ihr alle euer Leben darauf setzen, dass ich Iori und Koushiro umgebracht habe, nur weil ich einen guten Freund verstehen will? Hat keiner von euch dasselbe gefühlt? Dieses Unverständnis? Diese Ohnmacht? Habe ich das vielleicht nur am ehesten gezeigt? Habe ich nicht alle meine Gefühle immer viel offener gezeigt als ihr? Und jetzt wollt ihr mich für meine Offenheit hinrichten?“

Hikari sah, wie die anderen zögerten. Taichi, der es sowieso nicht glauben konnte, Mimi, die sich erschrocken vergegenwärtigte, dass bei einem Fehler alle bis auf den Täter sterben würden. Wallace, der in Gedanken versunken war, Miyako, die Daisuke mit einem Ausdruck in den Augen anstarrte, als könnte sie nur zu gut verstehen, was er nach Kens Tod gefühlt hatte. Jou hingegen sah gar niemanden an.

„Es liegt nicht nur an deinen Gefühlen, Daisuke“, sagte Hikari. „Dass du der Täter bist, ist die einzige Wahrheit, die all die ungeklärten Punkte verbindet. Wie ein roter Faden. Nur jemand, der die Saat der Finsternis in sich aufgenommen hat, kann Leomon befreit haben. Nur Leomons Befreier kann der Mörder sein. Nur jemand, der die Saat von Ken kopiert hat, konnte sie sich einpflanzen. Und nur jemand, der einen Grund dafür hatte, Kens Gedanken nachzuvollziehen, würde das tun. Und … nur jemand mit der Saat der Finsternis könnte plötzlich derart ausschweifend und eloquent argumentieren, wenn er den anderen in den vergangenen Klassenprozessenden oft nicht folgen konnte“, sagte sie leise. „Tut mir leid, Daisuke. Ich will es nicht glauben, aber ich kann nicht anders. Du bist der Mörder, den wir suchen. Du hast Koushiro ermordet und Leomon auf Iori losgelassen. Ich hoffe nur …“ Sie unterbrach sich, weil ihr Mund plötzlich so trocken war, als hätte sie sei Tagen geredet. „Ich hoffe nur, es hat sich für dich gelohnt und du hast erfahren, was Ken umgetrieben hat.“

Wieder wurde es still in der Kathedrale.

„Dann … ist es entschieden, oder?“, fragte Miyako vorsichtig. „Stimmen wir ab?“

„Wir sollten noch einmal über die Fakten drübergehen“, sagte Taichi fest. „Ich will keine halben Sachen machen. Wenn wir schon jemanden opfern, dann will ich überzeugt sein, dass ich das Richtige tue.“

Hikari nickte. Auch ihr war es lieber, wenn sie ihre Gedanken noch einmal in eine Reihe bringen konnte. „Die Vorgeschichte zu unseren beiden Morden hier hat eigentlich schon bei Soras Tod angefangen. Ihr Mörder war Ken, der kurz vor seiner Hinrichtung allerlei merkwürdige Dinge von sich gegeben hat. Daisuke, der sich wahrscheinlich als sein Freund gesehen hat und ihm auch so in unserer kurzen gemeinsamen Zeit am nächsten stand, hat mehr noch als wir anderen versucht, die Hintergründe von Kens Tat zu verstehen. Aber Ken hat nur gemeint, Daisuke würde ihn nie verstehen, weil er nicht seine Intelligenz besitze – und das hat an Daisuke genagt.

Etliche Tage und einen Mord später hat sich für Daisuke endlich die Chance ergeben, Ken doch zu verstehen. Wir haben nämlich von der Saat der Finsternis erfahren und welche Effekte sie auf den Menschen hat. Bald darauf hat uns Monokuma unsere toten Freunde in gläsernen Särgen präsentiert  – und uns demonstriert, wie er mit einem bestimmten Scanner Daten manipulieren kann. Diesen Scanner hat er einfach weggeworfen. Der Täter …“

Hikari unterbrach sich und schluckte. Es tat weh, seinen Namen für die Tatbeschreibung zu benutzen, aber sie hatte das Gefühl, es nicht zu tun, wäre ein Ausbund an Feigheit, nachdem sie ihn schon so sehr angeprangert hatte. Sie setzte neu an.

„Daisuke ist es vermutlich nicht schwergefallen, einen unbeobachteten Moment abzuwarten. Wir sind ein paar Tage in der Villa geblieben, und wir waren nicht ständig zusammen. Als er die Gelegenheit gewittert hat, ist er in den Keller zu den Särgen gegangen und hat den von Ken geöffnet. Er hat den Scanner genommen, den Monokuma dort gelassen hat, und genau so, wie es im Labyrinth beschrieben stand, hat er die Saat von Kens Nacken gescannt und in seinen eigenen gepflanzt.

Dann hat er gewartet. Die Saat braucht einige Zeit, um zu wirken, und die folgenden Tage war es ruhig. Dann hat sich irgendwann ihre Wirkung entfaltet – und ich weiß nicht, was genau sie mit Daisukes Psyche angestellt hat, aber sie hat zweierlei bewirkt: Zum einen ist er viel intelligenter geworden, wie man neuerdings an seiner Argumentationsweise erkennen kann. Und zum anderen scheint sie irgendetwas in ihm verdreht zu haben, sodass er, genau wie Ken vor ihm, die Notwendigkeit gesehen hat, jemanden umzubringen – und zwar eiskalt und gewissenlos.

Er hat den Mord genau geplant. Er wollte Leomon dafür verwenden, weil niemand ahnen konnte, dass er plötzlich imstande war, Monokumas Code zu knacken, an dem sich schon Koushiro die Zähne ausgebissen hat. Also hat er dessen Laptop gestohlen, die Analysen von Koushiro zu dem Code durchgesehen und es tatsächlich geschafft, ein Programm zu schreiben, das Leomons Gefängnis öffnet. Das hat er dann auch ausgeführt, und ab da war Leomon schon frei.

Daisuke hat Koushiro den Laptop zurückgegeben, ohne dass dieser mitbekommen hat, wer ihn die ganze Zeit über hatte. Am nächsten Tag sind wir alle wieder auf Nahrungssuche und Erkundung gegangen. Leomon muss während all der Zeit auf dem Berg herumgestromert sein. Ich schätze, es wusste nicht, wo es nach uns suchen sollte – wenn man es sich genau überlegt, wäre es auch merkwürdig, wenn es ohne einen Hinweis schnurstracks zu uns in das Haus laufen und uns angreifen würde.

Iori hatte das Pech, als Erstes von ihm gefunden zu werden. Leomon hat ihn mit seinem Schwert getötet und sich dann auf die Suche nach einem neuen Opfer gemacht. Es ist so aggressiv uns gegenüber, weil dieses andere Digimon – Devimon – ihm angeblich befohlen hat, die DigiRitter zu töten, die wir ja offenbar sind…. oder waren, bevor Monokuma diese Insel unter seine Kontrolle gebracht hat.

Als wir Codys Verschwinden bemerkt haben, sind wir ihn suchen gegangen. Hier hat sich der zweite Teil von Daisukes Plan entfaltet: Er wollte Koushiro töten und den Laptop mit dem Programm vor ihn stellen, sodass es einigermaßen danach aussieht, als hätte Koushiro selbst Leomon befreit.“

„Da fällt mir was ein“, sagte Miyako. „Hat Daisuke nicht eigentlich vorgeschlagen, dass wir eben nicht einzeln nach Iori suchen? Wenn wir auf ihn gehört hätten, hätte er doch damit seinen eigenen Plan ruiniert, oder?“

„Ja, wenn wir auf ihn gehört hätten. Ich vermute, er wusste bereits, mit welchen Methoden er uns am besten manipulieren konnte. Er hat es sicher gesagt, um keinen Verdacht zu erregen – aber die Art, wie er es gesagt hat, hat uns stur und rücksichtslos werden lassen, und wir sind allein losgezogen.“ Hikari mochte gar nicht daran denken, dass sie eine der Ersten gewesen war, die verkündet hatten, keine Bewachung zu brauchen. Der Gedanke stieß ihr sauer auf. Wenn sie nur nicht so dickköpfig gewesen wäre … Manipulation hin oder her …

Sie riss sich zusammen. Es half nichts, sich jetzt darüber zu grämen. Sie musste nach vorn blicken, zumindest in diesem Moment, und den anderen eine anstandslose Tatbeschreibung liefern.

„Während wir nach Iori gesucht haben, muss Daisuke Koushiro zur Seite gebeten haben. Er hat ihm bestimmt den Felsen mit den Digimon-Schriftzeichen gezeigt, weil er wusste, dass Koushiro sich davon zumindest kurz würde ablenken lassen.“

„War es nicht ein irre großer Zufall, dass genau an der Stelle so ein Felsen mit Schriftzeichen steht?“, warf Mimi ein.

„Nein, war es nicht. Wie wir schon überlegt haben, hat Daisuke die Schriftzeichen selbst angebracht. Er hat sie einfach auf den Felsen gemalt. Koushiro hatte keine Gelegenheit zu erkennen, dass sie nicht echt waren. Es ist alles viel zu schnell gegangen, als dass es einen Unterschied gemacht hätte.“

„Und womit hat er die Zeichen gemalt?“, fragte Taichi stirnrunzelnd. „Er hatte doch keinen Eimer mit Farbe oder so mit.“

Auch darauf hatte Hikari eine Antwort. „Ich vermute, er hat die Beeren benutzt, die in der Nähe wuchsen.“

„Beeren?“

Sie nickte. „Die Zeichen waren violett, und sie waren auch eher ungleichmäßig gemalt. Und die Beeren, die Mimi während der Ermittlungen in der Umgebung gesehen hat, waren ebenfalls violett. Er hat einfach ein paar gesammelt, sie zermatscht und damit die Zeichen an den Felsen gemalt. Ein paar haben schließlich schon gereicht. Koushiro hat sie sich wenigstens kurz genauer angesehen – dann hat Daisuke auch schon zugeschlagen.

Er hat wahrscheinlich ein Messer aus der Küche der Villa mitgenommen. Damit hat er Koushiro hinterrücks die Kehle aufgeschnitten. Koushiros Blut ist auf die Felswand gespritzt. Er war vermutlich auf der Stelle tot. Daisuke hat seinen Laptop genommen, das Programm erneut geöffnet und den Statusbericht, dass die Versiegelung offen ist, auf dem Bildschirm gelassen. Dann hat er das Notebook vor Koushiro drapiert und dessen Hand auf die Tastatur gelegt, sodass man glauben könnte, Koushiro hätte selbst das Programm ausgeführt. Und dann ist Daisuke einfach seiner Wege gegangen.

Das muss zu der Zeit gewesen sein, als Leomon Miyako und mich entdeckt hat. Denn kaum dass es zwei Morde gegeben hat, für die derselbe Täter verantwortlich war, ist Monokuma eingeschritten und hat Leomon vernichtet, damit es kein drittes Opfer gibt. Daisuke ist kurz darauf zu uns gestoßen und hat den Ahnungslosen gespielt, und wir haben schließlich Iori und Koushiro entdeckt.“

Hikari holte tief Luft. Während der letzten Worte war ihr immer heißer geworden und sie hatte die Anschuldigungen regelrecht hervorpressen müssen. Aber sie war sich nie so sicher gewesen. Daisuke war der Mörder. Sie hatte seinem Blick nicht mehr standhalten können, aber als sie ihm nun in die Augen sah, wusste sich nicht, was für eine Reaktion sie erwartet hatte.

Aber gewiss nicht, dass er sie anlächelte.

„Nicht übel, Hikari“, sagte er nach Sekunden, die ihr wie Stunden vorkamen und ihr jeden verbleibenden Realitätssinn aus dem Kopf wehten. „Du bist wirklich ein schlaues Mädchen, ich bin regelrecht stolz auf dich.“

„Du kannst es immer noch leugnen“, sagte sie zittrig. Nichts wäre ihr lieber gewesen. Warum konnte es nicht einfach ein Selbstmord gewesen sein? Ein Unfall? Ein Traum? Auch wenn Daisuke zum Mörder geworden war, sie wollte nicht mit ansehen, wie noch jemand von ihnen starb.

„Das hätte keinen Sinn mehr. Du hast alles so schön aufgeschlüsselt – es wäre nur peinlich, wenn ich mich sträube.“ Er seufzte und sein Lächeln nahm eine grimmige Note an. „Aber um deine Frage zu beantworten … Ja, ich verstehe Ken jetzt. Es hat ein wenig gedauert, aber schließlich habe ich genau begriffen, was in ihm vorgegangen ist. Es ist wirklich unglaublich, was die Saat für eine Macht hat … Ich fühle mich, als könnte ich plötzlich kristallklar denken. Als hätte ich mein bisheriges Leben hinter einem Nebel verbracht.“

Er lachte, aber es klang wehmütig.

„Und ich habe festgestellt, dass auf der anderen Seite dieses Nebels nichts liegt. Eine gähnende Leere, die ich nur mit meinem Potenzial füllen kann. Das festzustellen, war das Schlimmste an der ganzen Sache. Plötzlich dieselbe Dunkelheit zu atmen wie Ken. Du kannst mir glauben, dass ich mich dagegen gesträubt habe, aber ich bin zu derselben Antwort gekommen wie er: Dass ich zu Höherem bestimmt bin, als hier auf der Insel den Rest meiner Tage zu verbringen. Dass ein Menschenleben nicht viel anders ist als das einer Fliege, wenn es nicht begreifen kann, was ich begreife. Dass ich alles zu opfern bereit bin, um von hier fortzukommen und mein Potenzial auszuleben.“

„Was für ein Potenzial?“, fragte Hikari mit brüchiger Stimme. „Wolltest du zu diesem Kontinent und dort weitermachen, wo Ken aufgehört hat?“

„Das hätte ich mir überlegt, sobald ich die Chance dazu gehabt hätte.“ Er senkte den Blick. „Ich hätte alles vollbringen können, was ich mir vorstellen konnte. Ihr glaubt gar nicht, was das für ein Gefühl ist. Eine Freiheit, eine Unabhängigkeit … aber hier kann ich das Gefühl nicht ausleben. Ich bin ein Vogel im Käfig. Und trotzdem bin ich froh, die Saat in mich aufgenommen zu haben. Endlich kann ich Ken verstehen.“

Hikaris Augen waren tränenfeucht. Wie von selbst schloss sich ihre Hand um den Hebel. Sie wollte das alles nicht glauben. Daisuke schien ihr plötzlich … verloren. Unwiederbringlich verloren. Er war kein Gewinner, kein feier Geist, er war nicht frei oder unabhängig. Er hatte einfach sich und seine Menschlichkeit aufgegeben.

Er bemerkte ihre Bewegung und nickte zu dem Hebel. „Ja. Tu es. Ihr alle, schiebt den Hebel schon auf Schuldig. Hikari hat alles aufgedeckt. Zögert es nicht unnötig hinaus.“

Stumm packte die Gruppe die Hebel. Daisuke war der Erste, der ihn resolut auf Schuldig schob. Nach und nach folgten die anderen seinem Beispiel. Sie mussten den Prozess zu einem Ende bringen. Jede weitere Minute hätte sie alle nur unnötig gequält.

„Und wir haben einen Schuldigen!“, erklärte Monokuma fröhlich. „Daisuke Motomiya wurde für schuldig befunden und … Er war tatsächlich der Täter, der Koushiro und Iori auf dem Gewissen hat. Ihr hattet schon wieder Recht!“

„Ich fass es immer noch nicht“, murmelte Taichi. „Ich habe halb erwartet, dass uns Monokuma jetzt verspottet, weil wir die falsche Wahl getroffen haben.“

Daisuke lachte hart. Dann trat er aus seiner Bucht und kam geradewegs auf Hikari zu.

„Was hast du vor?“, rief Miyako erschrocken.

Taichi sprang ihm in den Weg. „Keinen Schritt weiter!“

Daisuke grinste überheblich. „Ich möchte mich nur gebührend von meiner Nemesis verabschieden, bevor die Hinrichtung beginnt.“

„Das kannst du knicken!“

Auch die anderen liefen herbei, aber sie waren so unschlüssig, dass Daisuke versuchte, sich an Taichi vorbei zu drängeln. Dieser wollte ihn knurrend fortstoßen, um seine kleine Schwester zu schützen.

Was dann geschah, ging so schnell, dass man es mit freiem Auge kaum verfolgen konnte. Irgendwie blockierte Daisuke Taichis Hände, schaffte es, ihm einen Arm auf den Rücken zu drehen und ihn gegen Wallace zu stoßen, der ihnen am nächsten war.

Einen Lidschlag später war Daisuke direkt vor Hikari, die noch in ihrer Bucht stand und sich keinen Millimeter geregt hatte. Wie versteinert begegnete sie seinem Blick. Eindeutig, selbst dieser Blick war anders als vorher … kühler, abgestumpft. Dass ein digitales Programm wie diese obskure Saat so etwas mit einem Menschen anstellen konnte …

„Lebe wohl, Hikari“, sagte er ernst. „Ihr habt gewonnen. Aber in einem hattest du Unrecht. Ich bin nicht eiskalt und gewissenlos.“ Plötzlich schlang er einen Arm um sie und drücke sie an sich. Hikari versteifte sich, Taichi rief ihren Namen. Die anderen sogen scharf die Luft ein und stürzten heran …

Hikari hörte Daisukes Stimme dicht an ihrem Ohr. „Ein Programm Last1. Das Passwort ist Freiheit.“

Dann löste er sich auch schon wieder von Hikari, die immer noch wie schockgefrostet dastand. Einen Moment später hatten Taichi und Wallace ihn an den Armen gepackt und zurückgerissen.

„Keine Lynchjustiz, meine Schüler!“, rief Monokuma sie zur Ordnung. „Schon gar nicht, wenn ein so armer Junge sich von seiner unerreichbaren Liebe verabschiedet … Solche Enden sind doch zu köstlich, als dass man sie ruinieren dürfte.“

Hikaris Herz schlug einen Takt schneller. Hatte Monokuma nicht mitbekommen, dass er sich gar nicht nur verabschiedet hatte …?

Daisuke versuchte sich loszumachen, aber Wallace und Taichi reagierten weder auf ihn noch auf Monokumas Worte. „Du hast uns noch ein paar Fragen zu beantworten, du Schuft“, sagte Taichi zornig. Daisuke schwieg, den Blick weiterhin auf Hikari gerichtet, diesen kalten Blick, der aber irgendwie immer noch einen Spur Daisuke zu enthalten schien …

„Weil ihr es offenbar kaum erwarten könnt“, kündigte Monokuma an, „beginnen wir mit der Bestrafung! Eine besondere Hinrichtung im Herzen der Insel: der File-Insel-Miniatur-Park!“

Ein Beben ging durch den Boden, das sein Epizentrum an der Stelle hatte, wo Daisuke und die andern rangelten. Ein Ruck riss sie von den Füßen und beförderte damit Taichi und Wallace ein paar Schritte von Daisuke weg – unter dem schließlich der Boden aufbrach.

„Daisuke!“ Hikari stürzte zu dem Loch, das viel zu regelmäßig aussah, um nicht künstlich zu sein. Fluchend rappelte sich Taichi auf und packte sie an den Schultern. „Geh da weg“, keuchte er.

Sie schüttelte seinen Arm ab. „Was ist mit Daisuke?“

Er war verschwunden. An der Stelle gähnte nur noch eine rechteckige Öffnung. Von ihrem Rand ausgehend, bröckelte der Felsen weiter ab und wurde von einer Glaswand abgelöst, die sich langsam bis zu der Öffnung schob und dort zu einer durchgehenden Platte verschmolz. Einige Meter unter sich konnten die DigiRitter einen großen, unterirdischen See sehen, in dem eine kleine Insel schwamm – ungefähr mit dem Durchmesser eines Hula-Hoop-Reifens. In ihrer Mitte ragte ein felsiger Stachel auf, und Hikari erkannte, dass es sich tatsächlich um eine Miniaturausgabe der File-Insel handelte, mit dem Berg im Zentrum, auf dem sie eben waren.

Daisuke war auf der Insel gelandet und richtete sich eben unter Schmerzen auf. Der fiese Zacken des Berges hatte einen klaffenden Schnitt in seine Hüfte gerissen, der heftig blutete. Auch auf dem Kopf hatte er eine Platzwunde, und eines seiner Beine schien nach dem Sturz gebrochen.

Hikari schrie seinen Namen, doch durch die Glasdecke konnte er sie vermutlich nicht hören.

Mittlerweile waren alle DigiRitter um den weggebrochenen Teil des Bodens versammelt und beobachteten die Bestrafung. Hikari fragte sich eben, ob Daisuke es wider Erwarten schon überstanden hatte, als die Insel auseinanderzubrechen begann.

Jedes der Gebiete – Hikari erkannte die Wüste, den Wald und sogar eine Schneelandschaft – löste sich von dem Berg und driftete davon. Daisuke erkannte, was ihm blühte. Er versuchte anfangs noch, die Teile seines Floßes zusammenzuhalten, dann nur noch, das Gleichgewicht zu halten. Als würden die Teile der Mini-Insel auseinandergezogen werden, entfernten sie sich unaufhaltsam voneinander.

Irgendwann stand Daisuke nur noch auf dem Teil mit dem Berg, der unter seinem Gewicht tief ins Wasser sank und schließlich kippte. Daisuke stürzte in den See, kam prustend wieder in die Höhe und der unhörbare Schrei, den er ausstieß, sagte Hikari, dass das Wasser eisig kalt war.

Dann begann sein Todeskampf.

Die meisten der DigiRitter sahen ihm wie betäubt zu. Jou lief im Raum hin und her, versuchte einen Weg in die Grotte zu finden. Miyako hämmerte schreiend gegen das Glas. Taichi knirschte mit den Zähnen, aber er, Mimi und Wallace verfolgten genau Daisukes letzte Momente. Hikari ebenfalls – sie hatte das Gefühl, es ihm schuldig zu sein.

Er hielt wirklich lange durch – vielleicht ein Nebeneffekt der Saat der Finsternis. Irgendwann, als seine Haut schneeweiß und seine Lippen blau waren, geriet er ein weiteres Mal unter Wasser – und tauchte nicht wieder auf. Die Wellen, die seine strampelnden Glieder erzeugt hatten, flachten aus und verschwanden schließlich, bis die Inselteile auf einer spiegelglatten Wasseroberfläche trieben.

„Ah, das war erfrischend“, verkündete Monokuma genüsslich. „Man bekommt richtig Lust, demnächst an den Strand zu gehen und sich auch etwas abzukühlen.“

„Du … du Mistkerl“, presste Taichi hervor. Er hatte die Fäuste geballt und brachte es nicht einmal zustande, in Monokumas Richtung zu sehen. „Er war vielleicht ein Mörder, aber das gibt dir trotzdem nicht das Recht … Du hattest überhaupt nicht das Recht, irgendeinen von uns hinzurichten, du verdammtes, sprechendes Psychopathenplüschtier!“

„Na, na, na“, machte Monokuma tadelnd. „Wenn du unbedingt ausfallend werden willst, dann such dir ein anderes Opfer aus. Ich bin sicher, mittlerweile seid ihr alle so mürbe wie alte Kekse. Und daran gewöhnt, Tote zu sehen. Vielleicht habt ihr nun endlich mehr Lust, das zu tun, weswegen ihr hier seid, und verplempert nicht immer so viel Zeit dazwischen. Wahahaha!“

Mit einem bösartig-befreiten Lachen Monokumas endete der dritte Klassenprozess. Das Biest lachte weiter, während die DigiRitter wie begossene Pudel in der Tempelhalle standen und weder ein noch aus wussten.

Nur Hikari starrte immer noch auf den See zu ihren Füßen, auf die Stelle, an der Daisuke verschwunden war.

Last1. Freiheit. Sie fragte sich, was in Daisukes Kopf vorgegangen war. Vielleicht irgendwo auch etwas Gutes. Er hatte kaltblütig den Tod von Iori und Koushiro herbeigeführt, aber er hatte ihnen, den Überlebenden, auch etwas hinterlassen.

Vielleicht war die Hoffnung vergebens. Vielleicht war es sogar eine Teufelei, die Daisuke ausgeheckt hatte – womöglich als Rache für seine Niederlage. Aber irgendwie war das das Tückische an der Hoffnung. Dass man eben, trotz aller Umstände und Wahrscheinlichkeiten, immer noch weiterhoffte.

Und andererseits war es auch eine Ewigkeit her, dass Hikari Hoffnung verspürt hatte.

Epilog: Die Legende der DigiRitter

Der Abstieg vom Berg schien schwerer als der Aufstieg. Taichi war völlig am Ende seiner Kräfte. Wenn es ein Wort gab, das seine Gefühlswelt in dem Moment beschreiben konnte, dann war es Verzweiflung. Pure Verzweiflung.

Er hatte es sich selbst geschworen, und Mimi auch. Er hatte große Töne gespuckt und behauptet, er werde sie alle von hier fortbringen. Er werde nicht zulassen, dass noch jemand sterbe. Damals waren sie zu neunt gewesen. Jetzt, nur eine Woche später, waren sie nur noch zu sechst.

Auch die anderen trotteten in sternenheller Nacht den Hang hinunter und scherten sich nicht darum, wohin sie ihre Füße setzten. Wenn einer von ihnen abgestürzt wäre, hätte er sich alle Knochen brechen können und wäre trotzdem achselzuckend liegengeblieben. Und die anderen hätten ihm vielleicht hinterher gestarrt, ebenfalls mit den Achseln gezuckt und wären dann weitergegangen. So fühlten sie sich im Moment. Apathisch. Wie Puppen, zu nichts in der Lage und zu nichts nütze.

Genau das waren sie auch. Puppen, die an Monokumas Schnüren tanzten. Sie wussten nicht, warum, wussten nicht, wieso ihnen das alles zustieß, wo sie doch eigentlich – angeblich – Helden sein sollten. Taichi wusste nur, dass ihre Geschichte in der DigiWelt die eines einzigen, großen Versagens war, auch wenn sie nun schon drei Mordfälle richtig gelöst hatten.

Die Schweigsamkeit begleitete sie in das Haus zurück, das durch seine Größe jetzt noch leerer wirkte als vorher. Ohne ein Wort teilten sich die Überlebenden auf ihre Zimmer auf. Ein Teil von Taichi hätte sich gern von Mimi verabschiedet, aber selbst dazu war er zu müde. Er fürchtete allerdings, sie am nächsten Morgen gar nicht wiedersehen zu können, weil entweder er oder sie dann tot wäre. Warum er das dachte, wusste er nicht. Aber irrationale Ängste waren ja oft hartnäckiger als solche, die man begreifen und nachvollziehen konnte.

Er warf sich mitsamt seiner Klamotten in das hinterste Bett im Jungen-Schlafsaal, obwohl er bisher ein anderes benutzt hatte, zog sich die Decke über den Kopf und wollte am liebsten einfach für immer in eine Traumwelt abtauchen.

 

Miyako und Mimi unterhielten sich im Flüsterton miteinander. Hikari konnte ihre Worte nicht verstehen, aber sie klangen belanglos und traurig. Sie selbst wandte den beiden den Rücken zu und wartete, bis sie schliefen. Es dauerte lange, und selbst dann war Hikari noch kein bisschen schläfrig, auch wenn sie todmüde war. Sie wusste einfach, dass sie nicht würde schlafen können.

Als sie die tiefen Atemzüge der anderen beiden hörte, wagte sie es, unter ihrem Bett Koushiros Laptop hervorzuholen. Sie hatte ihn beim Abstieg vom Berg aufgelesen und dann hier verstaut. Niemand hatte etwas dazu gesagt.

Sie klappte ihn auf, nachdem sie die Decke wie eine Höhle über sich und das Gerät ausgebreitet hatte. Es lief immer noch, auch wenn der Akku bereits um sein Leben keuchte. Schnell öffnete Hikari den Verzeichnisbaum und tippte die Datei in das Suchfeld ein, die Daisuke erwähnt hatte. Zuerst suchte sie nach Last One, dann kam ihr der Gedanke, die 1 als Ziffer zu schrieben. Schließlich meldete die Suche einen Fund: Ebenso versteckt wie das Entschlüsselungsprogramm, schlummerte eine Datei namens Last1.exe in den Tiefen von Koushiros Festplatte. Das Erstelldatum lag erst einen Tag zurück – es war zu der Zeit angelegt worden, als Daisuke den Laptop von Koushiro gestohlen hatte.

Hikaris Herz klopfte schneller, als sie die Datei doppelklickte. Eigentlich bräuchte sie vor gar nichts mehr Angst zu haben, so betäubt müsste sie sich fühlen. Ein Computerprogramm konnte ihr nichts anhaben, nicht einmal in einer Welt, die nur aus Computerprogrammen zu bestehen schien. Selbst wenn der Laptop gleich explodierte, sollte es ihr nichts ausmachen. Es war nicht die Furcht, dass etwas passierte, die ihr die Kehle zuschnürte – sondern die Furcht, dass nichts passierte. Dass ihre Hoffnung vergebens war. In diesem Moment schien Hoffnung das Einzige zu sein, das sie verletzen konnte – ein fieser Stachel, den sie noch nie als so schmerzhaft empfunden hatte.

Sie fragte sich, was Takeru wohl zu diesem Gedankengang gesagt hätte.

Das Programm startete und verlangte ein Passwort. Hikari tippte Freiheit ein. Dann erschien eine Karte – Koushiros Karte von der File-Insel, die sie immer wieder um ihre neuen Entdeckungen ergänzt hatten. Etwas war in dieser Version aber anders: An einer Stelle, gar nicht weit von der Villa, war ein roter Kringel gemalt worden. Darunter hatte jemand mit einem billigen Bildbearbeitungsprogramm Freischaufeln hingekritzelt.

Als Hikari sich sicher war, dass sie alles gesehen hatte, was es zu sehen gab, klappte sie den Laptop energisch zu. Eine Weile lauschte sie nur ihrem Atem, der schwer geworden war, und dem leisen Surren des Lüfters, der schließlich erstarb, als dem Akku der Saft ausging.

Daisuke quälte sie also immer noch. Statt einer Antwort deutete er nur auf ein weiteres Glied in der Kette der Hoffnung, an deren Ende vielleicht gar nichts war.

 

Nach dem Frühstück am nächsten Tag meldete Hikari, dass sie erneut das Gebiet auskundschaften wolle. Nichts zu tun werde nur auf ihre Gemüter schlagen. Niemand sprach sich dafür aus, aber auch niemand dagegen, und schließlich konnte sie sogar den Wunsch durchsetzen, dass alle Überlebenden sie begleiteten. Zur Sicherheit, wie sie sagte.

Sie hatte sich die Stelle auf der Karte eingeprägt. Es war gar nicht schwierig gewesen, sie sich zu merken – als hätte ihr Gehirn erkannt, dass der Ort das Wichtigste war, das sie sich in ihrem Leben je würde merken müssen. Hikari tat so, als würde sie tatsächlich das Gelände erforschen, um Monokuma keinen Anlass zum Verdacht zu geben. Deshalb sagte sie auch nichts über ihre Entdeckung. Wenn hier alles aus Daten bestand, konnte Monokuma sicher jeden ihrer Schritte beobachten und jedes ihrer Worte mit anhören. Sie hoffte nur, dass ihr heimlicher Blick auf den Laptopbildschirm dem Bären entgangen war. Und dass er immerhin ihre Gedanken nicht lesen konnte.

Als sie schließlich an der besagten Stelle waren, war es fast Mittag, aber Hikari war so flau im Magen, dass sie gar keinen Hunger verspürte. Sie waren an einer Felswand angekommen, die man von weitem sehen konnte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie näher zu inspizieren – niemand außer Daisuke, wie es aussah. Vielleicht hatte er dank seiner erhöhten Intelligenz wirklich mehr gesehen als alle anderen.

Der Weg führte in einem Bogen um die Steilwand vorbei, aber Hikari hielt genau darauf zu. „Kommt“, sagte sie. Sie lief fast. Die anderen sahen sich verdutzt an, dann folgten sie ihr.

Am Fuße der Felswand stießen sie auf einen kleinen Geröllhaufen. Etwas Metallisches schimmerte an einem Ende hervor – es wirkte wie eine Diskus-Scheibe. Die Schriftzeichen der DigiWelt waren darin eingraviert. Vielleicht hatte Daisuke sie entziffern können und deshalb gewusst, worum es sich hierbei handelte …

Die Aufregung schnürte Hikari schier die Kehle zu. „Helft mir“, murmelte sie mit belegter Stimme und begann, die Geröllbrocken von der Scheibe zu heben.

„Was hast du vor?“, fragte Taichi.

„Vertraut mir. Wir sollten uns das unbedingt ansehen.“

Ihre Finger waren schweißnass und bald klebte Steinmehl daran. Emsig arbeitete sie weiter, obwohl ihre Arme schon nach den ersten, schweren Steinen schmerzten.

Die anderen blickten einander noch kurz verwirrt an, dann packten sie mit an. Sogar Mimi legte sich mächtig ins Zeug.

„Hey! Was macht ihr da?“ Monokuma sprang urplötzlich neben ihnen aus dem Gebüsch.

„Einfach ignorieren“, sagte Hikari kurzatmig. Natürlich würde er nicht einfach stillsitzen … aber dass er hier war, bedeutete, dass sie tatsächlich auf etwas gestoßen waren.

„Das ist hier kein Arbeitslager. Schwere körperliche Arbeit ist nicht der Sinn dieses Feriencamps“, erklärte der Bär in seiner verspielten, hohen Stimme.

„Kann dir doch egal sein“, gab Taichi zurück.

„Ihr sollt euch umbringen, nicht euch den Rücken beim Felsenstemmen ruinieren.“ Monokuma funkelte sie irgendwie … böse an. Aus einer seiner Tatzen waren drei kleine, spitze Krallen erschienen.

Hikari hörte ein Brummen über sich. Ein Blick nach oben sagte ihr, dass ein rotes Digimon im Anflug war. Es flog über die Baumwipfel und kam rasch näher.

„Schneller!“, keuchte Hikari und legte noch einen Zahn zu. „Da kommt Kuwagamon!“

Taichi entwickelte Bärenkräfte. Er riss die Felsbrocken von der Scheibe, als wögen sie nichts. Miyako stieß etwas wie einen Kampfschrei aus und fegte Steine hinunter. Wallace arbeitete mit zusammengebissenen Zähnen. Jou zitterte, arbeitete aber mit maschinenhafter Verbissenheit weiter, und Mimi riss so sehr an den Felsbrocken, dass ihre Handflächen bluteten.

Endlich polterte der letzte Stein von der metallischen Scheibe; sie hatten ihn gemeinsam stemmen müssen. Und kaum, dass er fort war, glühten die DigiVices in ihren Taschen auf.

„Jetzt habt ihr es geschafft, euren Direktor so richtig zu verärgern“, drohte Monokuma. Kuwagamon war mittlerweile so nahe, dass man das Muster auf seinem Schädel als schwarze Kleckse erkennen konnte. Es breitete die Kneifzangen aus …

Aus der rostigen, verstaubten Metallscheibe drang eine Lichtsäule, dann eine Lichtkugel, die einen, zwei Meter hoch flog und dann in einer grellen Explosion zerbarst. Die DigiRitter schlossen geblendet die Augen, während das Licht die gesamte Insel überrollte. Als Hikari wieder einen Blick zum Himmel warf, sah sie, dass Kuwagamon seinen Sturzflug abgebremst hatte. Es flog eine weite Schleife am Himmel, als hätte es plötzlich vergessen, weswegen es hier war. Dann drehte es ab.

„Jetzt bin ich wirklich zornig“, sagte Monokuma. „Unartige Schüler werden von der Schule verwiesen.“ Sein rotes Auge begann zu blinken.

„Das lässt du schön bleiben!“ Taichi reagierte blitzschnell. Er stürmte auf Monokuma zu und beförderte ihn mit einem Fußtritt wie beim Elfmeter weit ins Dickicht des Waldes. Von dort hörte man eine Explosion, Rauch stieg auf.

„Ich mach das, sooft du willst“, erklärte Taichi grimmig.

„Super, Taichi!“, jubelte Miyako.

„Das wird aber sicher nicht der letzte Monokuma gewesen sein“, gab Wallace zu bedenken.

„Seid unbesorgt. Darum kümmere ich mich“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen.

Die Freunde wirbelten herum. In der Lichtsäule über der Metallscheibe war eine menschliche Gestalt erschienen: ein junger Mann in einer Kutte, sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Seid gegrüßt, DigiRitter“, sagte er. „Ich freue mich, endlich mit euch sprechen zu können. Mein Name ist Gennai.“

 

Mimi wusste nicht, was sie von alledem halten sollte. Tagelang waren sie auf dieser Insel unterwegs gewesen, ohne einen anderen Menschen zu sehen – und nun stand einer vor ihnen. Oder eher, er schwebte: Seine Gestalt war leicht durchscheinend, wie ein Geist, und existierte nur in dem Licht, das die Metallplatte ausströmte.

Ein Hologramm?

„Sind Sie auch einer von Monokumas Tricks?“, fragte Wallace argwöhnisch.

„Mitnichten“, erwiderte der Mann ernst. „Ich denke, dass ich euch einige Antworten schulde, doch lasst mich zuerst den Fehler beheben, der die File-Insel befallen hat.“

Mimi glaubte etwas wie einen Schatten aus Licht zu sehen – anders konnte sie das Ding nicht beschreiben, das sich plötzlich zu Gennais Füßen erhob, diesen Umriss einer riesenhaften Schlange mit einigen Auswüchsen – Beine? –, aus dem leuchtende Kugeln quollen. Sie flogen weit in den Himmel und gingen überall auf der Fiel-Insel nieder, und wo sie einschlugen, zerbarsten sie in dem weichen, hellen Licht, das sie vor Kuwagamon gerettet hatte. Dieses Licht verglomm jedoch nicht, sondern schien über den Boden zu rollen wie Meereswellen. Sogar unter ihren Füßen wurde es strahlend hell, ehe das Leuchten verlosch.

Ganz in der Nähe ertönte ein metallisches Klonk. Mimi drehte sich um und erschrak. Von der Klippe war ein weiterer Monokuma gefallen. Der Roboterkörper war nur ein wenig eingedellt, aber er regte sich nicht. Auch das rote Auge glühte nicht. War er … abgeschaltet?

„Der Spuk hat nun ein Ende“, sagte Gennai zufrieden. „Ihr könnt euch nun endlich eurer eigentlichen Aufgabe widmen.“

„Was für eine Aufgabe?“, fragte Taichi. „Wer sind Sie?“

„Wie ich schon sagte, mein Name ist Gennai. Ich arbeite für jene Macht in der DigiWelt, die euch als DigiRitter auserwählt hat. Ihr seid dazu bestimmt, diese Welt vor der Finsternis zu retten, und ich sollte euch dabei unterstützen. Allerdings gab es Komplikationen, die von eurer Welt ausgingen.“

„Geht‘s auch mit ein wenig mehr Klartext?“, knurrte Taichi, der sich offenbar auch endlich bewusst wurde, dass die größte Gefahr wohl gebannt war. Monokumas Digimon hatte sie ignoriert, und zumindest der Monokuma dort drüben war funktionsuntüchtig.

„Die DigiWelt wird von finsteren Mächten bedroht. Um ihnen entgegenzuwirken, wurden die DigiRitter auserwählt. Ihr solltet hierher auf die File-Insel gebracht werden, um euch mit euren Digimon-Partnern zu treffen und euch auf den Kampf vorzubereiten.“

„Digimon-Partner?“, fragte Miyako. „Soll das heißen, wir hätten mit Digimon zusammenarbeiten sollen?“

Gennai nickte. „Das ist richtig. Doch leider hatte sich ein Fehler eingeschlichen. Dieser Fehler hat die File-Insel befallen und alles, was hier geschah, unserer Kontrolle entzogen.“

„Ein Fehler? So wie ein Computervirus?“, hakte Wallace nach.

„Meinen Sie mit diesem Fehler Monokuma?“, fragte Jou.

Wieder nickte Gennai. „Ihr habt bestimmt schon gemerkt, dass die DigiWelt aus digitalen Daten besteht. Dieser Umstand hat es Monokuma ermöglicht, hierher zu gelangen. Wie ich herausgefunden habe, war der Monokuma, der euch bedroht hat, ebenfalls ein Programm, das sich in einem Computersystem aus eurer Welt eingeschlichen hatte und dort die Form annahm, die ihr hier gesehen habt. Und weil die DigiWelt sich aus den Computernetzwerken eurer Welt zusammensetzt, ist es ihm gelungen, hierher zu fliehen, als man ihn an seinem Ursprungsort löschen wollte.“

„Monokuma hat irgendetwas davon gesagt, dass dieser Gundham mit ihm von irgendwo her … herübergerutscht ist“, erinnerte sich Wallace. „Hat er das damit gemeint?“

„So ist es. Sie stammen beide aus einer Computersimulation und haben sich hier in der DigiWelt wiedergefunden.“

„Und warum hat Monokuma Jagd auf uns gemacht?“, fragte Mimi. „Wir haben ihm doch gar nichts getan! Wir wussten nicht mal, dass er andernorts gelöscht werden sollte! Die Sache ist ja wohl nicht fair.“

„Monokumas ursprünglicher Zweck war es, Verzweiflung unter die Menschen zu bringen. Dafür wurde er geschaffen“, erklärte Gennai. „Diesen Zweck hat er wohl auch auf die DigiWelt angewandt. Ihr DigiRitter seid die Hoffnung unserer Welt, und diese wollte er auf möglichst demütigende Weise zerstören.“

„Darum hat er uns also nicht einfach selbst umgebracht“, sagte Taichi bitter. „Weil er so programmiert war und diese Welt demütigen wollte? Also echt …“

„Und wer hat Monokuma programmiert?“, fragte Wallace. „Es klingt nicht so, als wären das diese finsteren Mächte, von denen Sie gesprochen haben.“

„Ich kann euch nur sagen, dass es ein Mensch war. Aber wie dem auch sei, eure Bestimmung wurde fast von ihm verhindert. Und ich sehe mit Bedauern, dass eure Zahl beträchtlich geschrumpft ist.“

„Wie können Sie das so nüchtern sagen …“ Taichi ballte die Fäuste, wie so oft in letzter Zeit. „Es sind so viele von uns gestorben, nur weil wir angeblich diese Welt retten sollen? Hat uns jemand gefragt?“

„Taichi“, murmelte seine Schwester beruhigend.

„Ich bedaure zutiefst, was euch widerfahren ist“, sagte Gennai. „Wir hatten keinen Einfluss auf die Geschehnisse auf der Insel. Monokuma hat sie von jedem Zugriff abgeschottet. Alles, was wir tun konnten, war zuzusehen, was euch widerfahren ist. Es tut mir leid.“

„Warum sind gerade wir ausgewählt worden, DigiRitter zu sein?“, fragte Hikari, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Hat es etwas damit zu tun, dass wir alle auf der Hope’s Peak aufgenommen wurden?“

Gennai musterte sie lange. „Die Sache mit dieser Schule ist keine echte Erinnerung“, sagte er dann. „Monokuma hat euer Gedächtnis manipuliert, um das Setting einer Schulklasse für sein Mörder-Spiel zu schaffen. Die Talente, die man euch angeblich zugeschrieben hat, sind in Wirklichkeit eure Wappen.“

„Unsere Wappen?“, wiederholte Taichi.

„Ich werde euch mehr darüber erklären, sobald ihr eure Digimon-Partner getroffen habt.“

„Monokuma hat also an unseren Erinnerungen rumgepfuscht?“, fragte Jou entsetzt.

Wallace kratzte sich am Kopf. „Tja, ich denke, wenn alles aus Daten besteht, ist es einfach, auch da was zu verändern …“

„Heißt das am Ende …“, murmelte Mimi, „dass wir eigentlich andere Erinnerungen hatten? Haben wir vielleicht auch etwas vergessen?“ Am Ende hatten sie einander alle schon gekannt und sich trotzdem gegenseitig umgebracht!

„Nein“, erwiderte Gennai, „mit Ausnahme eurer Aufnahme auf der Hope’s Peak wurde nichts verändert. In Wahrheit gibt es diese Schule gar nicht mehr. Ihr wurdet von uns erwählt und aus euren Wohnungen hierher auf die File-Insel gebracht. Wir hielten diesen Ort für sicher genug, dass ihr euch kennenlernen und euch an eure Bestimmung gewöhnen könntet.“

„Tja, falsch gedacht“, sagte Taichi bissig.

„Wir können also immer noch nicht nachhause, ist es das, was Sie uns sagen wollen?“, fragte Jou mutlos.

„So kann man es ausdrücken. Auf dem Kontinent Server regen sich immer noch dunkle Mächte. Nicht nur der DigimonKaiser hat begonnen, dort ein Imperium aufzubauen. Auch andere dunkle Digimon streben nach der Macht. Da der DigimonKaiser nun aus dem Weg ist, haben die Meister der Dunkelheit vieles von seinem Gebiet erobert. Und die sieben Dämonenkönige sind im ganzen Land auf der Suche nach der Saat der Finsternis, um ihre eigenen Pläne durchzusetzen. Es gibt noch viel zu tun.“

Die DigiRitter ließen den Kopf hängen. Gennai merkte, wie müde sie waren.

„Doch wir werden ein andermal darüber sprechen. Ihr solltet zuallererst euren Partnern vorgestellt werden. Ich habe bereits ein Digimon geschickt, das euch abholen wird. Wir werden euch mit euren Digimon-Partnern zusammenbringen und euch auf Server alles Nötige erklären.“

„Können wir das überhaupt noch?“, fragte Miyako bedrückt. „Diese Welt retten, meine ich. Wir waren am Anfang dreizehn DigiRitter, aber übrig sind nur noch sechs.“

Gennai nickte. „Es wird nicht einfach, das gebe ich zu. Aber ich bin zuversichtlich, dass ihr es schaffen werdet.“

Das Ganze war zu viel für Mimi. Sie würde eine Weile brauchen, bis sie sich von diesem neuerlichen Schreck erholt hatte, dem Schreck, dass sie nun auch noch gegen dunkle Mächte und andere Digimon kämpfen musste und dass sie offenbar ein Digimon an ihrer Seite haben sollte … Sie dachte an Andromon und Leomon und Kuwagamon, die allesamt furchtbare Gestalten gewesen waren. Wenn ihr Partner sich als so ein gemeines Ding herausstellte, würde sie keinen Finger für diese dämliche Welt rühren.

„Warten Sie mal!“, rief plötzlich Jou. „Wir haben, als wir in diesen Telefonzellen waren, mit unseren Eltern telefoniert! Es klang, was wären sie in Gefahr. Wissen Sie etwas darüber?“

Gennais Tonlage wurde nachdenklich. „Ich weiß, dass auch in eurer Welt momentan großes Chaos herrscht“, sagte er. „Die Drahtzieher hinter Monokuma haben in eurer Welt großes Unheil gestiftet, so wie die dunklen Mächte es hier in der DigiWelt getan haben. Aber soweit ich das sagen kann, ist eure Welt bereits wieder auf dem Weg zur Besserung.“

Mimi wurde den Verdacht nicht los, dass sie sich auch daran erinnern müssten. Vielleicht hatte Monokuma dieses Wissen doch gelöscht und Gennai hütete sich einfach davor, es ihnen zu erzählen. Vielleicht, um sie nicht zu beunruhigen?

Die allgemeine Moral sank weiter. Sie sollten eine fremde Welt retten und hatten gar keine Ahnung, wie es um ihre eigene und um ihre Familien bestellt war …

„Es tut mir ehrlich leid, DigiRitter“, wiederholte Gennai, „aber wenn wir nichts gegen die Macht der Dunkelheit unternehmen, wird auch eure Welt davon zerstört werden. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die DigiWelt zu befreien. Danach erst könnt ihr wieder in eure Welt zurückkehren.“

Sie rangen lange mit sich, sie fluchten und bestürmten Gennai mit Fragen. Schließlich war es Taichi, der als Erstes einen Entschluss fasste, während bereits die Sonne unterging.

„Also schön“, sagte er grimmig. Mimi hatte ihn noch nie entschlossener gesehen. Sie konnte plötzlich nicht anders, als ihn zu bewundern. „Abgemacht, Gennai. Wir haben zwar nichts von alledem hier zugestimmt, aber wenn es nicht anders geht, dann retten wir diese verdammte Welt! Und dann sehen wir nach, was in unserer eigenen los ist.“

Nach und nach ließen sich schließlich auch die anderen überzeugen. Sie waren nur noch wenige, und sie hatten ihre Partner noch nicht getroffen. Sie wussten nicht, was auf sie zukam. Aber sie waren dazu bereit, die Legende der DigiRitter dennoch zu erfüllen.

Und so begann ein Abenteuer voller Freundschaft, Kämpfe und verzweifelter Hoffnung.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Willkommen bei DigiRonpa!
Wir haben also den ersten Mordfall. Im nächsten Kapitel starten die Ermittlungen. Hoffe, es war bisher interessant zu lesen :)
Das Mordopfer habe ich übrigens per Würfelwurf bestimmt (mit ein paar Einschränkungen, natürlich). Nicht, dass mir nachgesagt wird, ich könnte Sora nicht leiden oder so ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So viel also zu den Ermittlungen des ersten Mordfalls! Ich bin neugierig, was sich daraus schließen lässt ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Somit hätten wir den ersten Fall abgeschlossen. Zwei gibt es noch. Ich hoffe, die Auflösung war nachvollziehbar. Übrigens, sagt Bescheid, wenn die Kapitel zu lang sind; dann werde ich mich bemühen, sie kürzer zu gestalten bzw. aufzuteilen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und hier haben wir nach ein paar zwischenmenschlichen Szenen auch schon den zweiten Mord. Tut mir leid, Yamato-Fans. Aber vielleicht könnt ihr ihn ja noch rächen :D
Nach meinem Empfinden ist der zweite Fall übrigens einfacher als der erste. Aber ich kann mich natürlich täuschen^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein relativ kurzes Ermittlungskapitel, aber ich habe das Gefühl, trotzdem zu viel verraten zu haben. Dieses Mal ist es einfach, oder? ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo ... ich weiß zwar nicht, ob der Cliffhanger noch viel Sinn macht, aber ich wollte den Prozess noch mal kurz unterbrechen, sobald alle Hinweise endgültig auf dem Tisch liegen, damit ihr ggfs. noch eure Theorien verfeinern könnt. Die Auflösung möchte ich noch im Laufe dieser Woche hochladen, damit's nicht zu lange dauert. Hoffe, es hat euch soweit gefallen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und das war der zweite Fall! Ich gratuliere allen, die richtig getippt haben :) Der nächste Fall darf dann wieder etwas komplizierter werden, ja? ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eine merkwürdige Person ist aufgetaucht - und ich lasse euch nun genauso im Dunkeln stehen wie die Charaktere ;) Der Titel ist übrigens eine Anspielung auf die Episode, in der sie in der Serie auf Devimon stoßen. Fand ich ganz passend^^
Das nächste Kapitel bekommt wieder Überlänge. Es wird erst nach den Feiertagen online kommen, also wünsche ich euch schon mal frohe Weihnachten :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Rekordlänge! Und wir können mit dem dritten und letzten Fall starten.
Bei Interesse werde ich übrigens zu Gundham ganz am Ende noch eine kurze Erklärung anbringen; alles, was für die Story/den Fall relevant ist, findet sich aber in den Kapiteln ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Beginnen wir nun also mit dem letzten Klassenprozess. Ich bin wieder einmal gespannt auf eure Theorien :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Puh ... das Kapitel war anstrengend. Ich hoffe, es war nicht zu viel Blabla^^ Nun liegt jedenfalls auch der letzte Hinweis auf dem Tisch :) Und ich weiß nicht, wie offensichtlich es jetzt ist xD
Ein Kapitel gibt es noch, dann kommt noch ein Epilog. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... so, hier habt ihr den Mörder :) Hoffe, man erkennt spätestens jetzt tatsächlich seine veränderte Ausdrucksweise xD
Hoffe, es hat euch gefallen. Nun fehlt nur noch der Epilog, für den ich mir hoffentlich nicht wieder so viel Zeit lasse. Bis dann! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... und so endet DigiRonpa! Ich hoffe, dieses kleine Projekt hat euch gefallen. Danke noch mal an alle, die mich an ihren Gedanken und Vermutungen haben teilhaben lassen. Es war schön zu sehen, dass sich jemand auf die Rätsel eingelassen hat, die ich gestellt habe :)
Da ich nicht zu tief in die Hintergründe von Danganronpa eintauchen wollte, werde ich für die Interessierten hier am Schluss ein paar Informationen darüber (auch über Gundham) geben. Es verdeutlicht auch, weswegen ich finde, dass das Konzept so gut mit Digimon harmoniert. Gennai hat das Wichtigste schon erwähnt; etwas ausführlicher findet ihr es hierunter. Achtung, der Text unter der Linie beinhaltet Spoiler für die ersten beiden Danganronpa-Spiele bzw. den ersten Anime.
Ansonsten verabschiede ich mich mal. Vielleicht sehen wir uns ja bei der nächsten FF. Es krebsen da noch ein paar halbfertige Digimon-FFs auf meiner Festplatte herum, darunter zB eine Story, die nach dem 02-Epilog spielt, ein Krimi und ein Conzept-Crossover wie dieses hier, diesmal mit Horror-Thematik. Ich weiß nicht, ob je etwas Hochladbares daraus wird, aber mal sehen. Ich kündige es hier deswegen an, um mir selbst ein wenig Druck zu machen, weiterzuschreiben xD Wie auch immer - danke noch mal für euer Interesse hier, und man liest sich.
Urr


---------------------- SPOILER für Danganronpa ----------------------

Die finale Auflösung des ersten Spiels (und Animes) offenbart, dass der Mastermind hinter Monokuma die Welt in Chaos und Verzweiflung gestürzt hat. Man kann es sich als eine Art apokalyptische, anarchistische Massenhysterie vorstellen. Die Hauptfiguren, die in Monokumas Mordfallspiel verwickelt wurden, waren Schüler der Hope's Peak und, wie die DigiRitter hier, Symbole der Hoffnung für die Welt, deren gegenseitiges Intrigieren und Morden auf der ganzen Welt ausgestrahlt wurde, um die allgemeine Hoffnungslosigkeit zu unterstreichen. Einige von ihnen schafften es, zu entkommen, und schlossen sich einer Organisation an, die den Wahnsinn in der Welt bekämpfte.
Diese Organisation konnte irgendwann die Rädelsführer der Gegner, quasi die wichtigsten Untergebenen des Masterminds, unschädlich machen. Diese Rädelsführer (darunter Gundham) waren früher ebenfalls Hope's Peak-Schüler, deren Verstand vom Mastermind verdreht wurde. Die Überlebenden des ersten Spiels versuchten sie zu retten. Sie löschten ihre Erinnerungen und steckten sie in eine virtuelle Realität, deren Setting eine unbewohnte Insel war(!). Dort sollten sie friedlich Zeit miteinander verbringen und quasi ihre Menschlichkeit wiederentdecken. Wie Gennai erzählt hat, schlich sich ein digitaler Monokuma wie ein Computervirus in die Simulation und veranstaltete das nächste Mordfallspiel, wurde am Ende aber aufgehalten.
Hier setzt DigiRonpa an. Monokuma entgeht seiner Löschung und gelangt, weil er ja ein Datenrest in einer Computersimulation ist, in die DigiWelt, wo er so weitermacht wie bisher. Er fängt die DigiRitter auf ihrer Mission ab und manipuliert die File-Insel. In der Realen Welt herrscht zu dieser Zeit das Chaos, das der Mastermind hinterlassen hat, aber die Organisation hat es bereits im Griff. So können sich die DigiRitter mehr oder weniger auf ihre Aufgabe konzentrieren ;)
Eine Kopie von Gundhams Daten ist, wie Monokuma sagt, zufällig mit ihm in die DigiWelt gekommen. Ich habe ihn eingebaut, weil sein einzigartiger Charakter perfekt in ein Gut-vs.-Böse-Szenario passt. Gundham lebt nämlich in seiner eigenen Welt, schwingt dramatische Reden, bezeichnet sich selbst stets als einen bösen Overlord und verhält sich allgemein wie der Bösewicht einer Kinderserie. Viele seiner Anwandlungen haben allerdings auch reale Bezüge. So bezeichnet er sich als Bestienzähmer, während er in Wahrheit Haustiere züchtet. Natürlich bringt es sein Image als Dämonenlord mit sich, dass er auf alle Fragen der DigiRitter eine dramatische Antwort hat, obwohl er keine Ahnung von der DigiWelt, der Feuerwand und dergleichen hat. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (56)
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Von:  NatalieMotomiya
2019-02-23T10:51:16+00:00 23.02.2019 11:51
Wow einfach nur wow. 😍
Ich bin echt begeistert von deiner FF.
Wirklich spannende Geschichte. Bei jedem Kapital habe ich mitgefiebert und mitgerätselt wer denn der Mörder ist.
Ich kann nur sagen wunderschöne, spannende Geschichte. Jetzt bin ich nur traurig dass ich schon fertig bin mit lesen ;(
Ich hoffe auf weitere tolle Geschichten von dir!
Liebe Grüße
Antwort von:  UrrSharrador
25.02.2019 15:32
Freut mich, wenn sie dir gefallen hat :)
Von:  EL-CK
2019-02-17T19:49:23+00:00 17.02.2019 20:49
Ein passender Epilog für die FF... ein Teil von mir ist immer noch - nennen wir's mal empört - darüber das ausgerechnet Wallace noch unter den Überlebenden ist, andererseits wird jeder Digiritter dringend gebraucht....

ich freu mich (wie immer) jetzt schon auf deine neuen (Digimon-)Projekte ;)
Antwort von:  UrrSharrador
18.02.2019 16:13
Ein abschließendes Dankeschön hier ;) Dabei hat Wallace die ganze FF über nur sein Bestes gegeben :D
Antwort von:  EL-CK
18.02.2019 17:14
ich weiß, aber dennoch... meine Abneigung liegt auch eher am Original-Wallace
Von:  EL-CK
2019-02-08T22:06:09+00:00 08.02.2019 23:06
Gut....ich lag total falsch... Dachte (vll auch hoffte 😉) es wäre Wallace gewesen - wie schon geschrieben hab ich ihn als Chara noch nie leiden können - insbesondere im Original-Anime, deine Versionen sind zwar besser aber dennoch...

Jetzt geh ich nochmal zurück und lese mir Daisuke Veränderung durch 😇 ....
Antwort von:  UrrSharrador
17.02.2019 12:11
Danke für deinen Kommi! Ach ja ... da war ja was :D
Von:  RinRainbow
2019-01-29T20:53:48+00:00 29.01.2019 21:53
Guten Abend =)
Schade das Gundham schon wieder weg ist..ich finde du hast ihn wirklich unglaublich gut dargestellt, eins zu eins wie im Spiel, großes Kompliment! Besonders sein Gespräch mit Kari war irgendwie..süß ^^
Aber naja, es geht ja um die Digritter und nicht um die Danganronpa Charakter!
Das Verschwinden von Koushiros Laptop ist wirklich seltsam. Ich hab keine Ahnung wer ihn sich "geliehen" haben sollte und - vor allem - wo derjenige den Laptop versteckt hatte...

Und dann ein Doppelmord. Eigentlich nicht überraschend wenn man die Spiele gespielt hat :p
Tatsächlich spiele ich im Moment - rein zufällig xD - Danganronpa 2 und bin grade beim passendem Class Trial.
Ob mir das hier bei der Aufklärung hilf? Naja... ich versuch es einfach mal!

Die Therorie von hayden mit Ken finde ich wirklich interessant!
Wobei ich nicht denke, dass Ken wirklich direkt etwas mit den Morden zu tun hat. ABER!
Es wäre ja möglich, dass es mit der Saat der Finsternis zusammenhängt. Koushiro hatte ja erwähnt das Ken infiziert war, also wäre es doch theoretisch möglich, dass das auch bei einem der anderen Digirittern der Fall ist.
Vielleicht hat auch Ken, bevor er gestorben ist, jemanden mit der Saat infiziert.
Und wenn das wirklich der Fall wäre, wäre die infizierte Person dadurch sicherlich schlau genug geworden um Monokumas Code zu knacken. Wäre denkbar.

Hier bietet sich ja Daisuke wirklich als Verdächtiger an. Schließlich hat er die meiste Zeit mit Ken verbracht.
Also hat Daisuke den Laptop gestohlen, den Code geknackt, Leomon freigelassen und dann Koushiro getötet damit es so aussieht als wäre er der Mörder.

Kari hat den Mord also durchschaut.
Verhält sich wirklich jemand so offensichtlich anders als sonst bei diesem Klassenprozess? Beim ersten Mal lesen ist mir nichts aufgefallen. Und liest man das Kapitel mit diesem Gedanken im Hinterkopf nochmal verhält sich plötzlich jeder verdächtig ^^
Tai ist ziemlich emotional. Joe recht ruhig. Daisuke bringt sich dieses Mal ziemlich viel mit ein. Aber was sagt das schon?
Da fällt mir ein, Tai und Mimi waren die Einzigen die zu Zweit auf die Suche nach Iori gegangen sind. Hat das irgendwas zu bedeuten...?

Ein wirklich schwieriger Fall! Aber ich bleib dabei, es war Daisuke!
Oder Tai. Von mir aus auch Mimi xD
Weil es nicht Joe sein darf(Andererseits würde er sich als ruhiger, vernünftiger Charakter gerade zu dafür anbieten. Wäre zumindest überraschend. Und wenn er mit der Saat der Finsternis infiziert wäre könnte er ja auch nichts dafür...)
Und weil es nicht Wallace sein darf, den mag ich auch :p

Ich freue mich schon auf die Auflösung!
Liebe Grüße x)
Antwort von:  UrrSharrador
08.02.2019 10:48
Hi!
Haha, danke, hab mir bei seinen Anwandlungen besonders Mühe gegeben^^ Aber er sollte den anderen nicht die Show stehlen, darum hatte er nur einen kurzen Auftritt.
Das sind auch einige schlüssige Gedankengänge :) Die Auflösung kommt (hoffentlich ^^') bald.
lg

PS: Ich wollte übrigens wirklich mal eine FF schreiben, in der Joe der Bösewicht ist xD Bin aber nicht weit gekommen.
Von:  hayden
2019-01-28T07:26:00+00:00 28.01.2019 08:26
Hallöle :)

Definitiv ein sehr interessantes Kapitel, auch wenn ich mich mit dem letzten Hinweis etwas schwer tue, was aber ehr meinem miesen Gedächtnis geschuldet ist ^^"

Erstmal um auf deine Frage unter meinem letzten Kommentar zurück zukommen:
Ich fand/find meine Ken-Theorie eigentlich recht naheliegend und auch dieses Kapitel hat mich da in meiner Vermutung nochmal gestärkt. Aber wahrscheinlich interpretiere ich da einfach zu viel hinein :D
Jedenfalls bin ich mir bei Ken sicher, das es für ihn ein Kinderspiel gewesen wäre den Code zu knacken, immerhin ist er mit der Saat der Finsternis infiziert. Und außerdem kennt er sich mit der Digiwelt aus. Das mit der Finsternis kam ja in Bezug auf Leomon auch in diesem Kapitel zur Sprache, vlt hätte also Ken Leomon beherrschen können? Außerdem weist Monokuma sie ja auch nochmal daraufhin, dass sie auch Tote beschuldigen können. Und vlt ist Ken ja gar nicht tot, sondern konnte seine Daten irgendwie erhalten und die Digiwelt immer noch manipulieren?
Allerdings glaube ich selbst nicht ganz an diese Theorie. Zum einen hatte ich bisher immer das Gefühl, dass wenn jemand bei dir tot ist auch tot bleibt :D Und zum anderen spricht der Cliffhanger hier auch dagegen, immerhin spricht Hikari da nur von diesem letzten Prozess und wie sich jemand da verhalten hat und Ken kann sich ja gar nicht verhalten :D
So viel also dazu ...

Ich würde also dabei bleiben das es Wallace war, auch wenn ich deinen letzten Hinweis nicht wirklich deuten kann. Ich hatte nicht wirklich den Eindruck, dass sich jemand von ihnen anders verhalten hatte. Oder zumindest nicht auffallend.
Wallace hatte halt ein wenig die Führung übernommen, doch einer musste das ja machen, jetzt wo Izzy nicht mehr ist :(

Ich sag also Wallace wars! :D
Antwort von:  UrrSharrador
08.02.2019 10:40
Hi, danke für deinen Kommi mal wieder :)
Mhm eine nachvollziehbare Theorie. Aber ja, die Toten bleiben hier tot, so viel kann ich verraten^^
Mal sehen, ob du recht hast ;) Ich bin schon wieder zu spät dran, aber das Kapitel kommt hoffentlich heute oder morgen online ...
Von:  EL-CK
2019-01-27T19:13:28+00:00 27.01.2019 20:13
So mein Gefühl - was den Täter angeht - hat sich (seit dem letzten Kapi) nicht geändert... mal schon ob es sich bewahrheitet...
und wenn ich richtig liege, dann freu ich mich gleich doppelt - weil ich recht hatte und weil ich meinen "Hauptverdächtigen" noch nie wirklich leiden konnte (auch bzw erst recht im Original-Anime) XD ...

btw: Nee war - meiner Meinung nach - nich zu viel "Blabla"
Antwort von:  UrrSharrador
08.02.2019 10:38
Hi! Dann bin ich schon mal neugierig, ob du richtig liegst^^ (Und ich überleg jz gerade selber, wen du nicht leiden kannst. Joe verdächtigst du also schon mal nicht xD)
Ok, dann bin ich froh^^
Von:  _Mika_
2019-01-19T06:33:11+00:00 19.01.2019 07:33
Also in diesem Fall denke das wallace was damit zu tun. Ich denke das er genug Knie how hat um sich mit it berichen auszukennen. Allerdings glaube ich eher das er mit koushiro zusammen das Programm gehackt hat, aber im Endeffekt wallace die versiegelung gebrochen hat. (entgegen koushiro Willen oder Wissen) allerdings wird vermutlich noch eine weitere Person mit im Spiel sein..
Antwort von:  UrrSharrador
24.01.2019 21:08
Danke für deinen Kommentar :) Der arme Wallace hat's ja echt nicht leicht hier xD
Von:  NamEkianer92
2019-01-18T14:37:54+00:00 18.01.2019 15:37
Heyho ~

Meiner Vermutung nach ist Wallace der verdächtigste. Basierend auf dem Film oder auch New Reign, wo er der Wissens-Armee angehört, lässt sich vermuten, dass er neben Izzy als einziger das knowhow besitzt, um die Versiegelung zu knacken.

Bin gespannt wie es weiter geht ^^
Antwort von:  UrrSharrador
24.01.2019 21:07
Danke für deinen Kommi! Na mal sehen, ob Wallace genug drauf hätte, um den Code zu knacken ;)
Von:  hayden
2019-01-17T00:35:11+00:00 17.01.2019 01:35
Kann es sein das Wallace der einzige ist, den Hikari nicht namentlich erwähnt hat? Also während ihrem kompu Bericht nicht?
Ich glaub auch er hat damals aus der Fabrik ein Messer nitgeu.

Mh also ich bleib dabei.
Wallace hat den Code geknackt und Leomon freigelassen, wodurch er auch für Codys Tod verantwortlich ist. Dann hat er Izzy getötet und es so aussehen lassen, als hätte Izzy den Code geknackt, was alle auch glauben, da niemand wirklich etwas über Wallace weiß.
Und an die Felswand hat er Schriftzeichen mit Beeren geschrieben? Okay der letzte Teil passt jetzt nicht so ganz :D

Ich bin mal gespannt was bei der Auflösung rumkommt :D
Antwort von:  hayden
17.01.2019 01:37
Oder aber Ken ist von den Toten.auferstanden. Ich denke mal theu wäre das möglich, aber praktisch denke ich ehr nicht das es so war :D
Antwort von:  UrrSharrador
24.01.2019 21:05
Danke für deine Kommis! Ist auf jeden Fall eine durchdachte Theorie - mal sehen, ob du recht hast ;)
Darf ich fragen, wie du ausgerechnet auf Ken kommst?
Von:  hayden
2019-01-17T00:17:07+00:00 17.01.2019 01:17
Ich melde mich auch mal wieder :D

Verdächtigen würde ich jetzt erstmal Izzy, Wallace und Yolei. Eventuell noch Iori, wobei ich mir bei ihm und Yolei am unsichersten bin. Und immerhin ist Iori jetzt auch tot, obwohl ich glaub das Leomon ihn getötet hat.

Mein Hauptverdächtiger ist Wallace. Stille Wasser sind tief und so wirklich viel wissen wir ja nicht über ihn. Und wäre es Izzy gewesen, würde er ja wohl noch leben. Außer jemand hat rausbekommen das er es war und ihn dann umgebracht ...

Aber das Klassentribunal wurde einberufenen nachdem Iori gefunden wurde, also hat doch einer der anderen Iori getötet?

Ehrlich gesagt bin ich nach all diesen Gedanken jetzt ziemlich verwirrt ^^"

Ich halte mal das wichtigste fest und sage Wallace wars. Er hat den Code geknackt und Izzy getötet und indirekt auch Iori!


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