DigiRonpa von UrrSharrador (Mut. Freundschaft. Liebe. Wissen. Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Licht. Hoffnung ... Verzweiflung.) ================================================================================ Fall 03: Klassenprozess II -------------------------- „Das … war jetzt gerade ein bisschen schnell“, meinte Miyako und sah nervös zu Hikari. „Oder hab ich irgendwas nicht mitbekommen?“ „Daisuke? Es ist Daisuke?“, fragte Taichi. „Oder was genau willst du uns sagen?“ Daisuke, dem Hikari unverwandt in die Augen starrte, starrte ebenso unverwandt zurück. „Wenn du mich nicht gerade zufällig so ansiehst, sondern damit ausdrücken willst, dass du mich verdächtigst, dann hast du besser einen guten Grund dafür“, sagte er. Sie nickte – langsam, als wöge ihr Kopf plötzlich Tonnen. „Den habe ich. Du hast den Code für Leomons Kristallgefängnis geknackt und Koushiro getötet. Ist es nicht so?“ „Was?“, brach es aus Wallace heraus, als würde ein Luftballon platzen. Pures Unverständnis stand in seinem Gesicht – wie auch in denen der anderen. Und trotzdem glaubte Hikari zu sehen, dass Daisuke verstand. „Jetzt machst du dich lächerlich“, sagte Taichi. „Ich meine, Daisuke ist doch …“ „Strohdumm?“, fragte Hikari mit funkelnden Augen. „Ich denke eher nicht.“ „Ich lass euch das mal durchgehen“, knurrte Daisuke. „Aber im Ernst – wir haben doch längst festgestellt, dass diese Verschlüsselung verdammt kompliziert ist und dass nicht einmal Koushiro, der am meisten Erfahrung in solchen Sachen hat, sie hätte knacken können.“ „Stimmt. Wallace und Miyako haben das auch bestätigt“, sagte Hikari. „Und trotzdem hat irgendjemand Leomons Gefängnis geöffnet.“ „Ja, weil Koushiro vermutlich ein bisschen übertrieben hat“, erwiderte Daisuke. „Das scheint mir auch am logischsten“, meinte Jou zaghaft. „Vielleicht war es eine Herausforderung für ihn, aber Koushiro konnte sich ja richtig in etwas hinein tigern. Wahrscheinlich hat er es irgendwie geschafft, und …“ „Nein, ich bleibe dabei. Es war Daisuke.“ Oder? Machte sie hier gerade einen fatalen Fehler? Interpretierte sie zu viel hinein? Das Herz pochte ihr bis zum Hals. „Daisuke … du könntest so ein Programm ebenfalls durchschauen, stimmt‘s? Nicht nur das, wahrscheinlich kennst du sogar die Bedeutung hinter den Zeichen auf der Felswand, die Koushiro gefunden hat, oder?“ „Wie bitte?“, entfuhr es Taichi. „Schwesterlein, langsam wird es lächerlich.“ „Ich bin überzeugt, man kann auch diese Zeichen entschlüsseln. Wenn man zum Beispiel die Referenzdaten hat, die Koushiro garantiert auf seinem Laptop verwahrt hat. Er hat doch sicherlich Fotos und alle möglichen Vermutungen drauf abgespeichert, in denen es um die Digimon-Schrift geht. Wenn jemand Talentiertes sich die zu Gemüte führt, könnte er draufkommen. Vielleicht wusste Koushiro es auch schon, aber das ist gar nicht der springende Punkt. Ich bin mir sicher, die Schriftzeichen an der Wand sollten Koushiro nur ablenken. Jemand hat sie dorthin gemalt, jemand, der immerhin wusste, welche Zeichen es gibt und wie sie aussehen.“ „Was hat das jetzt alles mit den Zeichen zu tun? Mir schwirrt der Kopf“, stöhnte Taichi. „Mir auch“, murmelte Mimi. „Es war genau, wie wir zuletzt vermutet haben“, sagte Hikari „Koushiro war nicht das erste Opfer. Jemand hatte seinen Laptop geklaut und die Versiegelung geöffnet, und Leomon kam frei. Dann, tagsüber, als wir alle auf der Suche nach Essen und neuen gangbaren Wegen waren, hat Leomon Iori erwischt. Wir haben nach ihm gesucht – und derjenige, der Leomon befreit hat, hat beschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen und Koushiro zu töten. Er hat sich in seine Nähe geschlichen und die Zeichen auf die Felswand geschrieben. Ich kann mir vorstellen, dass er dachte, Koushiro würde sofort daran interessiert sein. Und so war es vermutlich auch. Der Täter hat getan, als würde er zufällig auf Koushiro treffen und als müsste er ihm etwas zeigen. Vermutlich war Koushiro sofort Feuer und Flamme für die Felswand – aber selbst wenn er sie sich nur kurz angesehen hat, weil wir ja eigentlich Iori hatten suchen wollen, dürfte es dem Täter gereicht haben. Er hat ihm von hinten mit einem Küchenmesser die Kehle aufgeschnitten. Dabei ist Koushiros Blut auf die Felswand mit den Zeichen gespritzt, dann ist er zusammengebrochen. Dann hat der Täter den Laptop an sich genommen und das Programm noch einmal ausgeführt. Es hat nichts mehr getan, nur Berechnungen angestellt und dann den Text auf den Bildschirm geschrieben, dass die Versiegelung nun offen ist. Das war das Ziel des Täters. Wir sollten glauben, dass Koushiro Leomon kurz vor seinem Tod befreit hat – alles nur, um uns in die Irre zu führen, um uns glauben zu machen, Koushiro wäre der Täter, der unglücklicherweise selbst von Leomon erwischt wurde. Und fast wären wir dem Täter auf den Leim gegangen.“ „So weit stimme ich ja mit dir überein“, sagte Daisuke finster. „Aber kannst du mir mal verraten, was ich damit zu tun habe? Es könnte sich ja wohl jeder an Koushiro herangeschlichen, ihm die Kehle aufgeschlitzt und seinen Laptop vor ihm aufgestellt haben, oder?“ „Eben nicht“, widersprach Hikari. „Nur derjenige, der es tatsächlich geschafft hätte, die Versiegelung zu knacken und Leomon zu befreien. Kein anderer hätte etwas von dieser Aktion gehabt. Würde jemand einfach nur die Gelegenheit nutzen, um während der Suche nach Iori einen Mord zu begehen, hätte er sich nicht die Mühe machen müssen, die Sache mit der Versiegelung anzudeuten. Mehr noch, er hätte nicht mal gewusst, dass jemand auf Koushiros Laptop ein Programm zum Öffnen des Kristalls geschrieben hat – geschweige denn, wo es zu finden wäre! Miyako hat uns ja gesagt, dass der Täter es ziemlich gut im Speicher versteckt hat.“ „Da fällt mir noch etwas dazu ein“, sagte Miyako. „Koushiro hat seinen Laptop ja garantiert mit einem Passwort geschützt. Er ist sicher keiner dieser leichtsinnigen Typen, die einfach kein Passwort verwenden.“ „Das ist auch kein Problem“, erklärte Hikari. „Eher noch ein Beweis. Wenn jemand es schafft, Monokumas Verschlüsselung zu knacken, dann kann er sich sicher auch ganz leicht in ein normales Benutzerkonto auf einem normalen Laptop hacken.“ „Sperrt sich so was nicht nach ein paar falschen Versuchen?“, fragte Mimi. „Üblicherweise nicht“, sagte Miyako. „Bei Koushiros Betriebssystem kenne ich auch keine Option, mit der man das einstellen könnte. Vielleich interessiert es euch auch noch, dass der Täter offenbar den Sperrbildschirm und den automatischen Energiesparmodus deaktiviert hat, damit der Bildschirm mit dem Text drauf auch wirklich zu sehen ist, wenn wir ihn finden … Oder es ist vielleicht auch nebensächlich“, fügte Miyako kleinlaut hinzu, als sie sah, dass sich Hikari und Daisuke immer noch ein konzentriertes Starrduell lieferten. Die Zeit für neue Hinweise schien vorbei. Es ging nur noch um den Showdown. „Ich verstehe deine Argumente“, sagte Daisuke. „Ja, ich stimme dir sogar vollkommen zu. Das ergibt alles Sinn. Aber vielleicht erklärst du mir endlich, warum gerade ich es geschafft haben soll, nicht nur Koushiros Passwort, sondern auch die Verschlüsselung zu Leomons Gefängnis zu knacken?“ „Ich denke auch, dass das ein ziemlich unbegründeter Verdacht ist“, sagte Jou und rückte seine Brille zurecht. „Wir sollten uns nicht grundlos verdächtigen. Das erzeugt nur mehr Misstrauen und Feindseligkeit.“ „Es ist kein grundloser Verdacht“, sagte Hikari hart. „Klar ist es das!“, rief Taichi. Obwohl er und Daisuke sich anfangs nicht sonderlich gut verstanden hatten, tickten sie doch ähnlich. Ihr Bruder schien ihn doch sympathisch zu finden, wenn er ihn nun verteidigte. „Wenn Koushiro die Verschlüsselung nicht durchschauen konnte und Miyako auch nicht … Man müsste schon eine wahre Intelligenzbestie sein, sag ich mal!“ „Gut gesagt“, erwiderte Hikari. „Intelligenzbestie trifft es genau.“ „Du meinst, Daisuke ist eine Intelligenzbestie?“, schaltete sich Wallace ein. „Sei mir jetzt nicht böse, Daisuke, aber vom Intelligenzquotienten her halte ich dich eher für … unter dem Durchschnitt der hier Versammelten.“ „Sicher?“, fragte Hikari lauernd. „Damit deine Theorie stimmt“, sagte Mimi, „hätte Daisuke uns all die Zeit über was vorspielen müssen. Er hätte sich zwei Wochen lang dümmer stellen müssen, als er ist … Das schafft kein Mensch.“ „Nicht zwei Wochen“, widersprach Hikari und beobachtete genau Daisukes Reaktion. „Ich glaube, es waren nur ein paar Tage, wenn überhaupt. Es ist auch niemandem aufgefallen – außer jetzt, im Klassenprozess. Da ist es mir merkwürdig vorgekommen.“ Daisuke biss die Zähne zusammen. „Und was?“, fragte Miyako. Sie schien nicht zu wissen, für wen sie Partei ergreifen sollte. „Genau das, was Mimi und Wallace gesagt haben. Seit wir ihn kennen, hat Daisuke sein Bestes gegeben, keine Frage. Aber seine Argumente in den Klassenprozessen waren immer ein bisschen … naiv.“ Bekomm jetzt bloß kein schlechtes Gewissen, wenn du so über ihn redest, schalt sie sich. Er hat Koushiro und Iori auf dem Gewissen! „Er hat selten etwas Brauchbares zu den Diskussionen beigesteuert, und auch sonst war er eher einfach gestrickt. Und dazu ist mir heute ein krasser Unterschied aufgefallen.“ „Ich versteh’s immer noch nicht“, murmelte Taichi. „Habt ihr ihm nicht zugehört? Seine Argumente heute, in diesem Prozess, sind viel pointierter. Seine Aussagen sind klarer, sein Satzbau ist komplexer. Er hat sich viel mehr eingebracht, viel sinnvollere Sachen gesagt, reflektiertere Beobachtungen angestellt, und er hat neue Gedankengänge viel schneller begriffen als früher.“ „Wie nett von dir, dass du mich anfangs für einen solchen Nullchecker gehalten hast“, sagte Daisuke mit zäher Stimme. „Ja. Tut mir leid. Das ist mein ehrlicher Eindruck“, sagte sie schnippisch. „Na schön. Da kann ich nichts dran ändern. Und sonst? Hast du außer deinem Eindruck von mir noch was vorzubringen? Sonst können wir diese Farce beenden und endlich nach dem wirklichen Täter suchen.“ „Ja, ich habe noch etwas“, beharrte sie. „Der Gedanke, dass du plötzlich … klüger scheinst als vorher, hat mich überlegen lassen, wo ich so etwas schon mal gehört habe. Und mir ist tatsächlich etwas eingefallen.“ „Da bin ich ja mal gespannt.“ „Es hat während unseres Abenteuers ein paar … Sachverhalte gegeben, die mit Daisukes Veränderung zu tun haben könnten“, sagte Hikari. Sie war gespannt, wann die anderen darauf kommen würden, wovon sie sprach. Momentan blickte sie noch in ratlose Gesichter, aber immerhin Wallace und Miyako schienen heftig nachzugrübeln. „Ich gebe euch einen Hinweis“, fuhr sie fort. „Es hätte vermutlich noch jemanden gegeben, der Monokumas Verschlüsselung hätte knacken können. Zumindest, wenn man das glaubt, was er selbst über sich gesagt hat.“ „Redest du von Ken?“, fragte Miyako. „Erraten“, sagte Hikari und sah zu, wie Daisukes Maske bröckelte. Für einen Moment sah er wirklich … schockiert aus. Ertappt. „Ken hat von sich behauptet, um so vieles schlauer zu sein als wir, dass er Dinge durchschauen könne, die unseren Horizont übersteigen“, sagte Hikari. „Das war kurz vor seiner Hinrichtung, und wir haben es für Prahlerei gehalten. Auf der anderen Seite hat er in seinen letzten Momenten bewiesen, dass er immerhin mehr über die DigiWelt wusste als wir. Später haben wir herausgefunden, dass an seinen Worten wahrscheinlich doch etwas dran war. In diesem Labyrinth, wenn ihr euch erinnert. Da hat Koushiro unter anderem Daten über die sogenannte Saat der Finsternis heruntergeladen. Die Saat ist eine Art Programm, das auch einen Menschen befallen kann. Es macht ihn klüger und sportlicher – und offenbar auch gewissenloser und brutaler. Ken hat einen hohen Preis für seine Intelligenz bezahlt, auch wenn er sich dessen vielleicht gar nicht bewusst war. Er ist ein eiskalter Tyrann und Mörder geworden, und deshalb hat er Sora umgebracht.“ Sie musste sich bei der Erinnerung an seinen teilnahmslosen Gesichtsausdruck und sein irres Lachen schütteln. „Und wenn man den Informationen aus dem Labyrinth Glauben schenken kann, lässt sich die Saat der Finsternis auch von einem Menschen auf einen anderen übertragen, und sie braucht einige Tage, bis sie ihre Wirkung entfaltet. Und dazu gehört dann eben auch eine drastische Steigerung der Intelligenz. Jemand, dessen IQ so von dieser Saat gepusht wird, könnte es schaffen, Monokumas Versiegelungscode zu knacken und Leomon zu befreien!“ Der Raum schwieg, und Hikari wusste gar nicht, ob sie verblüfft waren oder ihre Gedankengänge für absoluten Humbug hielten. Daisuke kratzte sich am Kinn. „Deine Theorie klingt vielleicht für dich glaubhaft, Hikari, aber sie ist voller Schwachstellen. Ken hat uns offenbart, dass er der DigimonKaiser ist, und er hat damit angegeben, dass er unendlich mal klüger ist als wir, ja. Aber gleich darauf hat Monokuma ihn hingerichtet. Wie hätte sich jemand mit dieser Saat infizieren können, wo Ken doch vor unseren Augen in Stücke gesprengt wurde? Wie könnte man sich überhaupt mit so etwas infizieren?“ „Darauf hatten die Schriften in dem Labyrinth auch eine Antwort“, erinnerte sie. „Die Saat besteht nur aus Daten – so wie alles hier. Man kann sie ganz einfach scannen und jemand anderem in den Körper pflanzen.“ „Und wie?“ „Mit Monokumas Scanner, zum Beispiel.“ Sie wandte sich zu dem schwarzweißen Bären auf seinem Devimon-Podest um. „Er hat ihn benutzt, als er diesen Gundham gelöscht hat, erinnert ihr euch? Und dann hat er den Scanner einfach in die Gruft geworfen. Wenn ich mich nicht irre, hatte er drei Funktionen: Scannen, Schreiben und Löschen. Mit Letzterem hat Monokuma Gundhams Datenreste vernichtet, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die anderen zwei Funktionen ebenfalls mit Daten funktionieren.“ „Verstehe.“ Wallace lachte kurz und hart auf. „Und Monokuma hat uns sogar – im selben Raum – die Leichen unserer Freunde aufgebahrt. So wiederhergestellt, als würden sie nur schlafen. Ich habe es nicht ausprobiert, aber ich glaube, die Särge hatten einfache Scharniere. Man hätte ganz einfach den Deckel herabheben können und …“ Er ließ die anderen den Satz selbst zu Ende denken. „Heilige …“, entfuhr es Taichi. „Daisuke hat Kens Sarg geöffnet?“ „Ich habe sogar die Vermutung, dass das Monokumas eigentlicher Plan war“, sagte Hikari bitter. „Er hat unsere Freunde wiederhergestellt und vor unseren Augen mit diesem Scanner herumgespielt, als wollte er, dass genau das geschieht: dass jemand die Saat von Ken kopieren und sich selbst einpflanzen würde. Ich bin mir sicher, dass es auch bei einer Leiche funktioniert. Und in den Daten des Labyrinths stand sogar genau, wie man es machen muss: von Nacken zu Nacken.“ „Jetzt mal halblang“, wehrte Daisuke ab. „Ich applaudiere dir für deine Scharfsinnigkeit, wirklich. Aber alles, was ich aus dieser Beweiskette heraushöre, ist, dass es jeder von uns getan haben könnte. Auch du oder Taichi oder unser blonder Schönling – wir alle hätten Kens letzte Ruhe stören und die Saat auf uns selbst übertragen können, um schlauer zu werden und Leomons Kristall zu durchbrechen.“ „Vielleicht“, schränkte Hikari ein, „aber das stärkste Motiv hattest du, Daisuke.“ Er verschränkte die Arme. „Ach, hatte ich das?“ „Du warst von uns allen am verzweifeltsten, als Ken sich offenbart hat. Ihr erinnert euch sicher alle daran, oder? Daisuke hat wiederholt versucht, Ken zu verstehen. Er hat ihn angefleht, sich ihm zu erklären. Und alles, was Ken zu dir gesagt hat, Daisuke, war, dass du ihn nie verstehen könntest, weil du seinen gedanklichen Horizont nicht erreichen würdest. Ich habe gesehen, wie dich das gekränkt hat und wie es dich hinterher beschäftigt hat. Auch im Labyrinth wolltest du mehr als alle anderen etwas über Kens Beweggründe erfahren; du wolltest sogar Soras Mordvideo ansehen, so sehr warst du auf ihn fixiert. Und dann hat sich dir plötzlich ein Weg eröffnet, wie du Kens Level erreichen konntest. Was gäbe es Besseres, als eins zu eins nachempfinden zu können, was in Ken vorgegangen ist? Ich bin mir sicher, du wolltest niemanden töten“, sagte sie milde. „Du wolltest einfach nur deinen Freund verstehen.“ Alle klebten an ihren Lippen. Hikari runzelte finster die Stirn. „Aber die Saat hat dich korrumpiert, Daisuke, genau wie Ken. Und du bist wirklich genau wie er geworden: Du hast verstanden, was er verstanden hat, und du hast jemanden getötet mit demselben teuflischen Plan, damit durchzukommen und uns andere auch sterben zu lassen.“ Die Worte schlugen ein wie eine Bombe, obwohl sie wohl jeder von ihnen längst erwartet hatte. Mimi war die Erste, die die Sprache wiederfand. „Wenn ich mir das so anhöre … Dann scheint es irgendwie vorherbestimmt zu sein, dass man andere umbringt, sobald man eine gewisse Intelligenz erreicht hat.“ „Das glaube ich nicht“, knurrte Taichi mit zusammengebissenen Zähnen. „Es muss an dieser Saat liegen! Das ist irgendein halluzinogenes Zeug!“ „Es wird vermutlich nicht umsonst Saat der Finsternis heißen“, sagte Hikari, die nicht glauben konnte, dass Daisuke und Ken nur Halluzinationen hatten – auch wenn sie es sich mehr als alles andere wünschte. „Was hast du dazu zu sagen, Daisuke?“ Er sah sie nur an, lange. Dann strich er sich mit der Hand die Haarsträhnen aus dem Gesicht und presste den Handballen schließlich gegen die Stirn. Und er legte den Kopf in den Nacken, als wollte er Regentropfen auf seinem Gesicht auskosten, ohne dass sie ihm in die Augen spritzten. Und er lachte. Es war ein anderes Lachen als bei Ken, nicht grausam und höhnisch, sondern ehrlich amüsiert und irgendwie … stolz. „Das ist meine Hikari!“, rief er. „Wenn man es so sieht, kann wirklich nur ich der Täter gewesen sein, was? Aber seid ihr sicher? Wollt ihr alle euer Leben darauf setzen, dass ich Iori und Koushiro umgebracht habe, nur weil ich einen guten Freund verstehen will? Hat keiner von euch dasselbe gefühlt? Dieses Unverständnis? Diese Ohnmacht? Habe ich das vielleicht nur am ehesten gezeigt? Habe ich nicht alle meine Gefühle immer viel offener gezeigt als ihr? Und jetzt wollt ihr mich für meine Offenheit hinrichten?“ Hikari sah, wie die anderen zögerten. Taichi, der es sowieso nicht glauben konnte, Mimi, die sich erschrocken vergegenwärtigte, dass bei einem Fehler alle bis auf den Täter sterben würden. Wallace, der in Gedanken versunken war, Miyako, die Daisuke mit einem Ausdruck in den Augen anstarrte, als könnte sie nur zu gut verstehen, was er nach Kens Tod gefühlt hatte. Jou hingegen sah gar niemanden an. „Es liegt nicht nur an deinen Gefühlen, Daisuke“, sagte Hikari. „Dass du der Täter bist, ist die einzige Wahrheit, die all die ungeklärten Punkte verbindet. Wie ein roter Faden. Nur jemand, der die Saat der Finsternis in sich aufgenommen hat, kann Leomon befreit haben. Nur Leomons Befreier kann der Mörder sein. Nur jemand, der die Saat von Ken kopiert hat, konnte sie sich einpflanzen. Und nur jemand, der einen Grund dafür hatte, Kens Gedanken nachzuvollziehen, würde das tun. Und … nur jemand mit der Saat der Finsternis könnte plötzlich derart ausschweifend und eloquent argumentieren, wenn er den anderen in den vergangenen Klassenprozessenden oft nicht folgen konnte“, sagte sie leise. „Tut mir leid, Daisuke. Ich will es nicht glauben, aber ich kann nicht anders. Du bist der Mörder, den wir suchen. Du hast Koushiro ermordet und Leomon auf Iori losgelassen. Ich hoffe nur …“ Sie unterbrach sich, weil ihr Mund plötzlich so trocken war, als hätte sie sei Tagen geredet. „Ich hoffe nur, es hat sich für dich gelohnt und du hast erfahren, was Ken umgetrieben hat.“ Wieder wurde es still in der Kathedrale. „Dann … ist es entschieden, oder?“, fragte Miyako vorsichtig. „Stimmen wir ab?“ „Wir sollten noch einmal über die Fakten drübergehen“, sagte Taichi fest. „Ich will keine halben Sachen machen. Wenn wir schon jemanden opfern, dann will ich überzeugt sein, dass ich das Richtige tue.“ Hikari nickte. Auch ihr war es lieber, wenn sie ihre Gedanken noch einmal in eine Reihe bringen konnte. „Die Vorgeschichte zu unseren beiden Morden hier hat eigentlich schon bei Soras Tod angefangen. Ihr Mörder war Ken, der kurz vor seiner Hinrichtung allerlei merkwürdige Dinge von sich gegeben hat. Daisuke, der sich wahrscheinlich als sein Freund gesehen hat und ihm auch so in unserer kurzen gemeinsamen Zeit am nächsten stand, hat mehr noch als wir anderen versucht, die Hintergründe von Kens Tat zu verstehen. Aber Ken hat nur gemeint, Daisuke würde ihn nie verstehen, weil er nicht seine Intelligenz besitze – und das hat an Daisuke genagt. Etliche Tage und einen Mord später hat sich für Daisuke endlich die Chance ergeben, Ken doch zu verstehen. Wir haben nämlich von der Saat der Finsternis erfahren und welche Effekte sie auf den Menschen hat. Bald darauf hat uns Monokuma unsere toten Freunde in gläsernen Särgen präsentiert  – und uns demonstriert, wie er mit einem bestimmten Scanner Daten manipulieren kann. Diesen Scanner hat er einfach weggeworfen. Der Täter …“ Hikari unterbrach sich und schluckte. Es tat weh, seinen Namen für die Tatbeschreibung zu benutzen, aber sie hatte das Gefühl, es nicht zu tun, wäre ein Ausbund an Feigheit, nachdem sie ihn schon so sehr angeprangert hatte. Sie setzte neu an. „Daisuke ist es vermutlich nicht schwergefallen, einen unbeobachteten Moment abzuwarten. Wir sind ein paar Tage in der Villa geblieben, und wir waren nicht ständig zusammen. Als er die Gelegenheit gewittert hat, ist er in den Keller zu den Särgen gegangen und hat den von Ken geöffnet. Er hat den Scanner genommen, den Monokuma dort gelassen hat, und genau so, wie es im Labyrinth beschrieben stand, hat er die Saat von Kens Nacken gescannt und in seinen eigenen gepflanzt. Dann hat er gewartet. Die Saat braucht einige Zeit, um zu wirken, und die folgenden Tage war es ruhig. Dann hat sich irgendwann ihre Wirkung entfaltet – und ich weiß nicht, was genau sie mit Daisukes Psyche angestellt hat, aber sie hat zweierlei bewirkt: Zum einen ist er viel intelligenter geworden, wie man neuerdings an seiner Argumentationsweise erkennen kann. Und zum anderen scheint sie irgendetwas in ihm verdreht zu haben, sodass er, genau wie Ken vor ihm, die Notwendigkeit gesehen hat, jemanden umzubringen – und zwar eiskalt und gewissenlos. Er hat den Mord genau geplant. Er wollte Leomon dafür verwenden, weil niemand ahnen konnte, dass er plötzlich imstande war, Monokumas Code zu knacken, an dem sich schon Koushiro die Zähne ausgebissen hat. Also hat er dessen Laptop gestohlen, die Analysen von Koushiro zu dem Code durchgesehen und es tatsächlich geschafft, ein Programm zu schreiben, das Leomons Gefängnis öffnet. Das hat er dann auch ausgeführt, und ab da war Leomon schon frei. Daisuke hat Koushiro den Laptop zurückgegeben, ohne dass dieser mitbekommen hat, wer ihn die ganze Zeit über hatte. Am nächsten Tag sind wir alle wieder auf Nahrungssuche und Erkundung gegangen. Leomon muss während all der Zeit auf dem Berg herumgestromert sein. Ich schätze, es wusste nicht, wo es nach uns suchen sollte – wenn man es sich genau überlegt, wäre es auch merkwürdig, wenn es ohne einen Hinweis schnurstracks zu uns in das Haus laufen und uns angreifen würde. Iori hatte das Pech, als Erstes von ihm gefunden zu werden. Leomon hat ihn mit seinem Schwert getötet und sich dann auf die Suche nach einem neuen Opfer gemacht. Es ist so aggressiv uns gegenüber, weil dieses andere Digimon – Devimon – ihm angeblich befohlen hat, die DigiRitter zu töten, die wir ja offenbar sind…. oder waren, bevor Monokuma diese Insel unter seine Kontrolle gebracht hat. Als wir Codys Verschwinden bemerkt haben, sind wir ihn suchen gegangen. Hier hat sich der zweite Teil von Daisukes Plan entfaltet: Er wollte Koushiro töten und den Laptop mit dem Programm vor ihn stellen, sodass es einigermaßen danach aussieht, als hätte Koushiro selbst Leomon befreit.“ „Da fällt mir was ein“, sagte Miyako. „Hat Daisuke nicht eigentlich vorgeschlagen, dass wir eben nicht einzeln nach Iori suchen? Wenn wir auf ihn gehört hätten, hätte er doch damit seinen eigenen Plan ruiniert, oder?“ „Ja, wenn wir auf ihn gehört hätten. Ich vermute, er wusste bereits, mit welchen Methoden er uns am besten manipulieren konnte. Er hat es sicher gesagt, um keinen Verdacht zu erregen – aber die Art, wie er es gesagt hat, hat uns stur und rücksichtslos werden lassen, und wir sind allein losgezogen.“ Hikari mochte gar nicht daran denken, dass sie eine der Ersten gewesen war, die verkündet hatten, keine Bewachung zu brauchen. Der Gedanke stieß ihr sauer auf. Wenn sie nur nicht so dickköpfig gewesen wäre … Manipulation hin oder her … Sie riss sich zusammen. Es half nichts, sich jetzt darüber zu grämen. Sie musste nach vorn blicken, zumindest in diesem Moment, und den anderen eine anstandslose Tatbeschreibung liefern. „Während wir nach Iori gesucht haben, muss Daisuke Koushiro zur Seite gebeten haben. Er hat ihm bestimmt den Felsen mit den Digimon-Schriftzeichen gezeigt, weil er wusste, dass Koushiro sich davon zumindest kurz würde ablenken lassen.“ „War es nicht ein irre großer Zufall, dass genau an der Stelle so ein Felsen mit Schriftzeichen steht?“, warf Mimi ein. „Nein, war es nicht. Wie wir schon überlegt haben, hat Daisuke die Schriftzeichen selbst angebracht. Er hat sie einfach auf den Felsen gemalt. Koushiro hatte keine Gelegenheit zu erkennen, dass sie nicht echt waren. Es ist alles viel zu schnell gegangen, als dass es einen Unterschied gemacht hätte.“ „Und womit hat er die Zeichen gemalt?“, fragte Taichi stirnrunzelnd. „Er hatte doch keinen Eimer mit Farbe oder so mit.“ Auch darauf hatte Hikari eine Antwort. „Ich vermute, er hat die Beeren benutzt, die in der Nähe wuchsen.“ „Beeren?“ Sie nickte. „Die Zeichen waren violett, und sie waren auch eher ungleichmäßig gemalt. Und die Beeren, die Mimi während der Ermittlungen in der Umgebung gesehen hat, waren ebenfalls violett. Er hat einfach ein paar gesammelt, sie zermatscht und damit die Zeichen an den Felsen gemalt. Ein paar haben schließlich schon gereicht. Koushiro hat sie sich wenigstens kurz genauer angesehen – dann hat Daisuke auch schon zugeschlagen. Er hat wahrscheinlich ein Messer aus der Küche der Villa mitgenommen. Damit hat er Koushiro hinterrücks die Kehle aufgeschnitten. Koushiros Blut ist auf die Felswand gespritzt. Er war vermutlich auf der Stelle tot. Daisuke hat seinen Laptop genommen, das Programm erneut geöffnet und den Statusbericht, dass die Versiegelung offen ist, auf dem Bildschirm gelassen. Dann hat er das Notebook vor Koushiro drapiert und dessen Hand auf die Tastatur gelegt, sodass man glauben könnte, Koushiro hätte selbst das Programm ausgeführt. Und dann ist Daisuke einfach seiner Wege gegangen. Das muss zu der Zeit gewesen sein, als Leomon Miyako und mich entdeckt hat. Denn kaum dass es zwei Morde gegeben hat, für die derselbe Täter verantwortlich war, ist Monokuma eingeschritten und hat Leomon vernichtet, damit es kein drittes Opfer gibt. Daisuke ist kurz darauf zu uns gestoßen und hat den Ahnungslosen gespielt, und wir haben schließlich Iori und Koushiro entdeckt.“ Hikari holte tief Luft. Während der letzten Worte war ihr immer heißer geworden und sie hatte die Anschuldigungen regelrecht hervorpressen müssen. Aber sie war sich nie so sicher gewesen. Daisuke war der Mörder. Sie hatte seinem Blick nicht mehr standhalten können, aber als sie ihm nun in die Augen sah, wusste sich nicht, was für eine Reaktion sie erwartet hatte. Aber gewiss nicht, dass er sie anlächelte. „Nicht übel, Hikari“, sagte er nach Sekunden, die ihr wie Stunden vorkamen und ihr jeden verbleibenden Realitätssinn aus dem Kopf wehten. „Du bist wirklich ein schlaues Mädchen, ich bin regelrecht stolz auf dich.“ „Du kannst es immer noch leugnen“, sagte sie zittrig. Nichts wäre ihr lieber gewesen. Warum konnte es nicht einfach ein Selbstmord gewesen sein? Ein Unfall? Ein Traum? Auch wenn Daisuke zum Mörder geworden war, sie wollte nicht mit ansehen, wie noch jemand von ihnen starb. „Das hätte keinen Sinn mehr. Du hast alles so schön aufgeschlüsselt – es wäre nur peinlich, wenn ich mich sträube.“ Er seufzte und sein Lächeln nahm eine grimmige Note an. „Aber um deine Frage zu beantworten … Ja, ich verstehe Ken jetzt. Es hat ein wenig gedauert, aber schließlich habe ich genau begriffen, was in ihm vorgegangen ist. Es ist wirklich unglaublich, was die Saat für eine Macht hat … Ich fühle mich, als könnte ich plötzlich kristallklar denken. Als hätte ich mein bisheriges Leben hinter einem Nebel verbracht.“ Er lachte, aber es klang wehmütig. „Und ich habe festgestellt, dass auf der anderen Seite dieses Nebels nichts liegt. Eine gähnende Leere, die ich nur mit meinem Potenzial füllen kann. Das festzustellen, war das Schlimmste an der ganzen Sache. Plötzlich dieselbe Dunkelheit zu atmen wie Ken. Du kannst mir glauben, dass ich mich dagegen gesträubt habe, aber ich bin zu derselben Antwort gekommen wie er: Dass ich zu Höherem bestimmt bin, als hier auf der Insel den Rest meiner Tage zu verbringen. Dass ein Menschenleben nicht viel anders ist als das einer Fliege, wenn es nicht begreifen kann, was ich begreife. Dass ich alles zu opfern bereit bin, um von hier fortzukommen und mein Potenzial auszuleben.“ „Was für ein Potenzial?“, fragte Hikari mit brüchiger Stimme. „Wolltest du zu diesem Kontinent und dort weitermachen, wo Ken aufgehört hat?“ „Das hätte ich mir überlegt, sobald ich die Chance dazu gehabt hätte.“ Er senkte den Blick. „Ich hätte alles vollbringen können, was ich mir vorstellen konnte. Ihr glaubt gar nicht, was das für ein Gefühl ist. Eine Freiheit, eine Unabhängigkeit … aber hier kann ich das Gefühl nicht ausleben. Ich bin ein Vogel im Käfig. Und trotzdem bin ich froh, die Saat in mich aufgenommen zu haben. Endlich kann ich Ken verstehen.“ Hikaris Augen waren tränenfeucht. Wie von selbst schloss sich ihre Hand um den Hebel. Sie wollte das alles nicht glauben. Daisuke schien ihr plötzlich … verloren. Unwiederbringlich verloren. Er war kein Gewinner, kein feier Geist, er war nicht frei oder unabhängig. Er hatte einfach sich und seine Menschlichkeit aufgegeben. Er bemerkte ihre Bewegung und nickte zu dem Hebel. „Ja. Tu es. Ihr alle, schiebt den Hebel schon auf Schuldig. Hikari hat alles aufgedeckt. Zögert es nicht unnötig hinaus.“ Stumm packte die Gruppe die Hebel. Daisuke war der Erste, der ihn resolut auf Schuldig schob. Nach und nach folgten die anderen seinem Beispiel. Sie mussten den Prozess zu einem Ende bringen. Jede weitere Minute hätte sie alle nur unnötig gequält. „Und wir haben einen Schuldigen!“, erklärte Monokuma fröhlich. „Daisuke Motomiya wurde für schuldig befunden und … Er war tatsächlich der Täter, der Koushiro und Iori auf dem Gewissen hat. Ihr hattet schon wieder Recht!“ „Ich fass es immer noch nicht“, murmelte Taichi. „Ich habe halb erwartet, dass uns Monokuma jetzt verspottet, weil wir die falsche Wahl getroffen haben.“ Daisuke lachte hart. Dann trat er aus seiner Bucht und kam geradewegs auf Hikari zu. „Was hast du vor?“, rief Miyako erschrocken. Taichi sprang ihm in den Weg. „Keinen Schritt weiter!“ Daisuke grinste überheblich. „Ich möchte mich nur gebührend von meiner Nemesis verabschieden, bevor die Hinrichtung beginnt.“ „Das kannst du knicken!“ Auch die anderen liefen herbei, aber sie waren so unschlüssig, dass Daisuke versuchte, sich an Taichi vorbei zu drängeln. Dieser wollte ihn knurrend fortstoßen, um seine kleine Schwester zu schützen. Was dann geschah, ging so schnell, dass man es mit freiem Auge kaum verfolgen konnte. Irgendwie blockierte Daisuke Taichis Hände, schaffte es, ihm einen Arm auf den Rücken zu drehen und ihn gegen Wallace zu stoßen, der ihnen am nächsten war. Einen Lidschlag später war Daisuke direkt vor Hikari, die noch in ihrer Bucht stand und sich keinen Millimeter geregt hatte. Wie versteinert begegnete sie seinem Blick. Eindeutig, selbst dieser Blick war anders als vorher … kühler, abgestumpft. Dass ein digitales Programm wie diese obskure Saat so etwas mit einem Menschen anstellen konnte … „Lebe wohl, Hikari“, sagte er ernst. „Ihr habt gewonnen. Aber in einem hattest du Unrecht. Ich bin nicht eiskalt und gewissenlos.“ Plötzlich schlang er einen Arm um sie und drücke sie an sich. Hikari versteifte sich, Taichi rief ihren Namen. Die anderen sogen scharf die Luft ein und stürzten heran … Hikari hörte Daisukes Stimme dicht an ihrem Ohr. „Ein Programm Last1. Das Passwort ist Freiheit.“ Dann löste er sich auch schon wieder von Hikari, die immer noch wie schockgefrostet dastand. Einen Moment später hatten Taichi und Wallace ihn an den Armen gepackt und zurückgerissen. „Keine Lynchjustiz, meine Schüler!“, rief Monokuma sie zur Ordnung. „Schon gar nicht, wenn ein so armer Junge sich von seiner unerreichbaren Liebe verabschiedet … Solche Enden sind doch zu köstlich, als dass man sie ruinieren dürfte.“ Hikaris Herz schlug einen Takt schneller. Hatte Monokuma nicht mitbekommen, dass er sich gar nicht nur verabschiedet hatte …? Daisuke versuchte sich loszumachen, aber Wallace und Taichi reagierten weder auf ihn noch auf Monokumas Worte. „Du hast uns noch ein paar Fragen zu beantworten, du Schuft“, sagte Taichi zornig. Daisuke schwieg, den Blick weiterhin auf Hikari gerichtet, diesen kalten Blick, der aber irgendwie immer noch einen Spur Daisuke zu enthalten schien … „Weil ihr es offenbar kaum erwarten könnt“, kündigte Monokuma an, „beginnen wir mit der Bestrafung! Eine besondere Hinrichtung im Herzen der Insel: der File-Insel-Miniatur-Park!“ Ein Beben ging durch den Boden, das sein Epizentrum an der Stelle hatte, wo Daisuke und die andern rangelten. Ein Ruck riss sie von den Füßen und beförderte damit Taichi und Wallace ein paar Schritte von Daisuke weg – unter dem schließlich der Boden aufbrach. „Daisuke!“ Hikari stürzte zu dem Loch, das viel zu regelmäßig aussah, um nicht künstlich zu sein. Fluchend rappelte sich Taichi auf und packte sie an den Schultern. „Geh da weg“, keuchte er. Sie schüttelte seinen Arm ab. „Was ist mit Daisuke?“ Er war verschwunden. An der Stelle gähnte nur noch eine rechteckige Öffnung. Von ihrem Rand ausgehend, bröckelte der Felsen weiter ab und wurde von einer Glaswand abgelöst, die sich langsam bis zu der Öffnung schob und dort zu einer durchgehenden Platte verschmolz. Einige Meter unter sich konnten die DigiRitter einen großen, unterirdischen See sehen, in dem eine kleine Insel schwamm – ungefähr mit dem Durchmesser eines Hula-Hoop-Reifens. In ihrer Mitte ragte ein felsiger Stachel auf, und Hikari erkannte, dass es sich tatsächlich um eine Miniaturausgabe der File-Insel handelte, mit dem Berg im Zentrum, auf dem sie eben waren. Daisuke war auf der Insel gelandet und richtete sich eben unter Schmerzen auf. Der fiese Zacken des Berges hatte einen klaffenden Schnitt in seine Hüfte gerissen, der heftig blutete. Auch auf dem Kopf hatte er eine Platzwunde, und eines seiner Beine schien nach dem Sturz gebrochen. Hikari schrie seinen Namen, doch durch die Glasdecke konnte er sie vermutlich nicht hören. Mittlerweile waren alle DigiRitter um den weggebrochenen Teil des Bodens versammelt und beobachteten die Bestrafung. Hikari fragte sich eben, ob Daisuke es wider Erwarten schon überstanden hatte, als die Insel auseinanderzubrechen begann. Jedes der Gebiete – Hikari erkannte die Wüste, den Wald und sogar eine Schneelandschaft – löste sich von dem Berg und driftete davon. Daisuke erkannte, was ihm blühte. Er versuchte anfangs noch, die Teile seines Floßes zusammenzuhalten, dann nur noch, das Gleichgewicht zu halten. Als würden die Teile der Mini-Insel auseinandergezogen werden, entfernten sie sich unaufhaltsam voneinander. Irgendwann stand Daisuke nur noch auf dem Teil mit dem Berg, der unter seinem Gewicht tief ins Wasser sank und schließlich kippte. Daisuke stürzte in den See, kam prustend wieder in die Höhe und der unhörbare Schrei, den er ausstieß, sagte Hikari, dass das Wasser eisig kalt war. Dann begann sein Todeskampf. Die meisten der DigiRitter sahen ihm wie betäubt zu. Jou lief im Raum hin und her, versuchte einen Weg in die Grotte zu finden. Miyako hämmerte schreiend gegen das Glas. Taichi knirschte mit den Zähnen, aber er, Mimi und Wallace verfolgten genau Daisukes letzte Momente. Hikari ebenfalls – sie hatte das Gefühl, es ihm schuldig zu sein. Er hielt wirklich lange durch – vielleicht ein Nebeneffekt der Saat der Finsternis. Irgendwann, als seine Haut schneeweiß und seine Lippen blau waren, geriet er ein weiteres Mal unter Wasser – und tauchte nicht wieder auf. Die Wellen, die seine strampelnden Glieder erzeugt hatten, flachten aus und verschwanden schließlich, bis die Inselteile auf einer spiegelglatten Wasseroberfläche trieben. „Ah, das war erfrischend“, verkündete Monokuma genüsslich. „Man bekommt richtig Lust, demnächst an den Strand zu gehen und sich auch etwas abzukühlen.“ „Du … du Mistkerl“, presste Taichi hervor. Er hatte die Fäuste geballt und brachte es nicht einmal zustande, in Monokumas Richtung zu sehen. „Er war vielleicht ein Mörder, aber das gibt dir trotzdem nicht das Recht … Du hattest überhaupt nicht das Recht, irgendeinen von uns hinzurichten, du verdammtes, sprechendes Psychopathenplüschtier!“ „Na, na, na“, machte Monokuma tadelnd. „Wenn du unbedingt ausfallend werden willst, dann such dir ein anderes Opfer aus. Ich bin sicher, mittlerweile seid ihr alle so mürbe wie alte Kekse. Und daran gewöhnt, Tote zu sehen. Vielleicht habt ihr nun endlich mehr Lust, das zu tun, weswegen ihr hier seid, und verplempert nicht immer so viel Zeit dazwischen. Wahahaha!“ Mit einem bösartig-befreiten Lachen Monokumas endete der dritte Klassenprozess. Das Biest lachte weiter, während die DigiRitter wie begossene Pudel in der Tempelhalle standen und weder ein noch aus wussten. Nur Hikari starrte immer noch auf den See zu ihren Füßen, auf die Stelle, an der Daisuke verschwunden war. Last1. Freiheit. Sie fragte sich, was in Daisukes Kopf vorgegangen war. Vielleicht irgendwo auch etwas Gutes. Er hatte kaltblütig den Tod von Iori und Koushiro herbeigeführt, aber er hatte ihnen, den Überlebenden, auch etwas hinterlassen. Vielleicht war die Hoffnung vergebens. Vielleicht war es sogar eine Teufelei, die Daisuke ausgeheckt hatte – womöglich als Rache für seine Niederlage. Aber irgendwie war das das Tückische an der Hoffnung. Dass man eben, trotz aller Umstände und Wahrscheinlichkeiten, immer noch weiterhoffte. Und andererseits war es auch eine Ewigkeit her, dass Hikari Hoffnung verspürt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)