Zum Inhalt der Seite

DigiRonpa

Mut. Freundschaft. Liebe. Wissen. Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Licht. Hoffnung ... Verzweiflung.
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Fall 03: Tägliches Leben II – Versiegelung geöffnet

Noch in der Halle steckten sie die Köpfe zusammen und senkten die Stimmen, um zu diskutieren.

„Was haltet ihr von ihm?“, fragte Miyako.

„Er nimmt sich ziemlich viel heraus, aber ich glaube, er ist nicht böse“, sagte Iori.

„Mir ist er unheimlich“, gab Jou zu.

„Er scheint sich aber gut mit der Insel, den Digimon und den DigiRittern und allem auszukennen“, sagte Mimi. „Vielleicht kann er uns ja wirklich helfen.“

„Ich weiß nicht, irgendwie finde ich ihn seltsam“, sagte Wallace. „Er hatte zwar auf alles eine Antwort, aber wenn wir uns ehrlich sind, hat er nur zu allem, was wir ihn gefragt haben, gemeint, dass es irrsinnig gefährlich ist. Etwas Nützliches hat er uns bisher nicht gesagt.“

„Wie auch immer, es ist sein Haus“, sagte Koushiro. „Für den Anfang reicht es ja, dass er uns nicht hinauswerfen will.“

„Pah“, meinte Taichi großspurig, „das soll er uns erst mal zeigen – einer gegen neun.“

„Taichi, du bist unmöglich“, schimpfte Mimi.

„Immerhin scheint er auch ein Feind von Monokuma zu sein“, sprach Iori schließlich das Killerkriterium an. „Also ist es vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns mit ihm zusammentun. Vielleicht hat er auch eine Ahnung, was in der wirklichen Welt mit unseren Eltern geschehen ist, oder ob hier irgendwo noch mehr Menschen leben.“

„Und warum hat er uns das dann nicht einfach gesagt?“, fragte Jou und zog am Kragen seines Morgenmantels, der ihn kratzte. „Er hat sich nicht mal gewundert, dass wir plötzlich hier sind. So als wären Menschen auf der File-Insel gar nichts Ungewöhnliches …“

„Ich vermute, er ist einfach genauso müde wie wir“, meinte Miyako. „Er war ja nicht im Haus, als wir angekommen sind. Sicher ist er auf der Insel herumgewandert und wollte sich nur einen netten Abend machen. Und deswegen war er so ruppig.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, sagte Jou.

Auch wenn sie ihren Gastgeber nicht einschätzen konnten, immerhin hatten sie einen Platz für die Nacht. Sie teilten sich dennoch auf nur zwei Zimmer auf – die Mädchen bezogen das eine, die Jungs das andere, und kaum dass sie die federweichen Betten berührten, schliefen sie auch schon.

Bis auf Hikari. Sie lag noch lange wach. In der Dunkelheit sah sie wechselweise Takerus Gesicht vor sich oder – noch schlimmer – den Augenblick seines Todes. Es fiel ihr immer noch schwer, alles zu verarbeiten, was in den letzten Tagen geschehen war. Er war so ein herzensguter Mensch gewesen … und für Yamato hatte das Gleiche gegolten. Es zerriss sie fast, dass sie sich ohnmächtig damit abfinden musste, dass beide tot waren.

Hikari hielt eigentlich gar nichts von Rachegedanken und dergleichen. Aber als sie in völliger Dunkelheit erneut gegen die Tränen ankämpfen musste, wünschte sie sich, sie könnte es Monokuma irgendwie heimzahlen.

In dem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen zwängte sich plötzlich ein Gedanke in ihre Synapsen. Sie konnte gar nicht mehr sagen, über wie viele Gedankensprünge sie darauf gekommen war, aber ihr war etwas eingefallen. Etwas, das sie morgen überprüfen wollte.

Seit sie im Bett lag, war das die erste Überlegung, die sich nicht um Takeru drehte. Als hätte der Schlaf nur darauf gewartet, dass sie etwas ruhiger wurde, stürzte er sich wie ein Greifvogel auf sie.

 

Miyako erwachte mit einem adrenalinhaltigen Ruck, als Mimi ein schrilles Kreischen ausstieß. „Was ist denn los?“, keuchte sie und tastete auf dem Nachtkästchen nach ihrer Brille.

„Ra-ra-ra-ra…“, stammelte Mimi, die sich kerzengerade in ihrem Bett aufgesetzt hatte. „Ratte!“

„Schon wieder eine Ratte?“ Hikari wischte sich müde den Schlaf aus den Augen. „Wie spät ist es?“

„So hört mir doch zu, da war diesmal wirklich eine Ratte! Ich hab sie gespürt, so kleine fiese Krallen, die über mich drübergeschuscht sind!“

„Besser eine Ratte als Monokuma“, murmelte Miyako schlaftrunken. „Die tut dir schon nichts, also keine Sorge.“

Die Tür flog auf, und Taichi und Iori stürmten herein. „Was ist los? Mimi, alles in Ordnung?“

Mimi stieß ein neuerliches Kreischen aus, schleuderte ihr Kissen und riss sich die Decke bis zu den Schultern hoch. Das Kissen traf Taichi ins Gesicht; Iori war gerade rechtzeitig ausgewichen.

„Sag mal, spinnst du?“, knurrte Taichi.

Iori besaß den Anstand, den Blick abzuwenden. Auch die beiden Jungs waren nur in Unterwäsche. Wahrscheinlich sollte Miyako ihnen danken, dass sie so schnell zur Stelle waren …

„Es ist alles in Ordnung“, sagte Hikari ungehalten, „also raus mit euch!“

„Und warum schreit sie dann wie am Spieß?“, knurrte Taichi, während ihn Iori schon wieder in den Flur zog.

 

„Was ist das für ein Lärm, ihr Bastarde?“

Taichi wirbelte herum. Kaum dass sie die Tür zum Mädchenzimmer geschlossen hatten, stand Gundham hinter ihnen, in derselben finsteren Kluft wie gestern und mit demselben ungesunden Gesichtsausdruck.

„Angeblich ist alles in Ordnung“, ließ Taichi seinen Frust an ihm aus. „Bestimmte Frauen schreien offenbar immer, wenn sie am Morgen aufwachen.“

Gundham schmunzelte. „Das Mädchen muss aus den Untiefen eines wahren Nachtmahrs erwacht sein. Kein Wunder, dass ihre Träume vom Chaos vergiftet werden. Es durchdringt selbst die Räume meiner Bastion hier.“

„Gibt‘s schon Frühstück?“ Wallace streckte seinen vom Schlaf zerstruwwelten Blondschopf aus dem Jungenzimmer.

„Für euer leibliches Wohl müsst ihr selbst sorgen“, verkündete Gundham. „Sucht in der Speisekammer. Ein Gundham Tanaka braucht keine Nahrung, und meine Devas haben sich bereits am Blut ihrer Opfer gelabt.“

Damit marschierte er an ihnen vorbei und die Treppe runter.

 

Nach und nach versammelten sie sich in der Küche. Jou war ganz gut im Kochen und erledigte das meiste – das heißt, was er da fabrizierte, sah ziemlich genießbar und nach einem anständigen Mahl aus, aber er schnitt sich auch am öftesten in die Finger. Mimi und Hikari gingen ihm zur Hand, während Taichi es gerade fertig brachte, die Zwiebeln in gleich große Würfelchen zu schneiden.

„Du benimmst dich wie der letzte Tölpel“, stöhnte Mimi und nahm ihm schließlich das Messer aus der Hand.

„Was soll ich machen, wenn das Zeug so in den Augen brennt“, beschwerte sich Taichi.

„Heulen, Zähne zusammenbeißen und weitermachen!“

Hikari kicherte. „Das Kochen wirst du Taichi nie beibringen können. Seine Zukünftige wird gut in der Küche sein müssen, sonst wird er verhungern.“

„Vielen Dank auch“, maulte er. Die anderen lachten. Mit dem sicheren Dach über ihren Köpfen waren die Schrecken der letzten Morde etwas von ihnen abgefallen – zumindest gaben sie sich Mühe, an etwas anderes zu denken.

Nach dem Essen boten diejenigen, die keine große Hilfe beim Kochen gewesen waren, an, den Abwasch zu erledigen. Es waren auch die Teller von gestern zu waschen und was schon hier stand, noch bevor sie ins Haus gekommen waren. Bei Letzterem handelte es sich wohl, entgegen seiner Behauptungen, um Gundhams Teller. Joe war so eifrig, auch noch in der Küche zu putzen, und Hikari verkündete plötzlich, dass sie sich etwas im Haus umsehen wollte – was dazu führte, dass Taichi und Mimi plötzlich allein in dem riesigen Speisesaal saßen und die anderen in der Küche klappern hörten.

„Tja“, meinte er nach einer Weile peinlichen Schweigens. „Jetzt haben wir wieder ein Dach über dem Kopf.“

Mimi nickte. „Vielleicht sollten wir bald wieder hier weggehen.“

Er war sichtlich überrascht, das ausgerechnet von ihr zu hören. „Wegen Gundham?“

„Nein, ich denke mir nur … Es war bisher immer so, dass, wenn wir geglaubt haben, dass wir mal einen ruhigen, sicheren Platz gefunden haben … dass dann ein …“

„… ein Mord passiert ist“, setzte er den Satz düster fort. „Stimmt, bisher war es so. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich glaube nicht, dass so etwas wieder passiert.“

Sie sah in zweifelnd an.

„Hör mal, wir verstehen uns doch ganz gut miteinander, oder? Wir sind alle ziemlich schockiert wegen dem, was passiert ist, aber wir müssen nach vorn schauen. Und eben weil wir schockiert sind, wird das nie wieder vorkommen!“

„Dein Vertrauen möchte ich haben“, murmelte Mimi bitter. „Ich kann immer noch nicht Soras Gesicht vergessen, wie sie da gehangen hat … Und wie Takeru geschrien hat, als er seine Erinnerungen wiederhatte, und …“

„Schluss damit.“ Er packte forsch ihre Hand. „Denk nicht mehr dran.“

„Wie könnte ich nicht dran denken?“, rief sie aus. „Sie waren unsere Freunde! Und dann ist ihnen so etwas Schreckliches passiert, und …“ Sie atmete schwer. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sie zu wenig Luft bekommen.

„Mimi!“, sagte Taichi scharf, als sie sich mehr und mehr hineinsteigerte.

„Du tust mir weh“, brachte sie gepresst hervor. In ihren Augen funkelten Tränen.

Taichi ließ erschrocken ihr Handgelenk los, wich unbehaglich ihrem Blick aus und meinte dann: „Sorry. Aber du darfst dich nicht so fertigmachen, verstanden? Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen es akzeptieren.“

„Ich will aber nicht“, sagte sie stur.

„Aber du musst“, beharrte er. „Wenn wir nicht nach vorn schauen, haben wir schon verloren und Monokuma lacht sich nur ins Fäustchen.“

„Und was genau ist das vor uns?“, fragte sie bitter. „Wir kommen ja sowieso nicht von hier weg. Es ist alles zwecklos.“

Taichi seufzte. „Mann, du bist kaum auszuhalten. Willst du ewig den Toten nachtrauern oder was? Du würdest einen Weg von dieser Insel gar nicht sehen, wenn er direkt vor dir wäre! Wir müssen einfach nur gründlich danach suchen. Wir bringen Gundham dazu, alles über die File-Insel auszuspucken, was er weiß, und Koushiro wird einen Weg finden. Dann sind wir wieder in unserer Welt und dann können wir meinetwegen trauern.“

Sie sah die Entschlossenheit in seinen Augen. „Wie kannst du nur so unbeugsam sein?“, fragte sie. „Ich fühle mich, als würde mich die Ungewissheit bald entzweireißen. Und am liebsten würde ich heulen.“

Taichi schnaubte und wandte grimmig den Blick ab. „Ganz einfach. Weil ich hier wegwill. Ich muss Hikari hier fortschaffen. Yamato war unglaublich, weißt du? Er hat sich selbst geopfert, damit Takeru nachhause kann. Verglichen mit ihm bin ich ein Weichling.“

Seine Hände zitterten. Mimi zögerte, ehe sie sie berührte. „Ich finde, du bist sehr mutig“, flüsterte sie und lehnte sich gegen seine Schulter.

Taichi schien überrascht von der Geste, denn er zuckte kurz zurück. „Nicht mutig genug.“

„Doch“, sagte sie versonnen. „Ich glaube, du schaffst es wirklich, Hikari hier wegzubringen. Wenn es einer schafft, dann du.“

Er schnaubte.

„Darf ich dich um was Egoistisches bitten?“, fragte sie.

„Was denn?“, wollte er misstrauisch wissen.

„Wenn du mit Hikari hier fortkommst … nimm mich bitte auch mit.“

Taichi schwieg, dann lachte er leise. „Klar doch. Ich nehme euch alle mit. Ich sorge dafür, dass niemand mehr sterben muss.“

„Du bist ein richtiger Anführer“, meinte sie. „Ich glaube, ich bin ein klein wenig froh darüber, dass wir hier im Schlamassel stecken.“

„Im Ernst?“

„Hm. Sonst hätte ich wahrscheinlich nie gemerkt, wie sehr … ich dich mag.“

Jetzt zuckte er wirklich zurück. „Was soll das auf einmal?“, fragte er verdattert.

„Was denn? Das sind meine innersten Gefühle, weißt du?“, fragte sie empört. Seine entgeisterte Reaktion verletzte sie.

„Deine innersten Gefühle“, wiederholte er skeptisch.

„Ja, stell dir vor, ich habe Gefühle“, schnappte sie.

„Das ist mir schon klar“, sagte er, „aber … das klang gerade eben wie eine halbe Liebeserklärung.“

„Jetzt übertreibst du aber“, sagte sie spitz. „Das habe ich nie gesagt. Ich hab nur gesagt, dass ich dich mag, mehr nicht.“

„Aber das ist ja wohl die Wahrheit, oder?“, grinste er. „Wenn ich mich nicht täusche, bist du ja die Ultimative Ehrlichkeit oder so was, richtig?“

Sie starrte in sein Grinsen. Er hatte es sich also gemerkt … den lächerlichen Grund, warum sie überhaupt erst hier festsaß. „Und du der ultimative Blödkopf“, sagte sie halbherzig. „Vergiss es einfach. Ich mag dich nicht mehr und nicht weniger als die anderen auch.“

„Ach, Mimi“, lachte er und zog sie plötzlich in seine Arme. „Man merkt wirklich genau, wann du lügst.“

Ihr stieg das Blut in den Kopf, als er ihren Kopf an seine Brust drückte. Mit einem Mal fühlte sie sich seltsam warm … und geborgen.

„Ich mag dich doch auch“, murmelte er in ihr Ohr. Sie hörte sein Grinsen heraus, aber sie konnte wohl nicht erwarten, dass jemand wie er bei solchen Worten ernst blieb. „Wir kommen hier alle wieder raus“, fuhr er fort. „Alle. Ich verspreche es.“

 

„Entschuldige bitte!“

Hikari war Gundham in den Keller gefolgt. Er schritt eben mit bedeutungsschweren Schritten an dem luxuriösen Bad vorbei und drehte sich um, als er ihre Stimme hörte.

„Du hast gute Nerven, Sterbliche“, sagte er, „mir in die finsteren Tiefen meines Hortes zu folgen.“

„Mir ist eingefallen, dass ich deinen Namen schon mal gehört habe“, sagte sie. „Gundham Tanaka, oder? Ich habe ein paar Einträge in deinem Haustier-Blog gelesen. Wir haben eine Katze zuhause.“

Ein amüsiertes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „So, so. Ich wusste sofort, dass du kein gewöhnlicher Mensch bist. Du hast also meinen Namen in den Tiefen des Netzes gefunden und beschäftigst dich selbst mit Bestienzucht. Nicht übel. Du solltest bei mir in die Lehre gehen. Ich spüre großes Potenzial in dir. Unter meinen Fittichen könntest du Großes erreichen. Von dir kam also diese Aura der Dunkelheit, die ich fühlte.“

„Eigentlich“, konnte sich Hikari nicht verkneifen zu sagen und zwinkerte dabei, „hat die Hope‘s Peak mich als das Ultimative Licht angeworben.“

„Wie?“ Gundham prallte zurück und sah sie regelrecht entsetzt an. Dann ballte er die Fäuste. „Eine Gebieterin des Lichts ist über meine Schwelle getreten, ohne dass ich es bemerkt habe? Bedeutet das etwa, dass die Streiter des Lichts ebenfalls Untergebene sammeln? Das ist nicht gut.“ Er machte eine theatralische Handbewegung. „Aber sorge dich nicht. Ich werde ein Mystisches Energiefeld des Vollendeten Schutzes zwischen uns auffahren, damit unsere Kräfte nicht resonieren und sich gegenseitig auslöschen!“

„Eigentlich … wollte ich nur fragen, ob du das wirklich bist“, sagte Hikari langsam. „Der Gundham Tanaka, den ich aus dem Internet kenne. Aber das heißt wohl ja, oder? Stimmt es, dass du auch an der Hope’s Peak aufgenommen wurdest? Das hast du in einem deiner Postings angedeutet.“

„Ha! Und ob! Eine Schule zu besuchen, ist für einen Dunklen Herrscher wie mich kein Grundbedürfnis, aber von Zeit zu Zeit ist etwas Abwechslung gut.“

„Kennst du von daher auch Monokuma?“ Sie beschloss ihre Fragen direkter zu stellen und sich nicht zu lange mit seinen ausschweifenden Antworten herumzuschlagen. „Wir sind nämlich auch an dieser Schule aufgenommen worden. Wir haben alle das Schulgebäude betreten, und das war das Letzte, an das wir uns erinnern, bevor wir hier aufwachten.“

„Hm. Das wundert mich nicht. Der Feind besitzt eine mächtige Fähigkeit. Er kann Erinnerungen frei kontrollieren. Gut möglich also, dass ihr euch an die Reise hierher nicht erinnert.“

„Hast du so etwas also auch erlebt?“

„Die tiefsten Eindrücke meiner Seele können nicht verlorengehen“, behauptete er. „Doch meine Kraft wurde derart geschwächt, dass ich nicht darauf zugreifen konnte. Auch ich betrat die kalten Hallen dieser Schule einst und wachte danach auf einer Insel des Chaos und der Verzweiflung auf.“

„Und du bist von dort entkommen, hast du gesagt“, meinte Hikari hoffnungsvoll. Die Tatsache, dass er ein Junge war, der etwas so Normales wie einen Blog über den richtigen Umgang mit Haustieren führte, ließ ihre Ehrfurcht schwanken und so konnte sie ihm zumindest auf Augenhöhe begegnen. Wenngleich das vielleicht eine einseitige Vorstellung war. „Du hast gesagt, du hättest Monokuma besiegt.“

„Dafür bin ich durch das Höllenfeuer gekrochen“, behauptete er mit ernster Miene. „Ich habe einen Festschmaus der Dämonen überlebt, die ihre Klauen in mein Fleisch schlagen wollten. Ich musste eine Achterbahn des Todes überstehen, nur um in einer Wüste der Illusionen ausgesetzt zu werden, ohne Nahrung und ohne Wasser. Drei Wochen musste ich ausharren, ehe ich den stählernen Golem, der den Ausgang bewachte, zum Kampf herausforderte.“

Während er seine merkwürdigen Geschichten erzählte, schritt er weiter den Gang entlang – und blieb abrupt stehen. Seine Erzählung stockte ebenso plötzlich. „Dieses Schloss“, murmelte er. „Das ist doch nicht möglich.“

Hikari tappte näher. Es war ziemlich dunkel, aber sie konnte sehen, dass eine der Türen des Ganges einen Spaltbreit offen stand. „Ich bin ziemlich sicher, dass die gestern abgeschlossen war“, sagte sie.

„Nicht nur gestern“, erwiderte Gundham. „Ein Bannfluch lag auf dieser Tür. Selbst ich konnte sie nicht öffnen. Ich hatte bereits überlegt, ob ich die Horizont-Klage-Kunst der Dämonenmaus anwenden sollte, um sie mit Gewalt zu öffnen … Aber jemand scheint mir zuvorgekommen zu sein.“

Das bedeutete vermutlich, dass auch er keinen Schlüssel zu dieser Tür hatte und, seit er hier wohnte, keinen Blick hatte hineinwerfen können.

Er stieß sie mit einer forschen Bewegung vollends auf.

Dahinter war es stockdunkel. Hikari tastete die Wand ab und fand einen altmodischen Lichtschalter, der umso modernere Neonröhren entflammen ließ.

Was sie sah, verschlug ihr den Atem.

 

Die anderen waren gerade in der Küche fertig, als aus einem unsichtbaren Lautsprecher Monokumas Stimme ertönte. „Bam-bam-bam-baah! Eine Leiche wurde gefunden. Seht am besten schnell im Keller nach.“

Miyako zucke so heftig zusammen, dass sie die sauberen Teller, die sie in der Hand hielt, zu Boden fallen und zerdeppern ließ. Die Gruppe stürmte in den Speisesaal hinaus, wo Mimi und Taichi aufgesprungen waren. „Was ist los?“, frage Jou aufgeregt. „Eine Leiche? Aber … wir sind doch alle hier?“

„Hikari!“, stieß Taichi hervor und stürme sofort los. Die anderen folgten ihm die Treppe hinunter in den Keller. Miyako atmete erleichtert auf, als sie Hikari neben Gundham am Ende des Flurs in einer offenen Tür stehen sah.

„Hikari!“, rief Taichi. „Alles in Ordnung?“ Er stürmte in den Raum hinein und verstummte. Miyako drängte sich an den anderen vorbei.

Es war eine Gruft. Die Wände wirkten schimmlig, die Luft war eiskalt. Und es standen vier gläserne Särge in dem Raum. Darin lagen ihre Freunde – Sora, Ken, Yamato, Takeru. Sie sahen aus, als würden sie friedlich schlafen. Miyako traute ihren Augen kaum – sie hatte gesehen, wie Ken von Raketen zerfetzt worden war, und Takeru müsste von hunderten Kugeln durchsiebt worden sein. Dennoch wirkten ihre Körper unversehrt. Sogar ihre Kleidung war wie neu.

„Sogar vier Leichen, um genau zu sein“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Die DigiRitter fuhren herum. Monokuma stand im Flur und legte keck den Kopf schief. „Was denn? Hab ich euch erschreckt? Puhuhuhu. Ich dachte, ihr würdet es begrüßen, wenn ich euch einen richtigen Abschied von euren Freunden gönne. Man lebt sich doch viel leichter, wenn man die Toten richtig bestattet weiß, oder?“

„Bastard“, knurrte Gundham finster. „Wie bist du durch mein Bannnetz gelangt?“

„Hm? War da irgendwas?“ Monokuma neigte den Kopf noch weiter.

„… Bastard“, wiederholte Gundham nur.

„Aber sie müssten doch … Sie sind doch …“, stammelte Miyako.

„Das ist richtig, das können nicht unsere Freunde sein!“, sagte Koushiro, der wusste, was sie meinte.

„Und wie sie das sind. Ich habe ihre Körper mit überschüssigen Daten vollgestopft, damit sie wieder wie neu aussehen. Ihr hättet es sagen müssen, wenn ihr lieber ihre zerfetzten, grässlich entstellten, hässlichen, versehrten Leichen gehabt hättet. Wahaha!“ Monokuma hielt sich den Bauch vor Lachen.

Gundham trat ihm mit wehendem Mantel entgegen. „Deine Taten müssen gestoppt werden, du Unhold. Meine Vier Dunklen Devas der Zerstörung werden sich deiner annehmen.“ Er nahm eine angriffslustige Pose ein. In seinem Schal bewegte sich etwas – und vier kleine, pelzige Tiere sprangen daraus hervor auf seine Schultern und Arme.

„Da!“, rief Mimi. „Ich wusste, dass es hier Mäuse gibt!“

„Sieh mal genauer hin“, murmelte Daisuke. „Das sind Hamster.“

„Ach, ach“, sagte Monokuma. „Was mache ich nur mit dir? Du bist nur ein penetranter Datenrest, der mit herübergerutscht ist, als ich in diese Welt gekommen bin. Ein Backup eines Backups eines Backups. Weder up-to-date noch irgendwie nützlich. Es wird Zeit, dass du aus diese Welt entfernt wirst, du störender, digitaler Datenmüll.“

„Deine ketzerischen Worte können mich nicht beeindrucken!“, verkündete Gundham und schien voll in seinem Element. „Lass es uns austragen! Möge der Verlierer in der kältesten aller Höllen vermodern!“

„Ich werde darauf nichts antworten“, beschloss Monokuma. „Mit einem Computervirus redet man ja auch nicht, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Er hielt plötzlich einen schwarzen Stick in der Hand, ähnlich den Apparaten, die sie an Supermarktkassen benutzten. „Ta-daa! Monokumas Allzweckscanner! Liest, schreibt und löscht Daten aller Art! Sehr praktisch in einer Welt, die aus Daten besteht.“ Monokuma zuckte zusammen, sah die DigiRitter an und brach plötzlich in Schweiß aus, der gut sichtbar aus seinem Pelz strömte. „Oh, das war doch wohl eben kein Spoiler, oder?“

„Deine blöden Scherze stehen mir bis hier“, knurrte Taichi. „Kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen?“

„Erst, nachdem ich die Störfaktoren aus dem Weg geräumt habe. Mal sehen … Grün war Scannen, gelb war Schreiben … ah, rot war Löschen.“ Monokuma betätigte den Scanner irgendwie mit seinen Pfoten, bis ein rotes Lämpchen aufblinkte. Dann richtete er ihn auf Gundham.

„Deine technischen Spielereien beeindrucken einen Herrn der Finsternis nicht im Geringsten!“, behauptete Gundham gut gelaunt. „Lass sehen, wie du mit dem Zorn des Schwarzen Eroberungsdrachen …“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er sich, von den Händen ausgehend, in kleine, schillernde Polygone zersetzte. „Unmöglich!“, stieß er noch aus, die Augen geweitet, dann zerbarst er in tausend funkelnde Splitter, mitsamt seinen Hamstern. Er verschwand in Monokumas Scanner, und Miyako hatte keine Ahnung, was gerade geschehen war.

„So. Was kommt jetzt? Ah, ja. Papierkorb leeren.“ Monokuma drückte noch eine Taste, und der Glitzersturm stob an der Rückseite des Scanners wieder heraus, wie Rauch, und löste sich ebenso wie Rauch in der Luft auf. Dann warf Monokuma das Ding lässig über die Schulter in die Gruft hinein und stolzierte davon. „Auftrag erfüllt und wieder für Frieden in der DigiWelt gesorgt. Ich könnte auch ein DigiRitter sein, oh ja. Ich wäre mein eigener, supersüßer Digimon-Partner. Puhuhuhu.“

Am Ende des Flurs verschwand er.

„Was war das jetzt?“, brach es aus Miyako heraus. „Der Kerl … und Hamster … Datenreste? Ich begreife gerade gar nichts mehr.“

„Das bedeutet, dass Monokuma uns gerade den einzigen Hinweis genommen hat, wie wir von hier fortkommen können“, knurrte Taichi und ballte die Fäuste.

„Ich weiß nicht“, meinte Wallace. „Dieser Gundham war schon sehr suspekt. Das Gerede von den Devas war ziemlich überzeugend, aber ich hätte mir da schon ein paar eindrucksvollere Digimon erwartet als … Hamster.“

„Wie auch immer“, sagte Koushiro mühsam beherrscht, „Gundham schien tatsächlich schon mal etwas mit Monokuma zu tun gehabt haben. Das hat Monokuma ja selbst zugegeben. Er hätte uns sicher noch irgendwie helfen können.“

„Dafür haben wir jetzt … sie zurück“, murmelte Hikari. Sie betrachtete Takerus Leiche in dem Glassarg. Er lächelte sogar.

„Sollen wir sie rausholen?“, fragte Taichi und deutete auf die Scharniere, die die Särge verschlossen. Es sah so aus, als könnte man sie öffnen.

„Was willst du denn mit ihnen machen? Sie sind doch so ganz gut bestattet“, murmelte Iori.

„Ja, aber ich will sie ungern in etwas zurücklassen, das Monokuma gebaut hat“, knurrte Taichi.

Dennoch wagte es im Endeffekt niemand, die Ruhe der Toten zu stören. Sie ließen sie in ihrer Gruft allein.

 

Danach passierte – nichts. Als wäre Monokuma endlich zufrieden, gab es keine weiteren Einmischungen seinerseits in das friedliche Zusammenleben der Gestrandeten. Sie blieben selbst zwar nicht untätig, aber die Tage schienen dennoch entönig. Sie durchstreiften in Dreiergruppen die Umgebung, erklommen den Berg, passten dabei immer gut auf sich auf und achteten mit Argusaugen über die Tätigkeiten der jeweils anderen – jeder für sich, auch wenn ihre Wachsamkeit langsam nachließ.

Sie sammelten Früchte, um die Vorratskammer aufzustocken, kochten mittags in der Küche des Hauses und aßen meistens kalt zu Abend, vertrieben sich die Zeit erst damit, über Gundhams Auftauchen und anschließendes Verschwinden nachzugrübeln, dann mit Schweigen, später mit einfachen Spielen, die keine zusätzlichen Utensilien benötigten. Eine dämmrige Schläfrigkeit erfüllte sie. Alles war ruhig, alles war ungefährlich, und dennoch schleppten sie Trauer mit sich rum, hatten urplötzlich keine Aufgabe mehr und wussten immer noch nicht, wie sie jemals von dieser Insel kommen sollten.

Hikari bemerkte, dass Mimi und Taichi sich einander immer mehr annäherten, aber dann stagnierte irgendwie der Fortschritt zwischen den beiden, als stießen sie auf eine Glaswand zwischen sich. Vermutlich hielt die unangenehme Gesamtsituation sie davon ab, sich ernsthaft näherzukommen. Hikari selbst wusste nicht, was sie davon halten sollte – auf der einen Seite freute sie sich darüber, dass Taichi eine Ablenkung hatte, auf der anderen kam es ihr selbst falsch vor, nach all den Todesfällen etwas wie eine Beziehung aufzubauen.

Mimis Streitlustigkeit flammte zunächst auf, doch dann legte sie sich fast völlig. Die Momente mit Taichi schienen ihr gut zu tun, auch das Nichtstun färbte nicht wirklich negativ auf ihre Laune ab. Sie vertrieb sich meist die Zeit mit Baden – das Bad in diesem Haus war wirklich luxuriös. Miyako hatte irgendwann einmal den Einfall, eine Pyjama-Party nur für Mädchen zu schmeißen, mit Mädchengesprächen rund um Mädchenthemen und allem drum und dran. Wallace meinte im Scherz, dass er versuchen würde, sich um jeden Preis einzuschleichen, aber der Abend ging ganz nett und ohne Zwischenfälle über die Bühne.

Am fünften Tag nach Gundhams Verschwinden kamen Miyako, Iori und Daisuke aufgeregt von einer Erkundungstour zurück. Sie hatten, fast auf der Spitze des Berges, ein weiteres Bauwerk entdeckt.

Als die ganze Gruppe davor versammelt war, stockte ihnen der Atem: Es sah aus wie eine uralte Kathedrale oder ein Dom, ganz aus Stein, der nicht gemeißelt oder aufeinander geschichtet, sondern ineinander geflossen zu sein schien. Das schwere, eiserne Tor stand einen Spalt offen, doch noch hatten die drei es nicht gewagt, das Innere des gewaltigen Bauwerks zu erkunden.

Gemeinsam gingen sie hinein. Obwohl es keine sichtbare Lichtquelle gab, herrschte düsterblaues Dämmerlicht. Unkenntliche Statuen und Säulen säumten die breite Halle. Eine Empore war über wenige Stufen zu erreichen. Darauf standen zwei weitere Statuen … wenn es denn welche waren.

Bei näherer Betrachtung erkannte Hikari, dass es auch Digimon sein konnten, die in einer Art Hülle aus Eis oder Harz eigeschlossen waren. Wie versteinert standen sie nebeneinander. Das eine sah aus wie ein Löwe mit menschlichem Körperbau. Die Augen waren blicklos, die Mähne gesträubt. Das Maul hatte er zu einem Brüllen aufgerissen. In der Hand hielt der Löwe ein wuchtiges Schwert. Er schien gerade auf dem Weg die Stufen hinab gewesen zu sein, als er versteinert wurde.

Die zweite Gestalt stand hinter ihm und sah auf ihre Weise noch furchterregender aus. Eine dämonische Gestalt mit zerfetzten Flügeln, gehörntem Helm, Vampirzähnen und überlangen Armen mit riesigen Händen. Ihr erstarrtes Grinsen war unheimlich.

„Du meine Güte, ihr habt sie gefunden!“, ertönte eine Stimme und ließ die DigiRitter zusammenzucken.

Monokuma trat hinter einer der Säulen hervor und sah dabei aus wie ein begossener Pudel. „Dabei habe ich sie versteckt, so gut ich konnte … Naja, eigentlich habe ich sie gar nicht versteckt. Aber ich dachte nicht, dass meine dermaßen faule klasse so sportlich wäre, den ganzen Berg hinaufzuklettern.“

„Dann hast du sie versteinert“, sagte Miyako anklagend. „Was ist das schon wieder für ein Spiel von dir?“

„Wieso?“ Monokuma spielte den Ahnungslosen entweder ziemlich gut, oder er war tatsächlich ausnahmsweise unschuldig. „Dieser Ort ist, wie gesagt, nicht für eure Augen bestimmt. Er zeigt nämlich, dass auch euer Direktor seine Grenzen hat – jaja, obwohl es mir schwer fällt, das zuzugeben.“

„Hör auf, in Rätseln zu sprechen“, sagte Wallace müde.

„Na gut. Ihr könnt mir dankbar sein. Diese zwei da haben euch nach dem Leben getrachtet.“

Nun starrten die DigiRitter ihn entsetzt an.

„Wirklich!“, warf Monokuma ihren sprachlosen Mündern entgegen. „Das sind Devimon und Leomon. Und wie es der Zufall will, wollten sie, ich zitiere, die DigiRitter vernichten.“

„Wa-warum denn?“, fragte Jou verdattert.

„Keine Ahnung. Haben befürchtet, ihr könntet ihre Pläne durchkreuzen oder so.“ Monokuma pfiff ein unschuldiges Liedchen.

„Und du hast sie eingefroren? Das sollen wir glauben?“, schnaubte Taichi. „Du wärst doch zufrieden damit, wenn sie uns umbringen!“

„Wo denkt ihr hin!“, rief Monokuma empört. „Die zwei sind nicht meine Schüler. Was habe ich davon, wenn sie euch umbringen? Ihr sollt euch gegenseitig umbringen!“

„Danke für die Erinnerung“, knurrte Daisuke.

„Ich glaube dir auch kein Wort“, sagte Iori. „Warum hast du sie nicht einfach unter deine Kontrolle gebracht wie Andromon und Shellmon? Da ist doch wieder etwas faul. Jedes Mal, wenn wir auf irgendetwas Merkwürdiges stoßen, ziehst du irgendeinen Vorteil daraus.“

„Hat euch schon mal jemand gesagt, dass Schüler einem Lehrer gefälligst zu glauben haben?“, rief Monokuma zornig. „Das lässt sich ganz einfach erklären! Devimon – das Schwarze – hat Leomon mit seiner eigenen dunklen Macht unter Kontrolle gebracht. Ich habe versucht, es zu beherrschen, aber Devimon war irgendwie gegen meine Manipulation immun und Leomon, nachdem es Devimons Todeskralle zum Opfer gefallen ist, ebenfalls. Also habe ich ein kompliziertes Programm geschrieben und die beiden in eine Datenquarantäne gesteckt.“

„Quarantäne?“, fragte Taichi. „Wie bei Leuten mit der Pest?“

„Ich glaube, er meint eher eine Virenquarantäne“, sagte Koushiro. „Ein Raum, in dem sie keinen Schaden anrichten und nicht mit ihrer Umwelt interagieren können.“

„Genau. Und da drin bleiben sie auch. Ich bin doppelt sichergegangen, dass sie niemand befreit. Seht ihr?“ Monokuma deutete auf die Wand hinter den beiden Digimon. Sie war über und über mit den rätselhaften Zeichen übersät, die sie schon in dem Labyrinth gesehen hatten. Nur dass diese Zeichen tatsächlich in den Stein geritzt waren.

„Ihr könnt also ganz beruhigt schlafen. Und euch gegenseitig umbringen“, meinte Monokuma, plötzlich wieder gut gelaunt. „Die zwei hier können euch nichts tun. Der Zugangscode zu den Quarantäneblöcken ist viel zu kompliziert für eure einfach gestrickten Köpfchen.“

Damit marschierte er mit stoffbärwackeligen Schritten wieder hinter seine Säule.

Als sie offenbar wieder allein waren, trat Koushiro auf die beschriftete Wand zu. „Was tust du da?“, fragte Taichi scharf.

„Wenn dieses Programm zwei gefährliche Digimon versiegelt, sollten wir es in Ruhe lassen“, meinte Wallace.

„Ich möchte ja nur überprüfen, ob Monokuma auch die Wahrheit gesagt hat.“ Koushiro stellte seinen Laptop am Boden ab. Seine Finger flogen über die Tasten. Währenddessen fuhr er fort: „Ich traue es ihm nämlich zu, dass das Ganze eine Falle ist. Am Ende ist das Programm in Wahrheit ein Countdown, der diese Digimon nach ein paar ruhigen Tagen in die Freiheit entlässt, um uns ein wenig aufzumischen. Oder“, er hielt inne, als käme ihm eben eine Idee, „vielleicht hilft uns dieses Programm dabei, von hier fortzukommen, und er will nur nicht, dass wir es lesen!“

„Aber du kannst es analysieren, ohne die beiden aufzuwecken, oder?“, fragte Hikari ein wenig unwohl.

„Natürlich. Ich hab’s gleich.“

Gleich bedeutete diesmal eine halbe Stunde. Die anderen tigerten rastlos in der Halle umher, bis Koushiro sich unsichtbaren Schweiß von der Stirn wischte und seufzte: „So. Also, Monokuma hat die Wahrheit gesagt. Es ist ein Programm, das die beiden Digimon in diese Glaskokons sperrt. Und um die zu öffnen, muss man einen Code eingeben. Und die Verschlüsselung ist echt verdammt kompliziert. Ich hab selten so was Ausgefeiltes gesehen.“

„Aber du als Computergenie kannst dich doch sicher reinhacken“, vermutete Daisuke.

Koushiro überlegte angestrengt und schüttelte dann den Kopf. „Nein, das ist mir ehrlich gesagt auch zu hoch. Ich kann es versuchen, aber wir hätten ohnehin nichts davon. Ich bräuchte einen Supercomputer und ein Jahr Zeit, um alle Möglichkeiten durchzuprobieren. Die einzige andere Möglichkeit wäre, den Code zu knacken, aber wenn ich mir die Verschlüsselung so ansehe, glaube ich nicht, dass ich da von alleine auf eine Schwachstelle draufkommen würde. Ehrlich gesagt verstehe ich die Details kaum.“

„Gut“, sagte Taichi. „Das heißt, wir können wieder gehen. Hier sind zwei Digimon eingesperrt, die uns – was wir nicht mit Sicherheit wissen – ans Leder wollten, und Monokuma hat uns geholfen und sie so gut verwahrt, wie es geht. Bin ich der Einzige, der das seltsam findet?“

Niemand erwiderte etwas, aber es war immerhin beruhigend zu wissen, dass diese Wesen nicht plötzlich erwachen würden.

 

Dieser gänsehauterregende Zwischenfall war bald vergessen. Sie hatten die Kathedrale nach weiteren Räumen abgesucht, aber nichts Interessantes gefunden. Am Abend brütete Koushiro wieder über seiner Karte. Wallace und Hikari hatten erzählt, sie hätten an einem besonders klaren Tag von einem Felsvorsprung aus etwas gesehen, das von oben wie eine Kirche aussah – am Rand der Insel. Beim Abendessen wurde überlegt, ob man diese auch besuchen sollte, aber sie konnten wohl erst aufgeben, wenn sie jeden Winkel der Insel erkundet hatten.

Am nächsten Morgen gab es wie immer Toastscheiben mit Butter und Honig zu essen. Anfangs hatten sie noch alle gemeinsam gefrühstückt, mittlerweile standen sie wieder zu verschiedenen Zeiten auf. Iori und Jou waren meist die Ersten und aßen ziemlich schweigsam. Später kamen Wallace und Hikari hinzu und heiterten das Ganze auf, dann gähnte ihnen Koushiro entgegen, dessen Augenringe verrieten, wie lange er gestern noch am Pläneschmieden gewesen war. Miyako kam bald nach ihm, aber die ersten hatten bereits ihr Geschirr abgewaschen und gingen ihrer Wege. Taichi, Mimi und Daisuke waren wie immer die Letzten, die verschlafen am Frühstücksstisch eintrudelten. Nicht lange danach begannen die für den Küchendienst Eingeteilten damit, das Mittagessen herzurichten. Heute waren es Wallace und Jou. So verschieden die beiden auch waren, wenn sie gemeinsam an etwas arbeiteten, verstanden sie sich überraschend gut.

Als sich alle zum Mittagessen versammelten, war Koushiro aufgeregt. „Hat jemand von euch meinen Laptop gesehen?“, fragte er in die Runde. Acht fragende Augenpaare begegneten seinem Blick.

„Wieso? Ist er weg?“, stellte Miyako eine nicht besonders geistreiche Frage.

„Ja, er ist weg“, brummte Koushiro. „Ich hab ihn gestern in meine Nachttischschublade gelegt, und nach dem Frühstück war er weg.“

„Und jetzt beschuldigst du uns, oder was?“, fragte Mimi lauernd.

„Nein! Aber ich suche ihn jetzt schon den ganzen Vormittag. Ich wollte nur wissen, ob ihn jemand von euch gesehen hat.“

Alle schüttelten die Köpfe.

„Wahrscheinlich war‘s Monokuma“, meinte Wallace achselzuckend. „Er hat erkannt, dass uns dein Laptop bisher immer gut zu Diensten war. Bei den Strafprozessen und auch sonst. Wahrscheinlich fürchtet er, wir kämen mit seiner Hilfe bald von hier fort. Ein gutes Zeichen, wenn ihr mich fragt.“

„Das nur gut wäre, wenn der Laptop noch hier wäre“, brummte Taichi.

Das Haus wurde noch mal auf den Kopf gestellt, jeder Winkel durchsucht, aber niemand fand ihn.

„Also gut“, seufzte Iori. „Wer hätte denn Gelegenheit gehabt, ihn zu stehlen?“

„Stehlen?“, fragte Mimi. „Also werden wir doch verdächtigt?“

„Nur mal angenommen.“ Daisuke rollte mit den Augen. „Sei doch nicht gleich so eine unkooperative Ziege.“

Sie funkelte ihn zornig an. „Wahrscheinlich hätte ich den Laptop sogar nehmen können. Als ich aufgestanden bin, war das Jungenzimmer wahrscheinlich leer, weil ich unter den Letzten am Frühstückstisch war. Willst du das damit sagen?“

„Ganz ruhig“, sagte ausgerechnet Taichi. „Das beweist gar nichts. Dann könnte ich ihn auch genommen haben.“ Sein Blick traf finster Daisuke. „Und du auch.“

Dieser hob entwaffnend die Hände. „Schon klar, ich sag ja nur, dass wir alle ehrlich sein sollten. Wir drei waren die Letzten, ja. Kann es sonst noch jemand gewesen sein?“

„Ich war am Frühstückstisch, als Koushiro reingekommen ist“, erklärte Wallace grinsend. „Danach war ich nur kurz auf der Toilette, ansonsten habe ich mit den anderen geredet. Dann sind Jou und ich schon in die Küche gegangen. Wasserdichtes Alibi, möchte ich sagen.“

„Ich habe auch mit Koushiro gefrühstückt“, sagte Miyako.

„Und ich bin nach dem Frühstück wieder in unser Zimmer gegangen und habe gesehen, dass der Laptop weg ist“, betonte Koushiro.

„Also fällt Miyako auch weg“, sagte Hikari.

„Aber sie ist nach Koushiro gekommen, oder?“, fragte Wallace. Auf Miyakos verletzten Blick hin meinte er: „Was nicht heißt, dass wir sie verdächtigen sollten.“

„Wir anderen könnten es auch alle gewesen sein“, meinte Hikari. „Wir haben früher gegessen und dann das Esszimmer wieder verlassen.“

„Da seht ihr‘s, wir können niemanden festnageln“, sagte Mimi. „Vielleicht löst sich das Ganze ja von selbst auf.“

„Ach ja? Und wie?“, fragte Daisuke. „Sollte der Dieb plötzlich Gewissensbisse kriegen oder was?“

Der Dieb schein tatsächlich Gewissensbisse zu bekommen. Nach dem Abendessen spielten sie im Esszimmer mit Karten, die Wallace aus einfachem Papier gebastelt hatte, und Koushiro kam mit wichtiger Miene hereinspaziert. Im Arm trug er seinen Laptop wie ein Neugeborenes. „Er war unter meinem Bett“, erklärte er.

„Na bitte“, sagte Taichi und sah nur kurz von seinem Blatt auf. „Also war das alles viel Wind um nichts.“

„Könnte man meinen“, sagte Koushiro. „Allerdings bin ich mir sicher, dass ich unter dem Bett mindestens zweimal nachgesehen habe.“

„War dann wohl einmal zu wenig“, meinte Taichi achselzuckend und schmetterte seine Karten auf Wallace‘. „Mein Stich.“

„Fehlt denn irgendetwas darauf?“, fragte Miyako, die sich etwas interessierter zeigte.

„Ich hab genau nachgesehen. Meine Dateien sind noch alle drauf. Nichts gelöscht oder so.“

„Dann ist ja alles in Butter.“ Taichi machte auch den nächsten Stich. Er war in Höchstform.

„Du scheinst das ja sehr leicht zu nehmen“, meinte Koushiro verärgert. „Wenn einer von uns falsch spielt …“

„Stopp!“, sagte Mimi entschieden. „Keine Verdächtigungen mehr, bitte. Ich halte das nicht aus. Es war die letzten Tage ruhig, oder? Wenn wir uns immer nur gegenseitig verdächtigen, kommen wir nie hier weg.“

Koushiro betrachtete die Runde mit einem leicht säuerlichen Blick, als wollte er sagen: Mit Kartenspielen aber auch nicht.

Am nächsten Tag nahm das Unheil seinen Lauf. Einer der DigiRitter fehlte plötzlich.

„Hat irgendjemand Iori gesehen?“, fragte Hikari, als sie beim Mittagessen auf ihn warteten. Die anderen verneinten und sahen sich verwundert an. Dass ausgerechnet Iori zu spät kam, wollte niemand von ihnen glauben. Obwohl ihre Mägen knurrten – die von manchen mehr als die von anderen – sprangen sie auf und begannen, im ganzen Haus nach ihm zu suchen.

„Ich glaube, er ist nicht hier“, meinte Daisuke plötzlich.

„Wieso?“, fragte Hikari.

„Miyako, er und ich, wir drei sind ja am Vormittag den Weg abstecken gegangen, den wir nehmen können, um zu dieser Kirche zu kommen“, sagte er. Jetzt erinnerte sich Hikari auch. Koushiro hatte gemeint, einfach drauflos zu marschieren wäre zu riskant, also hatten sie erst einen Pfad ausfindig machen wollen, der schnell auf die andere Seite des Berges und von dort weiter zu dem Teil der Insel führte, auf dem die rätselhafte Kirche lag. Während die anderen die Zeit mit Kochen, Feuerholzsammeln und Nahrungssuche – denn die Vorratskammer war beinahe leer – verbracht hatten, waren diese drei losgegangen.

„Ist er denn nicht mit euch zurückgekommen?“, fragte Joe.

„Doch“, sagte Miyako. „Das heißt, wir haben uns knapp vor dem Haus aufgeteilt.“

„Wie knapp?“, fragte Taichi. „Und warum?“

„Vielleicht einen Kilometer oder zwei vorher … Wallace hat uns erzählt, dass sie ziemlich wenige Beeren gesammelt haben, also wollten wir auch noch welche suchen gehen. Weil von den Beeren immer so wenige auf einem Fleck wachsen, haben wir uns verschiedene Stellen vorgenommen.“

„Dann ist die ganze Sache deine Schuld“, knurrte Taichi Wallace an, der abwehrend die Hände hob.

„Hey, ganz ruhig. Wir anderen haben uns ja auch aufgeteilt. Uns ist nichts passiert. Warum sollte es schließlich auch?“

„Warum euch was passieren sollte?“, blaffte Taichi ihn an. „Es ist gefährlich, allein herumzulaufen! Jemand könnte …“ Er verstummte.

Hikari sah ihn traurig an. Kaum war der Aufenthaltsort von einem von ihnen nicht ganz geklärt, fingen sie schon wieder an, sich als Mörder zu verdächtigen. Auch wenn es ihnen wohl niemand verübeln konnte, verabscheute sie diese Einstellung. „Lasst uns erst mal nach ihm suchen“, schlug sie vor. „Vielleicht hat das alles einen ganz harmlosen Grund.“

Sie riefen vor dem Haus Ioris Namen, aber er antwortete nicht. Taichi begann wüst herumzufluchen und fuhr jeden gereizt an, der das Pech hatte, ihm im Weg zu stehen. „Wo sind diese dämlichen Beerensträucher, die ihr abernten wolltet?“, fragte er Miyako und Daisuke.

„Die wachsen hier überall“, sagte Daisuke.

„Nur eben nicht alle auf einem Fleck“, ergänzte Miyako. „Im Umkreis von zwei Kilometern kann er wahrscheinlich überall sein.“

„Wir sollten uns beeilen“, murmelte Daisuke. „Irgendwie hab ich ein mieses Gefühl. Vielleicht ist Iori verletzt und braucht unsere Hilfe …“

„Wenn es wirklich einen Mord gab, dann ist es sicher schon zu spät“, sagte Wallace freimütig und fing sich damit die entsetzten Blicke der anderen ein. „Wenn nicht, ist alles in Ordnung. Wir sind alle hier, keiner kann ihm was anhaben.“

„Aber vielleicht ist er die Klippen runtergefallen oder in eine Felsspalte gerutscht“, murmelte Joe.

„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass einer von uns ihm etwas getan haben soll“, sagte Daisuke. „Wir wollen hier zwar alle weg, aber wir haben uns doch zusammengerauft – oder seht ihr das anders?“

Die Meinungen waren da wohl gespalten, denn ihre Gesichtsausdrücke reichten von zustimmend bis zweifelnd.

„Leute, kommt schon“, stöhnte Daisuke.

„Die letzten paar Mal hat es uns auch überrascht“, sagte Wallace. „Eigentlich wäre es seltsam, wenn es diesmal kein Mord wäre.“

„Natürlich, ihr Amis seid doch ganz von Paranoia zerfressen“, giftete Daisuke.

„Beruhigt euch“, ermahnte sie Taichi, selbst alles andere als ruhig. „Suchen wir lieber weiter.“

Sie umrundeten das Haus zweimal und prüften auch die dahinterliegende Felswand, ohne auf eine Spur von Iori zu stoßen. „Wenn wir ihn nicht bald finden, wird es Nacht“, stellte Daisuke fest. „Das hat so keinen Sinn. Wenn er wirklich irgendwo abgestürzt ist, könnte er jetzt in diesem Moment verbluten.“

„Nur nicht zu optimistisch sein“, knurrte Taichi gereizt.

„Ich bin ja optimistisch“, empörte sich Daisuke. „Wir finden ihn sicher. Ich will ihn nur eher früher als später gefunden haben.“

„Was schlägst du denn vor, um die Sache zu beschleunigen?“, fragte Wallace. „Einen größeren Radius absuchen, klar. Aber sollen wir uns etwa wieder aufteilen, damit es schneller geht?“

Daisuke zuckte mit den Schultern.

„Ich bin dagegen“, sagte Koushiro. „Es ist zu gefährlich, allein in den Bergen herumzustolpern.“

„Jetzt auf einmal. Weil einer von uns auf die Idee kommen könnte, jemand anderes umzubringen?“, fragte Taichi streitlustig.

„Nein! Nein, das meine ich nicht. Aber auf dem Berg kann man wirklich schnell abstürzen. Und einer allein … Es ist vielleicht schon Iori abgestürzt, ohne dass wir wissen, wo.“

„Wir sollten mindestens zu zweit losgehen“, überlegte Miyako. „Auf die Art braucht sich niemand zu fürchten. Jeder passt gut auf seinen Partner auf, okay?“

„Von mir aus. Ich warte jetzt nur auf das Gegenargument“, knurrte Daisuke. Die Suche schien auch an seinen Nerven zu reiben.

„Was für ein Gegenargument?“, fragte Hikari.

„Dass man zu zweit ein noch leichteres Ziel ist, wenn der Partner jemanden umbringen will. Kommt schon, sagt es. Ihr könnt es ja nicht lassen, ständig Leute zu verdächtigen.“

„Hältst du jetzt mal den Rand?“, fuhr Taichi ihn an. „Niemand bringt hier jemanden um. Und niemand verdächtigt irgendwen!“

„Das ist ja auch meine Meinung“, sagte Daisuke laut. „Aber weil sicher jemand wieder damit anfangen wird, wollte ich es gleich im Vorhinein ansprechen!“

„Und damit jemand das Gegenargument entkräftet: Sollte sich, rein hypothetisch, jemand diese Frage stellen“, sinnierte Wallace, „legen wir fest, dass jeder, der ohne seinen Partner zurückkommt, verdächtig ist. Beruhigt euch das?“

„Nicht wirklich“, murmelte Mimi. Hikari wusste, worauf Wallace hinauswollte, aber ihr gefiel es auch nicht, dass sie nun tatsächlich wieder Was-wäre-wenn-Spiele spielen mussten.

„Also schön, dann bilden wir unsere Zweierteams, sonst geht wirklich noch die Sonne unter“, sagte Taichi. „Ich gehe mit Hikari, das ist ja wohl klar.“

Seine Schwester rollte mit den Augen.

„Du solltest mit Mimi gehen“, sagte plötzlich Daisuke. „Ihr zwei scheint ja neuerdings recht vertraut.“ Er hob abwehrend die Arme, als Taichis funkelnder Blick ihn traf. „Hey, das meine ich nicht böse. Ich sag ja nur, dass Vertrauen gut ist. Du gehst mit Mimi, das ist für euch beide am sichersten, und ich beschütze Hikari.“

„Und wer beschützt Hikari dann vor dir?“, grollte Taichi.

„Ich muss von niemandem beschützt werden“, schnappte Hikari. „Behandelt mich nicht wie ein kleines Kind.“

„Du bist aber meine kleine Schwester“, sagte Taichi.

„Ja, leider“, murmelte sie, schluckte dann. Es war nicht fair, ihre Nervosität an ihrem Bruder auszulassen. Auch wenn er mal wieder überfürsorglich war. Sie drehte sich mit einem Ruck um. „Ich gehe allein“, verkündete sie.

„Was …“, wollte Taichi auffahren, doch sie sagte laut: „Es ist jetzt wichtiger, dass wir an Iori denken. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Das konnte ich bisher auch, und ich werde es euch ein für alle Mal beweisen.“

„Dann lass mich dich wenigstens begleiten“, meinte Wallace lächelnd. „Ganz ohne Hintergedanken.“

„Tut mir leid, aber allein heißt allein“, sagte sie schnippisch und machte sich schon mal auf den Weg.

„Schön.“ Daisuke rollte mit den Augen. „Da die Familie Yagami heute mal wieder äußerst unkooperativ ist … habt mich doch alle mal gern.“ Auch er stapfte los.

„Darf ich dann wenigstens dir meine Begleitung anbieten?“, fragte Wallace Miyako.

„Das hier ist keine Dating-Veranstaltung“, sagte Mimi bissig. „Wir sollten Iori suchen, und zwar so schnell wie möglich.“

„Also sollen wir uns tatsächlich aufteilen?“, murmelte Jou unbehaglich.

„Um Himmels willen, ja! Ich glaube, wir kennen uns mittlerweile gut genug, dass wir uns vertrauen können, oder nicht? Und wenn einer von uns jemandem etwas tun wollte, hätte er in den letzten Tagen ausreichend Gelegenheit gehabt. Also los, wir teilen uns auf.“

Schließlich trennten sich die DigiRitter. Die Tage, in denen nichts geschehen war, hatten sie eingelullt. Es würde schon alles gut gehen. Für Ioris Verschwinden gab es eine harmlose Erklärung. Keiner von ihnen würde einen Mord begehen, nicht nach all der Zeit, in der sie immer weiter zusammengewachsen waren. Das war es, was sie dachten.

Und natürlich war es ein Riesenirrtum. Und dass sie sich trennten, ein Riesenfehler.

 

Sie waren noch gar nicht lange unterwegs – zumindest kam es Hikari nicht so vor. Die Sonne ging hinter dem Berg unter und ließ die Felshänge in einem sanften Ockerton leuchten. Die DigiRitter suchten kreuz und quer den ganzen Berg ab – Hikari kam der Gedanke, dass sie sich doch zu schnell auf den Weg gemacht hatten. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Berg in Gebiete aufzuteilen, sodass jeder woanders suchte. Dann konnten sie mehrere Bereiche in kürzerer Zeit durchkämmen.

Sie kämpfte sich über kleine Geröllhänge und zwängte sich an Dornensträuchern vorbei, immer weiter auf die Bergspitze zuhaltend, als sie den Schrei hörte.

Sie fuhr herum. Sie hatte die Stimme sofort erkannt. „Miyako!“

Nicht weit unter ihr, am anderen Ende einer Steilwand, raschelte es, halb verdorrte Sträucher erzitterten, und mit hochrotem Kopf brach Miyako aus dem Dickicht hervor. Sie stolperte mehr, als dass sie lief.

Hikari rief erneut ihren Namen und winkte ihr zu.

„Hikari …“, japste ihre Freundin. Sie war so außer Atem, dass sie taumelte. „Schnell … renn weg …“

Hinter Miyako teilte sich das Gebüsch – nein, es wurde regelrecht auseinandergerissen. Eine massige Gestalt sprang rücksichtslos aus dem Unterholz und schien die Äste und Dornen, die an ihrem bloßen Oberkörper kratzten, gar nicht zu spüren.

Hikari verschlug es den Atem. Miyako wurde von einem riesigen Löwenmenschen verfolgt. Eine wallende, goldene Mähne wehte hinter der Gestalt her. Die Abendsonne brach sich auf der Klinge eines brachialen Schwertes. Ein durchdringendes Knurren, wie es nur Raubtiere zustande brachten, rollte aus der Kehle des Digimons.

Es war eines der beiden, die eigentlich auf der Spitze des Berges in Kristall eingeschlossen sein sollten. Leomon.

„Miyako!“, schrie Hikari aufgelöst. „Schnell! Mach, dass du hier raufkommst!“ Etwas Besseres fiel ihr im Moment nicht ein.

Miyako biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mit der Kraft der Verzweiflung weiter, nahm die Hände zur Hilfe und zerrte sich an der Felswand in Laufrichtung weiter. Sie wurde an dieser Stelle bald zu steil, um sie zu erklimmen, aber wenn Miyako noch ein paar Dutzend Meter weiterlief, kam sie zu dem Geröllhaufen, über den auch Hikari geklettert war.

Leomon bemerkte Hikari, wie sie ihre Freundin von der Kante aus anfeuerte, und sah zu ihr hoch. Seine Augen wirkten … leer. „Noch ein DigiRitter“, knurrte es. „Ich vernichte euch.“

Dann stürmte es wieder los.

„Miyako!“, kreischte Hikari, als das Digimon ihre Freundin fast eingeholt hatte. Diese erklomm eben den abgerutschten Hang, kroch völlig entkräftet auf allen Vieren über die Felsbrocken, die unter ihren Füßen immer wieder wegrutschten. Fast war es, als würde Leomon sie anziehen wie ein Magnet …

„Nimm meine Hand, schnell!“ Hikaris Stimme war schrill geworden. Sie kletterte Miyako so gut es ging entgegen, schürfte sich Hände und Knie an den scharfen Gesteinsbrocken auf und streckte dem Mädchen den Arm hin.

„Hi…kari …“ Mehr brachte Miyako nicht heraus. Dann ragte Leomon wie ein Baumstamm hinter ihr auf. Hikari packte Miyakos Schulter, gerade als das Digimon mit seinem Schwert hoch über dem Kopf ausholte. Sie meinte, den heißen Atem des Löwen auf ihrer Haut zu spüren …

Dann flog etwas aus dem Nichts heran und explodierte genau zwischen ihnen. Mit einem Aufschrei wurden Hikari und Miyako von dem Geröllhaufen gefegt, Steine polterten ihnen hinterher, als wären sie so leicht wie Styroporkügelchen.

Eine zweite Detonation folgte, noch während die beiden Mädchen in der Luft waren. Hikari schlug hart auf den Felsen auf, rumpelte über den Boden und fühlte sich wie über ein Waschbrett gezogen. Sie stieß sich das Knie so heftig, dass sie vor ihrem inneren Auge schon ihre Kniescheibe zersplittern sah. Dann dämpfte irgendein halbverdorrter Strauch ihre Rutschpartie, und im nächsten Moment landete Miyako quer auf ihrer Brust und presste ihr den Rest ihres Atems aus der Lunge.

Ein bestialisches Brüllen wurde laut. Mit tränenverschleiertem Blick erkannte Hikari Leomon, das die Explosion ebenfalls einige Schritte weit fortgeweht hatte, doch es stand noch aufrecht. Ein halbes Dutzend riesiger Insekten umkreiste es, und es hackte auf mehrere zangenbewehrte Käfer ein. Eine Art Biene schoss Stacheln auf es, die sich in seinen nackten Oberkörper bohrten – und dann sprang der Cyborg aus der Fabrik, Andromon, wie aus dem Nichts heran. Seine Hand war eine rotierende Klinge geworden, die Leomons Rücken durchbohrte und an der Brust wieder hervorkam. Leomon brüllte vor Schmerz mit einer schrecklichen Mischung aus Tier- und Menschenstimme, Andromons Brustklappen öffneten sich, Rauch entwich – und mit einem gewaltigen Krachen explodierten seine Raketen aus nächster Nähe.

Nach dieser selbstmörderischen Aktion war von den beiden Digimon nichts mehr übrig. Nur ein Krater im Boden war Zeuge des Kampfes. Die Insekten kurvten noch eine Runde durch die Luft und drehten dann ab.

Das alles hatte weniger als zehn Sekunden gedauert. Hikari war noch immer ganz benommen. Wenn sie nicht wüsste, dass sie keine solche Fantasie hatte, hätte sie die Szene auch für einen Traum halten können.

Erst jetzt spürte sie die hundert Schmerzherde auf ihrem Körper wieder. Ächzend schob sie Miyako von sich herunter. „Ist alles … okay?“, fragte sie mit gepresster Stimme.

Miyako konnte nicht von alleine aufstehen. Als Hikari sie stützte, pochte ein hohler Schmerz durch ihr Knie.

Ihre Freundin sah furchtbar aus. Das Haar zerzaust, die Brille zersprungen, und von einer Wunde an der Stirn lief ihr Blut übers Gesicht.

Aber sie lebten. Hikaris Herz klopfte noch einmal schneller, als ihr bewusst wurde, dass dieses Digimon sie beinahe getötet hätte, wenn nicht … Ja, was war eigentlich geschehen?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sprang Monokuma aus einer Baumkrone hervor und jagte den beiden Mädchen einen Heidenschreck ein. „Du!“, stieß Miyako mit gutturaler Stimme aus, noch ehe der kleine Bär zu Wort kam. „Das warst du! Du hast uns dieses Ding auf den Hals gehetzt!“

Sie wollte nach Monokuma treten, knickte aber ein und ging nach Atem ringend in die Knie.

„Miyako – ist alles in Ordnung?“ Hikari kniete sich besorgt neben sie.

Miyako krallte die Hand in ihre Schulter, um sich an ihr hochzustemmen. „Geht … schon …“, ächzte sie. „Wegen diesem Mistkerl … hab ich … nur einen ganzen … Marathon hinter mir!“ Sie funkelte Monokuma wütend an.

„Puhuhuhu“, machte der Bär. „Also wirklich. Da eilt man auf einem edlen Schimmel den Jungfrauen in Not zur Hilfe, und was ist der Dank?“

„Hi-Hilfe?“, machte Hikari verdattert. Der Gedanke kam ihr eben zum ersten Mal, aber wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Monokuma behauptet, Leomon nicht beherrschen zu können – und Andromon dafür schon.

Der Bär winkte gut gelaunt ab. „Kein Grund, gleich in Begeisterungsstürme auszubrechen, mir euer Eigentum zu vermachen und eure Kinder nach mir zu benennen. Ich kann nur nicht zulassen, dass jemand unser schönes Sterbecamp unterbricht. Jemand muss ja dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden – und ich habe euch versprochen, genau das zu tun.“

Während Miyako und Hikari ihn noch fassungslos anstarrten, wurden von der anderen Seite der Felswand Schritte laut. „Hikari! Miyako! Was ist los, warum habt ihr so geschrien?“ Es war Daisuke. Als er Monokuma sah, blieb er wie erstarrt stehen. „Hast du sie angegriffen?“, blaffte er.

„Puhuhuhu, heutzutage wird ein Retter in Not wirklich nicht mehr gewürdigt“, meinte der kleine Bär. „Aber ich will es euch nachsehen. Ich habe schließlich ein ganzes Regiment an Digimon gebraucht, um Leomon zu besiegen. Andererseits – wisst ihr, dass ihr jetzt schuld daran seid, dass ich Andromon nicht mehr habe?“

„Wie schade“, knurrte Daisuke. „Was war denn los?“, fragte er, freundlicher, an Hikari gewandt.

Als die beiden zu erzählen begannen, trollte sich Monokuma hinter den nächsten Baumstamm und war wieder einmal verschwunden.

„Das … das ist ja …“, murmelte Daisuke. „Ich meine, hat Monokuma nicht gesagt, dass dieses Leomon unmöglich freikommen kann?“

„Das hat er gesagt“, sagte Hikari düster. „Und wir haben ihm offenbar geglaubt, obwohl er hinter all dem hier steckt.“

Daisuke machte ein nachdenkliches Gesicht. Miyako fragte: „Aber warum sollte Monokuma Leomon in Stücke sprengen, wenn er es uns erst auf den Hals gehetzt hat? Nur so zum Spaß, damit wir uns ängstigen? Er hat schon recht, Andromon war wahrscheinlich ein ziemlich starker Untergebener, mit dem er uns gut in Schach hätte halten können.“

Daisuke kniff die Augen zusammen und sah zur Spitze des Berges hoch. „Ich hab da ein ganz mieses Gefühl … Kommt.“ Damit lief er los.

„Daisuke, warte!“ Obwohl Hikari der Schreck noch in allen Knochen steckte – und Miyako die Erschöpfung –, rannten sie ihm hinterher. Er schlug die Richtung ein, die zu jenem Pfad führte, den sie das erste Mal zur Bergspitze genommen hatten.

Unterwegs stießen sie auf Taichi und Mimi. Die beiden waren wohl die Einzigen, die letzten Endes wirklich zu zweit losgezogen waren. Als Taichi Hikari mit zerrissenen, schmutzigen Klamotten den Weg entlang humpeln sah, umwölkte sich seine Miene. „Was ist passiert?“, fragte er düster, und sofort spießte er Daisuke regelrecht mit Blicken auf.

„Hey, ich bin erst zu ihnen gestoßen, als es schon vorbei war!“, wehrte dieser ab. „Und außerdem, wenn ich von Anfang an bei Hikari geblieben wäre, so wie ich es wollte, dann wäre …“

„Dann wäre es trotzdem passiert“, unterbrach ihn Hikari. „Leomon ist freigekommen“, erklärte sie knapp.

Mimi und Taichi machten große Augen. „Le-Leomon? Das Löwenbiest in dem Kristall?“, fragte sie.

„Ist alles in Ordnung mit euch?“ Taichis Zorn war auf einen Schlag verraucht und machte reiner Sorge Platz.

„Den Umständen entsprechend“, sagte Miyako. „Monokumas Digimon haben uns gerettet.“

„Wieso sollten die das tun?“, fragte Mimi. Auf Taichis Blick hin zuckte sie zusammen. „Ich meine, ich bin froh, dass sie es getan haben, aber …“

Hikari wusste, dass Taichis Miene nicht vorwurfsvoll gewesen war. Der Blick, den er Mimi zugeworfen hatte, hatte etwas anders bedeutet. Und nun, da der Schock langsam abklang, stellte sie sich dieselbe Frage wie ihr Bruder.

Wenn Monokuma nicht gewollt hatte, dass Leomon freikam, und sonst alle Digimon auf der Insel beherrschte … wer hatte Leomon dann befreit?

„Einer von uns muss den Code geknackt haben“, sagte Daisuke in die angespannte Stille hinein. „Das ist die einzige Möglichkeit.“

„Warte – ist es nicht ein wenig früh, das zu schlussfolgern?“, fragte Miyako. „Vielleicht war Monokumas Eiskristall einfach undicht, oder der Code hatte einen … einen Bug. Leomon könnte sich von selbst befreit haben.“

„So oder so, wir sollten das überprüfen“, beschloss Taichi. „Seid ihr auf dem Weg zum Gipfel?“

Daisuke nickte.

„Okay. Hikari, Mimi, Miyako: Ihr geht die anderen suchen. Und diesmal bleibt ihr zusammen.“ Taichi nickte Daisuke zu. „Wir sehen oben in dieser Kathedrale nach dem Rechten. Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, was hier los ist.“

„Seid vorsichtig“, warnte Hikari. „Da ist noch das zweite Digimon – dieses Devimon. Das könnte ebenfalls freigekommen sein.“

„Wir beeilen uns. Wenn’s brenzlig wird, sind wir sofort wieder weg.“

„Aber wenn ich mich recht erinnere, hatte Devimon Flügel!“ Mimi ergriff fest Taichis Hand. „Ich lass dich sicher nicht dort hinauf. Wir sollten alle sofort zum Haus zurückgehen.“

„Sollen wir uns etwa einfach verstecken? Wir haben Iori immer noch nicht gefunden“, empörte sich Taichi.

„Puhuhuhu …“

Mit einem Satz sprangen die DigiRitter auseinander. Monokuma war zwischen sie gehopst – wie immer direkt aus einem nahen Gebüsch.

„Mach das noch einmal, und ich nehm dich auseinander“, zischte Taichi mit geballten Fäusten.

„Keine Gewalt gegenüber eurem Direktor“, ermahnte Monokuma sie. „Ich bin nur hier, um die Diskussion abzukürzen. Devimon ist nicht freigekommen. Es ist weiterhin tiefgefroren und wird die nächsten tausend Jahre nicht rauskommen … Vorausgesetzt natürlich, der Codeknacker hackt sich nicht wieder in mein Versiegelungsprogramm“, verkündete er nach einer Kunstpause. Dann verschwand er auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war, und ließ die DigiRitter mit dieser Offenbarung stehen.

„Also hat doch jemand …“, murmelte Miyako.

„Koushiro!“, rief Taichi. „Wo ist Koushiro? Habt ihr ihn während der Suche gesehen?“ Hikari verstand. Der Rotschopf war der Einzige, der auch nur annähernd das Zeug dazu hatte, einen digitalen Code zu knacken. Aber hatte er nicht selbst gesagt, dass dieser hier zu kompliziert wäre, selbst für ihn?

 

Die Mädchen liefen schließlich los, um die anderen zu finden. Taichi und Daisuke erklommen ein weiteres Mal den Berg. Sie waren es, die als Erstes jemanden fanden – nämlich Koushiro.

Es war gar nicht mehr weit bis zur Bergspitze. Der Weg schlängelte sich hier durch schroffe Felszacken nach oben, aus der Felswand entsprang ein kleiner Wasserfall mit eisigem Quellwasser, und davor lag Koushiro, leblos.

Die beiden Jungen stießen einen Schrei aus und stürzten zu ihm. „Koushiro!“, rief Daisuke und rüttelte ihn an der Schulter. „Verdammt, mach die Augen auf!“

Der Rotschopf lag auf dem Bauch in einer Lache aus Blut. Vor ihm, gerade so in Reichweite, stand sein Laptop, aufgeklappt.

„Verflucht, und dabei hab ich ihn eben noch verdächtigt!“, stöhnte Daisuke auf. „Reiß dich zusammen, Koushiro! Koushiro! Tu uns das nicht an, Alter!“

„Er hört dich nicht“, murmelte Taichi.

„Er ist noch nicht tot!“, beharrte Daisuke kurzatmig. „Monokuma hat noch nicht seine übliche Verlautbarung gemacht, dass wir eine Leiche gefunden haben – also ist das hier keine Leiche!“ Er tastete nach Koushiros Schlagader, um seinen Puls zu fühlen, und zuckte zurück. Seine Finger waren nass von Blut.

„Gib’s auf“, murmelte Taichi und ließ sich kraftlos auf einen Felsen sinken. „Monokuma macht die Meldung nur, wenn drei Leute eine Leiche gesehen haben. Wir sind nur zu zweit.“

Daisuke hatte eben noch ausgesehen, als wollte er den Toten auf den Rücken drehen, doch bei diesen Worten erstarrte er. Dann glitt sein Blick auf den Laptop. „Sieh mal“, hauchte er.

Taichi hob den Blick.

Koushiros leblose Hand lag auf der Tastatur des Laptops. Die Tasten waren rot verschmiert. Der Laptop war eingeschaltet, und auf dem Bildschirm sah man endlose Zahlenkolonnen, und die letzten Worte, die dort wie Koushiros Sterbebotschaft standen, lauteten: Versiegelung geöffnet.

 

Hikari, Mimi und Miyako blieben in gut einsehbarem Gelände, um einen möglichst weiten Blick zu haben. Während sie zurück Richtung Haus liefen, riefen sie immer wieder nach den anderen. Der Berg war einfach zu riesig, das Gelände zu weitläufig – es würde ewig dauern, all ihre Freunde zusammenzutrommeln.

Doch schon nach fünf Minuten wurden sie fündig. Miyako blieb plötzlich stehen. „Da!“ Ihr Arm schwenkte herum. Hikaris Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger. Dort stand Jou, am Rand eines kleinen Wäldchens am Berghang. Wieso hatte er nicht geantwortet? Er musste sie doch rufen gehört haben?

„Jou!“, rief Mimi. Sie liefen auf den Jungen zu. „Taichi will, dass wir …“

Als Jou sich zu ihr umdrehte, verstummte sie. Er war leichenblass. Schweiß lief über seine Stirn. „Wa-wartet! Bleibt weg!“

„Was meinst du mit bleibt weg?“, fragte Hikari irritiert. Miyako stapfte wie aus Trotz noch näher heran. Die Lebensgefahr, in der sie geschwebt waren, hatte ihre kühne Seite geweckt. Sie war gereizt, und Hikari fühlte sich genauso.

Jou benahm sich komisch. Er trat Miyako sogar in den Weg und hob halb die Arme, als wollte er sie tatsächlich aufhalten. Sie musterte ihn mit blitzenden Augen. „Was soll das? Was ist da?“

Jou machte den Mund auf, dann schlug er die Augen nieder und trat zur Seite. Miyako ging an ihm vorbei auf den Waldrand zu und sog scharf die Luft ein.

Das genügte. In Windeseile waren Mimi und Hikari an ihrer Seite und starrten auf die Szene, die sich ihnen bot.

„Pam-pam-pam-paaam“, erklang es fröhlich. Wieder einmal tauchte Monokuma hinter ihnen auf, doch diesmal drehte sich niemand zu ihm um. Der Bär amüsierte sich sicherlich königlich, als er sagte: „Eine Leiche wurde gefunden. Es wird endlich wieder ein Klassentribunal geben, also ermittelt ordentlich! Ich lade sofort das neue Monokuma-File auf eure DigiVices. Viel Spaß!“

Hikari hörte kaum hin. Was sie alle befürchtet hatten, war eingetreten. Doch es sah ungleich schlimmer aus.

Selbst aus einigen Schritten Entfernung konnte man sehen, dass Iori nicht gestorben war, weil er die Felswand hinuntergefallen war. Es sah eher so aus, als hätte etwas Scharfes, Längliches seine Brust durchbohrt. Er lag leblos in dem Wäldchen, und da war so viel Blut …

Mimi würge und kauerte sich zusammen. Miyako begann am ganzen Leib zu zittern und zusammenhanglose Wortfetzen zu stammeln. Was Jou tat, sah Hikari nicht. Sie selbst konnte nur die Leiche anstarren.

Es war wieder geschehen. Und dabei hatten sie geglaubt, es hinter sich zu haben.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Rekordlänge! Und wir können mit dem dritten und letzten Fall starten.
Bei Interesse werde ich übrigens zu Gundham ganz am Ende noch eine kurze Erklärung anbringen; alles, was für die Story/den Fall relevant ist, findet sich aber in den Kapiteln ;) Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  hayden
2019-01-17T00:17:07+00:00 17.01.2019 01:17
Ich melde mich auch mal wieder :D

Verdächtigen würde ich jetzt erstmal Izzy, Wallace und Yolei. Eventuell noch Iori, wobei ich mir bei ihm und Yolei am unsichersten bin. Und immerhin ist Iori jetzt auch tot, obwohl ich glaub das Leomon ihn getötet hat.

Mein Hauptverdächtiger ist Wallace. Stille Wasser sind tief und so wirklich viel wissen wir ja nicht über ihn. Und wäre es Izzy gewesen, würde er ja wohl noch leben. Außer jemand hat rausbekommen das er es war und ihn dann umgebracht ...

Aber das Klassentribunal wurde einberufenen nachdem Iori gefunden wurde, also hat doch einer der anderen Iori getötet?

Ehrlich gesagt bin ich nach all diesen Gedanken jetzt ziemlich verwirrt ^^"

Ich halte mal das wichtigste fest und sage Wallace wars. Er hat den Code geknackt und Izzy getötet und indirekt auch Iori!
Von:  EL-CK
2019-01-09T19:01:52+00:00 09.01.2019 20:01
und wieder eine Leiche... und wiedermal hast du meine Hoffnung zerstört... aber eigentlich hätte ich's wissen müssen - die Ruhe war zu trügerisch...
bin schon aufs nexte Kapitel gespannt...
Antwort von:  UrrSharrador
15.01.2019 01:00
Kennst mich ja, hab ich gern gemacht xD
Danke für deinen Kommi!


Zurück