DigiRonpa von UrrSharrador (Mut. Freundschaft. Liebe. Wissen. Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Licht. Hoffnung ... Verzweiflung.) ================================================================================ Fall 01: Tägliches Leben – Überlebenscamp für Anfänger ------------------------------------------------------ „Das ist ja wohl ein Witz!“ Daisuke schleuderte zornig sein DigiVice von sich. „Ich versteh das irgendwie nicht …“, meinte Jou hilflos. „Was soll das heißen, wir sollen jemanden ermorden, und …?“ „Mann, regt euch ab“, sagte Takeru. „Es wird genauso sein, wie Daisuke gesagt hat. Das ist ein schlechter Scherz, nichts weiter.“ „Meinst du wirklich?“ Miyako hielt ihr DigiVice mit spitzen Fingern möglichst weit von ihrem Körper entfernt, als wäre es ein giftiges Insekt. „Wer so etwas lustig findet, hat einen ziemlich kranken Humor“, stellte Sora trocken fest. „Wer so aussieht wie dieser Monokuma, muss ja ein Rad ab haben!“, schimpfte Daisuke. „Ich frage mich aber doch, was dieser Monokuma eigentlich ist“, überlegte Iori. Er schien das alles ziemlich gelassen zu nehmen. „Ich meine, ein Mensch kann er ja wohl kaum sein. Selbst für ein verkleidetes Kind wäre er zu klein.“ „Ist doch völlig egal, was er ist“, meinte Taichi großspurig. „Vielleicht ein ferngesteuertes Plüschtier. Gibt ja allerhand merkwürdiges Zeug.“ „Ich denke auch, dass wir nichts von dem hier ernst nehmen sollten“, sagte Hikari. „Wer weiß, ob er die Wahrheit sagt. Vielleicht ist das ja gar keine Insel und wir machen uns umsonst verrückt.“ „Wir sollten irgendwo hin gehen, wo man uns finden kann“, schlug Jou vor. „Sicher sucht man uns schon überall.“ „Ich wäre ja auch gern so zuversichtlich wie du“, murmelte Yamato, „aber kommt euch die Gegend auch nur annähernd bekannt vor? Wer würde uns an einem Ort vermuten, wo wir noch nie vorher waren?“ „Es muss doch irgendwo Anzeichen davon geben, dass wir hergebracht wurden“, meinte Jou hilflos. Die Stille, die darauf folgte, war drückend wie ein schwüler Sommertag. Denn dieser Satz implizierte etwas Ungeheuerliches. Wenn man sie hergebracht hatte, dann doch wohl gegen ihren Willen. Das hieß, man hatte sie entführt. Und das wiederum hieß, dass sie Monokuma vielleicht doch ernstnehmen sollten.   Da sie nichts Besseres zu tun wussten, teilten sich die dreizehn in Zweier- und Dreiergruppen auf und erkundeten die Umgebung. Sora bildete eine Gruppe mit dem langhaarigen Mädchen, das als Erstes auf Monokuma getroffen war, und auch der blonde Ausländer schloss sich ihnen an. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mich vorzustellen“, sagte er, als sie das Ende des Waldes zu finden versuchten. „Ich bin Wallace.“ „Du stammst aber nicht aus Japan, oder?“, fragte das andere Mädchen. „Hört man das? Oder sieht man es so offensichtlich?“, lachte Wallace. Er hatte schöne Zähne. „Ich komme aus den USA. Ich bin als Austauschschüler an die Hope’s Peak gekommen.“ Er sprach den Namen englisch aus. „USA? Meine Eltern haben eine Zeitlang in den USA gearbeitet.“ „Und wie heißt du?“, fragte Wallace lächelnd. „Du hast dich auch noch nicht vorgestellt. Den Namen eines so hübschen Mädchens hätte ich mir gemerkt.“ „Oh. Das hab ich wohl in der Aufregung vergessen. Ich bin Mimi. Mimi Tachikawa.“ Wallace‘ Schmeicheleien schienen Mimi nicht sonderlich zu beeindrucken. Vielleicht bemerkte sie sie auch gar nicht? So prinzessinnenhaft, wie sie sich gab – allein ihre Markenklamotten mussten ein Vermögen gekostet haben –, hörte sie solche Sprüche sicher jeden Tag. „Moment mal“, sagte Sora. „Sagtest du Hope‘s Peak, Wallace? Bist du auch an dieser Schule aufgenommen worden?“ „Bin ich. Du etwa auch … Sora, richtig?“ Obwohl er jünger aussah als sie, war sein Lächeln echt eine Klasse für sich. Sora wurde warm in der Brust. „Langsam beschleicht mich das Gefühl, wir gehen alle auf diese Schule“, murmelte sie. „Ich wollte auch dieses Semester dort anfangen!“, berichtete Mimi. „Meint ihr, das ist die Verbindung zwischen uns? Sind wir darum hier?“ „Kann ich mir sogar gut vorstellen. Dieser komische Monokuma hat uns seine Schüler genannt. Und das hier sei das Sommercamp der Hope’s Peak. Hey – was sind eure besonderen Talente?“, fragte Wallace. Sora war von dem plötzlichen Themenwechsel überrascht. „Äh, Talente?“ „Ihr wisst schon, besondere Fähigkeiten. Oder habt ihr keine? Man sagt, dass man nur an die Hope’s Peak kommt, wenn sie einen auswählen, weil man irgendein besonderes Talent hat. So nach dem Hollywood-Prinzip. Ruf uns nicht an, wir rufen dich an.“ Sora war nicht sicher, ob sie wusste, wovon er redete, aber dann erinnerte sie sich an den Brief, den sie erhalten hatte. Als sie an den Inhalt dachte, errötete sie und beschloss, ihn nicht preiszugeben. „Ich weiß, was du meinst“, sagte Mimi. „Mich haben sie angeblich wegen meiner Ehrlichkeit aufgenommen.“ „Ehrlichkeit?“, fragte Sora verdutzt. „Ist das denn ein Talent?“ „Was für ein Talent haben sie dir denn zugeschrieben?“, fragte Mimi spitz. „Ich … weiß nicht mehr.“ Sora rettete sich in ein verlegenes Lachen. „Auch irgendetwas Komisches. Ich hab’s mir gar nicht gemerkt.“ Mimi wirkte nicht überzeugt, brummte aber zufrieden: „Na also. Und du, Wallace?“ Er lächelte spitzbübisch. „Mein Talent bleibt mein Geheimnis.“ „Ach komm, verrat es uns!“ Mimi klang nun eindeutig aufgeregter als vorhin. „Rate doch. Ein wenig geheimnisvoll darf ich doch tun, oder? Schließlich bin ich der mysteriöse Austauschschüler von Übersee“, erklärte er und zwinkerte verschmitzt. Das Kundschaften wurde schließlich zu einem lockeren Spaziergang, während dem die meiste Zeit Wallace und Mimi Zwiesprache hielten, Mimi herauszufinden versuchte, was sein geheimes Talent war, und dabei genauso wenig Erfolg hatte wie sie alle drei dabei, einen Weg aus dem Wald zu finden.   Daisuke war mit Ken unterwegs und eigentlich hatte er geglaubt, er würde sich mit dem eher zurückhaltenden Jungen nicht gut verstehen. Er war die ganze Zeit so schüchtern rübergekommen, obwohl sie noch nicht lange zusammen waren … aber naja, das war eben Daisukes erster Eindruck. Nichtsdestotrotz war es überraschend angenehm, mit ihm auf Entdeckungsreise zu gehen. Daisuke wollte trotzdem ein Gespräch in Gang bringen und sprach ihn einfach mal auf seine Hobbys an, und Ken schien ebenfalls Fußball zu mögen. Schon hatten sie einen gemeinsamen Nenner gefunden, der ihnen während des Suchens die Zeit verkürzte. Am Ende hatten sie nichts gefunden außer ein paar Felsen im Wald, aber Daisuke glaubte zu wissen, dass Ken ein guter Kerl war. Als sie zu der Lichtung zurückkehrten, waren alle anderen schon da – bis auf Iori und Miyako. „Irgendwas gefunden?“, fragte Taichi, als sie ankamen. „Nichts“, sagte Daisuke. „Verdammt“, fluchte der braunhaarige Junge. „Iori und Miyako sind noch unterwegs. Wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben“, sagte das Mädchen, das mit ihm unterwegs gewesen war – Hikari, wenn sich Daisuke nicht täuschte. Er fand sie recht hübsch, obwohl sie gegen Mimi eindeutig verlor – aber mit ihren sanftmütigen Augen und der zierlichen Figur war sie genau Daisukes Typ. „Hör mal“, flüsterte er Ken zu, um ihre aufkeimende Freundschaft zu vertiefen, „Hikari ist echt ein klasse Mädel, oder? Wie, denkst du, hab ich Chancen bei ihr?“ Ken schien verdattert ob dieser Frage. „Ähm, was … Wie meinst du das? Chancen bei Hikari? Du meinst …“ „Na klar! Frag nicht so blöd!“, zischte Daisuke ihm zu, doch Ken war zu laut gewesen. Taichi hatte das Getuschel gehört. „Wie war das?“ Er trat auf die beiden zu, sein Gesicht finster wie Gewitterwolken. Hikari flüsterte forsch seinen Namen, doch er hörte nicht, sondern baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf. Daisuke merkte in dem Moment, dass es zu dämmern begonnen hatte. Wie lange waren sie jetzt wohl schon hier? Es war kein Wunder, dass Taichi gereizt war, aber … „Wer von euch will was von Hikari?“, fragte er finster. „Äh …“, machte Daisuke. Taichis Blick wanderte als Erstes zu Ken, der abwehrend die Hände hob „I-ich weiß gar nicht, worum es geht.“ Nun sah Taichi Daisuke in die Augen. „Hey“, meinte dieser entschuldigend. „Ist ja nicht böse gemeint oder so, ich …“ „Ich geb dir einen guten Rat“, knurrte Taichi. „Lass die Finger von ihr.“ „Taichi“, zischte Hikari. Dass sie offenbar für ihn Partei ergriff, machte Daisuke Mut. Dieser Kerl glaubte wohl, hier einfach den großen Macker raushängen lassen und Hikari für sich beanspruchen zu können. Klar fand sie das nicht gerade cool. „Sieht für mich nicht so aus, als wärt ihr zwei zusammen, also was kümmert es dich?“, meinte Daisuke kaltschnäuzig. Taichis Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Sie ist meine kleine Schwester, du Idiot“, sagte er mit erschütternder Ruhe. „Und ich werde nicht zulassen, dass sie mit jemandem wie dir abhängt, klar?“ „Sch-Schwester?“, brachte Daisuke heraus. „Toll.“ Hikari verdrehte stöhnend die Augen. „Danke, Taichi. Ich komme mir gerade vor wie ein überbehütetes Kind.“ „Ich will nur nicht, dass du dich auf so einen Typen einlässt!“, verteidigte sich Taichi, der plötzlich unangenehm im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. „Du redest schon wie Mama! Außerdem, wer sagt, dass ich mich auf ihn einlasse? Hab ich irgendwas in der Richtung angedeutet?“ „Zum Glück nicht“, blaffte Taichi. „Das würd ich dir auch nicht raten.“ „Taichi!“ Daisuke fühlte sich während ihres Geschwisterstreits, als würde er auf die Größe eines Glühwürmchens zusammenschrumpfen. Kens Worte trugen auch nicht gerade zu seiner Besserung bei: „Also echt, das war ziemlich dumm von dir.“ „Woher sollte ich denn wissen, dass sie verwandt sind?“, zischte Daisuke. „Sie sehen nicht gerade aus wie ein Ei und das andere!“ „Das heißt, wie ein Ei dem anderen gleichen“, korrigierte Ken. „Und außerdem haben sie uns bei der Vorstellungsrunde beide ihren Nachnamen genannt. Ich habe sofort geahnt, dass sie Bruder und Schwester sind.“ Daiskue stöhnte entnervt. Wie konnte man von ihm verlangen, sich nicht nur die Vor-, sondern auch noch die Nachnamen all ihrer Mitleidenden zu merken? Ehe die Situation noch peinlicher werden konnte, kehrten Miyako und Iori zu der Gruppe zurück. „Leute!“, rief das langhaarige Mädchen freudig. „Wir haben da hinten was gefunden, wo wir die Nacht verbringen können!“ Sie verstummte, als sie die angeheizte Stimmung sah. „Was ist denn hier los?“ „Nichts“, sagte Yamato gedehnt. „Was habt ihr entdeckt?“   Das Quartier für die Nacht sah im ersten Moment nicht gerade luxuriös aus. Wenn man aber darüber nachdachte, war es zuerst besser als gar nichts, und bei noch näherer Betrachtung sogar so etwas wie ein Wunder. Miyako und Iori waren einem Flusslauf gefolgt und auf einen Waldsee gestoßen. Auf einer kleinen Halbinsel darin stand eine Straßenbahn – ohne Gleise, ohne Menschen, die sie bedient hätten, ohne gar nichts. Die Gruppe stand vor einem Rätsel, aber nach anfänglichem Wundern beschlossen sie, das Wunder auch auszunutzen. Die Sitzpolsterungen waren immerhin weich genug, um darauf zu schlafen und am nächsten Morgen nicht völlig verspannt aufzuwachen – auch wenn vor allem Mimi gar nicht davon begeistert war. Das Führerabteil stand offen, und man konnte dort drin die Schalter fürs Licht und sogar Klimaanlage und Heizung betätigen. Ehe es völlig finster wurde, meldete sich der Hunger auch bei den letzten Verirrten. Sie sammelten Beeren aus dem Wald, waren sich dann aber nicht sicher, ob sie essbar waren. Daisuke, dessen Hunger am größten war – und der dringend einiges an Reputation aufholen wollte – machte den Vorkoster. Taichi und Jou versuchten sich indessen als Fischer. Mit Taichis Taschenmesser schnitzten sie Ruten, und die Zahnseide aus Mimis Allzweckhandtasche wurde zur Angelschnur – allerdings nicht ohne dass die anderen ihre Überredungskünste bei dem Mädchen ausspielen mussten. Sie benutzten schließlich die Beeren, um Fische zu fangen – was sogar funktionierte. Taichi bekam dabei ein wenig von Jous Persönlichkeit mit und kam zu dem Schluss, dass es anstrengend war, zu lange mit ihm zusammenzuarbeiten. Klar, er war vernünftig, aber Taichi war momentan stinkig drauf und brauchte keine Belehrungen und keine übermäßige Feigheit. Sie saßen um ein Lagerfeuer, und als der ärgste Hunger gestillt war, senkte sich Schweigen auf die Gestrandeten. Die Ungewissheit nagte an ihnen, die Verständnislosigkeit war bedrückend. Schließlich packte Yamato eine Mundharmonika aus und spielte ein Lied, nicht wirklich fröhlich, aber auch nicht schwermütig genug, um sie in noch tiefere Depressionen zu stürzen. Als Hikari schließlich herzhaft gähnte, beschloss die Gruppe, sich aufs Ohr zu legen. Es wurden Wachen bis in die Früh eingeteilt. Immerhin wusste man nicht, ob es hier nicht irgendwelche wilden Tiere gab. Wallace und Jou waren sich einig, dass die Mädchen durchschlafen sollten. Keine von ihnen hatte Einwände außer Miyako, die sich dadurch irgendwie ungerecht behandelt fühlte. Taichi verstand ihre Beschwerde nicht wirklich, aber im Endeffekt durfte sie auch Wache schieben, und sie saß so grimmig mit ihrer Rute am Feuer wie ein Samurai aus einem Mittelalterfilm. Der nächste Morgen begann ereignislos. Wieder zogen sie aus, um Essen und Trinken zu besorgen, dann suchten sie Anzeichen von Zivilisation. Stattdessen fanden sie eine Wüste. Nach langem Hin und Her – und weil Taichis Teleskop ein Dorf inmitten des Sandes erspähte – beschlossen sie, sie zu durchqueren. Das Dorf war verlassen und überdies nur eine Ansammlung winziger Hütten – wer wohnte bitte in so was? –, aber immerhin gab es dort Wasser und verwaiste Kornspeicher, und so verbrachten sie eine weitere Nacht in dieser fremden Umgebung. Am dritten Tag setzten sie den Weg fort und erreichten noch vor Mittag ein Gebäude am anderen Ende der Wüste, das wie eine Fabrik aussah. Koushiro war es, der es entdeckte, und zwar mit seinem Laptop. „Ich habe ihn wieder zum Funktionieren gebracht“, sagte er. „Schon komisch … als hätte sich eine Karte von der Gegend von selbst raufgeladen. Sehr merkwürdig.“ „Sag uns lieber, ob wenigstens die Fabrik bewohnt ist“, verlangte Taichi. „Keine Ahnung. Aber wenn wir die Zivilisation suchen, dann sind wird dort wohl am nächsten dran.“ Als sie die Fabrik betraten, fiel ihnen zuallererst ein großer Plasmaschirm auf, der direkt in der Eingangshalle gegenüber dem Tor prangte. Und just in dem Moment, in dem sie einen Fuß in das graue, nach Schmieröl riechende Gebäude gesetzt hatten, ging er flimmernd an. „Guten Morgen, Klasse!“ Es war niemand Geringerer als dieser merkwürdige Monokuma-Stoffbär, der auf dem Bildschirm erschien. Hinter ihm konnte man undeutlich flimmernde Rechtecke erkennen – als säße er im Überwachungsraum eines Museums oder so. „Du schon wieder!“, sagte Iori vorwurfsvoll. „Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst.“ „Wirst du uns endlich sagen, was hier los ist und wo wir hier sind?“, fragte Takeru. Er hatte sich irgendwie trotz Taichis Unwillen mit Hikari angefreundet und war oft in ihrer Nähe anzutreffen. Taichi fand nur Wallace noch flirtuoser, aber besser als Daisuke war Takeru allemal, weswegen er dazu vorerst schwieg. Außerdem hatte Hikari seit dem Zwischenfall mit Daisuke kaum mehr als das Nötigste mit ihrem Bruder gesprochen, und neben dem Drang, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, verspürte er die dumpfe Ahnung, etwas falsch gemacht zu haben. Aber jetzt gab es erst mal Wichtigeres. Monokumas nächste Worte beispielsweise. „Wenigstens habt ihr mittlerweile ordentlich Kilometer zurückgelegt“, sagte der schwarzweiße Bär. „Aber ihr langweilt mich langsam. Vor zwei Tagen habe ich euch den Zweck des Sommercamps erklärt, und noch immer hat es keine Morde gegeben. Darum habe ich mir gedacht, dass euch wahrscheinlich die nötigen Werkzeuge fehlen. Seht euch in dieser Fabrik um; alles, was ihr braucht, habe ich hier vorbereitet.“ Damit erlosch der Monitor wieder. Jou stieß seinen traurigen Seufzer aus. „Gerade, als ich gedacht habe, der Bär wäre nur eine üble Einbildung gewesen …“ „Ich kann’s nicht glauben“, schnaubte Mimi. „Der will wirklich, dass wir uns gegenseitig umbringen? Der spinnt doch!“ „Nicht nur das, er scheint uns zu beobachten“, sinnierte Koushiro. „Ich frage mich, wie. Oder habt ihr irgendwo Kameras entdeckt?“ „Vielleicht kann er ja diese DigiVices orten?“, fragte Miyako und betrachtete das ihre. „Ich hab‘s mir ja gleich gedacht. Wir sollten sie so schnell wie möglich loswerden!“ Und mit einem Mal sprang der Fernseher wieder an. „Ähm“, machte Monokuma, „aus gegebenem Anlass will ich euch nur mitteilen, dass es verboten ist, die DigiVices wegzuwerfen. Nicht wegen mir, aber Schüler sollten immer einen Blick auf das Regelwerk haben.“ „Ach ja?“, fragte Daisuke kühn, „ und was geschieht, wenn wir deine dämlichen Regeln nicht befolgen?“ Plötzlich ertönte ein Knirschen zu ihrer Rechten. Eine … Gestalt trat aus einer Nische, und Taichi glaubte im ersten Moment, sie würden hier endlich einen Menschen treffen, doch die Wahrheit könnte nicht ferner liegen. Es war ein Cyborg, fast vollkommen in hellen Stahl gepanzert. Der bloße Unterschenkel war mit verdorrter Haut bedeckt, und darüber spannte sich das Metall einer breiten, schwarzen Spirale. Der Roboter musterte die Versammelten mit rot glühenden Augen. Zwei Klappen in seinem Brustkorb öffneten sich. „Wenn ihr die Regeln brecht, wird euch zum Beispiel Andromon in die Luft jagen“, sagte Monokuma gut gelaunt. „Stellt lieber nicht seine Sprengkraft infrage.“ „Andromon?“, wiederholte Sora entgeistert. „Ein Roboter“, murmelte Koushiro. „Naja, es ist nicht unwahrscheinlich, dass, wenn jemand Monokuma steuert, er auch andere Roboter nach uns ausschicken kann.“ „Warte, was meinst du mit jemand?“, fragte Jou. „Soll das etwa heißen …“ „Ja“, murmelte Koushiro. „Ich glaube, dass hier jemand hinter all dem steckt, den wir noch nicht gesehen haben.“ Kurzes Schweigen senkte sich auf die Eingangshalle der Fabrik. Auch Andromon rührte sich nicht von der Stelle. Schließlich seufzte Miyako. „Ach, was wollen wir hier mit dem? Sehen wir uns doch einfach um und finden wir raus, was das für eine Fabrik ist.“ „Du willst an einem Ort mit einem bewaffneten Roboter bleiben?“, fragte Mimi fassungslos. „Er tut uns ja nichts, solange wir unsere DigiVices nicht wegschmeißen“, meinte Miyako etwas verallgemeinernd. „Untersuchen wir schnell die Fabrik, dann können wir ja immer noch von hier verschwinden.“ „Weil du scharf bist auf die Waffen, von denen Monokuma geredet hat, oder was?“, schnappte Daisuke. Sie starrte ihn ehrlich verblüfft an. „Was? Nein, ich will nur rausfinden, ob es hier irgendwo Menschen gibt. Koushiro hat schon recht – wenn wir schon nach anderen Menschen suchen, dann suchen wir doch am besten in einem richtigen Gebäude.“ „Klar.“ Daisuke durchbohrte sie alle mit Blicken. „Und wenn du zufällig irgendwo eine Pistole findest, wirst du sie auch sicher der Allgemeinheit übergeben, was?“ „Ich glaube nicht, das Miyako irgendetwas gegen uns plant“, sagte Wallace und trat mit einem gewinnenden Lächeln näher an das Mädchen ran, als er müsste. „Sie ist schließlich klug und ehrlich. Stimmt’s? Und hübsch obendrein.“ „Äh …“ Miyako lief rot an. „Misch dich nicht ein, Casanova“, brummte Daisuke. „Was haltet ihr davon, wenn wir wieder zu zweit oder zu dritt gehen?“, schlug Sora diplomatisch vor. „Dann müssen wir niemanden verdächtigen. Was ohnehin dämlich wäre – würde irgendwer von uns einen Mord begehen?“ Kopfschütteln von allen Seiten. „Na also“, meinte sie lächelnd. Taichi fand, dass sie das sehr gut machte.   Daisuke zog wieder mit Ken los, vor allem, um sich so richtig über Wallace auszukotzen. Ken war ein guter Zuhörer. „Boah, der Kerl ist ja nicht zum Aushalten“, stöhnte Daisuke, während sie durch die metallenen Eingeweide der Fabrik trabten. „Weil Miyako ja sooo hübsch ist. Als ob das irgendwas damit zu tun hätte. Und außerdem ist sie gar nicht besonders hübsch.“ „Also ich finde sie schon …“, begann Ken, verstummte dann aber. Er fragte sich, warum sie fast immer über Mädchen redeten, wenn sie zusammen unterwegs waren. Daisuke hörte seinen Einwurf gar nicht. „Der kommt sich so toll vor. Typisch Amerikaner. Ich wette, wenn ich richtig schnell mit ihm rede, versteht mich der gar nicht.“ „Ich habe gehört, dass er von einer Freundin recht gut Japanisch gelernt hat“, sagte Ken. „Woher hast du das denn gehört?“, fragte Daisuke verblüfft. „Hey, verbrüderst du dich etwa mit ihm gegen mich? Sag’s gleich!“ „Nein“, meinte Ken schmunzelnd, „aber wenn er von Mädchen umgeben ist, redet er sehr gern. Da hört man so einiges mit.“ „Weißt du was, mir kommt da eine Idee“, sagte Daisuke plötzlich. „Du siehst doch selbst ein bisschen wie ein Mädchen aus. Tu einfach so, als wärst du auch eins, und mach dich an ihn ran, damit ich rausfinde, was er plant.“ Ken starrte ihn entgeistert an und war einen Moment sprachlos. „Komm schon, das war ein Scherz“, lachte Daisuke. „War aber nicht sehr nett“, brummte Ken. „Überhaupt, was soll er planen?“ „Keine Ahnung. Ich will vor allem wissen, ob er sich Hikari annähern will. Dieser Taichi scheint nicht mehr so scharfgeschaltet zu sein wie am ersten Tag. Irgendwer muss auf das Mädchen aufpassen.“ Ken schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts.   Yamato und Takeru nahmen zu zweit eine Fertigungshalle unter die Lupe. Die Fabrik hatte irgendwie keinen Zweck: Auf einem Förderband wurden automatisch unidentifizierbare Dinge gefertigt, auf einem zweiten dann wieder auseinandergenommen. „Sag mal, wie lange willst du eigentlich noch den einsamen Wolf spielen?“, fragte Takeru. „Was meinst du?“ „Naja, du benimmst dich fast wieder so, wie du früher mal warst. Wenn du dich zu sehr von der Gruppe absonderst, wirst du am Ende das erste Opfer.“ Yamato sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Du glaubst, dass wirklich jemand unter uns ist, der einen Mord begehen würde? Das ist doch Blödsinn.“ „Das meine ich nicht.“ Takeru wirkte plötzlich besorgt, nahm eines der Metalldinger in die Hand und warf es nach kurzem Betrachten weg. „Ich denke nur, dass wir alle zusammenhalten sollten. Wenn Monokuma unbedingt einen Mord haben will, wird er vielleicht selbst einen begehen. Das in der Brust von diesem Roboter waren doch Raketenwerfer, nicht? Wenn er uns angreift, können wir kaum was dagegen unternehmen.“ Yamato fluchte. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen – vermutlich, weil Monokuma und dieser andere Roboter einfach so unwirklich waren. Obwohl das ja auf ihr ganzes plötzliches Abenteuer zutraf.   Es war praktisch, Koushiro dabei zu haben – wahrscheinlich. Er hatte nämlich irgendwie eine weitere Karte auf seinen Laptop geladen, der ihm die Innenräume der Fabrik zeigte. Mimi fand es trotzdem langweilig, mit ihm unterwegs zu sen. Lieber wäre sie bei Sora oder Wallace oder … eigentlich bei fast jedem. Als Koushiro nämlich so etwas wie eine riesige Batterie fand, verkabelte er seinen Laptop mit der Wand und schien sich ganz aus der Realität auszuklinken, während er in den Geheimnissen der Fabrik – oder worin auch immer – grub. Mimi untersuchte also allein die angrenzenden Räume. Monokuma hatte nicht gelogen. Sie fand Kisten voller Dinge, die man als Waffen verwenden konnte – beschriftet nach Wirkungsweise! In der Schlag-Kiste waren Hämmer, riesige Schraubenschlüssel und Brecheisen. In der Schneide-Kiste gab es Messer, geschliffene Metallplatten, die zu schwer waren, um sie anzuheben, Zangen und weiter unten noch etwas, das verdächtig nach einem futuristischen Schwert aussah. Und dann gab es noch eine Sonstiges-Kiste. Darin war technisches Spielzeug versteckt, das vielleicht durch Stromstöße oder so töten konnte, und ein paar Dinge, die man anderswo wohl nicht hatte einordnen können, zum Beispiel ein klobig wirkendes Gewehr, eine Peitsche, eine Taserpistole und Pfefferspray. Mimi zögerte kurz, dann sah sie sich um, ob niemand sie beobachtete, und streckte ihre Hand nach der kleinen Sprühdose aus. Es war ja allgemein bekannt, dass das als Selbstverteidigung durchging. Es war nicht so, dass sie den anderen misstraute, aber in Wahrheit kannte sie keinen von ihnen. Und wenn dieser Monokuma auftauchte, konnte sie ihm vielleicht eine ordentliche Ladung verpassen und ihn zwingen, sie nachhause zu bringen. Sie hatte genug von diesem angeblichen Inselabenteuer! „Was machst du da?“ Mimi zuckte zusammen. Taichi war hinter ihr aufgetaucht. „Ni-Nichts.“ Sie versteckte die Dose Pfefferspray hinter ihrem Rücken, doch sein Stirnrunzeln sprach Bände. Er hatte sie über eine der Kisten mit Waffen gebeugt vorgefunden. „Was hast du da?“, fragte er und trat rasch näher. „Nichts“, wiederholte sie, doch da hatte er schon ihr Handgelenk gepackt und zerrte es hinter ihrem Rücken hervor. Dann atmete er auf, als er das Pfefferspray sah. „Mensch, erschreck mich nicht so.“ „Ähm …“, murmelte sie verdutzt. Als ihr bewusst wurde, dass er ihr näher war, als ihr lieb war, riss sie die Hand zurück und fand ihre Contenance wieder. „Sag mal, was fällt dir eigentlich ein?“, fauchte sie. „Mir? Du kramst hier doch in den Waffentruhen von Monokuma rum! Da würde ja wohl jeder misstrauisch werden.“ Sie reckte schnippisch die Nase hoch. „Und wenn ich dir eine Ladung Pfeffer ins Gesicht gesprüht hätte?“, fragte sie rebellisch. „Solang’s nichts Schlimmeres ist, kann ich damit leben.“ „Du hast wohl noch nie eine Ladung Pfefferspray abbekommen, was?“, spottete sie. „Nein, hab ich nicht“, sagte er gereizt. „Hältst du mich für einen Vergewaltiger oder was?“ „Man muss kein Vergewaltiger sein, um sich so was einzufangen.“ „Man muss nur Leute wie dich kennen, oder wie?“, fragte er. „Zum Beispiel“, grinste sie. Er seufzte. „Echt, ich werd aus dir nicht schlau. Was willst du eigentlich mit dem Zeug?“ Mimi sah sich verstohlen um und beugte sich dann zu seinem Ohr. Ihn durchlief ein wohliger Schauer. „Der ist für Monokuma.“ „Was?“, Taichi hob eine Augenbraue. „Meinst du, das bringt was?“ „Keine Ahnung. Versuchen kann man’s ja.“ Jetzt grinste er plötzlich. „Also echt. Man sieht es dir nicht an, aber du bist ein taffes Mädel.“ „Danke“, sagte sie kühl. „Und du bist total untalentiert im Komplimentemachen.“ „Und zickig bist du auch. Das sieht man dir aber an“, versetzte er. „Und dein Großmaul kann man drei Kilometer gegen den Wind hören!“ Taichi stierte sie finster an, keiner von beiden wandte den Blick ab. „Solltest du nicht mit Koushiro unterwegs sein?“, fragte er. „Der ist irgendwo da hinten und spielt mit seinem Computer. Und warum bist du allein?“ „Geht dich nichts an“, sagte er sofort. „Ich geh wieder zurück. Kommst du? Es ist verdächtig, allein unterwegs zu sein.“ „Wieso? Weil jemand, der allein unterwegs ist, zum Mörder werden könnte?“ „Nein“, sagte er gedehnt, „aber ich traue Monokuma nicht. Punkt.“   Sie fanden sich wieder in der Eingangshalle ein und berichteten von ihren Entdeckungen. Jou fiel auf, dass Hikari allein zurückgekehrt war. Koushiro dann später ebenfalls. Andromon war nirgendwo mehr zu sehen. Es schien keine Menschen in der Fabrik zu geben. Die Maschinen arbeiteten selbstständig, aber sie taten nur nutzlose Dinge. Und überall in den Lagerräumen standen Kisten mit Waffen herum. Keinem von ihnen behagte es, hier zu bleiben, aber draußen war es längst finster. So wurde diskutiert, ob sie nicht hier übernachten wollten. „Und wenn bei den Waffen Bomben versteckt sind, die dann hochgehen?“, fragte Mimi unbehaglich. „Glaub ich kaum. Das wären schlechte Waffen“, sagte Yamato. „Trotzdem sollten wir nicht in der Nähe von so gefährlichen Dingen schlafen“, beschloss Jou. „Glaubst du etwa, einer von uns könnte dir im Schlaf in den Rücken stechen?“, fragte Wallace. Er sagte es völlig neutral, aber Jou zuckte zusammen. „Nein, das nicht, ich meine, ich …“ „Hört schon auf“, seufzte Hikari. Sie wirkte sehr müde. „Die Insel ist offensichtlich größer, als wir alle geglaubt haben. Immerhin haben wir noch nirgendwo das Meer gefunden. Wir sollten einfach weiter nach einem Hafen oder einer Stadt suchen. Über diesen Blödsinn, den Monokuma von sich gibt, brauchen wir gar nicht nachzudenken.“ „Miyako und ich haben in einem der unteren Geschosse etwas gefunden“, berichtete Iori. „Da sind Kojen oder etwas in der Art.“ „Mit richtigen Betten?“, fragte Mimi und ihre Augen leuchteten. „Mehr oder weniger“, wiegelte Miyako ab. „Es sind Stockbetten darin, immer eines pro Raum. Aber man kann die Türen von innen abschließen.“ „Also selbst, wenn jemand, warum auch immer, Zweifel haben sollte, dass er hier sicher ist“, sagte Yamato und sah dabei niemand Bestimmtes an, „kann er sich einfach einschließen.“ „Pah, als ob wir uns hier zu fürchten bräuchten“, meinte Daisuke. „Ihr macht noch alle verrückt. Ich lasse meine Tür offen.“ „Das wäre dumm“, sagte Takeru. „Wer hat dich denn gefragt?“ „Ich bin dafür, wir schließen uns alle ein. So kann Monokuma uns auch nicht angreifen. Ich vertraue keinem sprechenden Bär, der einen Cyborg kontrolliert.“ „Da ist was dran“, murmelte Ken.   Im Untergeschoss der Fabrik konnte man offenbar einige Arbeiter unterbringen – wenn es hier je welche gegeben hatte. Es war dort alles Grau in Grau und nicht gerade sehr behaglich, aber trotzdem war es als Nachtquartier weit luxuriöser als die letzten beiden. Nachdem die Gruppe sich die Zweierzimmer angesehen hatte – die man genau so wohl auch in einem U-Boot vorfinden könnte, eng, wie sie waren –, versammelten sie sich in einer Art Kantine. Hier gab es sogar einen Herd und eine Mikrowelle. Um einen massiven – grauen – Metalltisch herum standen etliche Stühle – ebenfalls grau. In der Luft hing ein penetranter Gestank nach Gummiabrieb. Mimi rümpfte die Nase. Sie fühlte sich in den Turnsaal ihrer Grundschule zurückversetzt. Dort hatte es in etwa so gerochen, wenn auch nicht so durchdringend. „Hier könnten wir doch essen“, schlug Takeru vor. „Hat auch irgendjemand zufällig Nahrungsmittel gefunden, wenn wir schon einen Herd haben?“ Niemand hatte. Also packten sie ihre Bündel mit dem geschmacklosen Korn aus, das sie in dem Wüstendorf gefunden hatten, und aßen ein karges Abendmahl. „Bei dem Gestank vergeht einem ja der Appetit“, brummte Mimi. „Und heiß ist es hier auch.“ „Das muss die Abwärme von den ganzen Maschinen sein“, sagte Koushiro. „Das ist mir egal. Ich will –“ Als hätte irgendein höheres Wesen sie erhöht, erwachten plötzlich die Deckenventilatoren zum Leben, klobige alte Metalldinger, die sich nur langsam drehten. Aber nicht nur das, sie senkten sich sogar von der düsteren Decke herab wie Schrauben, die sich aus einer Metallplatte drehen. Knapp über den Köpfen der Gruppe hielten sie an. Nun war es schon merklich kühler. „Geht doch“, meinte Mimi schnippisch und erntete dafür ein paar Lacher. „Interessant“, sagte Koushiro und klebte schon wieder an seinem Bildschirm. „Das muss eine Art Wartungsroutine der Fabrik sein, um den Raum kühl zu halten.“ „Also haben wir was zu essen, es ist kühl, und wir sind alle trotzdem noch ziemlich deprimiert“, sagte Wallace. „Hey, Koushiro, du hast nicht zufällig Mucke in dem Kasten?“ „Ob ich was habe?“, fragte Koushiro verwirrt. „Musik. Auf dem Ding da.“ Wallace deutete auf Koushiros Laptop. „Ähm, ich benutze den normalerweise zum Arbeiten, also …“ „Ja oder nein?“ Koushiro lief rot an. „Ich glaube kaum, dass euch gefällt, was ich drauf habe.“ „Wenn du ein Kabel hast, häng ich mein Handy dran“, bot Daisuke an. Ihre Handys schienen allesamt keinen Empfang zu haben, aber ansonsten dürften sie funktionieren. „Ein Kabel habe ich nicht hier. Hast du die Musik auf der SD-Karte?“ „Ja, wieso?“ „Weil ich einen SD-Reader auf dem Laptop habe.“ Er nahm Daisuke das Handy ab, öffnete die Abdeckung und schob die Karte in das Lesegerät. Bald darauf erklang Daisukes Musiksammlung. Es waren Songs, die derzeit in den Charts waren, also eine alles in allem gute Kombination. „Super.“ Wallace lehnte sich zufrieden zurück. „Nichts gegen Yamatos Mundharmonika, aber ich hatte Lust auf etwas Fröhliches.“ „Schon okay“, meinte dieser. „Dann hab ich wenigstens auch Zeit zum Essen.“ Wieder lachten ein paar. „War das so witzig?“ „Nein“, grinste Takeru, „aber wir sind einfach froh, dass wir mal nicht im Freien essen müssen, stimmt’s?“ Die anderen nickten zustimmend. Dann wurde die Kojenbelegung beschlossen. Je zwei konnten in einem Raum schlafen, aber da es genügend Kammern gab, teilte sich das weiter auf. Taichi bot Hikari an, gemeinsam ein Zimmer zu belegen, aber sie weigerte sich, und so blieben sie beide allein. Takeru und Yamato nahmen eine Koje zu zweit, Sora bot Mimi dasselbe an. Daisuke teilte sich ein Zimmer mit Ken, Jou mit Iori. Wallace schlug Miyako vor, sich ebenfalls zusammenzutun, aber Jou ließ den Vernunftsengel raushängen und sprach sich entschieden gegen eine solche Konstellation aus, und letztendlich meinte auch Miyako, dass sie allein bleiben würde. Nun hätte Wallace eigentlich bei Koushiro schlafen können, doch wie um zu schmollen bezog auch er alleine ein Zimmer. Der Laptop zeigte acht Uhr, als die Ventilatoren wieder in die Höhe wanderten. Ein wenig drehten sie sich dort noch weiter, dann erstarben sie, als ahnten sie, dass sie nicht länger gebraucht wurden. Es war in den letzten beiden Stunden auch ganz schön kühl in der Kantine geworden; irgendwo schien es noch eine Luftöffnung zu geben. Nach dem Essen hatten sie noch lange geplaudert, und zwar so ausgelassen wie noch nie, seit sie auf der Insel waren, und das hatte Mimi auch gut getan … aber jetzt wollte sie endlich in einem nicht allzu unbequemen Bett versinken. Morgen würden sie sich wieder auf den Weg machen, und ihr graute bereits vor dem erwarteten Fußmarsch. „Da hinten gibt es eine Toilette“, berichtete Sora, als sie die Kantine verließen. Sie hatte den Flur jenseits eines Knicks erkundet, wo bisher noch niemand gewesen war. Der Flur wurde noch immer von gedämpften Lampen in schmutziges, düsteres Licht getaucht; es sah nicht so aus, als würde man sie überhaupt abschalten können. „Klasse“, murmelte Mimi und ging an ihr vorbei. Die Türen hier waren nicht beschriftet, also öffnete sie die erste von zweien. Das dahinter war ganz gewiss keine Toilette – eher ein kleines Arztzimmer, das vielleicht für Unfälle in der Fabrik gebraucht wurde. Auch ein paar Flaschen mit Reinigungsmitteln und ein Metallwägelchen, wie es für Medikamententransporte in Krankenhäusern benutzt wurde, sah sie. „Nicht diese Tür – die nächste“, sagte Sora. „Es sei denn, du möchtest dich mit medizinischen Geräten eindecken.“ „Ich bin froh, wenn ich so was nicht sehen muss“, meinte Mimi müde. Die zweite Tür führte in eine winzige Klokabine, die vor Staub und Schmutz nur so starrte, aber es war besser als nichts. Immerhin gab es fließendes Wasser und auch ein Waschbecken an der Wand. Als sie alle ihre Zimmer bezogen, schärfte Jou noch einmal jedem ein, nachts nicht rauszugehen. „Jaja, schon klar“, meinte Taichi gähnend und trollte sich in sein Einzelzimmer. Mimi fragte sich, was zwischen seiner Schwester und ihm vorgefallen war. Sie hatte aber nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Kurz sprach sie noch mit Sora – oder eher, beschwerte sich über das Fehlen der Annehmlichkeiten, die sie eigentlich von einem richtigen Quartier erwartete –, dann sank sie in die ausgeleierte Matratze des Stockbetts und schlief fast sofort ein.   Iori war schon immer ein Frühaufsteher gewesen, und solche Gewohnheiten legte man nicht ab, nur weil man auf einer ungeplanten Reise auf einer unbekannten Insel war. Laut seinem Handy war es mal wieder etwa halb sechs. Jou schlief noch. Iori gab sich Mühe, ihn nicht zu wecken, und trottete zuallererst aufs WC, um sich ein wenig frischzumachen. Überrascht stellte er fest, dass hier offenbar jemand geputzt hatte – gestern war der kleine Raum noch viel dreckiger gewesen. Da sein Magen knurrte, wollte er anschließend in der Kantine nachsehen, ob es noch Körner für ein Frühstück gab. Eine geschlagene Minute stand er in der Tür. Die Szene, die sich seinen Augen bot, wollte einfach nicht in seinen Verstand sickern. Es traf ihn so unvorbereitet wie ein Hammerschlag, und der musste irgendeinen wichtigen Nerv zertrümmert haben, denn Iori war wie gelähmt, konnte nicht schreien, nichts, nicht einmal zusammenzucken. Was er sah, konnte einfach nicht geschehen sein. Wahrscheinlich träumte er noch … Aber warum ließen ihn die Spuren des Wassers auf seinem Gesicht in der kühlen Luft der Kantine dann so frösteln? Iori machte den Mund auf, um zu schreien, aber es kam kein Ton. Immer wieder glitt sein Blick über die Einzelheiten, die er sah, ohne das große Ganze zu verstehen. Der umgestoßene Stuhl, der am Boden lag. Das Seil, das mehrmals um die Stange eines der Deckenventilatoren geschlungen war. Und Sora, die leblos am anderen Ende des Seiles baumelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)