Teenage Love von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Du siehst zutiefst betrübt aus, Sice.“ Sice seufzte. Sie sparte es sich, auch nur hochzuschauen, sondern wedelte nur mit einer Hand, als könne sie Trey damit vertreiben wie eine lästige Fliege, die ihr ums Gesicht surrte. „Zieh Leine, Streber, das geht dich überhaupt nichts an.“   Es waren die falschen Worte.   Eigentlich war es ihr schon bewusst in dem Moment, als sie ihr über die Lippen kamen, aber da war es auch schon zu spät: Trey, ganz wie gefürchtet, schluckte den Köder und ließ sich mit dieser schmierigen Eleganz, die sie noch nie hatte leiden können, auf einem Stuhl ihr gegenüber nieder. Sie stöhnte, noch bevor er den Mund aufgemacht hatte; es war nicht, als müsste sie ihm wirklich erst zuhören, um zu wissen, dass sie unter seinem Gelaber leiden würde. „Studien haben erwiesen, dass es gesünder ist, über seine Probleme zu sprechen. Du solltest dem Folge leisten: Weniger Stress erhöht die allgemeine Lebensqualität und verbessert das Ich-Gefühl. Das wurde belegt in der Studie von–“ Sice stöhnte gleich noch einmal gequält.   Sie wusste, sie war gefangen. Ohren zuhalten? Half nicht. Trey von seinen Vorträgen ablenken? Absolut unmöglich. Wenn dieser Idiot sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann – dann war es vorbei. Dann redete er. Und redete. Und redete. Und redete selbst dann noch, wenn jedem normalen Menschen längst die Worte und die Puste ausgegangen wären. Sie konnte jetzt die nächsten Stunden damit leben, dass er ihr auf Schritt und Tritt folgen würde, bis er mit seinem Lament fertig war. Oder… Resigniert fiel ihr Kopf auf die Tischplatte. Der dumpfe Schmerz des Aufpralls war wie eine Erlösung verglichen mit dem Leid, das Treys Geschwätz brachte.   „Hältst du die Schnauze, wenn ich es dir sage?“   Sie hatte ihn noch sie so schnell verstummen gehört.       ***       Es war vielleicht nicht die ganze Wahrheit, die Sice am Ende erzählte.   „Ich hab nen Brief abgeben wollen. Ne ganz wichtige Sache. Mir ist Seven mitten reingestolpert, und jetzt hab ich keine Ahnung, wann ich nochmal ne Gelegenheit bekomme, um das Teil loszuwerden.“ Sie fand aber, es war eine gute gekürzte Version – etwas würdevoller als das, was tatsächlich passiert war vor allem, und Trey war der letzte Mensch in ganz Orience, vor dem sie sich freiwillig irgendeine Form von Blöße geben wollte. Nicht, dass sie das überhaupt jemals tolerieren könnte, egal vor wem.   „Ah. Nun, das klingt doch gar nicht so dramatisch, Sice. Nein, warte. Ich verstehe natürlich, dass es dich unter Druck setzt, dass dein Plan nicht funktioniert hat. Es ist schon lange erwiesen, dass Menschen nicht gut auf spontane Änderungen in ihrem Tagesablauf reagieren. Wusstest du–?“ „Komm zum Punkt. Komm. Zum. Punkt.“ Hoffnungslos. Trey plauderte einfach weiter, so als hätte er ihre Worte gar nicht gehört. Erzählte irgendetwas von psychologischen Studien, die er sich, Sices Meinung nach, genauso gut gerade aus dem Hut gezaubert haben könnte, als dass sie tatsächlich existierten, und nach dem dritten Fachwort, dessen Bedeutung sie nicht gegen Geld hätte nennen können, gab sie komplett auf, ihm folgen zu wollen.   So viel dazu, dass Trey die Fresse hielt, wenn sie ihm von ihren Problemen erzählte.   So viel zu der irrationalen, strunzdummen Hoffnung, dass Trey zur Abwechslung sogar mal etwas Sinnvolles mit seinem ach so klugen Schädel machen und ihr helfen würde. Nein. Er nutzte ihr Leid nur aus, um sich wieder einmal selbst reden zu hören. Wie immer. Warum hatte sie sich überhaupt darauf eingelassen?   Ich hätte genauso gut Seven um Hilfe bitten können, dachte sie sich resigniert, während sie ihren Kopf über den Tisch rollen ließ. Er hörte einfach nicht auf. Inzwischen war er nicht einmal mehr bei Stress und unerwarteten Problemen und ihrer Wirkung auf das menschliche Wohlbefinden, sondern bei irgendeinem anderen Schwachsinn, von dem Sice noch nie gehört hatte und auch nie hören wollte. Womit habe ich das verdient? Ist es wirklich so verwerflich, dass ich auch ein Mensch mit Gefühlen bin?! Sie hatte sich den falschen Typen ausgesucht. Den falschen Typen, um mit ihm zu reden. Den falschen Typen, um sich zu verknallen. Warum musste Kurasame auch fast immer von einer Traube giggelnder Mädchen umgeben sein? Warum konnte der Kerl nicht irgendeinen Lieblingsplatz auf dem Akademiegelände haben, auf dem er gut erreichbar war? Warum konnte er nicht irgendeinen Freund haben, der nicht auf irgendeine Art creepy war, dem man den Brief zustecken könnte?   Warum konnte er nicht einfach von sich aus auf Sice zugehen.   „–ne bescheidene Meinung hören willst–“ – Nein, wollte sie nicht, aber es war nicht, als ob sie eine Wahl hätte – „–dann solltest du versuchen, den Stress in deinem Alltag zu reduzieren. Eigne dir tägliche Rituale an. Konstanten helfen dabei, sich wohl und sicher zu fühlen. Du wirst merken, dass du dich innerhalb kürzester Zeit wie ein neuer Mensch fühlen wirst. Und versuche es mit Lavendel vor dem Einschlafen.“ Weil das so sehr helfen würde. Sie stieß genervt die Luft aus. „Hör zu, Streber.“ Als ob er das könnte. Aber tatsächlich hielt Trey gerade wirklich in seinem Gelaber inne, wenn auch wohl kaum, weil er sich für ihre Meinung interessierte, sondern viel mehr deshalb, weil er garantiert irgendeine Form von Lob oder Anerkennung für seinen Müll erwartete. Er grinste schon so. Beim Kristall, sie wollte ihm so gerne einfach ins Gesicht schlagen. Aber hart. „Das hilft mir nicht. Ich will nen Brief loswerden, keine Stressfalten vermeiden.“ Doch, wollte sie natürlich – aber dabei half Trey noch weniger als bei ihrem Briefproblem.   Für einen Moment war Trey still. Dann sah er sie an, schüttelte seufzend den Kopf und fasste sich in einer geradezu tragischen Geste an die Stirn. „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“ „DAS HABE ICH, VERDAMMT NOCHMAL!“ Und dann hatte dieser Mistkerl sie nicht mehr zu Wort kommen lassen. Das war absolut nicht ihre Schuld! Ein Schlag reichte so langsam nicht mehr. Eine ganze Prügelei. Ein Schulpult im Gesicht. Irgendetwas in der Richtung. Wo war der verdammte Kaktor, wenn man ihn mal brauchte? Der würde sich auch gut in Treys Visage machen – und wo er so ein Fan von stresshemmendem Zeug war, Akupunktur fände er doch sicherlich auch super. Da waren tausend Nadeln gerade gut genug.   „Wohlan. Wenn es dir so wichtig ist, den Brief persönlich zu überbringen, solltest du erst einmal in Erfahrung bringen, wie du den Empfänger am besten erreichen kannst. Es ist nicht zielführend, wenn du darauf hoffst, ihm einfach auf dem Gang zu begegnen.“ Ach nein. Hätte ich ja gar nicht gedacht. Auch, wenn sie nicht viel an anderer Wahl hatte. Nach dem Unterricht konnte sie ihm den Brief sicher nicht geben! Viel zu peinlich – und es waren viel zu viele Leute in der Nähe, die sie dabei sehen könnten, und von denen sie nicht gesehen werden wollte.   Cinque würde es der ganzen Schule erzählen. Jack auch. Queen würde ewig süffisant darüber grinsen, dass sie dieses Geheimnis kannte – um es auszuplaudern, sobald es irgendwann einmal Thema wurde. Sie mochte ja sonst noch so vernünftig sein, aber in Punkto Liebestratsch war sie genauso schlimm wie jedes andere Weib. Nein. Konnte sie nicht riskieren. Wollte sie nicht riskieren. Würde sie nicht riskieren.   „Um wen handelt es sich überhaupt?“ Sice seufzte. „Einen Lehrer“, kommentierte sie nichtssagend. Trey gab ein langgezogenes, nachdenkliches Brummen von sich. Sie war sich sicher, er tat es nur, weil er seine Stimme so gern hörte. „Es würde sich natürlich anbieten, seinen Klassenraum aufzusuchen. Ich gehe aber davon aus, dass das wohl keine Möglichkeit ist, sonst hättest du das längst getan – und sehr wahrscheinlich Erfolg damit gehabt.“ Sie nickte zerknirscht. „Und was ist mit anderen Orten, an denen er sich oft aufhält? Sicherlich hat diese Lehrperson auch private Rückzugsorte… Davon bietet Akademia schließlich ein regelrechtes Übermaß. Bei dem Thema fällt mir ein–“   Es war der Moment, in dem Sice sich wieder ausklinkte. Es half nicht. Trey half nicht. Er redete nur ein unendliches Maß an unnützem Blödsinn, der sie im Leben nicht interessierte, kam ständig vom Thema ab, und alles, was er erreichte, war, dass Sice sich in den buntesten Farben vorstellte, wie es wäre, ihn mit dem Gesicht voran ins nächste Schulpult zu drücken. Oder gegen die Tafel. Den Fußboden. Den Kaktor. Vor allem den Kaktor. Vielleicht brauchte sie aber eher auch einen ganzen Behemoth, um mit diesem Typen fertig zu werden. Oder einen Bomber, den sie ihm hinten in den Kragen stopfen konnte… Verzweifelt vergrub sie das Gesicht in den Händen, erstickte so zumindest ein bisschen ihren wütenden Schrei. Es störte Trey nicht. Wie er einfach ohne Punkt und Komma weiterschwafeln konnte, während neben ihm gerade der letzte Funke gesunder Menschenverstand erlosch – seinetwegen! –, war ihr einfach schleierhaft. Dieser ganze Kerl und sein aufgeblasenes Besserwisserego waren ihr absolut schleierhaft.   Schlimmer als Aces Vorliebe für diese dämlichen Flauschvögel. Oder Jacks hirnlos schlechte Ideen für Bandnamen. Kings Frisur. Nines gnadenlos schlechte Noten, obwohl er die besten Nachhilfelehrer überhaupt zur Hand hatte. Alles.   „–spielsweise Kurasame seine Freizeit gerne auf einer der Himmelsterrassen der Akademie.“ Sice rumpelte ruckartig aus ihrer halb auf dem Tisch liegenden Position auf. „Was hast du gerade gesagt?!“ „Ich sagte“, begann Trey, und allein sein Tonfall ließ wieder Wut in ihr aufkochen, nachdem die gerade erst verraucht war, „dass die meisten Lehrer bekanntermaßen den Großteil ihrer Freizeit auf dem Akademiegelände verbringen. Wie du wissen dürftest, ist das Schulpersonal hier genauso untergebracht wie die Schüler selbst. Selbst in der Schulordnung ist vermerkt–“ „BEIM KRISTALL, KOMM ZUM PUNKT!!!“ „Wenn du mich einmal ausreden lassen würdest, dann könnte ich das auch tun, Sice!“ Sice schnaubte. „Ich habe dich die ganze Zeit ausreden lassen, du aufgeblasener Schwachkopf! Und ich habe nichts davon gehabt. Nichts! Jetzt ist endlich mal genug mit deinem Gelaber! Sag mir einfach, was zum Henker du gerade wegen Kurasame gesagt hast und dann verschwinde!“   Stille. Wohltuende, allumfassende Stille, in der Sice sich endlich zur Abwechslung wieder einmal selbst denken hören konnte. Schwer atmend ließ sie sich auf ihrem Stuhl zurückfallen, kippte den Kopf in den Nacken. Ich will nicht mehr. Ich geb auf. Alles, um diese Folter loszuwerden. „Du hättest einfach sofort sagen sollen, dass du Kurasame suchst“, erwiderte Trey schließlich aber doch mit einem Kopfschütteln. Er fuhr sich mit einer Hand über die Stirn und sah schon wieder so tragisch aus, als hätte sie gerade seinen wunderbaren Intellekt verschmäht. Okay. Hatte sie. Das war aber kein Grund, sich aufzuplustern, fand sie. „Er ist in seiner Freizeit oft auf den Himmelsterrassen der Akademie. Vor allem die Nordseite scheint es ihm angetan zu haben.“ Die Ecken, die den Schülern oft zu schattig und zu trist waren. Weniger Leute, die nerven konnten.   Sice konnte ihn so sehr verstehen.   Ein Seufzen aus Treys Richtung unterbrach ihre Gedanken beinahe augenblicklich wieder. „Ich würde das Thema nun zu gerne noch vertiefen, aber ich muss jetzt los.“ Und er hatte ernsthaft die Kaltschnäuzigkeit, dabei bedauernd zu klingen. Nicht nur ein Behemoth. Eine ganze Herde. „Ich bin nach der Bandprobe aber gerne wieder da, um mir deinen Kummer anzuhören.“ Für einen Moment war Sice so perplex, dass sie kein Wort herausbekam. Sie konnte nur zusehen, wie Trey davonstolzierte, selbstüberzeugt wie eh und je. Als sie sich endlich wieder unter Kontrolle hatte, warf sie ihr Federmäppchen nach ihm, auch wenn es längst zu spät war, um noch zu treffen. Es prallte klatschend an der wieder ins Schloss gefallenen Klassenzimmertür ab und fiel zu Boden.   „NUR ÜBER MEINE LEICHE!!!“       ***       Dieses Mal würde es klappen. Dieses Mal musste es klappen.   Sice stand vor dem Torbogen, der hinaus zur Terrasse führte und versuchte, das heftige Herzklopfen zu ignorieren, ihren nervösen Magen – alles. Immerhin hatte sie Glück. Bei so gutem Wetter kam niemand auf die Idee, sich irgendwo in den Schatten zu verstecken; so ziemlich die gesamte Schülerschaft fläzte irgendwo draußen in der Sonne herum. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie jetzt in irgendein Fettnäpfchen treten würde, war verschwindend gering. Inexistent, könnte man sagen. Sie holte tief, bebend Luft.   Keine Panik. Du hast schon Schlimmeres durchgestanden. Du hast Trey überlebt. Und jetzt sieh, wie weit es dich gebracht hat.   Sie konnte Kurasame in Begleitung seines Tonberry schon von ihrer Position aus sehen, wenn sie hinauslugte. Er war wirklich da. Ohne lästige Mädchentraube. Ohne belebten Schulflur, auf dem alle Nase lang jemand dazwischenrennen konnte. Sie hörte auch keine Stimmen – es war also unwahrscheinlich, dass da noch jemand dort draußen war und die Ruhe des Nachmittags genoss. Das hier war ihre Chance.   Es war nur traurig, dass sie das allen Ernstes Trey zu verdanken hatte.   Noch ein letztes Mal atmete sie tief durch, dann setzte sie sich in Bewegung, trat mutig hinaus in die warme Sommerluft. Entspannt bleiben. Selbstbewusst. Sie wollte nicht herumstammeln vor ihm. Ihr Blick fixierte nur ihn, seinen Hinterkopf, die breiten Schultern. Die atemberaubende Aussicht über die Welt, die man von hier oben aus hatte? Unwichtig. Alles war unwichtig gerade außer Kurasame. In Reichweite blieb sie stehen, räusperte sich vernehmlich. Hielt den Brief von sich gestreckt zu ihm hin in der sicheren Erwartung, dass er sich herumdrehen würde, ihn sehen, und ihn dann auch entgegennehmen. Kurasame mochte von vielen als unnahbar bezeichnet werden, aber sie war sich sicher, dass auch Unnahbarkeit Grenzen hatte. Niemand schlug Liebesbriefe aus. „…“ Stille. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er sich tatsächlich herumgedreht hatte, doch jetzt stand er nur da und schwieg. Sice schluckte hart. „Der ist–“ – für Sie, aber auf halbem Weg zum Mund verlor sie die Worte wieder, und ehe sie sie wiederfand, schwebte Kurasames schwarz behandschuhte Hand in ihr Blickfeld. Kräftige Finger schlossen sich um den Brief. Sice blieb das Herz stehen, ihre Augen wurden groß.   „Der ist wohl für dich.“   „Eh?“ Halt. Moment. Was?! Verständnislos ruckte Sices Kopf hoch, und sie betrachtete fassungslos die Szene, die sich vor ihr abspielte: Kurasame hatte ihren Liebesbrief angenommen. Aber nicht, um ihn selbst zu lesen. Er hatte nicht einmal begriffen, dass er für ihn war.   Jetzt war der hübsche Umschlag nicht mehr in seinen Händen, sondern wurde von einer mehr mitleidig als verwirrt aussehenden Seven gehalten, die von der Situation am Ende genauso überrumpelt war wie Sice. Zumindest bekam sie den Mund genauso wenig auf.   „Ich sollte jetzt gehen.“   Was auch immer Kurasame in das allgemeine Schweigen hineininterpretierte, es war falsch! Sice sah verzweifelt zu ihm hinauf, aber – zu spät. Er marschierte längst zurück ins Gebäude, sein Tonberry wackelte eifrig an seiner Seite neben ihm her. „Ich fass das nicht“, murmelte sie, ihre Stimme zitterte an der Grenze zur Hysterie. „Ich fass das nicht!“   Wieso? Womit hatte sie das verdient? Das war, verdammt nochmal, nicht fair! Mit einem Schrei der Verzweiflung warf sie die Hände in die Luft, nur um sie dann resigniert und ruckartig wieder fallen zu lassen. Sie verließ gerade alle Kraft. „Sice. Setz dich kurz.“ Sie gehorchte, wenn auch nur, weil ihr die Energie zum Widerstand fehlte. Stundenlang hatte sie sich von Trey bequatschen lassen. Sie hatte sich seinen Schwachsinn angehört, um es bis hierher zu schaffen. Und was hatte sie davon? Nichts. Die Erkenntnis, dass Kurasame ihren ersten, missglückten Auslieferungsversuch des Briefs viel zu gut mitbekommen hatte. Und falsch interpretiert hatte. Seven setzte sich neben sie, legte tröstend einen Arm um ihre Schultern. Der Brief landete behutsam in Sices Schoß.   „Entschuldige. Ich habe es dir wieder vermasselt.“ „Ja verdammt, hast du!“ Sice stöhnte verzweifelt, raufte sich durchs Haar. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, irgendjemandem an die Gurgel zu gehen, und gleichzeitig fühlte sie sich einfach nur noch resigniert und müde. Mit einem weiteren unseligen Laut ließ sie den Kopf hängen. „Was musst du auch unbedingt hier herumhängen?“ Ihre Gesellschaft ließ sich von ihrer Laune überhaupt nicht aus dem Takt bringen. Seven blieb ruhig, blieb gefasst. Ihr Blick war hinaus ins Nirgendwo gerichtet. „Es ist hübsch. Ich mag die Aussicht. Und manchmal tut die Ruhe ganz gut.“ „Die Aussicht ist doch überall die Gleiche“, murrte Sice, „Du hättest dir ne andere Terrasse als Kurasame aussuchen sollen!“   Irgendwo war ihr selbst bewusst, wie dämlich der Vorwurf eigentlich war. Wenn sie einen halben Moment länger darüber nachdachte, dann war es überdeutlich, dass nicht Seven Schuld an ihren Dilemmata trug, sondern – sie selbst. Sie hatte es bisher jedes Mal verbockt, weil sie nicht gut genug aufgepasst hatte, was in ihrer Umgebung vor sich ging. Aber sie wollte nicht fair sein. Sie wollte lieber ihren Frust loswerden, und nicht einmal dazu fiel ihr etwas ein. Nine. Sie konnte sich sicher eine Runde mit Nine prügeln. Der Trottel ließ sich doch von jedem Schwachsinn provozieren.   „Weißt du, Sice…“ Weiter kam Seven nicht, da schüttelte Sice schon heftig den Kopf. „Nein. Nein, ich will es nicht hören. Ich hab für heute genug von guten Ratschlägen. Ich hab mir stundenlang Treys sinnloses Geschwafel anhören dürfen, um überhaupt mal herauszufinden, dass Kurasame hier rumhängt! Und der Kerl besitzt auch noch die Kaltschnäuzigkeit, mich anzumaulen, dass ich ihn ja nicht ausreden lassen würde! Ich hab sowas von genug von guten Ratschlägen, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“ „Dann eben anders.“ Es machte sie rasend, wie überhaupt nicht Seven sich aus der Ruhe bringen ließ von allem. Sie sollte sich ruhig etwas schuldiger fühlen! Sie hätte auch gern einen sinnvollen Ratschlag haben dürfen, aber nicht jetzt. Vielleicht auch eher nie. Es war nicht, als bräuchte Sice das wirklich. Sie brauchte nur endlich mal eine Situation, in der sie niemand boykottierte! Wenn das so weiterging, hatte sie ihren Schulabschluss schon zwanzig Mal in der Tasche, bevor dieser Brief endlich seinen wirklichen Empfänger fand!   Mitten in ihre stille Litanei hinein stand Seven auf, griff einfach nach ihrer Hand, um sie ebenfalls hochzuziehen. „H-hey!“ – „Komm mit.“ Sie wollte protestieren, schüttelte schlussendlich aber nur den Kopf und erhob sich, um zu folgen. Seven führte sie bis an die Brüstung der Terrasse. „Die Aussicht ist überall anders“, erklärte sie leise, beinahe andächtig. „Und diese hier ist mir die Liebste. Sieh hin.“   Sice hätte es aus Prinzip am liebsten gelassen – Ablenkung von ihrem Leid klang aber gut, also hob sie den Blick doch von dem Brief, den sie gerade noch angestarrt hatte. Sie wusste, dass einige der Terrassen hinaus aufs Meer blickten. Dass sie sich also mit einem Teppich aus ewig weitem Blau konfrontiert sah, erstaunte sie nicht im Geringsten. Was dafür umso faszinierender war, waren die Landmassen, die sich in östlicher Richtung vor ihr erstreckten, bis sie sich irgendwann ein der Ferne verloren. So einen klaren Blick auf die Grenze zwischen Land und Meer zu haben, war atemberaubend. Sah sie nach Westen, verlor die ganze Welt sich in tiefem Blau. Sah sie nach Osten, sah sie Rubrum, das sich aus dem Meer erhob, sah Land, das sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Und von all dem war sie so weit entfernt, dass es absolut still wirkte. Von hier oben sah man den ewigen Gang von Ebbe und Flut nicht. Man hörte das Rauschen des Wassers nicht. Selbst die salzige Seeluft schien mehr ein halbvergessener Nachhall zu sein. Es war– „–beruhigend, nicht wahr?“, fragte Seven sanft. „Hier wirkt alles so grenzenlos. Das Land, in dem wir leben. Das Meer. Als könnte alles einfach ewig weitergehen und würde nie aufhören.“   Sevens Lächeln hatte etwas Seltsames an sich. Unlesbar. Wie dieses Gemälde, von dem sie irgendwann im Unterricht einmal gehört hatte, dessen Gesichtsausdruck auch über Jahrhunderte hinweg von niemandem hatte entziffert werden können. Sice schüttelte den Kopf. „Du übertreibst.“ „Vielleicht.“ „… Aber es ist wirklich entspannend.“   Auf lange Sicht war vor allem entspannend, dass Seven, im Gegensatz zu manch anderem ihrer Klassenkameraden, wirklich den Mund halten konnte, wenn es angebracht war. So war es erträglich, einfach hier zu stehen, hinaus auf die Welt zu schauen, zuzusehen, wie sich nach und nach der Himmel dunkler färbte, bis die ersten Sterne im schwindenden Tageslicht sichtbar wurden.   Vielleicht wäre es auch länger erträglich gewesen, wenn Sice nicht langsam Hunger bekäme. Mitten in die Stille hinein seufzte sie herzhaft, streckte sich – und merkte erst jetzt so recht, dass sie immer noch wie zwei kleine Mädchen auf dem Weg zum Klo Händchen gehalten hatten. Wie dumm. „Okay. Genug von dem Kitsch. Ich brauch ein Abendessen und ne Prügelei.“ Seven neben ihr lachte leise. „Zum Abendessen komme ich mit. Sei so gut und prügel dich nicht zu sehr, du kennst die Schulordnung.“   Und wie Sice sie kannte. Sie hatte oft genug Nachsitzen wegen dem Drecksstück von Papier.   Sie schwieg die Mahnung aus, wandte sich ab und trottete los. Zurück in die Akademie, raus aus der Ewigkeit und hinein in den Alltag. Ein paar Schritte später hielt sie aber doch noch einmal inne, warf einen stirnrunzelnden Blick zu Seven hinüber. „Was war das vorhin eigentlich für ein schlauer Ratschlag?“   „Sag es ihm. Ich habe nicht den Eindruck, dass Kurasame ein Mann ist, der es wertschätzt, wenn man ihm seine Gefühle nicht einmal ins Gesicht sagen kann.“   „Das sagst du so leicht!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)