Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 33: Das Gleichgewicht der Unschuld ------------------------------------------ Langsam erhob sich sein Bewusstsein wie nach einem tiefen, erholsamen Schlaf. Er konnte sich nicht daran erinnern, in letzter Zeit so tief geschlafen zu haben, dass es eine derartige Entspannung rechtfertigen würde. Im Gegenteil, die letzten Nächte waren kurz und von Alpträumen geprägt gewesen und er hatte nicht das Gefühl, dass es diese Nacht so gewesen war. Crawford hielt die Augen noch geschlossen, als er die Sonne auf seinem Gesicht spürte. Er hatte keine Lust, seine Augenlider zu heben. Schwer waren sie, zu schwer, als dass er sie öffnen wollte. Alles in ihm verlangte danach, dass er sich den Luxus des Liegenbleibens gönnte und die Wärme des Bettes, die angenehme Weichheit und die Sonnenstrahlen genoss. Leise seufzte er und fühlte Frieden in sich. Seit langer Zeit fühlte er endlich Ruhe in sich, die sich auf seinen Geist und seinen Körper erstreckte. Er hatte keine Schmerzen, ihm war nicht übel oder kalt, er war einfach nur, so als wäre das alles nicht geschehen. Gesund. Zufrieden. Ausbalanciert. So wie vorher. Crawford vergrub den Kopf in das Kissen und öffnete nach längerer Kontemplation über dessen fedrige Weichheit dessen ein Auge. Nur eines, er war ja schließlich noch nicht ganz wach. Er sah seinen Arm, der sich unter das Kissen vergraben hatte. Seine andere Hand, die auf etwas weichem auf dem Bett lag, das zweite Kissen, so vermutete er. Beide waren frei von Fesseln und das beruhigte ihn. Die dritte Hand lag vertrauensvoll an seiner Brust und hielt sacht sein Oberteil in den Händen. Crawford schloss die Augen nur um sie einen Moment später verwirrt zu öffnen. Drei Hände? Sein erster, bewusster Gedanke war, dass er nicht alleine im Bett war. Ein ungutes Gefühl an Unsicherheit kroch in Crawford hoch und ließ ihn angespannt zurück, bevor er seinen Blick von der ihn haltenden Hand zu dem Besitzer eben jener wandern ließ. Bewusst, aber mit einiger Mühe löste Crawford den ihm innenwohnenden Fluchtreflex und sah auf den schlafenden, friedlichen Jungen herab, dessen Hand sein Oberteil hielt, so als hätte Nagi Angst, dass Crawford verschwinden würde. Er ließ nicht zu, dass Angst sein Denken oder seine Emotionen dominierte. Nicht jetzt, nicht hier, nicht, wenn er sich bewusst den Jüngsten seines Teams betrachtete. ‚Adoptiere doch Nagi‘, hallte die Erinnerung an die Worte seiner Mutter durch seine Gedanken, während er die entspannte Gestalt des Telekineten betrachtete, der seine freie Hand unter seinem eigenen Oberkörper vergraben und die Beine angezogen hatte. Friedlich sah er aus, kein Vergleich zu dem unsicheren, gepeinigten Gespenst, das seit ihrer Ankunft hier durch das Haus schlich. Kein Vergleich zu dem Telekineten, dessen Lächeln seine Qualen begleitet hatte, der eben jene verursacht hatte auf Geheiß Lasgos und des unbekannten Empathen. Crawford versuchte sich einen Reim darauf zu machen, wie der Junge zu ihm ins Bett kam – freiwillig hätte er sich niemals dazugelegt -, wie er überhaupt zu dieser Entspannung kam und ein Name geisterte durch seine Gedanken, der ihn innerlich wie äußerlich mit den Augen rollen ließ. Schuldig. Natürlich. Er wusste, dass er wütend sein sollte. Doch irgendwie fiel ihm das gerade jetzt schwer, so konzentrierte er sich lieber auf den Jungen neben sich, der, getrieben durch die angeborenen und kultivierten Instinkte, dass er beobachtet wurde, sich langsam regte und zu sich kam. Schlaftrunken blinzelte er und seine Finger auf Crawfords Shirt bewegten sich. Er runzelte die Stirn und die Lider hoben sich, gaben den Blick frei auf schläfrige graue Augen, die ebenso wie die Seinen auch äußerst unwillig waren, sich der Welt hier draußen zu stellen. Nagi blinzelte und vergrub seine Nase in das Kissen, seufzte leise. In Gedanken versunken strichen die Finger über das Shirt, anscheinend irritiert über die Textur des „Kissens“. Ebenso irritiert waren Nagis Augen, als sie schließlich hochwanderten und ihre braunen Gegenstücke fanden, die sie ruhig maßen. Wie schnell aus Entspannung Irritation, Schrecken und Angst werden konnten, sah Crawford nun und nur seine Hand auf dem Arm des Telekineten hielt den jüngeren Schwarz davon ab, aus dem Bett zu stolpern und unter Entschuldigungen panisch das Zimmer zu verlassen. „Es tut mir leid“, presste Nagi hervor, als er seine Stimme wiederfand und selbst jetzt war sie beinahe unhörbar und dünn vor Furcht. Seine Augen huschten auf den schmalen Zwischenraum zwischen ihnen beiden und wagte es nicht, Crawford weiterhin anzusehen. „Ich wollte dich nicht anfassen. Eigentlich wollte ich gar nicht hier im Bett sein, ich habe mich vorne auf den Boden gelegt. Ich muss wohl irgendwann im Schlaf…“ Nagi brach ab, als er merkte, dass er brabbelte und gab Crawford damit Zeit, seinen Verdacht zu festigen, dass es wohl nicht Nagis bewusste Entscheidung gewesen war, sondern dass ihr fürsorglicher Telepath, der sich nicht zu schade gewesen war, ihm das Bewusstsein zu rauben, auch gleich noch Nagi mit seinen Kräften beehrt hatte. Crawford seufzte tief. „Oder Schuldig hatte seine Finger im Spiel.“ Als Nagi hörte, dass er nicht wütend war, erlaubte er sich die minimale Imitation eines zustimmenden Nickens. Langsam ließ Crawford den Arm des Jungen los und maß diesen schweigend. Nach und nach stellte er sich seinen Erinnerungen, die ihm Zorn und Furcht bescherten, Hass auf die Tage, die er gezwungen war, in diesem kalten, widerlich nach seinem eigenen Blut stinkenden Keller zu verbringen. Er rief sich das Lächeln auf den Lippen des Telekineten in Erinnerung, als dieser ihn gefoltert hatte. Er rief sich die Tränen auf den Wangen des Jungen in Erinnerung, als dieser nicht mehr ertrug, was er Crawford antat. Jeden einzelnen Schmerzmoment rief er sich ins Gedächtnis. Jeden einzelnen Moment der Verzweiflung, der Aufgabe. ‚Du kannst vergeben‘, hatte Siobhan ihm gesagt und er hatte es ihr in dem Moment nicht geglaubt. In diesem Moment jedoch schloss er die Möglichkeit nicht mehr aus. „Habe ich etwas getan…?“, fragte Nagi unsicher und Crawford merkte an der Reaktion des Jungen, wie sehr sich sein Gesichtsausdruck verhärtet hatte. Knapp und abgehackt schüttelte er den Kopf und maß den Jungen, der dafür nichts Anderes als eine Strafe von ihm erwartete. „Nein.“ Crawford hielt inne. Viel zu kühl, viel zu bestimmt hatte er das Wort geäußert, um Nagi nicht noch mehr zu verschrecken. „Ich habe nur nachgedacht, Nagi“, setzte er nach, versöhnlicher nun. „Soll ich gehen?“ Die vorherige, irrationale Angst in Crawford sagte ja, sein Verstand hielt jedoch dagegen. Er hatte die Verpflichtung, sein Team wieder auf die Beine zu stellen und selbst wenn er… Crawford runzelte die Stirn, als er selbst jetzt den Aufdruck auf dem Blatt Papier noch nachfühlen konnte, so als wäre es gestern gewesen, dass er die Vision gehabt hatte. „Du bleibst.“ Es klang wie eine Drohung, wurde ihm im Nachhinein bewusst und er sah auf in die grauen Augen voller Gehorsam und voller Furcht. Crawford seufzte erneut. „Was denkst du über Weiß, Nagi?“, lenkte er sie beide von dem ab, was zwischen ihnen stand und der Junge verzog für einen Moment angewidert das Gesicht. „Sie sind unbegabt und unkoordiniert. Sie haben keinen Respekt, jetzt, da wir schwach sind und tanzen uns auf der Nase herum. Und der junge Takatori…“ Nagi schauderte und rollte mit den Augen, was Crawford innerlich unweigerlich schmunzeln ließ, hatte er doch gesehen, was zwischen den beiden vorgefallen war und wie der Taktiker von Weiß beschlossen hatte, damit umzugehen, nachdem Schuldig mit ihm gesprochen hatte. Damit nicht genug, er wusste sehr gut, wie Nagi seine Freizeit verbrachte und er tolerierte es, da es bis jetzt keinen Schaden angerichtet hatte. Was Tsukiyono unwissentlich in die Karten gespielt hatte, als er Nagi aus dem Keller vor die Spielkonsole gezerrt hatte. „Ist er brauchbar für die Informationsbeschaffung?“, fragte Crawford mit erhobener Augenbraue und sah, dass Nagi versucht war, nein zu sagen. Wortlos hob er die zweite Augenbraue und Crawford machte nonverbal sehr deutlich, dass er die Antwort auf die Frage bereits kannte und dass er Nagi ans Herz legte, seine Frage analytisch anzugehen. Der Junge klappte seinen Mund zu und nickte dann ergeben. „Er versteht etwas von dem, was er tut. Mehr als die anderen Stümper jedenfalls.“ Widerwillige Zustimmung trug sich ihm hier entgegen und dieses Mal verbarg Crawford das amüsierte Schmunzeln nicht. „Sie werden in den kommenden Wochen eine effiziente Unterstützung auf Missionen sein“, erläuterte Crawford schließlich. „Ein Back-Up mit zusätzlichen Fähigkeiten.“ „Benötigen wir sie denn?“ Nagi stellte ihm die Frage, die er sich seit dem Handel zwischen ihrer Organisation und Kritiker selbst oft gestellt hatte und bei der er immer wieder zu einem widerwilligen Ergebnis gekommen war. „Bevor unser Team einem normalen Menschen unterlegen ist, der uns mit List, Tücke und Intrige fast an den Rand der Selbstzerstörung gebracht hat, hätte ich nein gesagt. Sie sind unbegabt und sie wissen mit Mühe, wen sie töten und in welche Richtung sie dabei laufen müssen; ihre Methoden sind brutal und ähneln eher einem Schlachthaus als einem sauberen Mord. Dennoch sind sie uns jetzt nützlich, Nagi. Sie sind die Allianz, mit der unsere Zielperson nicht rechnet.“ Nagi schob die Worte seines Anführers in seinen Gedanken hin und her. „Wir sind…nicht mehr genug“, resümierte er dann, was Crawford nicht ausgesprochen hatte. „Schwarz ist nicht stark genug um es mit der Zielperson aufzunehmen“, präzisierte er es dann und sah hoffnungsvoll in die Augen seines Anführers, dass dieser ihm in diesem Ergebnis widersprach. „Momentan nicht, nein.“ Dass die Wahrheit bitter für den Jungen war, sah eben jener, schlussendlich kam sie ihm auch wie Säure von den Lippen. Doch Nagi akzeptierte die Einschätzung seines Anführers schlussendlich ohne Widerspruch. „Zumal…“ Crawford hielt inne. Es war der richtige Zeitpunkt, es ihm zu sagen. Er musste es ihm sagen. Nagi hatte verdient, es zu wissen. „Zumal es nicht alleine die Zielperson ist, die wir suchen. Siobhan hat festgestellt, dass Fujimiya bei seinem Versuch, mir Gewalt anzutun, von einem Empathen beeinflusst worden ist. In dem Zuge hat sie auf meine Bitte hin auch dich überprüft und bei dir den gleichen Einfluss gefunden. Wohl versteckt und beinahe unsichtbar, aber du hast nicht auf eigene Initiative gehandelt, Nagi. Deine Emotionen sind gegen dich verwendet worden.“ Ruhig und bedacht ließ Crawford seine Worte wirken, die für den ersten Moment auf taube Ohren stießen. Erst nach und nach sickerten sie in die Gedanken des Telekineten ein und fanden eine Bedeutung. Er sah, wie Nagi mit ihnen kämpfte, er sah, wie seine Worte Erinnerungen aufwühlten, wie sie das kaum verarbeitete Trauma berührten und es ans Tageslicht zerrten. Tränen schossen Nagi in die Augen und hilfesuchend hielt sich sein Blick an Crawford fest. Die Hände zuckten, wollten nach ihm greifen, wollten in das, was ihnen Sicherheit verschaffte. Sie wollten zurück in die Bindung. Crawford atmete zittrig ein. Er konnte das tun. Er war mehr als die Summe seiner Angst und seiner schlechten Erinnerungen. Er war zu stark dafür. Langsam hob er den Arm und sprach die nonverbale Einladung aus. Das Trauma in ihm schrie und zuckte schier zurück vor seiner dummen Entscheidung, doch in diesem Moment bekämpfte er es mit aller Macht. Er hatte sein Team zu retten und so würde er zu den gleichen Mitteln greifen wie zu der Zeitspanne, in der ihr Jüngster noch neu bei ihnen gewesen war. Neu, unsicher und ängstlich. Damals hatte Nagi in einigen seltenen Momenten seine Nähe gesucht und er hatte sie aus reiner Notwendigkeit gewährt, da der Nutzen den Nachteil einer emotionalen Bindung überwogen hatte. Das ließ er jetzt ebenfalls den Grund für sein Handeln sein, zumindest sagte sich Crawford das, als er den Arm in einer stummen Einladung an den Telekineten hob, der ihn erst ungläubig, dann unglaublich froh und erleichtert anstarrte. Schließlich dauerte es keine zehn Sekunden, bis Nagi sich an ihn schmiegte und ihn umarmte, als gäbe es kein Morgen mehr. Sein wild schlagendes Herz verfluchte ihn dafür, doch Crawford hielt es aus. Er ertrug die menschliche Nähe und legte schließlich seinen Arm um Nagi, dessen Tränen sein Shirt durchnässten. Der schmale Körper wurde schier geschüttelt von stummen Schluchzern, als Nagi sich an ihn presste und schier in ihn hineinkriechen wollte. Auch das ließ Crawford zu mit strikt regulierter Atmung und eiserner Selbstkontrolle. Hier ging es nicht um ihn, sondern um die Stärke des Telekineten. Wortlos legte er das Kinn auf den dunklen Schopf und starrte auf die entfernt liegende Wand. Sie waren ein Team, hielt er sich vor Augen. Sie waren eine Einheit. Niemand von Schwarz würde den Anderen jemals freiwillig angreifen oder ihm schädigen. Gut, mit Ausnahme von Jei und Schuldig. Crawford vermochte nicht zu sagen, wie lange sie hier so engumschlungen lagen, bis Nagi sich verlegen soweit von ihm löste, dass er sich verschämt die Tränen abwischen konnte. Leise schniefte er und knetete nachdenklich die Lippen zwischen seinen Zähnen. Schweigend wartete das Orakel, bis die grauen Augen den Mut fanden, zu ihm hochzusehen, bevor er selbst all seinen Mut zusammennahm und Nagi das Handgelenk entgegenstreckte. Ein ungläubiger Laut entkam den Lippen ihres Jüngsten und er zuckte zusammen. „Du willst das nicht“, wisperte dieser und Crawford lächelte kurz. Seine Angst wollte nicht. Seine Erinnerungen wollten nicht. Seine Rationalität riet ihm dazu. „Ich biete es dir an, Nagi.“ „Ich…ich kann nicht… wenn ich dir wehtue.“ Kaum hatten die Worte seine Lippen verlassen, schlug sich Nagi vor den Mund. Er zuckte zurück in Erwartung eines Schlages, der nie kam. „Wir haben eine Bindung“, erwiderte Crawford schlicht. „Diese Bindung kann weder durch unsere Zielperson noch durch einen feindlichen Empathen gelöst werden. Ich lasse nicht zu, dass es ihnen gelingt.“ „Aber du hast gesagt, dass du nie wieder meine Kraft in deiner Nähe haben möchtest.“ „Das habe ich und nehme es hiermit zurück. Es war ein Fehler, dir unsere Bindung zu versagen.“ „Aber ich…“ „Dessen bin ich mir bewusst.“ „Aber du…“ „Nagi.“ Crawford bemühte sich um Ruhe und Gelassenheit. Er bemühte sich um Sanftheit, auch wenn er all das gerade nicht fühlte. Das Trauma in ihm gab Nagi Recht, es schrie geradezu danach, dass er diesen Wunsch nicht äußerte. Doch er war stärker, er würde sich nicht von seinen negativen Erinnerungen bestimmen lassen. Beinahe schon zaghaft legten sich die ersten Fäden der Telekinese um sein Handgelenk und Crawford konnte ein Zusammenzucken wahrlich nicht unterdrücken. Er schluckte und spürte, dass Nagi eben jene Stränge bereits wieder zurückgezogen hatte. Er schüttelte den Kopf. „Ich möchte es“, sagte Crawford schlicht und ein zweites Mal legten sich unsichtbare Finger um sein Handgelenk. Bewusst ruhig atmete er, den Blick in die Haut seines Unterarmes gebrannt. Sein Herz raste, doch das war nebensächlich, denn Crawfords Verstand erkannte, dass ihm dieses Mal keine Gewalt drohte. Das hier war etwas Anderes und eben das hielt er sich wieder und wieder und wieder vor Augen. Das hier war Zusammenhalt. Loyalität. Zittrig legte Crawford seine Hand zwischen sie beide und sah auf in die grauen, furchtsamen Augen, die nur darauf warteten, einen neuen Befehl zu erhalten. Doch nichts dergleichen hatte Crawford vor. Schweigend maß er Nagi, gab seiner Mimik mit eiserner Disziplin Ruhe und Gelassenheit, mit der er schlussendlich Erfolg hatte. Nach und nach beruhigte sich der Junge und vermochte es, sich zu entspannen. Mit der Ruhe, so erkannte Crawford, kehrte auch das logische Denken ihres Taktikers zurück. „Werden wir erfolgreich sein?“, fragte Nagi in der Prämisse eben dieser Beobachtung und Crawford nickte. „Ja, das werden wir“, erwiderte er mit mehr Sicherheit, als er wirklich fühlte. Seine Visionen hatten sich nicht in allerletzter Konsequenz dazu ausgelassen, wie der Ausgang der sechs Wochen sein würde. Ein Detail hatten sie ihm gezeigt…den Rest noch nicht. Ein einziges, verdammtes Detail. Doch er musste lügen, denn den Jungen noch mehr zu verängstigen, brachte nichts. „Ja, Nagi, das werden wir.“ Dieses Mal war kein Quantum an Unsicherheit mehr zu hören. Nach einer kurzen Überlegung strich er Nagi über den schwarzen Schopf und schraubte sich unter dem überraschten Blick des Telekineten langsam in die Sitzende hoch. Einen Moment lang blieb er sitzen, dann schlug er die Bettdecke zurück. Eine Dusche wäre keine so falsche Idee. Einen kurzen Moment blieb Crawford auf der Bettkante sitzen und rieb sich den Schlaf aus dem Gesicht und den Augen, bevor er sich erhob und sein Körper ihn zum ersten Mal nicht wieder auf die Matratze schickte. Das war es also, was man Fortschritt nannte. Crawford wandte sich zu Nagi um, der ihn schweigend fixierte, aber keine Anstalten machte, sich aufzurichten. Die Augenbraue hebend, bedachte er den Jungen mit sachtem Spott. „Sehe ich da Schuldigs Einfluss auf dich, was Trägheit und Faulheit angeht?“, fragte er und kaum hatte er die Worte ausgesprochen, war auch schon die Bettdecke beiseite geworfen und Nagi stand auf, auch wenn er nun eher unschlüssig auf der anderen Seite des Bettes stand. Unsicher, was er tun sollte, während Crawfords Arm immer noch gefangen war in der telekinetischen Bindung, verharrte er und starrte exakt auf den Punkt ihrer beider Verbindung. Nein, er war nicht gefangen, korrigierte Crawford sich nach einem Moment. Er wurde damit bedacht, es war ein Geschenk. Es hatte nichts mit Nagis zerstörerischer Gabe zu tun, die ihm die fünf Tage bei Lasgo zugesetzt hatte. Rein gar nichts. Crawford atmete tief ein und ging zur Tür, öffnete sie. Herausfordernd schmunzelte er. „Dann geh duschen, wir sehen uns unten zum Frühstück.“ ~~**~~ Dass es nicht ganz so sehr Frühstückszeit war, wie er es vermutet hatte, erkannte Crawford, als er nach einer ausgiebigen Dusche in die Küche trat und ihm schwerer, verlockender Essensgeruch entgegenwaberte, der auf das sicher kommende Abendessen hindeutete. Seine Mutter werkelte erneut in der Küche, das übliche Chaos hinter sich herziehend, welches Thomas schweigend und ergeben seit nunmehr zwei Jahrzehnten aufräumte, als sie das Essen auf den Tisch stellte. Die anderen Anwesenden Schwarz und Weiß saßen in schweigendem Beisammensein um den Tisch herum, vor sich Dokumente und Zahlentabellen. So interessant konnten die Unterlagen nicht sein, so wie er nun in den Fokus rückte und die fünf Agenten ihn maßen. Hidaka lagen wie immer seine Fragen auf der Zunge und nur Crawfords eindringlich warnender Blick hielt ihn davon ab, diese heraus zu posaunen, schlimmer, als es Schuldig jemals tun konnte. Kudous Blick ruhte eher neugierig als abneigend auf ihm und auf Fujimiyas Gesicht meinte er eine Zufriedenheit zu sehen, die er weder erwartet hatte und die er auch nicht wirklich begrüßte. Wieviel wussten sie, wieviel hatte ihnen Schuldig unter die Nase gerieben, in genau jener Verderben bringenden Redseligkeit, die auch Hidaka so perfekt beherrschte? Zuviel, mutmaßte Crawford und maß den ihm winkenden Telepathen mit einer erhobenen Augenbraue. Lieber sah er noch einmal in die Runde, während er den Umstand zu ignorieren versuchte, dass seine Mutter es sich immer noch nicht nehmen ließ, aus den verfeindeten Gruppen etwas zu machen, das sich nicht gegenseitig umbrachte, wenn sie nicht hinsah. Nur, dass sie dieses Mal… „She played the fiddle in an Irish band but she fell in love with an English man. Kissed her on the neck and then I took her by the hand, said, "Baby, I just want to dance"…” Crawford schloss die Augen und schob die Brille hoch, rieb sich nach Geduld suchend über die Nasenwurzel. Bei allem, was seiner Mutter heilig war, warum musste sie ausgerechnet hier singen? Warum konnte sie das nicht auf Zuhause beschränken? Als sie sich zu ihm umdrehte, maß er sie mit hochgezogener Augenbraue. ~Du singst, Mutter? Muss das sein?~ Ihr Lächeln war warm und hieß ihn willkommen wie eine Venusfliegenfalle ihre Beute willkommen heißen würde. Der wissende Anklang, welcher hinter der Wärme lauerte, gefiel Crawford ganz und gar nicht, schon seit Anbeginn seiner Jugend nicht. ~Du weißt doch, dass ich gerne singe, mein Sohn.~ ~Aber nicht vor Weiß. Nicht vor meinem Team.~ ~Schämst du dich für mich?~ Er grollte gedanklich. ~Wenn du meinen Ruf ruinierst, dann schon, ja.~ ~Deinen Ruf? Aber sie fürchten dich, ganz egal, was ich singe. Außerdem singe ich schon seit heute Morgen.~ Das beruhigte Crawford nun ganz und gar nicht und er ließ sich mit einem vernichtenden Blick in die Runde am Tisch nieder, den lauschenden und grinsenden Schuldig keines Blickes würdigend. Thomas stellte ihm schweigend seine erste Tasse Kaffee hin und Crawford bediente sich ebenso wortlos, jedoch dankbar an dem schwarzen Gold. Dass sie hier in der Küche zusammen saßen, war zweifelsohne das Werk seiner Mutter, die allzu zufrieden mit eben jenem war, vor allen Dingen, da nun auch noch Nagi die Küche betrat und sich mit ausdruckslosem Blick auf einen der noch freien Plätze niederließ. „Wo ist Jei?“, fragte Crawford in die Runde und Schuldig deutete mit einem faulen, wissenden Grinsen nach draußen. Das Orakel maß seinen Telepathen kritisch und ließ seinen Blick pointiert auf dessen halbnacktem Oberkörper ruhen, der nur von einem offenen Hemd bedeckt wurde. Nur zu deutlich war die Schlinge darunter zu sehen, die seinen Arm gepresst an seinen Körper hielt. Anscheinend war es heißer draußen als er es zunächst angenommen hatte. Was konnte er sich doch glücklich schätzen. „Jagen.“ „Jagen?“, echote Crawford zweifelnd, doch Schuldig ignorierte ihn zugunsten der Bilder der Überwachungskameras, die er durchforstete. Crawford ließ sich für einen Moment lang ablenken, als die Haustür ins Schloss fiel. Jei? Seine Visionen verrieten ihm nichts, ebenso wenig wie die beiden Telepathen, die mit ihm im Raum waren. Also bestand keine Gefahr, oder? Tatsächlich nicht, stellte er fest, als der Ire nun die Küche betrat, der Blick aus einem Auge ruhig und gelassen, zufrieden gar. Über seinen Schultern hing ein totes Reh, dessen Augen sie alle leblos anstarrten, während die Zunge aus dem verdrehten Hals des toten Viehs hing. Ungläubig starrte Crawford auf das Gespann und fragend hoben sich seine Augen zu Jei, während Kudou mit gutturalen Lauten im Hintergrund deutlich sein Missfallen über den Umstand des toten Tieres kundtat, dem Jei augenscheinlich wohl wortwörtlich den Hals umgedreht hatte. „Ich nehme an, du hast eine gute Erklärung hierfür?“, stellte Crawford in den Raum und der Ire lächelte zufrieden. Crawford kannte diesen gar nicht mal seltenen Ausdruck nur zu gut und das verursachte dem Orakel Kopfschmerzen. Warum genau hatte er nicht noch einen halben Tag länger geschlafen? Warum genau war er nicht oben geblieben und hatte mit sich selbst eine Runde Schach gespielt? Vielleicht sollte er sich einfach wieder ins Bett legen und schlafen für die nächsten Tage und Wochen. ~Das kann ich arrangieren~, schaltete sich Schuldig hilfreich ein und Crawford grollte gedanklich. ~Du lässt deine Finger von mir.~ ~Wer will mich daran hindern? Du?~ Crawford warf einen langen Blick in Richtung des Telepathen und rief bewusst die Erinnerungen an den Moment hoch, in dem der Schuldig in seine Falle gezogen hatte. Äußerlich lächelte er böse und der Telepath schnaubte. Ernst sah er auf, als er violetten Augen begegnete, die ihn aufmerksam maßen und die auf dem Hämatom auf seiner Wange hängen blieben. „Ich war’s“, soufflierte Schuldig hilfreich, als er sich der Gedanken des Weiß gewahr wurde und Crawford hob die Augenbraue, während Fujimiya ihn schweigend und dunkel anstarrte. Anscheinend hatte Schuldig nichts von ihrem abendlichen Gespräch ausgeplaudert und anscheinend entwickelte der Weiß so etwas wie einen Beschützerinstinkt ihm gegenüber. Noch etwas, über das er sich gar keine Gedanken machen wollte, weil es zu absurd war um jemals auch nur gedacht zu werden. „Es war ebenso unschuldig wie der Technikjunge“, holte sie Jeis dunkle Stimme zum eigentlichen Thema zurück und er zeigte mit einem vernarbten Finger auf Omi, der den Blick starr erwiderte und trocken schluckte. „Jei“, warnte Crawford leise, aber bestimmt und Jei machte eine Handbewegung, die alles bedeuten konnte. Zärtlich streichelte er seiner Beute über das gesunde Fell und legte sie ebenso vorsichtig auf den Boden vor ihnen, als wäre es eine Kostbarkeit, die es zu bewahren galt. „Die beiden Söhne sind verbunden. Stirbt der Eine, stirbt der Andere. So kann der Jäger nicht jagen, kann nicht die unschuldigen blauen Augen aus ihren Höhlen kratzen, damit sie das Elend der Welt nicht mehr sehen müssen, nicht das weiche Fell ausreißen, damit es bewahrt wird. Aber das Gleichgewicht muss bestehen bleiben und Unschuld getilgt werden.“ Ruckartig krallte Jei seine Finger in das Reh und Hidaka schluckte geräuschvoll anhand der toten, großen Augen, die ihn anstarrten. „I met her on Grafton street right outside of the bar, she shared a cigarette with me while her brother played the guitar. She asked me what does it mean the Gaelic ink on your arm? Said it was one of my friend's songs do you want to drink on?” Todbringend waren Crawfords Augen, die sich in ihre amüsierten Gegenstücke bohrten, während sie fröhlich weitersang, als würde kein totes Tier auf dem Küchenboden liegen, und zusammen mit Thomas nach etwas suchte. Als sie den Mob schlussendlich in der Hand hielt, grunzte sie triumphierend und warf ihn Jei zu, der ihn zähnefletschend auffing. „Bring das Tier in den Kühlkeller und mach dein Chaos sauber, Irishman!“ Crawford kannte die Stimme nur zu gut. So warm sie auch klang, die Härte, welche dahinter lauerte, ließ keinen Widerspruch zu. Unwillig starrte Jei den Lappen an und runzelte unerfreut die Stirn. Er öffnete die vernarbten Lippen um ihr Widerworte zu geben, aber die stillte sie mit einem einzigen Blick. So ergab sich der Ire eben jenem und damit ihrem Willen und schulterte erneut das leblose Tier, während Siobhan die nächste Strophe des Liedes anstimmte, ganz zum Gefallen Kudous, der… „Du wirst den Mund halten, Balinese, oder ich stopf ihn dir mit den Eingeweiden des Rehs“, warnte Crawford und ließ den Weiß sehen, dass er durchaus die Gene seiner Mutter geerbt hatte, zumindest was das Ersticken von Widersprüchen im Keim anging. Der blonde Mann schluckte die Tirade an Komplimenten, die er gerade über seiner Mutter hatte ausschütten wollen, hinunter und starrte Crawford feindselig an. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, stand plötzlich die rothaarige Kritikeragentin in der Tür, in Turnschuhen und unauffälliger, legerer Kleidung inklusive einer Mütze, die ihre Mähne verbarg. Über ihrer Schulter hing ein Rucksack und unter ihrer Jacke vermeinte Crawford eine Pistole zu erahnen. Aufmerksam und kritisch maß sie die illustre Versammlung und warf einen wenig erfreuten Blick in die Küche und auf die anwesenden Männer. „Die Tür war auf“, erklärte sie ihr Auftauchen gedehnt und maß den Boden das tote Tier über den Schultern des Iren, der nun erfreut grinste und sich mit seiner schweren Last an ihr vorbeidrängte. „Ich habe Neuigkeiten.“ Das brachte Siobhan dazu, sich erfreut umzudrehen. „Wundervoll! Aber setzen Sie sich doch, Manx-san. Sie möchten sicherlich einen Kaffee und nachher mitessen?“ Wieder glitten die Augen der Agentin zu Jei und maßen das Tier, dann wieder zurück zu der Exekutorin. Wortlos hob sie eine Augenbraue, doch auch sie wagte keinen Widerspruch. ~~**~~ „Es reduziert sich auf diesen Personenkreis?“ Manx nickte und maß ihr Gegenüber intensiv. Das Hämatom auf seiner Wange war vorher noch nicht da gewesen und unwillkürlich fragte sie sich, was an dem Tag, wo sie nicht mit Weiß gesprochen und Informationen gebracht hatte, passiert war, um das auszulösen. Hatte der Schwarz immer noch ein Problem damit, seine Gabe zu nutzen? Unwillkürlich fragte sie sich, inwieweit das den gemeinsamen Auftrag gefährden könnte, wenn er einen solchen Schlag nicht vorhersah. Ein amüsiertes Lächeln begegnete ihr, als sie hochsah und sie schnaubte, lehnte sich in dem bequemen Ledersessel zurück, in dem sie nach dem Essen Platz genommen hatte, das zwar bis ins Unkenntliche weich gekocht, aber dennoch lecker gewesen war. Sie gönnte sich einen Augenblick um die Skurrilität der Situation auf sich wirken zu lassen. Weiß und Schwarz saßen hier, mehr oder minder unbewaffnet, definitiv friedlich für diesen Moment. Es war nun vier Tage her, dass der Bombenanschlag die beiden Teams zusammengetrieben hatte und sie eine temporäre Zusammenarbeit beschlossen hatten. In diesen vier Tagen hatten sie alle Feldteams in äußerste Alarmbereitschaft versetzt und die Tage und Nächte damit verbracht, potenzielle Verräter ausfindig zu machen, die Kritiker ebenso wie Birman auch hintergangen hatten. Vorgestern Abend hatten sie die Abhörprotokolle erhalten und ausgewertet, was nichts Gutes zu bedeuten gehabt hatte. Es hatten sich nunmehr fünf Namen herauskristallisiert, die in Frage kamen, die sie aber momentan noch unter Beobachtung hielten um keinen Verdacht zu erregen und ihren Feinden schon gar keinen Hinweis darauf zu geben, dass sie ihnen auf der Spur waren. Das bedeutete aber gleichzeitig, den Pakt mit dem Teufel einzugehen und die Verdächtigen dem vor ihr sitzenden Zusammenschluss, insbesondere Masterminds Telepathie, auszuliefern. Da wäre der Tod sicherlich gnädiger. ~ Ich muss doch wohl sehr bitten, Rote.~ ~Willst du widersprechen, Mastermind?~ ~Aber sicher, ich bin ein Menschenfreund.~ Ungerührt schickte sie ihm ein paar Erinnerungen an Leichen, die Schwarz hinterlassen und Kritiker gefunden hatten, fein säuberlich katalogisiert und mit Täterprofilen hinterlegt. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich derweil wieder auf Aya, der die aktuellen Akten in den Händen hielt und nun stirnrunzelnd studierte. Auch jetzt noch wunderte sie sich immer noch, dass es ausgerechnet der sonst so hasserfüllte Abyssinian gewesen war, der den ersten Schritt getan hatte und das auch noch aus Mitleid. Man hätte meinen sollen, dass der rothaarige Mann seine Chance auf Rache nutzte und das Orakel in dem Moment der Schwäche schlicht und ergreifend tötete. Doch nein. Anstelle dessen ließ er den Hellseher leben und schien mitnichten ein Problem damit zu haben, sich in dessen Nähe zu befinden oder mit ihm zusammen zu arbeiten. Manx brauchte keine Telepathie um zu sehen, dass bei dem Auftrag irgendetwas zwischen den beiden Anführern passiert war, dass die übliche, verlässliche Feindschaft hatte in den Hintergrund treten lassen. Es war weniger ein Waffenstillstand als vielmehr eine bestimmte Ruhe im Umgang miteinander, die beinahe an Akzeptanz grenzte. Manx würde sogar so weit gehen, etwas Anderes dahinter zu vermuten, wenn sie sich das Charakterprofil des Weiß inklusive seiner sexuellen Vorlieben und seines Männertypus ins Gedächtnis rief. Und da hatten sie Abyssinian ausgewählt, weil er sich nicht an eine Frau binden würde; zumindest an keine andere als seine Schwester. Niemals würde er den Drang verspüren, Kinder großzuziehen oder eine Bindung einzugehen. Wie sehr man sich doch irren konnte. ~Ganz meine Rede, Rote, aber mir glaubt ja niemand~, drang Schuldig in ihre Gedanken ein und fragend hob Manx eine Augenbraue. Es fühlte sich immer noch komisch an, Opfer der Telepathie des Schwarz zu werden und es war nichts, auf das sie gesteigerten Wert legte. ~Du weißt natürlich mehr.~ Das Lachen des Telepathen hallte unschön in ihrem Kopf wider und erweckte den Eindruck, als wäre er leer. Unangenehm war das. ~Wer weiß, wer weiß.~ ~Anscheinend du.~ ~Das ist meine überlegene Ader als Telepath.~ ~Bilde dir das ruhig ein.~ ~Willst du es bestreiten?~ ~In Anbetracht der Tatsache, dass Weiß deinen Arsch ohne Probleme in ein Kritikerlabor hätte verfrachten können, ja, will ich.~ Ihre Gedanken verrieten ihm, dass es immer noch eine valide Möglichkeit war, wenn seine Nützlichkeit zu einem Ende gekommen war. ~Ihr Stümper kriegt mich nicht, das garantiere ich dir, Rote.~ Manx schenkte Schuldig ein strahlendes Lächeln, das ihre weißen Zähne blitzen ließ und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Orakel, das nicht im Geringsten erfreut maß, anscheinend nicht angetan von dem kurzen, mentalen Geplänkel mit seinem hauseigenen Telepathen. Ungerührt starrte sie ihm in die Augen voller Missfallen. „Ich nehme an, die Verhöre sollen mittels unserer Kräfte geführt werden?“ Es dauerte einen Moment, aber dann nickte Manx, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen. Ihr war unwohl dabei, doch hatte sie eine andere Möglichkeit? Wohl kaum. Nicht, wenn sie schnelle und zuverlässige Ergebnisse wollte. „Sollen sie überleben, nachdem sie ihre Informationen weitergetragen haben?“ „Wenn sie sich des Verrats schuldig gemacht haben, nein.“ Crawford nickte und streckte die Hand nach den Akten aus. Ohne hinzuschauen, reichte Aya diejenigen an ihn weiter, die er bereits studiert hatte und der Schwarz nahm sie kommentarlos an sich. Sie harmonierten, das sah Manx alleine anhand dieser kleinen Geste. Es gab keine Reibungspunkte, kein Alphamännchengehabe unter Teamführern und das bereits nach vier Tagen. Das bereits seitdem das Orakel, Prodigy und Bombay ins Krankenhaus nach Shibuya gebracht worden waren. Manx mochte darauf wetten, dass diese Zusammenarbeit schon viel früher ihren Anfang genommen hatte. Wortlos hob sie die Augenbraue. „Wenn sie sich des Verrats schuldig gemacht haben, wird Weiß sie exekutieren“, sagte Aya und sah auf, reichte die restlichen Akten an Crawford weiter. Schuldig grinste und streckte seinen gesunden Arm, entblößte dabei seinen halben Bauch, als das zu kurze Shirt noch ein wenig mehr hochrutschte. „Dass ich das noch einmal erleben darf… Kritiker liefert sich uns freiwillig aus. Diesen Tag muss ich mir schwarz in meinem Kalender anstreichen.“ Manx betrachtete Schuldig für einen Moment. Seine Lippen waren spöttisch verzogen und mit jeder Faser seines Daseins wollte der Telepath provozieren. Gerade so, als wäre er ein Kleinkind, das um die Aufmerksamkeit seiner Eltern buhlte, die ihm stetig und berechtigt verweigert wurde. Sie tat den Gedanken ab und wandte sich an die beiden Jüngsten der Teams, die möglichst weit auseinander saßen. Der junge Schwarz war mehr als schüchtern, den Blick von Zeit zu Zeit unsicher zu Crawford huschend. Auch wenn er nicht mehr so schlimm aussah wie zu zu dem Zeitpunkt, an dem er im Krankenhaus aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, so hatte sein Körper anscheinend Probleme mit den Drogen, die ihm verabreicht worden waren. Aya hatte ihr berichtet, was zwischen dem Orakel und seinem Telekineten vorgefallen war. Omi hatte die Angaben um die Ereignisse auf Lasgos Anwesen ergänzt und so war ein Bild entstanden, dass fernab von der schwarzschen Monströsität auf eine Art Familienleben hindeutete, bei dem beide füreinander sorgten. Etwas, das sie Schwarz bisher nicht attributiert hatte. „Habt ihr etwas über die Zahlungen herausgefunden?“, fragte Manx und ließ ihren Blick von Naoe zu Omi gleiten, der nickte. Sein Blick wandte sich an den Schwarz, ob dieser etwas sagen wollte, doch Naoe schwieg beharrlich. Omi hob die Augenbraue, zog sich einen der Stapel heran und gab ihr einen kurzen Abriss über die Finanzströme, hielt ihr schließlich das Pad mit den Zusammenhängen hin. „Der Buchhalter der Firma also. Gibt es eine offensichtliche Verbindung zu Lasgo oder zu Takatori, die sich zurückverfolgen lässt?“ Omi schüttelte mit ernster Miene den Kopf. „Leider nein. Wir haben lediglich anhand der Nutzerkennung feststellen können, wer die Geldein- und -ausgänge bearbeitet hat. Dabei handelt es sich um Tanaka Yui. Sie hat das Geld auf Konten in die Schweiz, nach Liechtenstein, in die Karibik und nach Amerika transferiert, immer einen Tag, nachdem ein Eingang zu verzeichnen war auf den Konten der Tadashi Corp. Diese sind jedoch durch eine Sicherheitsstruktur auf den Servern geschützt, deren Codes wir erst einmal knacken müssen sowie durch ein internes System, auf das wir von außen keinen Zugriff haben, da die Server im Gebäude selbst stehen. Abseits davon versuchen wir gerade, aus Takatoris Finanzen ein System zu finden und Anhaltspunkte dafür zu erhalten, ob und inwieweit er involviert ist. Aber wir sind mit den Kunstgegenständen weitergekommen und wissen nun, wohin welche Skulptur und welches Gemälde gegangen ist und sind gerade dabei, eine Liste an möglichen Tarnnamen zusammen zu stellen und deren Verbindungen nachzugehen.“ Manx nickte anerkennend. „Tanaka Yui kommt mit auf die Liste für eine Befragung.“ Manx‘ Blick ruhte einen Moment lang auf Youji, da sie um dessen Probleme mit möglicher Gewalt gegen Frauen wusste. Unleserlich erwiderte er ihren Blick und zuckte mit den Schultern. Manx verstand. Nicht hier, nicht jetzt, nicht vor den Schwarz. „Wie lange benötigt ihr für Takatoris Finanzen und die Liste mit den Tarnnamen?“, fragte sie nun ausdrücklich an Naoe gewandt, dessen kühler Blick sich in dem Moment senkte, in dem Manx die grauen Augen einzufangen versuchte. Er wich ihr aus, schon wieder. Und das nicht aus Arroganz, wie sie es zunächst vermutet hätte, sondern – so schätzte sie – aus Angst. Oder Widerwillen. „Nagi.“ Es schien, als hätte er Prodigy nur auf die Erlaubnis seines Teamführers gewartet, als er sich nach anfänglichem Zusammenzucken straffte und tatsächlich kurz ihrem Blick standhielt. „Aufgrund der Komplexität der Kontobewegungen und Firmenstruktur unseres Auftraggebers wird die Analyse der Daten ungefähr ein bis zwei Tage in Anspruch nehmen. Die Liste mit den Tarnnamen hat einen Zeitansatz von einem Tag.“ „Was ist mit den Informationen über die Mutter Tsukiyonos?“, mischte sich Crawford ein und fixierte die Kritikeragentin mit einem fragenden Blick, während seine Tasse ruhig auf seinem Oberschenkel ruhte. Schließlich war es Perser selbst, der maßgeblich dazu beitragen konnte, eine weitere Möglichkeit zu geben, an Informationen zu gelangen, die schlussendlich zu Lasgo führen würden. Manx nickte und überreichte Fujimiya einen weiteren Ordner mit Unterlagen. „Das sind die Unterlagen, die wir zusammenstellen konnten. Namen, Adressen, Krankenhausunterlagen, Sterbeurkunden, Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, behördliche Einträge. Viel gibt es jedoch nicht, denn die beiden Familien waren sehr auf ihre Privatsphäre bedacht und damit einhergehend haben sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf private Dienste wie Ärzte und Lehrer zurückgegriffen.“ Regungslos ging Aya die Unterlagen durch und Manx beobachtete erneut, was ihr gerade schon aufgefallen war. Das abgestimmte Miteinander hielt die beiden Gruppen ruhig, kam ihr in den Sinn. Die Teammitglieder folgten ihren Anführern und stellten sie nicht in Frage in ihrem Zusammenwirken. So war es erst möglich, dass alle hier saßen. Fast alle, wie ihr auffiel. Der Ire war nicht mit dabei und ging erneut seine eigenen Wege. Das Reh auseinandernehmen zum Beispiel, mutmaßte sie. Wie immer kroch ihr eine Gänsehaut über den Rücken, wenn sie an Beserker dachte, der um soviel unberechenbarer war als der Rest seines Teams. Während das Orakel das eiskalte, stringente Böse darstellte, war Mastermind ein Inbegriff des widerstreitenden Chaos. Prodigy war schlicht und ergreifend tödlich und seinem Anführer hörig. Berserker hingegen… Manx war sich nicht sicher, warum der Mann Teil dieses Teams war, außer für seine Grausamkeit und seine ungezielte Brutalität. Doch der Wahnsinn, der in dem Auge leuchtete, sprach seine eigene Sprache. Sein Team vermochte ihn nicht zu bändigen, das hatte sie am eigenen Leib miterlebt, als Mastermind vergebens versucht hatte, Berserker von ihr zu lösen. Sie wäre tot gewesen, wenn der Ire nicht beschlossen hätte, sie am Leben zu lassen, so einfach war das. ~Er hat eben eine Vorliebe für dich~, mischte sich eine ihr mittlerweile wohlbekannte, gedankliche Präsenz in ihr Denken und Manx rollte innerlich mit den Augen, kappte dieses Thema und wandte sich an Crawford. „Wann können wir erste Ergebnisse der Befragung unserer Mitarbeiter erwarten?“ Die Augen des Amerikaners verloren für einen Moment lang ihren Fokus und starrten durch sie hindurch. Es war nur für den Bruchteil eines Augenblickes, in dem das Orakel kurz die Stirn runzelte, bevor er wieder zu ihnen zurückkehrte. „In vier Tagen sollte es soweit sein.“ Manx nickte bestätigend und erhob sich. „Dann erwarte ich die ersten Ergebnisse in zwei Tagen.“ In die Runde blickend, blieb ihre Aufmerksamkeit an ihren eigenen Agenten hängen. „Weiß, auf ein Wort.“ Damit erhob sie sich, wohl wissend, dass Schuldig jedes gesprochene Wort und jeden Gedanken verfolgen würde, den sie nun mit ihrem einzig noch aktiven Team austauschen würde. ~Ich? Lauschen? Wie käme ich dazu?~, bestätigte eben jener ihre Vermutung und Manx rollte mit den Augen. ~Du bist berechenbar, Mastermind.~ ~Ihr seid aber auch einfach zu leichte Beute.~ ~Tut dein Nasenbeinanbruch noch weh, oh großer Jäger?~, spottete sie zurück und nun war es sein Grollen, das in ihrem Schädel widerhallte. Amüsanterweise war es leichter zu ertragen als das vorherige Lachen. ~Willst du wissen, wie sehr, Rote?~ ~Kein Bedarf.~ Er lachte boshaft und für einen kurzen Moment war die Erinnerung, wie Kudou Mastermind die Nase brach, zu präsent in ihren eigenen Erinnerungen, als dass sie sie von ihren eigenen Erinnerungen entscheiden konnte. Doch dann ebbte das Gefühl ab und das Lächeln des Telepathen hatte gefühlt etwas Wölfisches an sich, so wie er die Zähne fletschte. ~Für das, was du Bombay angetan hast, hast du weitaus mehr verdient~, kommentierte sie schlicht und ging nach draußen. Nicht, dass es die schwere Präsenz des Telepathen in ihren Gedanken, der sie deutlich spüren ließ, dass er jedes Wort mithörte, besser machte. ~~**~~ „Wie geht es euch?“ Sie hatten sich auf die schattige Außenterrasse zurückgezogen, was aber die Hitze nicht wettmachte, die mit voller Wucht außerhalb des klimatisierten Hauses zuschlug. Manx hatte sich ihres Pullovers entledigt und genoss für einen Moment lang die Sonne trotz der drückenden Hitze, die Augen geschlossen, den Kopf zum Himmel emporgereckt. Spätestens mit ihrer Frage war sie jedoch zu Weiß zurückgekehrt und damit in die unliebsame Gegenwart, die immer noch viel zu viele Fragen aufwarf. Sie maß Ken, der stoisch mit den Schultern zuckte. „Soweit läuft es. Die Kleinen arbeiten an den Informationen und wir gehen denen so gut es geht aus dem Weg, wenn wir nicht gerade Informationen auswerten. Die Sachen von denen zu nutzen, verschafft mir immer noch eine Gänsehaut und die Mutter von Crawford ist scheiße gruselig. Bisher sind die aber friedlich.“ Sie nickte und ließ ihren Blick auf Omi ruhen, einem der benannten „Kleinen“. Omi, der am Meisten unter Schwarz zu leiden gehabt hatte. „Es läuft“, erwiderte er indifferent und wandte seinen Blick ab, so als könne er sie dadurch davon abhalten, Fragen zu stellen oder noch einmal nachzuhaken. Manx seufzte innerlich. Sie kannte Omi noch als verängstigtes Kind, das gerade den Händen seiner Entführer entronnen war. Nach und nach hatten sie, Perser und Birman den Kleinen aus seinem Schneckenhaus gelockt und ihm zu dem gemacht, was er heute war. Und dann kam Schwarz und machten ihre Mühen beinahe zunichte. Trotz aller befohlenen Zusammenarbeit würde sie dem gegnerischen Team im Haus immer vorwerfen, hatte sie der verängstigte Omi von vor wenigen Wochen doch viel zu sehr an das Kind erinnert, das sie damals mit viel Geduld und Mühe aus seiner Angst geholt hatten. „Wie kommst du mit Naoe zurecht?“, hakte Manx daher nach und Omi zuckte mit den Schultern, nippte an dem Wasserglas, das er sich mit nach draußen genommen hatte. „Es ist aushaltbar, ebenso mit den anderen Schwarz. Mach dir keine Sorgen, Manx“, winkte er ab und sie runzelte mit der Stirn. „Lass es mich umformulieren. Ist eure Zusammenarbeit produktiv?“ Omi lächelte kurz. „Wenn Prodigy sich auf seinen Teil der Arbeit besinnt, dann ja.“ „Heißt?“ „Kellerräume sind nicht so seins.“ Manx nickte. Sie verstand, konnte nachvollziehen, was den jungen Schwarz hemmte. Die Ereignisse, die zu dem Kollaps geführt wurden, waren ihr durch Omi selbst ausführlich beschrieben worden und schließlich hatte sie seine Krankenakte eingehend studiert, kaum dass sie erste Ergebnisse von seinem Blut erlangt hatten. Sie wünschte sich, dass sie Zeit gehabt hätten, mehr Tests durchzuführen, doch das war angesichts eines explodierenden Gebäudes ein frommer Wunsch geblieben. Auch für Schuldig und Crawford hätte sie sich weitere Tests gewünscht, denn wann hatten sie schon einmal eine solch gute Gelegenheit, sich auf die Zeit nach ihrer Zusammenarbeit vorzubereiten? Jetzt nicht mehr. Jetzt konnten sie die gegnerische Einheit nur noch bei ihrem alltäglichen Leben beobachten und Rückschlüsse aus ihrem Verhalten ziehen. Auch wenn die Rückschlüsse, die sich bisher ergeben hatten, eher nur noch mehr Fragen aufwarfen als dass sie sie beantworteten. „Aya?“ „Der Konflikt zwischen Crawford und Schuldig wurde anscheinend beigelegt, was das Planen und Zusammenarbeiten hoffentlich einfacher macht. Ansonsten gibt es noch keine weiteren Reibereien.“ „Youji?“ Ein abfälliges Schnauben antwortete ihr und der älteste Weiß zündete sich angewidert eine Zigarette an. „Schuldig ist nach wie vor ein Arschloch, ansonsten ist alles gut. Auf den Iren haben wir ein Auge.“ Manx nickte knapp. „Haltet ihr den Auftrag für erfüllbar mit ihnen?“ Die schnelle Antwort, die sie darauf erwartete, ließ auf sich warten. Die ihr gegenübersitzenden Männer waren allesamt in ihren eigenen Überlegungen versunken, die sie nicht sofort antworten ließen und sie fragte sich nun schon zum vielleicht hundertsten Mal, ob Perser wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Der wackelige Waffenstillstand in allen Ehren, doch was brachte es, wenn die zusammengewürfelte Gruppe aus Weiß und Schwarz ihren Zweck nicht erfüllte? Wenn Schwarz beim Schutz von Weiß und bei der Mitarbeit zu Kritikers Gunsten versagte? „Sie haben Fähigkeiten, die wir nicht haben. Wir sind nicht so zerrissen, wie sie es sind. Lasgo hat es auf uns nicht in dem Maße abgesehen, wie er es auf sie abgesehen hat. Das verschafft uns eine gemeinsame Basis, die eine gemeinsame Auftragserfüllung möglich machen könnte.“ Ausgerechnet Omi analysierte ihr die Situation mit beinahe kaltem Kalkül, das sie an seinen Vater erinnerte. Sehr sogar. Manx lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur noch fünf Wochen und ein paar Tage“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Weiß und schloss damit das Thema ab. Fünf Wochen und das Problem Schwarz würde sich auf die eine oder andere Art und Weise gelöst oder aufgelöst haben. Dann konnte alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Sich straffend erhob sie sich, streifte sich ihren Pullover wieder über. „Gibt es noch etwas, Weiß?“ Ihre Agenten verneinten und sie nickte. „Gut, dann hören wir uns morgen.“ Manx tippte sich an die Schläfe und nahm den Umweg um das Haus herum, damit sie nicht auf unerwünschte schwarze Gesellschaft stieß. Während sie ging, fingerte sie an ihrer Mütze herum, versuchte ihre wilde Mähne unter den Stoff zu zwingen, mit wenig Erfolg. Ihre störrischen Haare entflohen immer wieder ihrem vorgesehenen Gefängnis. Grollend blieb sie stehen und wischte sich eben jene für einen neuen Versuch vom Kopf, als ihr eben jene aus der Hand genommen wurde. Alarmiert fuhr sie herum und sah vor sich den bleichen Iren stehen, der sie mit ruhigem Auge maß. Der Stich an Furcht, der ihr Rückgrad heraufschoss, war Öl für das Feuer ihres Instinktes, der nun endlich zum Leben erwachte. Unbewusst griff Manx zu ihrer Waffe, wurde jedoch von der zweiten vernarbten Hand auf ihrer davon abgehalten. „Nein“, veräußerte Berserker ruhig und entfernte mit bestimmten Druck die Hand von der Waffe. Fragend sah Manx in das goldene Auge, das wenig von dem sonstigen Wahnsinn in sich hatte. Angespannt und vorsichtig war ihre Aufmerksamkeit auf das Tun des Iren gerichtet, der nun die Mütze eingehend betrachtete. „Warum verbirgt Arielle ihre Herkunft vor der Welt?“, fragte er schließlich und sah auf die Mütze, unstete Missbilligung in seinem Blick. „Um meine auffälligen Haare zu verdecken und keine Spur zu eurem Safehouse zu legen, die Lasgo oder einen seiner Söldner zu euch führen könnte.“ Er schien ihre Antwort zu analysieren und zu einem nicht zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. Langsam schüttelte Farfarello den Kopf. „Wozu verbergen, was man ist?“ Manx überlegte einen Moment lang, ob der Schwarz einen Scherz mit ihr trieb, doch dann schien ihr der Ire nicht der Typ für solche Späße zu sein. Ganz im Gegenteil zu Schuldig. Manx überlegte, wie groß ihre Überlebenschancen waren, wenn sie den Iren nicht mit einer ihn zufriedenstellenden Antwort bedachte. „Ich schütze, was wichtig ist.“ Das goldene Auge grub sich erneut in ihre grünen Gegenstücke und hielt sie an Ort und Stelle mit seiner Intensität gefangen. „Wer muss geschützt werden? Die Unschuld, die es nicht mehr gibt?“, fragte er schließlich und seine Hand krallte sich um den Stoff der Mütze, als wollten die Finger ihn zerreißen. Manx blinzelte und wieder war es ihr Instinkt, der sie leitete, als sie ihre Hand über die seine legte, die ihre Mütze zerreißen wollte, während ihre andere unmissverständlich auf ihrer Waffe ruhte, bereit, diese im Notfall zu gebrauchen. „Das Grau muss geschützt werden“, erwiderte sie ruhig und zog leicht an dem Stoff. Es dauerte einen Moment, bis Farfarello ihn gehen ließ, die Stirn nachdenklich verzogen. „Grau“, wiederholte er langsam, in sich versunken. „So grau wie stürmische Gewitterwolken. Grau wie eine aufgewühlte See.“ Manx nickte. „Grau wie Schwarz und Weiß.“ „Vermischen sie sich?“ Die Agentin runzelte ob der Frage die Stirn. Sie wusste nicht, worauf der Ire hinauswollte, sie wusste ebenso wenig, wieviel ihm sein Team oder sein Anführer mitgeteilt hatten über die Situation, in der sie sich befanden. Was sie wusste, war, dass er auftauchte, wann er wollte und wo er wollte. Selbst in dem Kritikerkrankenhaus. Selbst an der Seite der Exekutorin. Dass er Dinge wusste, die Anderen entgangen waren. Und dass er in manchen Situationen - so verrückt er auch schien – vernünftiger zu sein schien als die anwesenden Agenten. „Nicht für immer.“ „Du lügst.“ Erstaunt hob Manx die Augenbraue. „Bitte?“ „Schneewittchen und Arielle sind miteinander verbunden. Die beiden Söhne, geschlagen und hintergangen, sind aneinander gekettet durch Versprechungen und Bänder, unsichtbar und eisern, bleischwer.“ Manx runzelte die Stirn. Da war es wieder, dieses Wissen, das er Anderen voraushatte und dass er sich wer weiß woher angeeignet hatte. „Mit wem bin ich verbunden?“, fragte sie ruhig nach und unwirsch schüttelte der Ire den Kopf, zog missbilligend die Lippen zurück, als hätte sie etwas sehr Dummes gefragt. „Die andere Arielle.“ Die andere Arielle. Manx brauchte einen Moment, um sich klar zu werden, wen der Ire meinte. Wer von ihnen mit Schneewittchen eine Verbindung eingehen könnte und dabei ebenso rote Haare hatte. Dass ausgerechnet Crawford die schlafende Schönheit sein sollte, ließ sie zwar innerlich schmunzeln, aber es machte Sinn. „Wie weit sind die beiden miteinander verbunden?“, fragte sie aus dem Gefühl heraus, dass abseits jeden Spotts, den der Telepath dafür aufbrachte, abseits jedes Schweigens, das von Crawford und Aya kommen würde, sie von Farfarello eine ehrliche Antwort erhalten würde. Anscheinend stand ein schmallippiges, vernarbtes Lächeln zwischen eben jener Antwort und ihr. „Durch das Gleiche, durch das auch die beiden Söhne miteinander verbunden sind. Schicksal.“ Das war keine wirklich befriedigende Antwort, befand Manx und anscheinend las Farfarello das auch auf ihrem Gesicht, so nachdenklich, wie er wurde. Den Kopf schieflegend, griff er in ihre Haare und zog leicht an den roten Strähnen, so als könnten sie ihm helfen, diesen Widerspruch aufzulösen. Das Messer, das plötzlich zwischen ihnen beiden auftauchte, ließ sie nun doch zu ihrer Waffe greifen und noch bevor Farfarello es an eine der Strähnen angesetzt hatte, presste sie ihm den Lauf in einer deutlichen Warnung in mach oben angeschrägtem Winkel gegen den Magen. Intensiv fixierte Manx den Iren und teilte ihm mit ihren Augen mit, was ihre Lippen nicht taten. Farfarello maß dem mit keiner Sekunde eine besondere Bedeutung zu, sondern trennte sich in aller Ruhe eine Strähne der roten Locken ab und löste sich dann von ihr, betrachtete die Haare eingehend und in sich versunken, so als würde sie keine Schusswaffe auf ihn richten. Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das bei anderen Menschen eine Geste der Unsicherheit gewesen wäre. Nicht jedoch bei Farfarello. Niemals würde sie Unsicherheit mit Berserker assoziieren. „Was willst du mit den Haaren?“, fragte sie schließlich und er sah auf, kehrte zurück in die Gegenwart, als wäre er sich ihrer Anwesenheit jetzt erst wieder bewusst geworden. Ein breites, vergnügtes, abwesendes Lächeln spielte um seine vernarbten Lippen. „Sie davor bewahren, dass sie grau werden“, erwiderte er und wandte sich ab, ließ sie einfach so stehen, die Waffe in der einen Hand, die Mütze in der anderen, die gekürzte Strähne im Gesicht hängend. Unweit von sich sah sie Crawford, der sie schweigend maß und dessen Gesicht nichts von der vermeintlichen Offenheit seiner Mutter innehatte. Sie hatte immer noch keine vernünftige Antwort erhalten, fiel Manx auf, als sie die Gesichtszüge des Orakels betrachtete und bereits ahnte, dass sie die Antwort darauf nicht wollte, konnte es doch bedeuten, dass einer ihrer besten Agenten sich emotional an den Anführer einer gegnerischen Einheit band und sei es auch nur durch Mitleid und ein schlechtes Gewissen. Das, was sie immer hatte verhindern wollen. Manx seufzte und steckte die Waffe zurück in das Holster, stopfte ihre Haare unwirsch unter die Mütze. Ihr Weg führt sie geradewegs an Crawford vorbei. Schweigend maßen sie einander, als sie auf ihn zuging. Ob er vorausgesehen hatte, was Farfarello zu ihr sagen würde? Sie wusste es nicht, doch das Wissen in seinen Augen gab ihr einen Anhaltspunkt dafür, dass es so sein konnte. Seine legere Kleidung machte ihn jünger und täuschte über die Eiseskälte, mit der er die Geschicke von Schwarz leitete, hinweg. Es ließ ihn weniger formell wirken, viel jünger als sonst. Die Leinenhose, das einfache Shirt, die nackten Füße… all das soll einlullen. Doch sie weigerte sich, sich einlullen zu lassen. „Ich glaube nicht an deine Harmlosigkeit. Keine Sekunde lang“, sagte sie ernst und er hob mit arrogantem Amüsement in den Augen fragend die Augenbraue. Dann wandte er den Blick zur Seite und deutete mit einem Lächeln auf die Dame des Hauses, die nun auf sie beide zukam. Manx schauderte innerlich. Die feindliche Agentin hatte es perfektioniert, ein Sinnbild an Höflichkeit und Freundlichkeit zu sein, was in ihrem Fall den noch viel größeren, schwarzen Schlund überdeckte, der dahinter klaffte. „Ich muss mich für den irischen Jungen entschuldigen, er hat eine Vorliebe für Haare. Seien Sie gewiss, Sie sind nicht die Einzige, der er die eine oder andere Haarsträhne abgezweigt hat“, zwinkerte eben jene Frau und Manx hob erstaunt die Augenbrauen. Schwer vorstellbar, dass die Dame des Hauses sich von Berserker Haare abschneiden ließ. „Sehen Sie, so kann man sich irren.“ „Solange es nur eine Haarsträhne ist“, erwiderte Manx. Sie wartete, wurde sie doch den Gedanken nicht los, dass das Zusammentreffen hier nicht zufällig war und dass ihr das Endergebnis garantiert nicht gefallen würde. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie entsprechend vorsichtig und die Rosekreuzagentin nickte anerkennend. „Im Zuge unserer Recherchen haben wir festgestellt, dass es anscheinend eine PSI-Beeinflussung von Abyssinian und Prodigy gegeben hat, damit diese sich in feindlicher Absicht Oracle nähern“, erläuterte sie und das bisherig gutmütige Amüsement wich einer stummen Wut, die Manx das Fürchten lehrte. „Hierbei handelt es sich um einen nichtregistrierten Empathen, der seine Spuren außerordentlich gut zu überdecken weiß.“ Manx runzelte die Stirn. Diese Information, so neu sie war, war essentiell in der weiteren Missionsplanung. Natürlich hatte Abyssinian ihr schlussendlich berichtet, was er bei Lasgo getan hatte und dass er nicht verstand, warum er das getan hatte. Natürlich hatte sie durch Bombays Berichte einen Eindruck vom Handeln des jungen Telekineten erhalten. Beides war besorgniserregend und in dem neuen Kontext nur noch umso mehr. „Haben Sie schon Hinweise auf seine Herkunft und seine Motivation?“ Denn das Schwarz das Ziel des Angriffs war, schien nur zu wahrscheinlich zu sein. Alle Beeinflussungen hatten ein Opfer zum Ziel: Crawford. Die Dame des Hauses schüttelte den Kopf. „Wir befinden uns erst am Anfang unserer Recherche. Wir glauben jedoch, dass eventuell auch Ihre eigene Agentin davon betroffen sein könnte.“ Manx horchte auf. Birman. Die Frau, die seit ihrer Begegnung mit Berserker und Prodigy im Koneko in einem ihrer gesicherten Krankenhäuser lag und versorgt wurde, damit sie sie schließlich zu den Vorwürfen Abyssinians befragen konnten. Manx nickte langsam und wandte ihre Aufmerksamkeit auf Crawford selbst. Abyssinian hatte ihr mitgeteilt, dass Birman ebenfalls bei Lasgo gewesen war und dass sie es dem Menschenhändler anscheinend gleichgetan hatte. Nach wie vor war das für Manx nicht nachvollziehbar, hatte sie doch die Frau anders kennengelernt. Unvorstellbar war es hingegen nicht. Was, wenn es einen Punkt in Birmans Leben gegeben hatte, an dem der Kampf für die gute Sache einer Fanatisierung in eine falsche Richtung gewichen war. „Sie war bei Lasgo?“, fragte Manx nun auch den Anführer von Schwarz und dieser nickte knapp. „Du hattest Kontakt zu ihr?“ Crawford schnaubte. „Wenn man es so nennen möchte, ja.“ In seinen Augen lag eben jene Warnung, die seine Worte nicht erreichte. Manx neigte ihren Kopf in Anerkennung dessen. „Schien sie dir verändert zu sein?“ Er lächelte und Manx konnte nichts Angenehmes an dem Hochziehen der Lippen finden. Im Gegenteil. „Du meinst, ob ich mir in dem Moment, in dem sie gemeinsame Sache mit der Zielperson gemacht hat, die Frage gestellt habe, warum die Frau, die Weiß als Einheit, im Speziellen aber ihren Ziehsohn Tsukiyono Omi, favorisiert und ihre Aufgabe bisher tadellos erfüllt hat aus Sicht von Kritiker, sich mir aufzwingt? Nein. Ich muss gestehen, soweit habe ich zu dem Zeitpunkt nicht gedacht. Ich war auf andere Dinge konzentriert.“ Wortlos ließ Manx den beißenden, zynischen Spott über sich ergehen, der ihr nahelegte, keine weiteren Fragen zu eben jener Situation zu stellen. Ruhig maß sie das Orakel und versuchte sich erneut einen Reim darauf zu machen, wie es möglich gewesen war, dass dieser derart überwältigt wurde. Wie die Male zuvor kam sie zu keinem Ergebnis, hatte nun jedoch eine Ahnung. Kein einfacher Mensch war dafür verantwortlich, sondern ein weiterer PSI und dazu noch einer, der Rosenkreuz nicht bekannt war. Das war nicht gut. „Welches weitere Vorgehen schlägst du nun vor?“, fragte sie den Anführer von Schwarz und er fand abrupt zu seinem alten, beherrschten und kühlen Ich wieder. „Es würde sich anbieten, die Agentin ebenfalls zu untersuchen und festzustellen, wann genau die Beeinflussung stattgefunden hat. Angesichts der Tatsache, dass sie bereits vor Abyssinians Auftrag gemeinsame Sache mit der Zielperson gemacht haben muss, ist anzunehmen, dass es sich dabei um eine längerfristige Beeinflussung handelt.“ Manx schluckte. Langfristig? Als wenn sie nicht schon genug Probleme hatten. Andererseits würde das erklären, warum es zu einem derartigen Verrat kommen konnte. Nein, es war eine der möglichen Erklärungen. „Wer wird sie untersuchen?“ „Ich“, erwiderte die Dame des Hauses schlicht und Manx schluckte. Ihr war nicht wohl dabei. Eine wirkliche Wahl hatte sie jedoch nicht. Schließlich sah der Vertrag vor, dass sie zusammenarbeiteten. Schließlich war es ein gemeinsames Problem. „Können Sie die Beeinflussung rückgängig machen?“ „Das mit Sicherheit.“ Zähneknirschend nickte Manx. „Ich bespreche das mit Perser und melde mich spätestens morgen wieder bei Ihnen. Wie werden Sie denn in der Zwischenzeit gewährleisten, dass eine derartige Beeinflussung nicht noch einmal vorkommt?“ Manx dachte da an Abyssinian und Prodigy, die beide ebenfalls Opfer dessen geworden waren und aus dieser Prämisse heraus Dinge getan hatten, die sie nicht tun würden. Die Dame des Hauses lächelte und dieses Mal war da nichts an Sanftheit. Sie lächelte unangenehmer, als es Crawford jemals vermochte und Manx war, als würde die Welt um sie herum stillstehen. Ein Trugbild, sicherlich, doch keines, was ihr auch nur in Ansätzen angenehm war. „Ich schütze dieses Areal und die sich darin befindlichen Personen mit meiner Gabe. Niemand wird Ihr Team oder meines hier beeinflussen, ohne dass ich es erfahre und die Beeinflussung zurückverfolgen kann.“ Insbesondere in den letzten Worten lag ein Versprechen, das nichts Gutes verheißen würde. Die Dame des Hauses würde es nicht noch einmal zulassen, dass ihrem Team und insbesondere ihrem Sohn etwas geschah. Gnade demjenigen, der es wagte, sich diesem Areal in feindlicher Absicht zu nähern. Gnade demjenigen, der es gewagt hatte, die Unantastbarkeit von Schwarz in Frage zu stellen. Manx ertappte sich dabei, wie sie selbst zufrieden lächelte. ~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)