Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 27: Baumkuchendiebe und andere Katastrophen --------------------------------------------------- Es war gar nicht mal so schwer gewesen, den strengen Händen und Augen des Krankenhauspersonals zu entkommen und sich in die Kantine davon zu stehlen, stellte Omi fest, als er einen geeigneten Zeitpunkt abpasste, in dem Youji und Ken sich nicht in seinem Zimmer befanden und die Schwestern mit anderen Aufgaben betraut waren als ihn nicht aus ihren Fängen zu lassen. Seit einem Tag fühlte er sich bereits wieder in der Lage, seinen Aufgaben nachzukommen, doch weder Manx noch die Schwestern und Pfleger auf der gesicherten Station hatten seinen entsprechenden Wünschen stattgegeben. Er sollte sich ausruhen. Wieder zu Kräften kommen. Über das Erlebte mit dem von Kritiker bereitgestellten Therapeuten sprechen, mit dem er eigentlich gerade einen Termin gehabt hätte, wenn er nicht vor diesem Gespräch geflohen wäre, das ihm so gar nichts brachte. Rein gar nichts. Er war es schließlich nicht gewesen, der gefoltert worden war. Zumindest nicht von Lasgo. Über den Rest…wollte er jetzt nicht sprechen, nicht, wenn Schwarz nur ein paar Zimmer weiter waren. Sie waren zu nahe, als dass er auch nur ein Wort an einen Therapeuten verlieren würde, den er nicht kannte und der ihn nur anhand der Aktenlage kannte. Das von Youji…geborgte…Geld würde ihm zumindest zwei oder drei Getränke sichern und vielleicht noch etwas von dem ungesunden Zeug, das er hier nicht bekommen würde. Omi seufzte und trat in den kleinen Kantinenraum, der vielleicht Platz für sechzig Leute hatte. Nicht viel, aber ausreichend für das Personal, das hier seinen Dienst tat. Er mochte den hellen, sonnendurchfluteten Raum beinahe vom ersten Moment an, der ihm einen wunderbaren Blick über die Stadt bot, die in der aufkommenden Hitze des nahenden Sommers flirrte. Omi entschied sich für das Ungesundeste und Süßeste, was diese Kantine zu bieten hatte, und nahm einen der Fensterplätze in Beschlag. Mit dem Rücken zum Raum machte er es sich auf einem der Stühle gemütlich und ließ die Geräusche und Eindrücke außerhalb seines Zimmers auf sich wirken. Glücklich seufzend zog er seinen Käsekuchen zu sich heran und stopfte sich eine große Gabel davon in den Mund, dann noch eine und eine dritte, bevor er sich selbst abbremste. Das tat gut. Richtig gut. Das war wie Zuhause im Koneko. Omi fragte sich, wann sie zurückkehren konnten in ihren Blumenladen und zur Normalität. Weiß gegen Schwarz, ihr Kampf gegen Takatori, gegen das Böse, das dieses Land heimsuchte. Wie klar und einfach das Ganze doch noch vor Wochen war, bevor Aya zu Lasgo aufgebrochen war. Und nun? Nun war alles durcheinander, verworren und ineinander verschränkt, komplizierter und dunkler als jemals zuvor. Er selbst war anders als vorher, was nicht zuletzt darin gegipfelt hatte, dass er die Maxime seiner Organisation außen vorgelassen hatte um jemanden zu retten, der es eigentlich nicht wert war, gerettet zu werden. „Bin ich ganz bei dir. Zumindest was den arroganten Schnösel von einem Orakel angeht.“ Noch bevor die Worte verklungen waren, hatte sich derjenige, dem die Stimme gehörte, neben ihn auf einen der Stühle fallen lassen. Omis Blick ruckte zu dem Neuankömmling, der ihn so ohne Weiteres hatte überraschen können und entsetzt starrte er dem Mann ins lächelnde Gesicht, während dieser sich eben jenen Baumkuchen griff, den Omi sich zusätzlich noch mitgenommen hatte. Man sollte meinen, dass Omi sich dieses Gesicht nahe genug und lange genug eingeprägt hatte, um nicht weiter hinsehen zu müssen, doch weit gefehlt. Wie erstarrt blickte er in den Abgrund namens Schuldig und reagierte weder auf dessen Worte noch auf dessen offensichtliche Unverschämtheit. Der einzig kohärente Gedanke, den sich sein Hirn erlaubte, war der Hinweis darauf, dass er alleine mit dem Mann hier war, der ihn gefoltert hatte. Ohne den Schutz seines Teams, das sowieso nichts gegen den Schwarz ausrichten konnte. Mehr ging nicht. Instinktiv wollte Omi sich erheben und fliehen, doch sein bewusstes, analytisches Denken sagte ihm, dass das keinen Deut helfen würde gegen den Telepathen. Wie nach seinem Stelldichein mit Lasgo auch würde er keine Chance haben gegen den schier übermächtigen Schwarz. Alleine das reichte schon um Omis Puls in die Höhe zu treiben. Mühevoll schluckte er und krampfte seine plötzlich klammen Hände zu eisernen Fäusten, während er dabei zusah, wie Schuldig einhändig seinen Baumkuchen aß, während er seinen anderen, in der Schlinge befindlichen Arm eng an den Körper gepresst hielt. „Den du von geklautem Geld bezahlt hast“, soufflierte Schuldig hilfreich und Omis Grollen war schneller als seine Gedanken und schneller als es seine Angst jemals sein könnte. „Das zahle ich zurück.“ Nicht, dass es Schuldig etwas anginge. „Und damit bleibt es meiner.“ Auch das war etwas vollkommen Unsinniges in dieser Situation. Das sagte ihm auch Schuldigs Blick. „Dann mach ihn mir streitig“, grinste der Schwarz herausfordernd und steckte sich ungerührt und ungeniert die nächsten Stücke des kostbaren, jetzt noch viel wertvolleren Gebäcks in den Mund. Natürlich würde Omi das nicht tun. Wenn er die Wahl hätte, würde er sich noch nicht einmal freiwillig in der Nähe des Telepathen befinden. Eher unbewusst zog er den Käsekuchen näher zu sich, ebenso wie seine Cola. „Na immerhin“, wurde selbst das kommentiert und Omi schluckte. Es brauchte etwas, dann nahm er all seinen Mut zusammen. „Was willst du hier?“, fragte er krächzend, weit ab von der professionellen Neutralität, die er eigentlich innehaben sollte, um Schuldig nicht noch mehr Angriffsfläche zu bieten, als er es in den letzten Wochen getan hatte. Doch anscheinend nahm der Telepath keine Notiz von seinem kläglichen Scheitern. „Kuchen essen auf Kosten von Kritiker“, erwiderte er lakonisch und machte eine abfällige Handbewegung mit der Gabel zwischen seinen Fingern. Omi grollte innerlich aufgrund der nichtssagenden und ausweichenden Antwort. Wütend starrte er auf den Kuchen, den er gerade noch hatte hinunterschlingen wollen. Nun aber sah er ihn und fühlte beinahe Ekel davor, so unpassend schien es ihm, in der Anwesenheit seines Folterers zu essen. Eben jener winkte jovial ab. „Lass uns jetzt mal ausnahmsweise nicht über unsere gemeinsame Zeit nachdenken, Tsukiyono. Zumindest jetzt, wo wir hier so gemütlich zusammen sitzen.“ Wie sollte er denn nicht darüber nachdenken, was Schuldig ihm angetan hatte?, begehrte Omi stumm auf. Wie sollte er denn in der Gegenwart des Schwarz nicht unweigerlich in seine Erinnerungen zurückgeworfen werden, wenn er nur in das Gesicht des Deutschen sah? „Ganz einfach, indem wir über etwas Anderes sprechen. Lasgo zum Beispiel.“ Omi zuckte zusammen. Beinahe schon automatisch wollte er verneinen, dass er etwas wusste, bevor ihm bewusst wurde, dass das eine Lüge war. Er wusste mehr, hatte genug erfahren, damit sie es verwenden konnten für ihren Kampf gegen den Drogenhändler. Sicherlich wären Schwarz ebenfalls an diesem Wissen interessiert. Sicherlich war Schuldig daran interessiert, mehr über den Mann zu erfahren, der es geschafft hatte, sich Crawford gefügig zu machen. Abrupt huschte sein Blick zu den Augen des Telepathen, der ihn mit einem nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht überraschte. Omi räusperte sich. „Du kannst das doch in meinen Gedanken lesen. Wieso müssen wir darüber sprechen?“ „Weil ich Bock dazu habe. Sonst noch Fragen?“, erwiderte Schuldig lauernd mit eben jenem dunklen Unterton, den Omi so gut kennengelernt hatte. Es war die unterschwellige Wut, die dort lauerte und ihm mitteilte, dass reiner, purer Schmerz sein würde, den Schuldig ihm aufzwingen würde. Unsicher senkte Omi den Blick und starrte auf den Tisch, insbesondere auf die Kerbe rechts neben seinem Teller. Dieses verzweifelte Spiel hatte er in der Gewalt von Schwarz auch gespielt, nicht, dass es ihm auch nur einen Deut geholfen hatte in dem Vorhaben, Schuldigs Gabe zu entkommen. Der Telepath stöhnte auf. „Okay. Kleiner“, begann er und die harte Stimme nahm einen sanfteren Klang an, der Omi latent an Schuldigs mentale Stimme bei Lasgo erinnerte. „Lass uns über das Drecksschwein reden. Gib mir Infos, die mir mein verprügelter Anführer nicht geben kann.“ Es dauerte etwas, doch dann fasste Omi den Mut, wieder hochzusehen und entdeckte erneut nichts als Ernst in den stechend blauen Augen, die seinen so ähnlich waren. „Er war mit meiner Mutter bekannt“, begann Omi und Schuldig verdrehte schaudernd die Augen. „Das habe ich mitbekommen. Ziemlich creepy, dass er dich fickt, weil du der Sohn deiner Mutter bist. Aber jeder hat seine Kinks. Trotzdem ewww.“ Omi blinzelte und starrte den sich schüttelnden Telepathen an. Wie konnte Schuldig so lapidar reagieren, wenn er ihn vor zwei Wochen eben deswegen entführt und gefoltert hatte? „Darüber reden wir gerade immer noch nicht. Weiter im Text.“ „Er hasst Crawford für das, was dieser mir angetan hat.“ „Interessant, dass das aus dem Mund eines Menschenhändlers kommt.“ „Und er hat eine Vorliebe für diese komischen Kunststatuen. Mir…mir ist im Nachhinein aufgefallen, dass Birman in ihrer Wohnung auch so eine hatte. Also das gleiche Design.“ Omi glaubte nicht richtig zu sehen, als Schuldig anerkennend nickte und sich das letzte Stück Baumkuchen genehmigte. „Kluger Junge. Hat er sonst irgendetwas gesagt, was darauf hindeutet, wie genau er mein Team in seine Gewalt bringen konnte?“ Omi schüttelte stumm den Kopf, bevor er sich räusperte. „Nein. Sie waren für ihn nur Mittel zum Zweck. Prodigy war dazu da, Oracle zu foltern, Oracle war in seinen Augen nur das Geschenk an mich und für ihn...“ Ein Stück Fleisch, dessen er sich sicherlich bedient hätte, hätte sich Naoe nicht aus seinem Bann befreien können. Schuldig hob die Augen und schnaubte spöttisch. „Naoe bekommst du nicht, das Orakel schenke ich dir. Für den Kuchen. Vielleicht kannst du ihn ja gegen Geld loswerden.“ Ungläubig blinzelte Omi. Hatte Schuldig gerade einen Scherz gemacht? Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Doch seine Stimme war nichts Anderes als das. Vollkommen ernst, so als würde er tatsächlich seinen Anführer verschenken wollen. Das Schlimmste daran war noch nicht einmal Schuldigs Vorschlag, nein. Viel schlimmer war seine eigene, geschäftliche Stimme, die ihm sagte, dass das Orakel mit seinen Fähigkeiten eine leistungssteigernde Bereicherung war. Noch während er sich das fragte, langte Schuldig nach seinem Stück Käsekuchen. Instinktiv reagierte Omi darauf, instinktiv griff er zu seiner Gabel und trieb sie dem Telepathen in den Handrücken. So wie er es bei Youji auch immer tat, wenn sie sich gegenseitig neckten, nur dass das hier, wie er nach einer Schrecksekunde erkannte, nicht Youji war, sondern der sadistische Schwarz, dem er nun noch eine Ausrede mehr gegeben hatte, ihn zu foltern. Schon wieder. Schuldig gab einen eindeutigen Laut des missbilligenden Schmerzes von sich und sein Blick ruckte zu Omis Augen. Ungläubig starrte er ihn an, dann seine Hand, in deren Fleisch in eindeutiger Warnung die Zinken der Gabel steckten, dann wieder ihn. „Aua“, verließ es langsam und gedehnt die schmalen, grausamen Lippen und Omi schluckte. Was auch immer geschehen war gerade, jetzt war es zu spät, auch nur den kleinsten Bruchteil dessen zurück zu nehmen. Schuldig sah erneut auf die Gabel. „Das ist nicht mehr nett von dir, Weiß…“, fuhr er lauernd fort, doch bevor Omi sich entschuldigen konnte, war es die Hand von Manx, die sich über seine legte und die Gabel sanft, aber bestimmt vom Handrücken des Schwarz entfernte. Zum Glück hatte er kein Blut hervorgebracht. Zum Glück nicht! Doch das würde Schuldig sicherlich nicht interessieren. „Was ist hier los?“, fragte sie und setzte sich zwischen sie beide mit dem Blick auf Schuldig und einer Hand immer noch versichernd auf Omis. Dankbar drückte er sie. Schuldig verzog seine Lippen zu einem dunklen Schmunzeln. „Wir unterhalten uns ganz friedlich“, erwiderte er mit einer herausfordernd erhobenen Augenbraue. „So sah die Gabel in deiner Hand nicht aus.“ „Dein Taktiker hat sich eben nicht im Griff.“ Omi war froh, dass Manx die Empörung zeigte, die ihm nicht gestattet war. Auch wenn das bedeutete, dass die beiden sich stumm anstarrten und Omi mit jedem Moment, der verging, unruhiger wurde, unsicherer, wer den Kampf gewinnen würde. Schließlich lachte Manx, doch es war kein vergnügtes Lachen. Omi kannte es nur zu gut. Eiskalt und weit ab davon entfernt, belustigt zu sein. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme locker vor ihrer Brust. „Du kannst mir drohen, wie du willst, Mastermind, an dem Angebot der Dame des Hauses ändert das rein gar nichts, das Perser am gestrigen Tag angenommen hat. Ob dir das gefällt, ist unerheblich, denn du hast hier keine Entscheidungsbefugnis. Es sei denn, du möchtest dem neuerlichen Vertrag widersprechen, aber ich denke, dass du besser als ich weißt, was es in eurer Organisation bedeutet, einer Weisung nicht zu gehorchen. Insbesondere wenn sich ein Team in den letzten Wochen so wenig mit Ruhm bekleckert hat wie Schwarz.“ Omi kam nicht umhin, Schuldig dabei zu beobachten, wie der Telepath jedwede gesunde Gesichtsfarbe verlor. Doch der Illusion, dass es alleinig aufgrund von Manx‘ Worten geschah, gab er sich nicht hin. Es musste das sein, was Schuldig in den Gedanken ihrer Agentin las, das ihn nun wütend aufspringen ließ. „Fick dich“, presste er hasserfüllt hervor und drehte sich um. Ohne einen weiteren Blick verließ er die Kantine und Omis Blick huschte irritiert zu Manx. „Was…?“, begann er und wurde durch das Handyklingeln ihres Telefons unterbrochen, das sie beide erschreckte. Manx zeigte ihnen nicht viel von ihren persönlichen Wesenszügen, hatte sie noch nie getan. Doch eine Sache war ihnen allen bewusst und das machte Omi gerade mehr Angst als ihr sturmgeweihtes Stirnrunzeln. Sie hatte verschiedene Klingeltöne für verschiedene Arten von Zwischenfällen. Normales Arbeitshandeln unterschied sich von kurzfristigen Zwischenfällen, diese wiederum von schwerwiegenden. Und dann waren da noch die Katastrophen, die über eine ganz bestimmte, eilige und verschlüsselte Verbindung liefen. Exakt diese hörte er gerade. „Entschuldige mich bitte, Omi“, sagte sie mit Mühe ruhig und erhob sich. Noch bevor er die Chance hatte zu hören, was gesprochen wurde, hatte sie die Kantine verlassen und mit ihr, Omi und sein Bauchgefühl, dass etwas furchtbar Schreckliches passiert war. ~~**~~ Crawford konnte sich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal seine Hände so gezittert hatten wie in dem Moment, in dem er die Tür zu seinem Krankenzimmer hinter sich schloss und sich zum Fenster begab. Den Thermobecher hatte er mit zittrigen Händen auf den Sims dort abgestellt, da er ihn nicht mehr halten konnte. Sein Herz schlug schnell, zu schnell, als dass er sich einreden konnte, dass er den Anblick und die Berührung des Telekineten ohne Weiteres ertrug. Dem war nicht der Fall, wie er festgestellt hatte, als er nach ihrem Gespräch förmlich aus Nagis Zimmer geflohen war. Natürlich war er sich auf einer logischen Ebene bewusst, dass Nagi keine Schuld traf an dem, was er getan hatte. Das bedeutete jedoch nicht, dass sein Körper vergessen hatte, zu was die Telekinese seines Taktikers fähig war. Und so konkurrierten sein eigenes Schuldgefühl mit der hilflosen Angst und Unruhe vor eben jener Kraft miteinander und ließen ihn unruhig und nervös zurück. Der einzige Grund, warum er sich nicht in der Sitzecke draußen befand, sondern sich selbst hier einsperrte, war die Tatsache, dass Kritiker ihn nicht so sehen sollte. Was Fujimiya natürlich nicht davon abhielt, just in diesem Moment den Raum zu betreten. Natürlich. Fujimiya und sein beschissenes Timing. Mit einem Grollen drehte er sich um und sah sich dem Lauf einer Pistole gegenüber, der sich direkt auf seinen Kopf richtete. Dass sie geladen war – unzweifelhaft. Dass die Frau, die sie in der Hand hielt, in der Lage war, ihn mit einem Schuss zu töten – ebenso unzweifelhaft. Wider Willen zuckte Crawford zusammen. Bar jeder Worte starrte er die rothaarige Agentin an. „Sag mir eins, Crawford, was genau sollte mich davon abhalten, dein undankbares und verräterisches Hirn auf der Fensterscheibe hinter dir zu verteilen?“, zischte sie abgrundtief hasserfüllt und tatsächlich fand er sich zum ersten Mal seit langem wieder sprachlos vor. Ihm fiel nichts ein, das er in der jüngsten Zeit getan haben könnte, was ihren Zorn derart überraschend und unberechenbar auslösen konnte. „Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen“, erwiderte er mit mühsam erzwungener Ruhe in seiner Stimme und seiner Gestik, auch wenn er sie am Liebsten angegriffen hätte. Sein Instinkt schrie ihm nichts Anderes zu, auch wenn er deutlich im Nachteil gewesen wäre. „Nein? Natürlich nicht.“ Sie lächelte kalt und Crawfords Gabe prickelte an seiner Schläfe, gerade so, als wolle sie ihn vor der Frau warnen, die ihn gleich umbringen würde. „Du weißt natürlich nichts von den Ereignissen, die sich so zufällig auftun, nachdem wir die Güte besitzen, euch zu retten, euch hierhin zu bringen, dann eure Dame des Hauses hier hinein zu lassen. Davon weißt du natürlich nichts, nachdem sie eine lange, mentale Unterhaltung mit euch geführt hat.“ Sie grollte wütend. „Hältst du mich für so dumm und ignorant, dass ich nicht eins und eins zusammenzählen könnte?“ Mit einem eiskalten Schauer an Unwohlsein erkannte Crawford, dass genau das das Problem war. Was auch immer es war, das ihren Zorn ausgelöst hatte, es passte logisch zu den Ereignissen, die außerhalb seiner Kenntnis lagen. Er musste wissen, was es war und es dementieren. Wie auch immer das gehen und er die sonst so kühle und sachliche Agentin beruhigen sollte. „Kitada“, benutzte er bewusst ihren richtigen Nachnamen, in dem Versuch, eine Basis zu ihr zu schaffen, die eine Unterhaltung möglich machen würde. „Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich schwö…“ „Halt den Mund!“, zischte sie und ihr Finger war gefährlich nahe am Abzug. So nahe, dass Crawford tatsächlich verstummte. „Du und deine verdammten Lügen, die du erst über Abyssinian ausbreitest, um dann Bombay zu entführen und zu foltern nur um dann mit Abyssinian weiter zu machen.“ Nun war es an ihm zu grollen. „Ich habe Abyssinian nicht gefoltert!“, entkam es seinen vorlauten Lippen, noch bevor er sich von dem Widerspruch abhalten konnte. Das war nun wirklich kein hilfreiches Argument um die Kritikeragentin zu beruhigen. Beschwichtigend hob er seine Hände. „Ich weiß nicht, was du meinst. Das, was mit der Dame des Hauses besprochen wurde, hat nichts mit Kritiker zu tun und bezieht sich alleinig auf Rosenkreuz und Schwarz.“ „Aber natürlich, genau deswegen explodieren gerade nach und nach alle Kritiker-Safehouses und genau deswegen habe ich schon einundzwanzig tote Agenten zu zählen, die auf offener Straße oder in ihren Häusern umgebracht wurden. Weil ihr ausschließlich über Rosenkreuzangelegenheiten gesprochen habt.“ Überrascht hielt Crawford inne. Das war nicht das, was er erwartet hatte. Das war ganz und gar nicht das, was er als Grund für ihr Verhalten vermutet hatte. Im Gegenteil. Es war um Längen schlimmer. Mühevoll schluckte er. War die Dame des Hauses deswegen gekommen? Um Kritiker zu vernichten? Doch das hätte sie zumindest mit Schuldig besprochen, wenn er schon nicht vertrauenswürdig genug war. Oder? Oder opferten Rosenkreuz Schwarz gleich mit? ~Was du von mir denkst, Bradley~, seufzte es passgenau in seinen Gedanken und er zuckte nunmehr brachial zusammen, als Siobhans Gabe seine noch von Schuldigs Eingriff empfindlichen Nervenbahnen entlangglitt. ~Rosenkreuz hat nichts mit den Anschlägen auf Kritiker zu tun. Weder der Rat noch ich haben sie in Auftrag gegeben.~ ~Wer dann?~ Siobhan schnaubte innerlich. ~Ich habe da so meine Vermutungen.~ ~Die da wären?~, überraschte Manx ihn, als sie plötzlich ebenso in ihrer Unterhaltung auftauchte. ~SZ. Takatori. Wir sprachen darüber, Manx-san.~ Zu sagen, dass Crawford weniger erstaunt gewesen war als Manx, wäre eine Untertreibung gewesen. Sein Blick bohrte sich in den der Kritikeragentin, die ebenso wenig mit den Worten seiner Mutter etwas anfangen konnte, wie er selbst. ~Was sollten denn…~, begann er, brach jedoch abrupt ab, als ihn eine Vision überkam, die in ihrer Intensität ihresgleichen suchte. Mit einem erstickten Laut auf den Lippen brach Carwford unter dem Druck und dem Schmerz, den seine Gabe mit einem Mal mit sich brachte, auf die Knie. Blind für das Hier und Jetzt hielt er sich die Schläfen, gefangen in der Zukunft, die sie ereilen würde. Auch dieses Mal sah er Ruinen und Beton, der auf ihn niederprasselte, im Gegensatz zu den realen Ereignissen der Vergangenheit lagen diese jedoch in der Zukunft, die er noch nicht näher bestimmen konnte. Er sah, wie sich Rauch ausbreitete, dicht gefolgt von Feuer, das aus den Lüftungsschächten drang und durch die Sauerstoffzufuhren genährt wurde. Er hörte Menschen schreien und das Gebäude um sie herum ächzen, kurz bevor er es komplett in sich zusammenbrach. Wie durch einen Film sah er sich in den brennenden Überresten des Gebäudes stehen, so als hätte er es tatsächlich überlebt. Crawford glaubte nicht daran, insbesondere vor dem Hintergrund, dass all diejenigen, die sich mit ihm auf dieser Etage befanden, tot waren. Die Hand unter dem Schutthaufen neben ihm gehörte zu Tsukiyono, der, wie er instinktiv wusste, neben Hidaka und Kudou lag, von denen nicht mehr als Blutlachen übrig waren. Crawford drehte sich um und entdeckte Schuldig, dessen Kopf von einem Betonbrocken zerquetscht worden war. Ebenso Nagi, dessen obere Körperhälfte neben ihm lag. Wieder hörte er unbändige Schmerzensschreie in seiner Nähe, Hilferufe nach Rettung, die nicht kommen würde. Er tat einen Schritt nach vorne und der Untergrund unter ihm begann zu schwanken und zu beben, so als hätte er durch sein Gewicht eine Lawine ausgelöste, die nun auch ihn in den Tod reißen würde. Und genauso war es auch. Als wäre es das Loch zur Hölle tat sich der Boden auf und verschluckte ihn, ließ ihn Stockwerk um Stockwerk fallen, bis er schlussendlich auf dem Boden auftraf und alles schwarz wurde. Keuchend tauchte Crawford aus dieser Dunkelheit auf, keuchend lehnte er sich nach vorne, als er vermeinte, immer noch Staub in seiner Lunge zu spüren. Er hustete, ohne wirklich Notiz zu nehmen von seiner Umgebung und der Frau, die immer noch ihre Waffe auf ihn gerichtet hatte, wie ihm bewusst wurde. In den Nachwehen der Vision versuchte er, sie zu ordnen und sich ein Bild zu machen, zeitlich und örtlich. Wann würde dieses Gebäude in die Luft fliegen? Wo befand sich der Sprengsatz? Waren sie alle überhaupt noch zu retten? Crawford atmete tief ein. Instinktiv wusste er, dass es der heutige Tag war. Aber der Sonnenstand war anders gewesen. Er war niedriger gewesen als jetzt, das hieße, sie hatten noch Zeit. Zeit genug um das Gebäude zu evakuieren. Durch seine vernebelten Gedanken dröhnte das Handyklingeln wie Donner und er hielt sich aufstöhnend den Kopf. Manx‘ Stimme machte das nicht besser, im Gegenteil, aber sie gab ihm Aufschluss über das, was in der Gegenwart passierte, und es war Anker und Orientierung zugleich. Weitere, tote Agenten, die in ihren Unterschlüpfen oder auf offener Straße umgebracht worden waren. Weitere, zerstörte Gebäude. Mühevoll richtete sich Crawford auf und fixierte die Agentin, als diese wütend das Gespräch beendete. „Das Gebäude hier wird in die Luft fliegen. Du musst es evakuieren lassen. Sofort.“ Selbst das Sprechen stellte eine Herausforderung für ihn da, geschweige denn sein Vorhaben, sich zu erheben. Doch Crawford war sturer. Schwankend stand er schließlich vor ihr, sich der Waffe, die trotz der Einmischung von Thanatos, trotz seiner Worte, trotz des Telefonates immer noch auf ihn und nicht das eigentliche Problem gerichtet war, sehr bewusst. Diese Frau war schon gefährlich, wenn sie kühl und sachlich handelte, die katastrophalen Nachrichten der letzten Minuten, mehr konnte es nicht sein, förderten jedoch eine ganz andere Seite an ihr hervor. Die des in die Enge getriebenen Tieres, das um sich schlagen würde, nur um das eigene Rudel zu schützen. Crawford atmete tief ein. „Weder Schwarz noch Rosenkreuz haben etwas mit den Anschlägen zu tun. Das versichere ich dir. Aber du musst dieses Gebäude räumen lassen und zwar jetzt sofort, ansonsten werden alle, einschließlich dir und mir in den Trümmern der Explosion sterben. Verstanden?“ So kühl und dominant, wie Crawford seine Worte gewollt hatte, entkamen sie ihm nicht. Heiser krächzte er und beinahe schon beschwörend versuchte er sie von der dringenden Wahrheit zu überzeugen, die sie nicht wissen wollte. „Warum sollte ich dir auch nur ein verlogenes Wort glauben, das aus deinem Mund dringt?“, zischte Manx und Crawford war sehr versucht zu schreien. „Weil sonst niemand in diesem Gebäude mehr in der Lage sein wird, an etwas Anderes zu glauben, verdammt nochmal“, fuhr er sie unbeherrscht an und musste seinen geschwächten Körper mit Gewalt davon abhalten, sie für ihre Dummheit anzugehen und selbst dafür die Konsequenzen zu tragen, die sich ihm unmissverständlich in Form einer zukünftigen Kugel zeigten. Für endlos lange Momente maß sie ihn und beinahe hatte er das Gefühl, dass sie ihm immer noch nicht glauben wollte. Doch dann nickte sie kurz angebunden. „Ich nehme an, Schwarz hat eigene Evakuierungspläne?“, fragte sie anstelle dessen und Crawford nickte stumm. Sie würden das Gebäude verlassen und sich zu ihrem Safehouse durchschlagen. „Gut, dann werde ich Weiß…“ Wieder war es seine Gabe, die den Rest des Satzes schluckte und die ihm unmissverständlich zeigte, was mit Weiß passieren würde. Warum gerade das gegnerische Team wichtig war, entzog sich seiner Kenntnis, während er selbst sich nicht dem Schicksal des Kritikerteams entziehen konnte, das nun vor seinen Augen starb. Jeder einzelne von ihnen durch Lasgos Männer niedergemetzelt. Crawford tauchte aus der Vision auf und schloss gepeinigt seine Augen. Hinter seinen Lidern pochte und drückte es, als wolle sein Hirn herausspringen, gerade so, als hätte er seine Gabe seit Tagen ohne Unterlass beansprucht. Die Frage war, sollte er die Kritikeragentin warnen? Der Tod des Teams würde langfristig für Ruhe sorgen, niemand Ernstzunehmendes würde sie bei ihren Aufträgen behindern. Es würde Kritiker schwächen und ihn von seinen unseligen und unsinnigen Verbindungen befreien, die in den letzten Wochen zu soviel Chaos geführt hatten. Die Logik in ihm sagte nein. Alles sprach dagegen, Manx zu warnen. Die Kleinigkeiten, die dafür sprachen, waren minimal und zu vernachlässigen. Die Worte der Dame des Hauses kamen ihm in den Sinn. Schwarz stand es frei, mit Weiß zusammen zu arbeiten, wenn es darum ging, Lasgo zu beseitigen. Das war nichts Anderes als der bittere Hinweis darauf gewesen, dass sie alleine dazu nicht in der Lage sein würden. War es so? War er wirklich auf Weiß angewiesen? So wie die Wochen zuvor? So wie bei Fujimiya, der seine Gabe stabilisierte? Für eine Sekunde blieb er still und fixierte die Agentin blind, sich bewusst, dass sie ihn beobachtete. Ach verdammt nochmal. „Schicke sie nicht nach Kyoto“, presste Crawford schließlich zu ihrem Erstaunen hervor, bevor er sich umentscheiden konnte. Mühevoll räusperte er sich und rieb sich über die Augen. „Weiß meine ich. Wenn du das tust, werden sie Lasgos Männern in die Hände fallen und sterben.“ Dieses Mal sparte sie sich ihren Unglauben und Crawford war unbewusst dankbar darum. „Wohin dann?“, fragte Manx anstelle dessen schlicht und wieder reagierte seine Gabe auf ihre Worte. Frustriert aufstöhnend schloss er die Augen und wohnte der nächsten Vision bei, die ihm einen erneuten Tod der Agenten zeigte. Es sollte ihn nicht stören. Es sollte ihn wirklich nicht stören, wenn sie starben. „Sie werden ebenfalls sterben, auch wenn du sie innerhalb von Tokyo versteckst“, fasste er kurz zusammen, was er in aller blutigen Ausführlichkeit und Vielfaltigkeit gesehen hatte. „Wo dann?“ „Bei uns“, rollte Crawford zynisch mit den Augen und schon analysierte seine Gabe das Unmögliche und spielte die Unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten durch. Zu sagen, dass er seine Gabe in dem Moment verfluchte, in dem sie ihm zeigte, dass Weiß unter einer Bedingung überleben würden, wäre untertrieben. Er wünschte sie ungläubig zum Teufel. Crawford tröstete sich damit, dass es nur eine Schnellanalyse der möglichen Zukünfte war. Etwas Besseres zeigte ihm die Oberfläche, an der er schürfte, gerade nicht. Etwas Logischeres. Etwas Einfacheres. Oder Vernünftigeres. Es sei denn, er ließ sie sterben, doch genauso wenig wie er es gerade in Betracht gezogen hatte, zog er es nun in Erwägung. Unwirsch nahm er den Zettel, den Thomas ihm gebracht hatte, aus seiner Hosentasche und gab ihn der Agentin. „Sag ihnen, sie sollen zu dieser Adresse kommen. Ich würde dir jedoch empfehlen, ihnen nicht mitzuteilen, dass es unser Safehouse ist, denn dann werden sie aus gegebenen Gründen dem nicht Folge leisten, in Tokyo bleiben und bei dem Versuch getötet werden, sich in Sicherheit zu bringen.“ Irgendwie hatte die befriedigende Vorstellung, Abyssinian tot vor sich liegen zu sehen, momentan wenig Befriedigendes an sich, was Crawford als Tatsache mehr frustrierte, als er es zuzugeben bereit war. Natürlich wurde er angestarrt, als hätte er den Verstand verloren. Natürlich hasste sie ihn für jedes einzelne Wort, das seinen Mund verlassen hatte und er konnte es ihr noch nicht einmal verdenken. Ihm ging es genauso. Weiß in seiner Nähe zu haben und damit eine weitere Vermischung geradezu zu provozieren, war das Letzte, was er wollte. Doch überraschenderweise machte Manx keine Anstalten, seinen Vorschlag abzutun. Ernst und reglos wurde er gemustert, wurde durchdrungen von ihrer analytischen Fähigkeit, die ihr anscheinend die Erkenntnis brachten, seinem hahnebüchenen Vorschlag zu folgen. „Das ist nicht dein Ernst“, sagte sie dennoch und Crawford hob die Augenbraue, auch wenn es ihm Kopfschmerzen bereitete. „Sie werden das nicht akzeptieren, wenn sie vor Ort sind.“ „Entweder das oder sie sterben, auf die eine oder andere Art und Weise. Genau das werde ich ihnen dann verdeutlichen.“ Natürlich wich ihr Unglauben nicht, wie auch. Jahre des Misstrauens und des gegenseitigen Bekämpfens ließen sich nicht einfach durch Worte wettmachen. Insbesondere nicht nach Schuldigs und seinen voreiligen, destruktiven Handlungen. Doch je länger Crawford mit dem Gedanken spielte und je länger er die Möglichkeiten durchanalysierte, desto sicherer wurde er sich dieser Lösung, die eine ganz eigene Bitterkeit beherbergte. „Und was sollte sie ausgerechnet in eurem Safehouse sicher sein lassen?“ Crawford schnaubte. „Wenn ich raten müsste, Thanatos.“ „Du bist ein Hellseher. Du rätst nicht.“ „Öfter als du denkst.“ Manx grollte und gab Crawford so Gelegenheit, zu einem spöttischen Lächeln zurück zu finden, das der Situation absolut unangemessen war. „Für wie lange?“ „Darüber habe ich keine Auskunft erhalten.“ Hatte er in der Tat nicht. Er sah, dass sie in dem Haus, das Thanatos beschafft hatte, sicher waren. Wie lange… das blieb ihm noch ein Rätsel. „Falls es dich tröstet, ich hege auch keinen gesteigerten Wert auf eine verlängerte Anwesenheit deiner Agenten in unserem Haus.“ Nun war es an der rothaarigen Kritikeragentin, erbittert zu lachen. „Das glaube ich dir nach Abyssinians Entführung nicht.“ Mit Bedacht ließ sie Bombay aus und er wusste nur zu gut, warum. Die Warnung in ihren Augen jedoch war nicht zu übersehen. Ihrer Drohung kam er zuvor, indem er knapp den Kopf schüttelte. „Niemand wird sie anrühren.“ Manx schnaubte. „Ich weiß.“ Das Lächeln, was sich nun auf ihren Lippen ausbreitete, hätte ihm eigentlich schon eine Warnung sein sollen. Auch wenn er ihre Worte nicht voraussah, beschlich Crawford eine dunkle Vorahnung. „Perser und die Dame des Hauses haben eben jenes in ihrem Vertrag aufgesetzt und unterzeichnet. Ich nehme an, du möchtest eine Kopie, damit du dieses Mal besser über einen möglichen Vertragsbruch informiert bist als beim letzten Mal.“ Als bei Bombay, stand zwischen den Zeilen. Nein, das Lächeln gefiel Crawford ganz und gar nicht. Die Worte der Agentin gefielen ihm nicht. Er würde, sobald er in dem Haus war, mit seiner Mutter sprechen müssen. Ein neuer Vertrag? Wie der neue Vertrag sich zwischen Rosenkreuz und Kritiker gestaltete, erahnte er und es waren keine schönen Vorahnungen. Reparationszahlungen konnten sich in vielfältiger Art und Weise gestalten und wenn SZ und Takatori sich anscheinend auf ihrer Prüfliste befanden, konnte die Sicherheit der Kritikeragentin nur eines bedeuten. Crawford grollte innerlich. „Du solltest Weiß jetzt wegschicken und das Gebäude evakuieren lassen. Sag ihnen, sie sollen jeden Umweg nehmen, der sich ihnen anbietet. Sie werden etwaige Verfolger abschütteln müssen“, erwiderte er ausweichend und abweisend, hielt dann jedoch inne. „Abyssinian… befindet sich zur Zeit nicht im Haus.“ Widerwillig nickte Manx. „Er ist bei seiner Schwester.“ Auch darüber würden sie noch sprechen müssen. „Sag ihm, er soll noch zwei Stunden warten, bevor er sich auf den Weg macht. Für ihn gilt das Gleiche wie für sein Team. Er soll nicht den direkten Weg nehmen.“ Schweigend nickte sie und verließ unter einem erneuten Handyklingeln seinen Raum. Dass es noch mehr schlechte Nachrichten für sie waren, stand außer Frage. ~~**~~ „Man könnte meinen, du hast den Verstand verloren. Oder dass Fujimiya dir dein logisches Denken in seinem nutzlosen Versuch, dich zu vergewaltigen, rausgefickt hat.“ Dass Schuldig mit seiner Entscheidung nicht einverstanden war, hätte sich Crawford denken können, ohne dass er seine Gabe bemühen musste. Dass dieser seinem Unmut möglichst zynisch und verletzend mit seinem neu gewonnen Vorteil kund tun würde, hatte er ebenfalls in seine Rechnung mit einbezogen. Dass Schuldig schmutzig spielen würde auch. Dennoch hielt er im ersten Moment inne und wollte schlicht nicht auf die Worte reagieren. Er wollte auch nicht auf den gepeinigten, entsetzten Gesichtsausdruck des Telekineten eingehen, der wie ein Häufchen Elend in der am weitesten entfernten Ecke zu ihm stand und es nicht wagte, ihn offen anzusehen. Sehr wohl den Fußboden, der den Unglauben nun abbekam. „Er hat was…?“, wisperte Nagi und Crawford grollte. „Hat er nicht.“ Alleine die Tatsache, dass er lügen musste um Zeit zu sparen, war so absurd wie Schuldigs hämisches Lachen. „Dein großer Anführer lügt, Nagi. Ach und im Übrigen, die Dame des Hauses hat ihm die Strafe auferlegt, seine Schilde zu senken. Wenn du also schon immer etwas wissen wolltest, ist jetzt der richtige Zeitpunkt dazu. Immer nur raus mit den Fragen.“ Crawford schloss für einen Augenblick die Augen. Explosion und Evakuierung hin oder her, das war zu viel. Alleine die Vorstellung, derart gläsern für den Telepathen und auch Nagi zu sein, war unerträglich. Mühevoll schluckte er. Sechs Wochen um sein Team auf Spur zu bringen und Lasgo zu töten. Sechs Wochen um erfolgreich zu sein, ansonsten stand am Ende die Neutralisierung. Sechs Wochen, in denen jede Sekunde seines Daseins von Schuldig mit Spott versehen wurde. Er hatte bei Rosenkreuz Schlimmeres erlebt, hielt sich Crawford vor Augen. Schuldig war wie Lasgo, ein sadistischer Vergewaltiger, dem er kein Stück Boden schenken würde. Eisern zwang er sich, zurück zum eigentlichen Thema zu kommen, den hasserfüllten Blick des Telepathen ignorierend. „Dieses Gebäude wird aufgrund mehrerer Sprengsätze in die Luft fliegen. Manx lässt es bereits evakuieren und ich möchte, dass ihr beide zu der von Thomas benannten Adresse fahrt.“ Crawford pausierte und begegnete Schuldigs zornigem Blick mit hochmütigem Amüsement, das er nicht wirklich fühlte. „Die du ja sicherlich in meinen Gedanken lesen kannst, wenn du deine Gabe zielführend Nutzen des Teams und nicht gewinnbringend für deine eigene Befriedigung einsetzt.“ Der Seitenhieb war unnütz, aber befriedigend. Da konnte auch der hinter seiner Stirn aufflammende Kopfschmerz nichts dran ändern. „Und du wirst uns nicht begleiten, oh großer Anführer? Wirst du dich mit deinen neuen Freunden auf den Weg begeben?“ Crawford unterdrückte zumindest äußerlich den Drang, Schuldig ins Gesicht zu schlagen. Mental hingegen ließ er seinen Gedanken freien Lauf. „In der momentanen Situation bietet es sich nicht an, Schwarz als Ganzes zur Zielscheibe zu machen. Ich werde mir einen Weg abseits von euch suchen. Da deine Gabe noch zu instabil ist und du ebenfalls Ziel von Lasgos Interesse bist, Nagi, wirst du Schuldig begleiten.“ „Wir können dich nicht alleine lassen“, wisperte Nagi beinahe unhörbar und Crawford bohrte seinen Blick in den niedergeschlagenen des Telekineten. „Ihr könnt und ihr werdet. Das ist ein Befehl. Sollte Lasgo beschließen, mich erneut gefangen zu nehmen, werdet ihr beiden nicht in die Schusslinie geraten.“ Crawfords Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Er würde nicht noch einmal riskieren, dass sich der Drogenhändler an dem Jungen vergriff. Wenn Lasgo auf jemanden aus war, dann war er es, also würde er ihn von seinem Team weglocken. Wenn er nicht überleben sollte, dann würden wenigstens nicht ein Telepath und ein Telekinet ihrer Organisation für nichts und wieder nichts sterben. „Dass du es so eilig hast, wieder gefickt zu werden und zu sterben, hätte ich nicht gedacht“, lachte Schuldig höhnisch und Crawford musterte ihn stumm. Ihm kamen die Worte seines präkognitiven Ausbilders in den Sinn, der ihn – unsinnigerweise – vor Telepathen gewarnt hatte. Was hatte er noch gleich gesagt? Das Wesen eines Telepathen zeigte sich in dem Moment, in dem er Macht erhielt. Deswegen waren Telepathen bei Rosenkreuz verschrien, auch wenn sie dringend benötigt wurden. Deswegen wurden sie niemals zu Teamführern gemacht. Das, was Crawford vorher aus der Theorie kannte, wurde ihm nun am eigenen Leib bewusst. Schuldig kostete all das hier aus und er wartete nur darauf, seine Gabe zu seinem eigenen Vorteil einzusetzen. Was am Ende der sechs Wochen stehen würde, wenn er es nicht schaffte, die von Rosenkreuz gestellten Anforderungen zu erfüllen, konnte er sich nur zu gut denken. Schuldig würde ihm die Schuld zuschieben und dann mit Freuden zusehen, wie sie ihn neutralisierten. Crawford drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Mit Befriedigung sah er, wie Manx die Evakuierung des Gebäudes auf sein Anraten eingeleitet hatte und die Etage und damit auch das Gebäude geordnet und strukturiert räumen ließ. Knappe, präzise Befehle hallten über den Gang, Unterlagen wurden entweder zerstört oder eingepackt und das Personal wurde zu den Aufzügen und Treppen gebracht. Sein Körper jedoch wollte ihm nicht so zuverlässig gehorchen, wie die Befehlskette innerhalb von Kritiker lief. Erschöpfung machte sich in ihm breit und er musste sich für einen Moment an die Wand lehnen, um den aufkommenden Schwindel zu bekämpfen. Wie genau hatte er sich eigentlich gedacht, dass er von hier aus zum Haus kommen würde in seinem Zustand? So war er für Lasgo tatsächlich ein leichtes Ziel, es sei denn, er konnte sich hundertprozentig auf seine Gabe verlassen, die ihm den Weg aus diesem Chaos weisen würde. Ansonsten blieben ihm nur Taxis, öffentliche Verkehrsmittel und Mietwagen. Ein Konglomerat aus samt und sonders unwillkommenen Fortbewegungsmitteln. „Komm.“ Erschrocken zuckte Crawford zusammen, als er die Stimme neben sich vernahm, die er wann genau das letzte Mal gehört hatte? Als die Dame des Hauses ihm einen Besuch abgestattet hatte, richtig. Ein einzelnes, goldenes Auge starrte ihn an und nickte dann knapp in Richtung Aufzug. „Jei?“ Keine Reaktion erfolgte, schließlich bestand keine Notwendigkeit, dass der Ire die allzu offensichtliche Frage bestätigte. „Der Tod wird dich nicht bekommen. Er hat dich noch nicht verdient.“ Abwesend fragte sich Crawford, wie Jei so schnell hierherkommen konnte, wo er doch sicherlich bei seiner Mutter gewesen war, in dem Safehouse, das mehrere Stunden von hier entfernt lag. Wichtig war die Antwort auf die Frage nicht, doch es war bodenlose Erleichterung, die er anhand der stoischen Präsenz des Iren fühlte. Also keine Reiseodyssee durch Japan. Dass Jei nun die Führung übernahm und ihn sicher in wenigen Minuten aus dem Gebäude herauslotste, hinterfragte Crawford zum jetzigen Zeitpunkt nicht oder kam auch nur auf den Gedanken, die Führung des Anderen abzulehnen. Dafür war ihm zu schwindelig vor Schmerzen und Erschöpfung. Widerstandslos ließ sich Crawford auf den Rücksitz eines ihm unbekannten Wagens verfrachten und mit halbherzigem Protest hinlegen, der mit einem unwirschen Grollen als lächerlich beschieden wurde. So glitt er zurück auf die Polster und ließ sich zusätzlich auch noch zudecken und tarnen, während Jei aus der Stadt herausfuhr, auf den Lippen leise, irische Flüche, immer wieder durchsetzt von dem Versprechen, dass der Tod noch kein Anrecht auf ihn hätte. Wider Willen beruhigten Crawford die gemurmelten Verwünschungen und er schloss für einen Moment die Augen. Nur um den Schwindel zu vertreiben. Nur einen kleinen Moment… ~~**~~ Er erwachte völlig desorientiert auf dem Rücksitz, der viel zu unbequem war für seinen immer noch schmerzenden Körper war, mit besorgten, grauen Augen über sich, die er zunächst für die Augen seiner Mutter hielt. Als Crawford begriff, dass es nicht sie war, die ihn musterte, sondern Nagi, zuckte er unwillkürlich zurück, bevor er sich beherrschen konnte. Er schloss die Augen und fragte sich, ob seine aus der Folter geborene Angst vor dem Jungen nun für immer sein Wegbegleiter sein würde, wenn er nicht genug Disziplin und Kontrolle aufbrachte, sie in den Untiefen seines Geistes zu verschieben. Erschöpft schraubte er sich hoch und rieb sich über die Augen. Der Schwindel war verschwunden, dafür hatte er nun Kopfschmerzen, die mühelos mit den übrigen Schmerzen in seinem Körper konkurrierten. Über den Ursprung von beidem machte er sich keinerlei Illusionen. Er verbrauchte beinahe all seine verbliebene Kraft um sich gleich eines alten Mannes aus dem Auto zu schälen und müde sah er sich um. Von Jei war weit und breit nichts zu sehen, dafür erhob sich zu seiner Rechten ein Anwesen, dass selbst das eigentliche Haus von Schwarz in den Schatten stellte. Fernab von aller Funktionalität, die dieses Haus mit sich brachte, gefiel Crawford der Anblick bereits jetzt schon. Der Ire hatte ihn, nun, da keine Gefahr mehr bestand, im Auto zurückgelassen damit er sich ausschlafen konnte. Hätte Crawford die Kraft gehabt, er hätte darüber gelacht. Jei war derjenige von ihnen, der am Wenigsten Anteil an den Unpässlichkeiten seines Teams nahm. Dennoch zeigte er von Zeit zu Zeit eine Art kalter Fürsorge, die nicht zuletzt ihn immer wieder überraschte in ihrer zielgerichteten Verfrorenheit. Crawford konzentrierte sich wieder auf die Gegend, die sie umgab. Sie kam ihm gänzlich unbekannt vor. Es war klamm und neblig, in der Nähe hörte er das Rauschen des Meeres, das anscheinend unweit von ihnen an die Felsen schlug. Das große, weiße Anwesen thronte inmitten der Landschaft und wurde anscheinend von der einen Seite durch hohe, unüberwindbare Klippen geschützt und zu seiner Seite durch eine weit einsehbare Ebene, die jeden Ankömmling eher früher als später verraten würde, begrenzt. Zu seiner Rechten erstreckten sich sanfte, waldbedeckte Hügel, deren Baumkronen ihre Nebelfinger gen Himmel reckten. Es war ein gut ausgewähltes Safehouse, dessen Schutzfunktion er nun auf vier weitere Personen erweitert hatte; insofern Weiß es aus dem Gebäude geschafft hatten und nicht noch unter Tonnen von Beton und Schutt begraben auf den Zettel starrten. Wortlos lehnte sich Crawford an den Wagen und ließ sich unter Nagis schweigendem Blick lange Momente Zeit, die Vision und die Bedeutung der letzten Ereignisse Revue passieren zu lassen. Das einzig Gute an der aufkommenden Katastrophe war, dass er nun ein Indiz dafür hatte, dass die Drogen, die seine Gabe anscheinend die letzten Tage unterdrückt hatten, aus seinem System gewaschen worden waren. Er hatte rechtzeitig vorausgesehen, was passierte, auch wenn die körperlichen Folgen momentan noch so schlimm waren, wie zu Beginn der bewussten Steuerung seiner Visionen. Es war, als würde er wieder am Anfang all dessen stehen, was er in der Vergangenheit gelernt hatte. Aber besser am Anfang zu stehen als ohne Gabe vor sich hin zu vegetieren, befand Crawford und rieb sich müde über die Augen und fuhr sich durch die Haare. Was jedoch keinesfalls die Fragen nach Takatori, SZ und Lasgo wettmachte, die anscheinend all ihre Konzentration darauf gelegt hatten, Kritiker zu zerstören und sie zu hintergehen. Ersteres wäre eigentlich kein schlechtes Vorhaben, wenn es da nicht den anscheinend neuen Vertrag gegeben hätte. Wenn sein eigenes Gewissen, das wie auch immer geartet war, ihm nicht etwas Gegenteiliges sagen und ihn von der Nützlichkeit des anderen Teams überzeugen würde. „Nagi“, sicherte er sich die Aufmerksamkeit des Telekineten, der ihn bleich und erschrocken anstarrte. „Über welche Informationen verfügst du bisher?“ Unwillkürlich zog der Junge den Kopf ein, gerade so als würde er einen Schlag befürchten. Dem war vermutlich auch so, mutmaßte Crawford innerlich, wenn er sich die Angst in den Augen ansah, die der seinen vor der Gabe des Jungen so sehr ähnelte, dass es wehtat. „Mastermind und ich sind sicher durch die Stadt gekommen. Niemand hat uns bis hierhin verfolgt. Die Dame des Hauses und Herr Thomas befinden sich ebenfalls bereits hier. Das Gelände wurde gescannt und ist zunächst einmal sicher. Wer konkret den Anschlag auf uns und die Kritikerinstitution zu verantworten hat, ist ebenfalls noch unbekannt. Natürlich haben wir Vermutungen, aber ich kann noch nicht alle Variablen, die auf etwas Anderes hindeuten, ausschließen.“ Crawford schloss die Augen und nickte langsam. Sie standen also am Anfang einer Ermittlung, die noch zusätzlich zu ihren sonstigen Aufgaben erfolgreich abgeschlossen werden musste. Sechs Wochen… „Sie vermutet, dass es SZ und Takatori sind, die für die Anschläge auf Kritiker verantwortlich sind. Und sie bedienen sich anscheinend einer Person, die auch zuvor schon in Erscheinung getreten ist: Lasgo“, verließ ein Name seine Lippen, der ihm Übelkeit verursachte und Nagi erschrocken zusammenzucken ließ. „Aber woher wusste er, wo wir waren? Weder SZ noch Takatori verfügen über diese Information. Und…Lasgo… schon gar nicht.“ Crawford besah sich Nagi lange und intensiv. „Das herauszufinden wird unsere Aufgabe sein.“ Die Frage war, ob die sechs Wochen nicht zu hochgeschätzt waren. Sollte es sich herausstellen, dass sie nicht nur von normalen Menschen gejagt wurden, dann mussten sie der Organisation einen Schritt voraus sein um schlussendlich die Oberhand zu gewinnen. Sie konnten sich keine weiteren Fehltritte erlauben. Weder bei SZ, noch bei Takatori oder Lasgo…und nicht bei Weiß. Crawford richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen, der trotz ihrer jüngsten Vergangenheit hier stand und den Mut aufbrachte, mit ihm die wichtigen Informationen durchzugehen. So wie er es vor dem Ganzen hier immer getan hatte. Crawford hielt inne, als er das Verhalten des Jungen als das erkannte, was es in Wahrheit war. Die verzweifelte Suche nach Normalität. „Weiß wird ebenso hier eintreffen. Ich wünsche nicht, dass du sie angreifst, Nagi.“ Soviel zum Thema Normalität. In Nagis Augen regten sich Unsicherheit und Widerstand, dennoch ergab er sich schließlich dem Gehorsam, den er Crawford geschworen hatte. Aus Ablehnung wurde stumme Demut. „Warum?“, nahm er schließlich all seinen Mut zusammen um mit gesenktem Blick und leiser Stimme zu fragen und Crawford musterte ihn schweigend. „Ein aufkommender Konflikt mit Kritiker bei einer Verletzung oder gar Tötung des Teams ist uns momentan keine Hilfe, sondern wird uns nur in unserer Aufgabenerfüllung behindern. Sie wissen von diesem Haus hier, weil es der einzige Weg war, sie am Leben zu erhalten. Die Dame des Hauses hat darüber hinaus eine Zusammenarbeit mit der gegnerischen Gruppierung für die Vernichtung von Lasgo in Aussicht gestellt.“ „Und wenn… wenn sie… uns töten wollen?“ Crawford hielt das für nicht für unwahrscheinlich, jedoch für undurchführbar. Die Sorge des Jungen aber nahm er ernst. „In dem Fall werden wir sie zuerst töten.“ Crawford ließ erkennen, dass die von ihm aufgezeigte Möglichkeit in einem solchen Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten würde. Lange herrschte Schweigen zwischen ihnen, bevor Nagi erneut seine Stimme erhob, beinahe zu leise, als dass Crawford es über die Lautstärke seiner eigenen Gedanken gehört hätte. „Sie sind Weiß. Sie sind unsere Feinde, wir bekämpfen sie. Mastermind und du, ihr habt Bombay gefoltert, wie kann es da eine Zusammenarbeit geben?“ Ja, das hatten sie und ja, das waren sie. Ihr Gegensatz, die andere Seite der Münze, diejenigen, die gegen das Unrecht kämpften, das Schwarz hervorrief. Und dennoch war es zu Vermischungen gekommen, deren Auswirkungen noch nicht absehbar waren und die er in diesem Moment auch noch nicht einschätzen konnte. Dafür benötigte er mehr Informationen. Dennoch. Eine Rückkehr zu ihrem alten Kampf gegeneinander war zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich sinnvoll. Auch wenn Nagi Recht hatte. Wie konnten sie an effektive Zusammenarbeit denken nach all dem, was zwischen ihnen geschehen war? Crawford erhaschte zum jetzigen Zeitpunkt keinen Blick in die entsprechende Zukunft, so blieb ihm nur die Vergangenheit. „Dennoch hat Tsukiyono dir das Leben gerettet.“ Nagi sah auf, als er den Schmerz hinter den Worten des Orakels erkannte. Crawford wusste nicht, wie viel Schuldig dem Jungen über den Handel und was dem vorangegangen war, erzählt und gezeigt hatte. Vermutlich erinnerte Nagi sich verschwommen an einiges, vielleicht sogar an das durch Telepathie beeinflusste Handeln des Weiß, auch wenn er es nicht einordnen konnte. „Und dir.“ Ein kurzes Lächeln umspielte die Lippen des Orakels. Es war freudlos und bitter. „Das war nicht Teil des Handels. Er sollte dich da herausholen.“ Das ‚nur‘ stand deutlich zwischen den Zeilen, die ungesagt in der Luft hingen. Anscheinend hatte Schuldig Nagi das nicht erzählt, so wie die grauen Augen sich nun weiteten. „Mastermind sagte, dass der Weiß geholfen hat, als das Gebäude über uns zusammengestürzt ist. Was war das für ein Handel?“, fragte Nagi vorsichtig nach. „Tsukiyono sollte dich von dort wegbringen. Er sollte dazu die Verbindung nutzen, die er über die Folter mit Schuldig hat.“ Crawford sah, wie es hinter der Stirn des Telekineten arbeitete und dieser seine eigenen Schlüsse aus dem Verhalten des Weiß zog. „Und er hat es getan?“ „Ja. Er hat ihn in seine Gedanken geholt und Schuldig hat ihn schlussendlich übernommen.“ Nagi sah auf, bodenloses Unverständnis in seinen Augen über das Handeln des Weiß. „Warum hat er sich dazu bereiterklärt?“ Kurz zögerte der Telekinet, dann nahm er all seinen Mut zusammen und Crawford wusste bereits vorher, warum. „Er hätte dich sterben lassen können. Und mich“, hinterfragte Nagi die unbequeme Wahrheit, deren Kern auch Crawford noch nicht erkundet hatte. „Ich weiß es offen gestanden nicht.“ „Und jetzt?“ Crawford starrte lange Zeit auf die Nebelschwaden, die sich träge gen Himmel zogen. Sein Teil des Handels, der niemals zur Sprache gekommen war, den sie niemals vereinbart hatten, stand noch aus. Er bemaß sich an ihrer beider Leben, die Tsukiyono gerettet hatte mit seiner Bereitschaft, Schuldig erneut in seine Gedanken hinein zu lassen. Er suchte Nagis Aufmerksamkeit und musterte den Telekineten neutral. „Jetzt obliegt es mir, meinen Teil des Handels zu erfüllen.“ Unsicherheit tanzte in Nagis Augen, als er befürchtete, was das für Crawford oder auch für Schwarz bedeuten konnte. „Was ist es?“ Crawford zuckte mit den Schultern und stieß sich vom Auto ab. „Was dein und mein Leben wert ist, Nagi. Zunächst vermutlich einmal die Rettung des gegnerischen Teams.“ Er fröstelte und die feuchte Nebelkälte wurde langsam unerträglich. Sie brachte Erinnerungen mit sich, die er lieber dort lassen wollte, wo sie in der Dunkelheit auf ihn lauerten. Als wenn Nagi seinen Gedanken gefolgt war – vielleicht war es dank Schuldig auch tatsächlich so – räusperte er sich erneut und dieses Mal warnte seine Gabe ihn vor. Unruhig und unsicher ballten sich die Finger zu Fäusten, entkrampften sich nur um einen Augenblick später wieder zusammengeballt zu werden. Nagi schluckte panisch und eine Sekunde lang vermutete Crawford, dass er junge Telekinet eher sterben würde als ihn zu fragen. Doch anscheinend nahm dieser all seinen Mut zusammen und sah ihm kurz in die Augen. „Stimmt das, was Schuldig gesagt hat?“, fragte er beinahe unhörbar und Crawford seufzte. Sollte er erneut lügen? Nein. Sollte er sich der Wahrheit stellen, die er mit so vielen Wahrheiten einfach ignorierte? Ungerne. „Ja“, erwiderte er um Längen zu neutral. „Warum hast du ihn dann leben lassen? Warum holst du sie trotzdem hierher?“ Das war eine gute Frage und ob Crawford sich jemals der Antwort darauf wirklich stellen würde, konnte er nicht zu hundert Prozent sagen. Warum ließ er Fujimiya in seine Nähe, nachdem, was dieser getan hatte? Warum prügelte er Tsukiyono beinahe zu Tode, während er den rothaarigen Japaner, selbst als dieser sein Gefangener war, mit Freiheiten bedacht hatte, die er ihm niemals hätte zugestehen sollen. Warum sah er den Japaner als eine Art Sicherheitsanker nach dem, was dieser getan hatte? „Weil Fujimiya und sein Team noch von Nutzen sind und ihr Nutzen ihren Nachteil überwiegt“, fand Crawford die grundlegendste aller Antworten und gleichwohl diejenige, die ihm objektiv am geeignetsten schien, seine Entscheidungen zu rechtfertigen. Alles Andere wollte und würde er sich jetzt in diesem Moment nicht eingestehen. Nagi nickte schüchtern und wandte sich zum Anwesen. Crawford tat es ihm gleich und gemeinsam gingen sie in das Haus, zu dem Rest ihres Teams, zu Siobhan und Thomas. Crawford war sich mit sich uneins, was die kommende Zeit bringen würde, trotzdem wusste er eines mit klarer Sicherheit. Nichts würde so sein wie es vorher gewesen war. ~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)