Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 24: Zwei Söhne ---------------------- So sehr, wie Aya es ersehnt hatte, dass Manx ihm endlich die Erlaubnis gab, Omi zu sehen, so wenig konnte er sich gerade jetzt dazu durchringen, das Zimmer ihres Jüngsten aufzusuchen und sich der Anklage in den blauen Augen zu stellen, die ihm zurecht vorwerfen würden, dass er sich trotz aller Unfreiwilligkeit nur zu bereitwillig darauf eingelassen hatte, mit Schuldig zusammen zu arbeiten um ihn zu befreien. Oder dass er nicht jede Minute nutzte, um Crawford das Leben zur Hölle zu machen für das, was dieser getan hatte. Es war Schuld, die in ihm brannte und ihn ratlos auf dem Flur stehen ließ, ganz zum misstrauischen Unbill der bewaffneten Spezialkräfte, die ihn aufmerksam musterten. Pure, ekelhafte Schuld an dem, was geschehen war. Erst als die Tür sich öffnete und Ken und Youji heraustraten, vermochte es Aya, sich von seinen Gedanken loszureißen. Hilfesuchend irrte sein Blick zu seinem Team und es war das aufmunternde Lächeln Kens, das ihm wenigstens einen Teil seiner Sorgen nahm. „Du willst zu unserem Küken?“, fragte er und Aya nickte stumm. Omi war weit davon entfernt, ein Küken zu sein und er mochte diese Bezeichnung auch nicht sonderlich, doch Ken ließ sich davon nicht abbringen. Insbesondere dann nicht, wenn er sich Sorgen um ihren Taktiker machte. „Wie geht es ihm?“, fragte Aya und Youji hob die Augenbraue. „Hat Manx dir nichts gesagt?“ Der rothaarige Weiß schüttelte den Kopf. „Sie hat mir erst heute gerade die Freigabe erteilt, Omi zu sehen. Was mit ihm ist, das hat sie nicht gesagt.“ Missfallen huschte über Kens Gesicht und er schnaubte verächtlich. „Omi geht es bis auf Prellungen, eine leichte Gehirnerschütterung und ein paar Abschürfungen ganz gut. Auch wenn er, wie er sagte, oben lag, hat ihn wohl die Kraft des Telekineten vor dem einstürzenden Haus geschützt. Ein Wunder, dass er da nicht mehr abbekommen hat, wenn du mich fragst.“ Erleichterung ließ Aya lächeln. Wenigstens das. Doch da waren noch andere Fragen, die er hatte, Fragen, die er nur Omi stellen würde, wenn dieser ihn denn sehen wollte. „Geh zu ihm, Schwachkopf“, knurrte Youji und Aya sah überrascht auf. Schwachkopf? Wieso? „Meinst du, ich sehe deine Schuldgefühle nicht, die dir in großen Buchstaben auf der Stirn stehen? Du hast Angst vor seiner Ablehnung. Verstehe ich, aber die Angst ist umsonst. Er sehnt sich nach dir.“ Aya blinzelte ob der harschen und zutreffenden Worte. Er schluckte mühevoll und nickte dann. „Wir sind in der Cafeteria den Gang runter, wenn du uns brauchst oder wenn die Welt untergeht, weil einer der Schwarz so dumm ist, etwas anzustellen“, nickte Ken und drehte sich um. Youji folgte ihm mit einem versichernden Augenzwinkern und die vermummte Wache vor Omis Tür war so freundlich, seiner Entscheidung vorzugreifen und eben diese zu öffnen. Vorsichtig und langsam trat er hinein und sah sich nach unendlich langen, zwei Wochen Omi entgegen, der auf einem Bett lag, das viel zu groß für ihn war und nachdenklich aus dem Fenster starrte. Seine Schläfe zierte ein großes Pflaster und sein rechtes Jochbein schimmerte bläulich. Erst nach ein paar Sekunden begriff er anscheinend, dass er nicht alleine in dem Zimmer war und wandte Aya seinen Kopf zu. Wie Ken und Youji es ihm bereits prophezeit hatten, blieben Hass und Verachtung aus. Lediglich Freude und Erleichterung strömte ihm im generösen Überfluss entgegen, den Aya mit Sicherheit nicht verdient hatte. Omi grinste von Ohr zu Ohr und seine Hände winkten Aya aufgeregt näher. Zögerlich folgte er diesem eindeutigen Befehl und ließ sich in die überraschend starke Umarmung ziehen, die ihn wie in einem Schraubstock gefangen hielt. Aya schloss stumm die Augen und erwiderte die Geste der Freundschaft weitaus sanfter, aber nicht weniger emotional. „Na endlich“, grollte Omi in seinen Nacken und schnaubte. „Ich dachte schon, du kannst dich gar nicht gegen Manx durchsetzen und besuchst mich nicht mehr.“ Aya lachte und drehte seinen Kopf, soweit Omis Griff es zuließ. „Heute Morgen hat sie mir die Erlaubnis erteilt. Ich war nicht nur sicher, ob du mich sehen willst, Omi.“ Leise und ernst waren seine Worte, ebenso ernst wurde Omis Lächeln, das nun beinahe gänzlich verschwand, als er sich soweit von Aya löste, dass er ihn dazu zwingen konnte, sich auf das Bett zu setzen. „Was bist du für ein Idiot, Aya“, machte Omi nahtlos weiter, wo Youji mit den Beleidigungen aufgehört hatte. „Du wirst von Schwarz entführt und hast keine andere Wahl, als dich ihrem Willen zu fügen und ich soll dich dafür nicht sehen wollen?“ Ayas Wangen brannten vor Feuer. „Nicht deswegen. Omi, das ist nicht alles…“ „Ihr habt mit Schuldig zusammengearbeitet, weil du es vorgeschlagen hast.“ „Ja, aber…“ Omi schnitt ihm mit einer einfachen Geste das Wort ab. Nunmehr wütend richteten sich seine Augen auf Aya und durchbohrten seine Schuld mit Leichtigkeit. „Hast du dich freiwillig von Schwarz entführen lassen? „Nein, aber-“ „Hast du die Zeit bei ihnen genossen?“ „Nein, aber-“ „Hast du uns verraten während deiner Zeit bei ihnen?“ „Nein Omi, aber-“ Die Hand, die sich auf seine legte, drückte warnend zu. „Ran. Nichts aber. Dich trifft keine Schuld.“ Aya grollte dennoch und schüttelte vehement den Kopf. „Ich habe Crawford aus Lasgos Händen befreit vor ein paar Wochen. Hätte ich das nicht getan, hätten sie dich niemals entführt.“ „Das weißt du nicht. Denn ich hätte auch dann vielleicht mit Lasgo geschlafen. Schuldig hätte mich auch dann entführt und gefoltert. Es hätte genauso kommen können. Du bist nicht Schuld daran, Aya, red dir das nicht ein.“ „Omi, bitte“, flehte Aya. „Es ist nicht nur das.“ Schweigen kehrte zwischen sie beide ein und Omi hob die Augenbraue. „Was könnte es denn noch sein, wenn du mir alle Fragen mit nein beantwortet hast?“ Die Schuldgefühle, die in seinem Inneren schwelten, konnte Aya klar und deutlich benennen. Was sie jedoch verursachte, war jedoch weniger deutlich. Wie drückte er aus, dass er Crawford auch oder gerade jetzt nicht feindlich gegenüber gesinnt war? Seine Sorge um Omi war beinahe schon schmerzhaft gewesen. So sehr sie auch dominiert hatte, so sehr war da auch eine kleine Stimme gewesen, die unablässig gehofft hatte, dass Lasgo den Amerikaner dieses Mal nicht brach. Eben jene kleine Stimme, die ihn im Anwesen von Schwarz eben nicht hatte zur Waffe greifen lassen um Crawford zu töten für das, was er getan hatte. Natürlich war er wütend auf das Orakel, doch die Wut äußerte sich nicht als Tötungswunsch und genau das war es, was sein schlechtes Gewissen und seine Schuld ausmachte. Er wollte, dass der Schwarz lebte. Mehr noch, er hatte Vorteile aus dessen Anwesenheit gezogen, die er nicht hatte ziehen dürfen. Da änderte auch nichts das Verhalten Crawfords ihm gegenüber in den letzten, gemeinsamen Stunden vor dessen Entführung daran, was schon schlimm genug war. „Ich möchte ihn nicht tot sehen“, fasste er all das zusammen, was ihm auf der Seele brannte und Omi hob überrascht eine Augenbraue. „Das Orakel?“ Aya nickte mit einem traurigen Lächeln. „Ich bin erbärmlich und ich weiß, dass ich dich dadurch schändlich verrate, Omi. Er hat dir soviel Böses angetan, ebenso wie Schuldig auch, ich sollte nicht so auf sie zugehen und so mit ihnen umgehen.“ Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen beiden. Omi maß ihn nachdenklich und für nichts auf der Welt hätte Aya in diesem Moment wissen wollen, was hinter der gerunzelten Stirn vor sich ging. Viel zu viel Angst hatte er, dass Omi ihn für seine Schwäche verachtete und ihn herauswarf. Berechtigt, wie Aya befand. Er sollte nicht zögern, Schwarz zu vernichten. „Du hast ein zu gutes Herz, Aya.“ Was blieb ihm anderes, als das nickend zu bestätigen? „Aber das sollte ich nicht.“ Ein verächtliches Schnauben antwortete ihm und Omi rollte mit seinen Augen. „Wer bin ich, dich zu kritisieren? Ich habe es auch. Diese Pest, die man gutes Herz nennt, meine ich.“ Überrascht hielt Aya inne und musterte ihren Jüngsten. „Wie meinst du das?“ Selbstironisch lächelte Omi und griff zu seiner Hand. Fest umschlossen die kühlen Finger die seinen. Ebenso fest sah er Aya in die Augen und ließ seinen Blick nicht mehr los. „Ich habe mir Crawford kommen lassen bei Lasgo, weil ich nicht mehr ertragen konnte, wie er wegen mir durch Naoe gefoltert wird. Lasgo hat es mir zum Geschenk gemacht, Crawford leiden zu sehen und ich konnte es nicht, weil ich ein zu weiches Herz habe. Und während er vor mir kniete und ich ohne Probleme hätte Rache nehmen können, habe ich ihm Gutes getan. Ihm Wasser angeboten, ihn geduscht, ihn im Bett schlafen lassen. Ich habe ihm das Versprechen gegeben, dass ich Naoe rette.“ Aya sah auf ihre beiden verbundenen Hände, weil er den Blick in den Augen des Jungen nicht ertragen konnte, der soviel Schmerz beinhaltete. Gedankenverloren strich er über den Handrücken und spendete so gut es ging Trost. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, zu dem Mut, den Omi aufgebracht hatte um die beiden Schwarz und sich selbst daraus zu bringen. Er wusste nur, dass er überquoll vor Bewunderung für ihren Jüngsten, der wieder einmal bewiesen hatte, um wieviel stärker er eigentlich als sie alle war. „Aya, wir beide sind hoffnungslos gut und dumm auch, ja. Dir ist das nicht vorzuwerfen und ich glaube, mir auch nicht. Auch wenn ich noch nicht ganz weiß, wie ich damit umgehen soll, jetzt, wo wir wieder frei sind.“ Aya schwieg solange, bis Omi an ihm zog. Fragend sah er auf und ließ sich schließlich führen, bis ihr Taktiker ihn umarmen konnte. Aya ergab sich den vergebenden, strengen Armen voller Entschlossenheit, die ihn gar nicht mehr aus dem schraubstockartigen Griff lassen wollten. Nur zu gerne ließ er sich fallen und strich ihrem Jüngsten vorsichtig über die blonde Mähne. Omi, pragmatischer, emotionaler, gütiger Omi, der sie alle alleine mit seiner Loyalität und Zuneigung zu ihnen zusammenhielt. Jetzt gerade war es Hass, den er für Schwarz empfand, dafür, dass sie es gewagt hatten, Hand an ihn zu legen. Lange Zeit spendeten sie sich schweigend Nähe und Trost, bevor sich Omi von ihm löste und Aya so die Möglichkeit gab, ihn nach seinem eigenen Befinden zu befragen. Manx hatte kein einziges Wort darüber verloren, was Lasgo Omi angetan hatte und Aya hatte, wenn er es sich ehrlich eingestand, große Angst vor der Antwort. „Hat er dich verletzt?“, fragte er entsprechend vorsichtig und sah mit Erleichterung, dass Omi den Kopf schüttelte. „Nein, er hat mich nicht angerührt. Mich hat er den Umständen entsprechend auf Händen getragen und mir jeden Wunsch erfüllt, den ich hatte. Er hat kein einziges Mal zu erkennen gegeben, dass er mehr von mir möchte als dass ich meine Rache an Schwarz nehme.“ Mehr als erleichtert atmete Aya durch. Wenigstens das nicht. Wenigstens war das nicht passiert. In all den schlimmen Dingen, die hätten passieren können und passiert waren, war das nicht geschehen. „Haben Schwarz dich verletzt, während du bei ihnen warst?“, stellte Omi die Gegenfrage und Aya musste tatsächlich überlegen. Ja, das hatten sie. Schuldig hatte. Crawford hatte. Doch konnte er es Omi wirklich erzählen oder war es zuviel? Konnte er ihn damit belasten? „Komm ja nicht auf den Gedanken, mich anzulügen, Fujimiya Aya“, durchdrang eben jener zielsicher seine Gedanken und schuldbewusst zuckte er zusammen. „Ich sehe an deiner Mimik, was du gerade denkst.“ Aya seufzte. „Omi, ich möchte dich damit nicht belasten, du hast genug durchgemacht.“ „Aber ich möchte, dass du mich damit belastet. Ich muss die Situation, in der wir uns momentan befinden, richtig einschätzen.“ „Du musst gesund werden.“ „Ich langweile mich jetzt schon in diesem eintönigen Zimmer.“ „Omi…“ „Nein, Ran. Was haben sie dir angetan?“ Aya seufzte tief. Gegen die Entschlossenheit in den blauen Augen kam er nicht an. Gegen die natürliche Führungsstärke, die ihrem Jüngsten innewohnte, erst recht nicht. Er war schier machtlos dagegen und so sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, die er die letzten Wochen zurückgehalten hatte. Schonungslos ließ er Omi an dem teilhaben, was geschehen war und was er gesehen und erlebt hatte. An allem Schlimmen und allem weniger Schlimmen. Omi hörte ihm mit grimmiger Miene und fest zusammengepressten Lippen zu. Kein einziges Mal unterbrach er ihn. Kein einziges Mal fragte er nach, sondern akzeptierte, was Aya ihm erzählte. Er schwieg beharrlich, bis Aya zum Ende kam. Erst dann lehnte er sich zurück und lächelte grimmig. „Ihre Menschlichkeit wird sie früher oder später den Kopf kosten.“ Ob das eine Prognose oder eine Drohung war, vermochte Aya nicht genau zu sagen. Aber der dunkel amüsierte Unterton in Omis Worten ließ ihn vor Unwohlsein schaudern. ~~**~~ Er hatte den Sonnenaufgang verschlafen, fiel Crawford auf, als er die Augen aufschlug und mit einer Helligkeit konfrontiert wurde, die unangenehm auf seiner Netzhaut brannte. Er blinzelte einmal, zweimal, bevor er die Augen wieder schloss. Was brachte es ihm auch, seiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken, wenn er sowieso nicht in der Lage war, auf Bedrohungen zu reagieren? Seine Gabe lag brach, sein Körper war ein Konglomerat aus betäubten Schmerzen und einer Schwäche, die nach fünf Tagen sicherlich nicht über Nacht verschwand. Selbst wenn Kritiker beschließen sollten, nun die Tests an ihm durchzuführen, die sie schon immer an ihm durchführen wollten, was hatte er ihnen dann schon entgegen zu setzen? Nichts. Auch wenn er es nicht laut aussprechen würde, so war er vollkommen auf sein Team angewiesen. Wie würde Schuldig sich das doch zunutze machen. Dass der Telepath ihn dafür leiden lassen würde, stand außer Frage und Crawford wusste nicht, wovor er sich mehr in Acht nehmen sollte. Kritiker mit ihrem stetigen Drang nach Wissen oder seinem eigenen Telepathen, der vermutlich schon längst Blut geleckt hatte und nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, ihm sein Versagen unter die Nase zu reiben. Als er seine Augen davon überzeugen konnte, offen zu bleiben, versuchte Crawford sich zu bewegen und wieder waren es Schmerzen, die ihn vor etwaigen Abenteuern warnten. Doch der Trotz und der in den Boden getretene Stolz waren nicht geneigt, den Grenzen seines Körpers nachzugeben, insbesondere dann nicht, als er schlussendlich das dringende Bedürfnis verspürte, das Bad aufzusuchen. Sein Blick fiel auf den leeren Platz, wo heute Nacht noch der Weiß gesessen hatte und für einen Moment dachte Crawford, dass er die Begegnung nur geträumt hatte. Doch die Zeitschrift, die auf den Oberschenkel Fujimiyas gesehen hatte, lag auf dem Tisch direkt neben der Nachttischlampe. Tief atmete Crawford durch und kämpfte sich in die Sitzende hoch. Als wenn alleine das nicht bereits Anstrengung genug gewesen wäre, versuchte sich Crawford auch noch daran, seine Beine über die Bettkante zu schwingen, ganz gleich, ob bei dieser einfachen und so selbstverständlichen Bewegung bereits bunte Sterne einer schmerzhaften Kakophonie vor seinen Augen tanzten. Schwer atmend grollte er. Wenn es so weiter ging, würde er eher das Bewusstsein verlieren, als dass er rechtzeitig ins Bad kam. Auch eine charmante Möglichkeit, befand Crawford. Charmanter, als mit wild pochendem Kopf in der Kühle des Raumes zu sitzen, während seine Sturheit ihn anschrie, dass er nach fünf Tagen Gefangenschaft endlich das tun sollte, was er wollte. Mit der Sturheit kamen seine anerzogene Disziplin und die Wut darüber, dass sein Körper ihm nicht gehorchte, jetzt, wo er schon ungefesselt war. Dass die Annahme unlogisch und unnötig war, wusste Crawford. Wütend umfasste er den Infusionsständer und stand auf, nur um einen Augenblick später wieder auf dem Bett zu sitzen. Seine Beine waren zu zittrig und wenig geneigt, ihn zu tragen, Disziplin hin oder her, der Schwindel setzte sich in diesem Moment scheinbar mühelos gegen alles Andere durch. An selbstständiges Gehen war überhaupt nicht zu denken. Frustriert wischte er sich die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die überraschend sauber waren, dafür, dass sie von einem ganzen Haus bedeckt worden waren. „Crawford-san?“ Über das Rauschen in seinen Ohren hinweg hatte er nicht mitbekommen, dass jemand das Zimmer betreten hatte und unwillkürlich schreckte er hoch. Er fuhr zu der ruhigen, aber unsicheren Stimme herum, die ihm mitteilte, dass er nicht alleine war. Seine latent kurzsichtigen Augen verrieten ihm, dass es eine Frau war, die nun näherkam. Ende vierzig, schätzte er, die langen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Eine einzelne, weiße Strähne thronte in der schwarzen Mähne und ihre Lippen verzogen sich sorgenvoll, als sie nun ihren Blick mit professionellem Interesse über ihn gleiten ließ. Seinerseits vorsichtig erwiderte er die Musterung. Die rosane Kluft wies sie als Schwester aus, das Schild an ihrem Kittel gab ihr den Namen Sasaki Airi. Sicherlich nicht ihr richtiger Name, vor allen Dingen nicht, wenn sie für Kritiker tätig war. „Crawford-san, benötigen Sie Hilfe?“ Er war versucht, nein zu sagen. Er war versucht sie alleine aus dem Grund wegzuschicken, dass sie zu Kritiker gehörte, einer Organisation, die er normalerweise verachtete für ihr Dasein. Doch je länger er sich das wünschte, desto klarer wurde ihm, dass er keine andere Wahl hatte, als ihre Hilfe anzunehmen. Abweisend nickte er, die Hand fest um das Metall des Infusionsständers gekrampft. „Was darf ich tun?“, fragte sie und wieder hörte er die unterschwellige Angst. Vor ihm? In seinem Zustand? Dass er nicht lachte. Er wäre noch nicht einmal in der Lage, eine Fliege aufzuhalten, wie sollte er ihr dann den zarten Hals umdrehen? Vielleicht, wenn das alles hier nicht passiert wäre, dann ja und ohne zu zögern. „Ins Bad“, wisperte er kaum hörbar, aber mit deutlichem Krächzen in der Stimme. Sie nickte und machte sich auf den Weg zum Nachttisch, dort, wo das Glas wieder stand, das er in der gestrigen Nacht von sich gestoßen hatte. Anscheinend hatte es Fujimiya dorthin gestellt, als er geschlafen hatte. Traumlos, erinnerte er sich, geradeso, als wäre die Anwesenheit des Weiß auch in seine Träume übergeschwappt. Erst, als die Schwester jedoch danach griff, ahnte er, was kam und hasserfüllter Widerwillen wallte in ihm hoch. Er wollte nicht. Er konnte nicht. Wie auch bei Fujimiya verweigerte er das Glas Wasser, das sie ihm an die Lippen setzen wollte, indem er zittrig ihr Handgelenk umfasste. Überrascht hielt sie inne, doch ihre Augen machten ihm deutlich, dass sie vor seinem Körperkontakt nicht zurückweichen wollte. „Nein.“ „Sie sollten etwas trinken, Crawford-san“, drängte sie sanft und in ihren Augen sah Crawford den Widerstand, den ihre Angst vor ihm nicht hatte vermuten lassen. Ihr Beruf kämpfte gegen ihre Emotionen an, wie es schien, und unter der Vorsicht lauerte eine resolute Frau, die vermutlich schon mit weitaus schwierigeren Patienten zu tun gehabt hatte. „Nein.“ Die zierliche Frau richtete sich unwillkürlich auf bei seiner Verneinung. Als ob das noch nötig gewesen wäre, wo sie ihn doch sowieso schon überragte. „Crawford-san, ich möchte Sie bitten, vernünftig zu sein“, traf japanische Höflichkeit auf Resolutheit mit unvernünftigen Patienten und zum ersten Mal, seit er die Augen aufgeschlagen hatte in dieser Einrichtung, spürte er so etwas Wut in sich aufsteigen. Irritiert sah Crawford ihr in die Augen. Er sollte vernünftig sein…? Je länger er ihr in die Augen starrte, desto unsicherer wurde sie und würde schlussendlich das Glas wieder sinken lassen, vermutete er. „Wenn Sie etwas trinken, bringe ich Sie ins Bad“, erpresste sie ihn keine Sekunde später. Crawford blinzelte, glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben. Im zweiten Moment begriff er, dass ihr Beruf einen höheren Stellenwert hatte als die Angst, die sie vor ihm empfand. Er begriff ebenso, dass er es alleine nicht ins Bad schaffen würde und dass er keine andere Wahl hatte. Er begriff, dass sie ihn damit erpresste, dass das Wasser, was er erhalten sollte, an eine Bedingung geknüpft war. Unweigerlich krampfte er seine Hand um ihr Handgelenk. „Nein“, presste er mit eiserner Selbstbeherrschung hervor. Als wenn es nicht genug gewesen wäre, dass Lasgo ihn damit wiederholt erpresst und gefoltert hätte. Nahtlos machten Kritiker weiter. Wütend grollte er und bohrte seine Augen in die ihren, die trotz der aufkommenden Angst immer noch ihre verdammte Entschlossenheit behielten. „Crawford-san, seien Sie nicht unvernünftig, es wird Ihnen helfen“, appellierte sie an seinen Verstand und das war vermutlich der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Wie bei Gott soll der Schwanz in meinem Rachen mir helfen?“, fuhr er sie an, die Zähne gefletscht. Das gefangene Handgelenk drückte er solange, bis sie das Glas fallen ließ, doch das war es nicht, was Crawford Befriedigung verschaffte. Ihr geschockter Gesichtsausdruck, das war es. Ihre Panik. Endlich etwas, das er hervorgerufen hatte durch seine Anwesenheit und das nicht Hilfsbereitschaft oder Mitleid war. „Crawford-san, ich….“ Weiter kam sie nicht, als sich abrupt die Tür öffnete und zwei bewaffnete, vermummte Männer in den Raum stürmten, die ihn unweigerlich zurückzucken ließen. Waren das Lasgos Männer? Wie konnte das sein? Hier? Was? „Lassen Sie sie los, Oracle“, fuhr ihn der vordere der beiden Männer in dem typischen, barschen Ton von Sicherheitskräften an und Crawford begriff, dass es sich um Kritikeragenten handeln musste, die anscheinend das Leben des Personals schützten. Vor ihm. Mithilfe von Tasern, die sie nun schussbereit auf ihn gerichtet hielten. Dass er nicht lachte. Verächtlich löste er die Finger von der bleichen Haut und ballte seine eigenen Hände zu Fäusten. Natürlich konnte er sich ausrechnen, was nun kam. Den kommenden Schmerz konnte er beinahe schon spüren, den sie ihm mit den Tasern zufügen würden um ihn danach an das Bett zu fixieren, dafür, dass er es wagte, eine der Krankenschwester zu bedrohen. Crawford wusste in diesem Moment nicht, auf was oder wen er wütender sein sollte. Sich selbst, weil er disziplinlos genug war, sich der Illusion hinzugeben, dass seine Handlungen keine Sanktionen nach sich ziehen würden, der Erpressung der Krankenschwester oder die Sicherheitskräfte. „Was ist hier los?“ Crawford sah auf, wagte es jedoch nicht, seinen Blick nach links gleiten zu lassen. Fujimiya, natürlich. Wieder einmal im passenden Moment. „Der Patient hat sich Sasaki-san in feindlicher Absicht genähert. Wir haben den Befehl, in einem solchen Fall sofort einzugreifen“, erwiderte der hintere Vermummte und Crawford richtete seinen Blick an Sasaki vorbei aus dem Fenster. Er wollte nicht sehenden Auges in sein Unglück laufen. „Ist das wahr, Crawford?“, fragte der immer hilfreiche Fujimiya und zwang so seine Aufmerksamkeit zurück in die angespannte Szenerie. Wütend knirschte er mit den Zähnen und sah zur Seite. „Natürlich“, grollte er und hielt Fujimiyas zweifelndem Blick stand, der erst nach ein paar Momenten zu der Krankenschwester auswich. „Ist das wahr, Sasaki-san?“, wiederholte er seine Frage und die Frau hatte tatsächlich den Schneid, den Kopf zu schütteln. „Ich habe versucht, Crawford-san dazu zu bewegen, etwas zu trinken. Er hat sich geweigert und mir daraufhin das Glas aus der Hand gerungen.“ Die fragend erhobene Augenbraue des rothaarigen Japaners brauchte er da nicht. Vor allen Dingen brauchte er das Wissen um seine Unzulänglichkeiten in den aufmerksamen Augen nicht, die bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen bei Lasgo erkannt hatten, warum er kein Wasser trank. „Sollen wir die Fixierungen veranlassen?“, fragte der Vordere der beiden Männer und Crawford schloss gepeinigt die Augen. Alles in ihm schrie nein, alles in ihm begehrte gegen diese Frage auf, doch aus Sorge, was seinen Mund verlassen würde, schwieg er dazu. Er würde sich vor Kritiker nicht rechtfertigen, er würde ihnen nicht noch mehr Schwächen preisgeben, als sie sowieso bereits von ihm notiert hatten. „Nein, das ist nicht nötig“, war es überraschenderweise die Krankenschwester, die schlussendlich das Wort ergriff und ihn mit einem prüfenden Blick maß. „Ich bedanke mich für Ihr Kommen, aber ihre Hilfe ist nicht notwendig. Die Situation ist unter Kontrolle. Ich denke, es wird keine Probleme geben. Oder?“ Als Crawford schwieg, war es Fujimiya, der das Wort ergriff und ihn überrascht schnauben ließ. „Auf einer Skala von eins bis zehn, Orakel, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du fliehst oder sonstige Dummheiten anstellst?“ Ungläubig fixierte Crawford den Anführer von Weiß. Gerade jetzt? Hier? Wirklich? Er rollte abschätzig mit den Augen. „Minus drei und anscheinend zehn“, knurrte er und kurz huschte so etwas wie ein Lächeln über die schmalen Lippen des Japaners, der sich nun mit einem knappen Nicken an die Sicherheitskräfte wandte. „Nein, es wird keine Probleme geben. Ich übernehme ab hier die Verantwortung für ihn.“ Mit einem letzten Blick auf ihn und auf das bestätigende Nicken der Schwester steckten sie ihre Taser wieder zurück in die Haltevorrichtungen und zogen sich zurück. Die Anspannung, die sich bisher seine Wirbelsäule hochgekrampft hatte, fiel Stück für Stück von ihm ab und Crawford wurde sich bewusst, wie sehr ihm die Gegenwart fremder, bewaffneter Männer wirklich zugesetzt hatte. In sich zusammensinkend schloss er erneut die Augen. Natürlich verlor Fujimiya keine Zeit und öffnete mit wohlvertrautem Geräusch einer seiner weiteren, ekelhaften Ramuneflaschen aus dem scheinbar unendlichen Vorrat. Dem Geruch zufolge, der sich nun in seine Nase schlängelte, war es Litschi. „Ekelhaft.“ Das amüsierte Schnauben, das ihm antwortete, ließ ihn hochsehen und auffordernd hielt Fujimiya ihm die Flasche entgegen. Es brauchte nur das Zögern von ein paar Sekunden, bevor er die Flasche mit zittrigen Fingern umfasste und exakt sechs Schlucke trank, bevor er sie mit vor Ekel verzogenem Gesicht wieder absetzte. Er hielt Sasaki die halb leere Flasche entgegen und grollte. „Reicht Ihnen das?“, fragte er unwirsch und eingedenk seiner unbedachten Worte von vorhin erwiderte sie seinen Blick mit verwirrter Vorsicht. „Welche Geschmackssorte wäre Ihnen denn genehmer?“, erwiderte sie schließlich und Crawford starrte aus dem Fenster. Welche Geschmackssorte? Kaffee. Doch seine just in diesem Moment aufkommende Gabe zeigte ihm klar und deutlich, dass dies keine Option war für einen Flüssigkeitsmangelpatienten wie ihn. „Zitronen. Als Limonade. Nicht dieses widerliche Gesöff hier“, stieß er schließlich hervor und trank die Flasche gänzlich leer. Zur Zufriedenheit der Kritikeragenten, die er am Liebsten zum Mond geschossen hätte. Beide waren klug genug nichts zu sagen und als er die leere Flasche an Fujimiya übergab und sie ihm ihre Hände entgegen hielt um ihm aufzuhelfen. Unerwartet stark zog sie ihn hoch, als er einschlug und stützte ihn vorsichtig auf seinem langsamen, unsicheren Weg zum Bad. „Ich warte draußen auf Sie“, sagte sie, bevor er mit ihr diskutieren musste, dass er alleine ins Bad wollte. Er nickte stumm und betrat den zweckmäßigen, aber geräumigen Raum. „Wenn etwas ist, rufen Sie mich.“ Wiederum nickte Crawford stumm und schloss die Tür hinter sich. Den Teufel würde er tun. Er hatte diesen Raum hier für sich alleine, mit einer Tür zwischen sich und neugierigen Augen. Es war erbärmlich, aber er war dankbar für den gefliesten, fensterlosen Raum, den er in diesem Moment sein eigen nennen konnte. Seine Hände waren frei und kein neugieriges Augenpaar würde ihn beobachten oder kontrollieren. Nach der verzweifelten, hilflosen Wut der letzten Tage war dieses kleinen Refugium ein notwendiger Himmel für ihn und so ließ sich Crawford mit allem Zeit. Mit unendlicher Ruhe fühlte er jeder wunden Stelle seines Körpers nach, betrachtete er Arme und Beine, sobald er das schlichte Krankenhaushemd und die ebenso schlichte Hose abgestreift hatte. Den Mann, der ihm im Spiegel entgegenstarrte, erkannte er nicht. Es gab wenige Flecken unberührter Haut, der Rest war ein Trümmerfeld aus Blessuren und Schnitten. Seine Augen wurden getragen von dunklen Augenringen. Unendliche Müdigkeit stand in ihnen, dahinter lauerten Schrecken und Unsicherheit vor den Dingen, die noch kommen mochten. Doch Schrecken und Unsicherheit waren ihm lieber als die erzwungene Erregung. Als die Sicherheit des Kellers, die eiserne Unbeirrtheit der Ketten, die ihn fesselten. Alles war ihm lieber als das. Crawford schloss die Augen und krampfte seine Hände um das Waschbecken, als Erinnerungen ihn überfluteten. Er hatte keine Wahl gehabt, als sie ihm wie so oft in der Zeit eine Spritze unter die Haut gejagt hatten. Er hatte nichts dagegen tun können, dieser unbändigen Lust ausgesetzt zu sein. Er hatte vor allen Dingen nichts gegen den Einfluss von Nagis Kraft tun können, die für einen Moment das getan hatte, was Lasgo von ihm verlangt hatte. Der Ekel, der ihn anhand der Erinnerung überkam, ließ ihn trocken würgen und nur eiserne Beherrschung hielt ihn davon ab, sich zu übergeben. Es hatte Lasgo nicht gereicht, ihn mithilfe von Nagis Kraft zu foltern, nein… er hatte den Jungen auch noch dafür missbrauchen müssen. Crawford konnte nur hoffen, dass Nagi sich an nichts erinnerte, wenn er wieder zu sich kam. Der Gedanke an ihren Jüngsten erschreckte ihn so sehr, dass er lieber wieder seinen Blick auf den Mann im Spiegel richtete, der ihm so fremd vorkam. Er vermisste alles, was sein Sein ausmachte. Disziplin, vergraben unter allem, was ihm angetan worden war. Überlegene Ruhe, zerstört durch einen einfachen Menschen. Handlungssicherheit, aus seinen Händen gerissen, als hätte er sie nie besessen. Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen dunklen Gedanken und Crawford sah auf. „Crawford-san, geht es Ihnen gut?“, tönte die Stimme der Schwester durch die Tür und er seufzte innerlich. Auch ohne seine Gabe konnte er sagen, dass sie innerhalb der nächsten Sekunden im Raum stehen würde, wenn er nicht antwortete. Anstelle einer Antwort zog er sich wieder an und trat er nun selbst aus dem Bad heraus und wurde mit ihrem besorgten Blick konfrontiert, den er kaum ertrug. Was wusste die Frau schon von den letzten Tagen? Rein gar nichts. Im Gegensatz zu Fujimiya und seinem zweifelhaften Geschmack, der sich anscheinend wieder zurückgezogen hatte. Zumindest konnte Crawford ihn nirgendwo in dem Zimmer entdecken. „Sie möchten zurück ins Bett?“ Er wollte nach Hause, doch das stand auf einem anderen Blatt. So nickte er nur, den letzten Rest an eisernem Willen zusammenkratzend. „Ich habe Fujimiya-san aus dem Raum geschickt, weil ich mir gleich ihre Verletzungen ansehen und die Verbände wechseln möchte. Es sei denn, Sie wünschen, dass einer der Pfleger diese Aufgabe übernimmt?“ „Nein.“ Siehe da, das Sprechen ging schon besser. „Gut, dann setzen Sie sich bitte, damit ich das Hemd lösen kann.“ Es war ihm unwohl, dass sie hinter seinem Rücken arbeitete und die Schleifen des rückseitigen Hemdes öffnete, doch er ertrug es eisern. Kritiker durfte keinen Anlass zur Annahme haben, dass er in irgendeiner Art und Weise von dem, was in den letzten Tagen geschehen war, beeinflusst worden war. Oder dass er schwach war und somit sein Team schwächte. Nicht, dass das nicht sowieso schon offensichtlich war mit der Hälfte des Teams handlungsunfähig. Wenn er es so betrachtete, hatte er keine Möglichkeit, sich gegen Kritiker zur Wehr zu setzen. Die feindliche Organisation war vermutlich am Ziel ihrer Wünsche, jetzt, wo sie Schwarz in ihren Fängen hatten. Bis auf Farfarello, der klug genug war, sich dem zu entziehen, waren sie von einer Gefangenschaft in die nächste gestolpert. Crawford wurde übel bei dem Gedanken an das Chaos, das vor ihm lag und das er aufräumen musste. Mit professioneller Schnelligkeit und versierten Händen versorgte die Schwester die Schnitte an Vorder- und Rückseite, entschuldigte sich für jedes Brennen, das sie zu verantworten hatte, als wäre es das Schlimmste, was in der letzten Zeit passiert wäre. Was glaubte sie denn, wie die Wunden ihren Weg auf seinen Körper gefunden hatten? „Wo sind wir hier?“, machte Crawford schließlich den Versuch, mehr zu erfahren über ihren Standort, auch wenn er vermutete, dass er zum Scheitern verurteilt war. Vermutlich würde sie es ihm alleine deswegen verschweigen, weil man immer noch die roten Abdrücke seiner Finger auf ihrem Handgelenk sehen konnte. Keinen Moment später strafte sie seine Worte Lügen. „Wir befinden uns in Shinjuku, in einer medizinischen Einrichtung, die auf Fälle wie Sie spezialisiert ist.“ Crawford sah überrascht auf. „Fälle wie mich?“ „Verwundete Agenten, die in normalen Krankenhäusern nicht versorgt werden können. In Ihrem Fall Agenten mit speziellen Bedürfnissen.“ „Spezielle…Bedürfnisse?“, hakte Crawford langsam nach. Er konnte sich denken, worauf das hinauslaufen würde, doch er wollte es aus ihrem Mund hören, wie eine Organisation wie Kritiker jemanden wie ihn sah. „Sie als PSI sind kein normaler Mensch, haben daher auch andere Bedürfnisse.“ „Kein normaler Mensch…“, echote er erneut und schmunzelte dunkel. Es war schon lange her, dass ein Mensch ohne Gabe es gewagt hatte, ihn so zu nennen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass sie Recht hatte, auch wenn sie es ungelenk ausdrückte. Sein Gehirn reagierte anders, arbeitete anders, hatte andere Anforderungen an Medikamente, Ernährung, Schlaf oder körperlicher Gesundheit. Schuldig und Nagi waren da noch ganz anderen Anforderungen unterworfen. Keine normalen Menschen also. Wenn man so wollte. „Entschuldigen Sie, Crawford-san, ich wollte Sie nicht beleidigen“, riss ihn ihre nunmehr wieder ängstliche Stimme aus seinen Gedanken und er schüttelte automatisch den Kopf. „Keine Sorge, Sie haben durchaus Recht, das ach so große Orakel schwebt über uns allen“, ätzte es verächtlich hinter ihm und Crawford fuhr zusammen. Die Stimme kannte er. Den Ton kannte er und es war unbändige Erleichterung, die ihn durchfloss. „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich erst um die Wunden des Patienten kümmern, Schuldig-san“, hörte er über das Rauschen in seinen Ohren hinweg die Bitte der Schwester, ihrem Gespräch zumindest noch so lange beiwohnen zu dürfen, bis sie ihre Arbeit beendet hatte. Dass Kritiker es Schuldig genehmigten, dass er sich frei bewegte, ließ Hoffnung in ihm aufkeimen. „Was sollte ich dagegen haben, unser Orakel mit so einer bemühten Frau zu teilen? Sicherlich hat er auch nichts dagegen, er ist das gewohnt. Also das geteilt werden.“ Die Erleichterung, die Crawford gerade eben noch empfunden hatte, verflog in Sekundenbruchteilen. Natürlich wusste er sofort, worauf der Telepath sich bezog, und es drang wie nichts durch seine sowieso schon am Boden liegenden Schutzwälle. Nichts konnte er Schuldig und seinen verächtlichen Worten entgegensetzen, so wartete er schweigend, bis Sasaki fertig war und ihn zwang, sich wieder ins Bett zu legen. Er wollte nicht, doch sie ließ ihm keine Wahl und Schuldig betrachtete sich das Ganze mit einem spöttischen, diabolischen Lächeln. „Ich bringe Ihnen nachher etwas zu essen und die Zitronenlimonade, Crawford-san“, verabschiedete sie sich mit einem nervösen Blick auf Schuldig und ließ ihn mit dem Mann alleine, der ihn nun mit einer Verachtung musterte, die Crawford schwer ertragen konnte. Wie der Jäger, der seine Beute im Visier hatte, umkreiste Schuldig das Bett und ließ sich auf den Sessel ihm gegenüber nieder. „Wie geht es dir?“, fragte Schuldig sanft und Crawford wusste im ersten Moment nichts damit anzufangen, wo dieser Ton doch so sehr im Gegensatz zu dem stand, was der Telepath vorher gesagt hatte. Sein Instinkt warnte ihn vor dieser Frage. Der Hoffnung in ihm, dass alles besser werden würde, war das egal. „Schlecht“, erwiderte er wahrheitsgetreu, denn seine Lügen und Halbwahrheiten waren es erst gewesen, die sie alle hierhin getrieben hatten. Das durfte nicht noch einmal geschehen, als änderte er es, auch wenn es für ihn das Zugeständnis von Schwäche bedeutete. ~Gut.~ Irritiert sah Crawford in die blauen Augen, die ihn durchdringend maßen. ~Gut?~, echote er und Schuldig nickte. ~Du hast es verdient. Alles davon.~ Einen Moment lang glaubte Crawford, nicht richtig zu hören. Dann hoffte er, sich verhört zu haben. Doch nichts von beidem traf zu. Schuldig drang mit seinen Worten zum zweiten Mal tief in sein Inneres und riss das, was sich verzweifelt um Stärke bemühte, mühelos entzwei. Er öffnete sich und Schuldig nutzte seine Verwundbarkeit. Crawford schloss die Augen und versuchte, die Worte samt dazugehörigem Telepathen auszublenden, doch Schuldig ließ ihn nicht. Die Hand in seinen Haaren forderte seine unabdingbare Aufmerksamkeit ein und er öffnete die Augen. Grob wurde sein Kopf nach hinten gezogen und er zischte schmerzerfüllt. ~Lass los~, presste er gedanklich hervor, doch lediglich ein teuflisches Lächeln antwortete ihm. ~Das hier ist alles dein Verdienst, Orakel. Du bist schuld, dass du hier liegst. Du bist schuld, dass Nagi drei Türen weiter soweit im Beinahekoma liegt, dass ich sein Bewusstsein nicht mehr spüren kann, zugedröhnt von Medikamenten, die sein Leben retten sollen. Du bist schuld, dass Lasgo euch eingecasht und gefoltert hat. Du bist schuld, dass diese Stümper hier wahrscheinlich keine Zeit verlieren werden um Schwarz zu zerschlagen, wenn sie die Gelegenheit dazu haben.~ Schuldig zischte angewidert und ließ Crawford los. ~Sollten wir hier rauskommen, wirst du nach Österreich fliegen und dich dafür verantworten. Du wirst verdammt nochmal die Verantwortung für alles übernehmen und dich dafür zur Rechenschaft ziehen lassen, haben wir uns verstanden? Schwarz wird deinetwegen nicht in den inaktiven Status versetzt oder neutralisiert!~ Crawford lauschte den zornerfüllten, auf ihn einprasselnden Vorwürfen und schulte sich mit aller Gewalt auf Emotionslosigkeit und Indifferenz, auch wenn er am Liebsten geschrien hätte, auch wenn er Schuldig am Liebsten die Faust ins Gesicht getrieben hätte. Mit eiserner Beherrschung hielt er die in ihm schwelenden Emotionen zurück und hielt den zornigen, blauen Augen stand. ~Du verkennst deinen Status, Mastermind. Das Team führe immer noch ich. Ich entscheide über die zu treffenden Maßnahmen~, erwiderte er über den Schmerz hinaus mit einer Ruhe, die ihn selbst über alle Maßen erstaunte. ~Du hast das Team in den Zusammenbruch, den Abgrund, in Folter und Missbrauch geführt, ja, das ist richtig. Du wirst deiner Aufgabe nicht gerecht und damit bist du derjenige, der ersetzt werden muss.~ Crawford konnte darauf nichts erwidern. Die Worte erstarben in seinem Mund. Lange sah er in die blauen Augen des Telepathen, in das zerschlagene Gesicht, das angebrochene Nasenbein. Seine Schuld… Es tut mir leid, sagte er stumm, doch die Worte scheiterten an der Grenze seiner gedanklichen Schutzwälle. Alles tut mir leid. Kein Wort kam über seine Lippen. Schuldig wartete darauf, dass er etwas sagte, das sah er, doch er konnte es nicht über sich bringen. Im Gegenteil. Crawford drehte sich unter dumpfen Schmerzen weg von ihm. Er spürte, wie ein oder zwei Fäden rissen und sich einzelne Blutstropfen kitzelnd seinen Rücken hinunterstahlen. Sasaki würde sicherlich nicht begeistert darüber sein. Er war es schon jetzt nicht, doch er ertrug den Blick des Telepathen nicht mehr, der ihn aufforderte, seine Gedanken laut auszusprechen. Crawford ertrug dessen Gegenwart nicht mehr. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch etwas ertrug oder ob er einfach aufgeben sollte. Es war alles seine Schuld, nur weil er zu schwach gewesen war. Die Tür, die ihn nun laut und final zugeknallt wurde, ließ ihn stärker zusammenzucken als jeder der Schläge, die er erhalten hatte in den letzten Tagen. ~~**~~ Sie saßen in einem der kleinen Separees des Hotels, eine geräumige Nische mit gedimmten Licht und gemütlichen braunkupfernen Sesseln, deren Begrenzung zur nächsten Nische mit beleuchteten Bücher- und Dekorationsschränken arrangiert war. Indirekte Beleuchtung auch in den Schränken sorgte für eine wohlige, gediegene Atmosphäre und im Hintergrund konnte Manx die untergehende Sonne ausmachen, die gerade hinter dem malerischen Berg verschwunden war und die Stadt in ein kühles Dämmerlicht tauchte, das über die aufkommende Hitze des nahenden Sommers hinwegtäuschte, die sich bereits über die Stadt gelegt hatte. Die Lichter der Stadt waren wie unzählige Sterne unter ihnen und der Nebel des Tages legte sich wie ein sanfter Hauch über das geschäftige Tokyo. Der Teppich mit kubischen Mustern schluckte die Schritte der anwesenden Personen und somit auch die Schritte der zivilen Kritikeragenten, die zum Schutz von Perser hier stationiert waren. Leichte Klaviermusik untermalte ihr Treffen und es roch geradezu angenehm. Die Dame des Hauses war kleiner als Manx sie sich vorgestellt hatte, doch das tat ihrer Ausstrahlung keinen Abbruch. Ihre grau-braunen, lockigen Haare zeugten davon, dass sie ihre Vierziger bereits hinter sich gelassen hatte, ihr beschwingter Gang zeugte jedoch von einer dem widerstreitenden, seltsamen Jugendlichkeit. Sie besaß die Art von Würde, die Manx entfernt an eine Lady, eine englische Lady vielleicht, erinnerte. Der Eindruck konnte jedoch durchaus auch durch die Tweedhose in Verbindung mit der braunen, warmen Bluse entstehen, die sie trug, in Kombination mit dem großen, warmen Umhängeschal, der durch eine einzelne, große Brosche gehalten wurde. Ihr Adjutant überragte sie um anderthalb Köpfe, ein schweigender, aufmerksamer Begleiter mit rundlichem Gesicht und grober Statur. Der Dritte im Bunde jedoch überraschte Manx. Berserker stand hinter dem Hünen und wirkte geradezu zierlich im Vergleich. Doch das täuschte, das wusste die rothaarige Kritikeragentin aus eigener Erfahrung. Was machte der irre Schwarz hier? Perser, der bereits gesessen hatte, erhob sich nun und reichte der Dame des Hauses nach westlicher Tradition die Hand. Als sie einschlug, geleitete er sie zu ihrem Platz und ließ sich ihr gegenüber nieder, schlug nonchalant die Beine übereinander. Auch der Rest ihrer kleinen Zusammenkunft in gebührender Entfernung und doch nahe genug um einzugreifen Platz. „Vielen Dank, dass Sie meinem Vorschlag gefolgt sind und für das Treffen offen waren“, neigte die Dame des Hauses den Kopf, ihre Stimme überraschend warm und mit ihrer Weichheit lockend, von der Manx ahnte, wenn nicht wusste, dass sie unter Garantie eine Falle war und dass hinter dieser Sanftheit nichts anderes als der Tod lauerte. „Natürlich, sehr gerne. Es gab keinen Grund, Ihren Vorschlag abzulehnen“, hielt Shuichi dagegen und bestellte einen Rum, 30 Jahre gereift, so wie er es immer tat. Die Dame des Hauses erbat einen Whiskey, während die anderen drei sich mit Wasser zufrieden gaben. Wenn ein Kampf ausgefochten wurde, dann sicherlich nicht durch die Führungsebene. „Ich hoffe, die Reise hierhin war angenehm?“, fragte Perser, während sie einen Moment lang auf ihre Getränke warteten. „Die Flugdauer von Österreich aus hierher ist nun wirklich nicht die Kürzeste.“ Er lächelte und sie spiegelte seine Geste. „Danke der Nachfrage. Die Fluggesellschaft mit der ich geflogen bin, versteht es, den Gästen eine angenehme Reise zu bieten. Dadurch war es erträglich, wenn auch ein wenig lang, angesichts der Dringlichkeit meines Besuches. Dennoch freue ich mich, Ihr wunderschönes Land wieder einmal bereisen zu dürfen. Und dazu noch in so vergnüglicher Gesellschaft.“ Sie deutete auf Farfarello und Manx kroch ein eisiger Schauer über den Rücken. Perser schmunzelte. „Aber wir sind sicherlich nicht hier um Nettigkeiten auszutauschen, nicht wahr?“, kam er nach dem Erhalt ihrer Getränke zum Punkt und die Dame des Hauses lächelte ihr abwesendes, feines Lächeln, das die Falten um ihren Mund tanzen ließ. „Ich bewundere Ihren scharfen Verstand und Ihre rasche Auffassungsgabe“, lobte sie mit sanftem Spott und nahm einen Schluck Whiskey. Perser nickte lediglich, doch hinter seinen Augen lauerte bereits die Geschäftsmäßigkeit, die ihn so passend machte als Anführer von Kritiker. Manx seufzte innerlich und ließ ihren Blick über die beiden Begleiter der Dame schweifen. Farfarello schien von all dem hier wenig interessiert zu sein, so wie er regungslos aus dem Fenster starrte und der Hüne, der geschäftig auf seinem Pad arbeitete. „Sie haben etwas, das meinen Auftraggebern gehört und meine Auftraggeber haben mich darum gebeten, mit Ihnen einen Handel abzuschließen, was sie zur Rückgabe eben jenen bewegt.“ Shuichi runzelte die Stirn und bedeutete ihr fortzufahren, auch wenn sich Manx denken konnte, auf was oder vielmehr auf wen sich die ältere Frau bezog. Die Männer, die gerade auf ihrer Krankenstation medizinisch versorgt wurden. Schwarz. Als hätten sie nicht schon genug Probleme. Ihr Lächeln verschwand. „Vor nicht ganz zwei Tagen wurde durch die Wetterbehörde Ihres Landes eine außergewöhnliche seismische Aktivität in einer Präfektur in der Nähe dieser bezaubernden Stadt festgestellt. Das zuständige Team reagierte auf unsere Nachfrage nicht, so haben wir anderweitig Kontakt aufgenommen und festgestellt, dass es anscheinend zur Bergung von drei Individuen aus den Ruinen des unmittelbaren Erdbebengebietes gekommen ist. Alle drei Individuen konnten lebend geborgen werden und wurden nach Shinjuku gebracht um dort von Ärzten und Schwestern Ihrer Firma behandelt zu werden.“ „Sie sind gut informiert für jemanden, der aus Europa zu uns gereist ist“, merkte Perser ruhig an und die Dame des Hauses nickte langsam. „Lassen Sie es uns Zufall nennen. Wir verfolgen mit Interesse die Tätigkeiten unserer Außendienstmitarbeiter und das war ein zu großes Zeichen, als dass wir es ignorieren konnten. Was nicht heißt, dass wir über die vorherigen Geschehnisse informiert waren, die zu dieser Tragödie und unserem Zusammentreffen geführt haben.“ Leichtes Missfallen tanzte in ihren Augen und ein unangenehmes Gefühl bereitete sich in Manx aus. Die Gespräche in den anderen Separees verstummten für einen Moment abrupt und absolute Stille trat ein. Niemand bewegte sich, niemand sprach, außer sie in ihrem Separee. Dann löste sich der Bann und die Dame des Hauses fand zu ihrem Lächeln zurück. „Geschehen ist geschehen und mit Ihrem Außendienstmitarbeiter sind auch zwei der unseren in Ihrer Einrichtung. Der Dritte im Bunde befindet sich gerade ebenso dort und kümmert sich um den Jungen“, wurde sie konkret und nahm einen weiteren Schluck Whiskey. „Nun ist es so, dass diese Außendienstmitarbeiter meinen Auftraggebern unterstehen und eine weitere Unterbringung in ihrer Fakultät – insbesondere gegen ihren, aber primär auch gegen unseren Willen – nicht von unserem Interesse ist.“ „Sie sind nicht gegen ihren Willen bei uns. Zudem genießen sie eine ausgezeichnete medizinische Versorgung abseits der öffentlichen Kliniken, die auf die speziellen Bedürfnisse Ihrer Mitarbeiter nicht vorbereitet sind“, erwiderte Perser nun seinerseits ohne die bisherige Höflichkeit. Kälte hatte Einzug gehalten in seine Stimme. „Sie verstehen aber dennoch sicher, dass uns Kosten bei der Rettung entstanden sind, die beglichen werden müssen. Das gemeinsame Problem dabei noch gar nicht betrachtet.“ Eine lange Zeit arbeitete es hinter der mit Sommersprossen bedeckten Stirn und die Dame des Hauses schien die Worte Persers sorgsam abzuwägen. Dann huschte ein amüsierter Schatten über ihr Gesicht. „Welche Art von Ausgleich schwebt Ihnen vor?“, fragte sie und legte leicht den Kopf schief. „Welche Art von Ausgleich halten Sie denn für angemessen?“, hielt Perser dagegen und brachte sie damit zu einem amüsierten, dunklen Lachen. Doch sie ging auf sein Spiel ein. „Lassen Sie mich überlegen“, verzog sie schließlich ihre Lippen zu einem kalkulierenden Strich. „Als es zu dem Kollaps kommt, schicken Sie die üblichen Teams, ich nehme an zwei Bergungsteams und zwei Sicherungsteams, Sie informieren die örtlichen Behörden, ziehen Ihr medizinisches Personal hinzu und bringen die Geborgenen schließlich in Ihre medizinische Einrichtung. Habe ich das so richtig wiedergegeben?“ Perser nickte kurz angebunden und sie hob die Hand. „Moment, ich habe noch eine Sache vergessen. Die Zusammenarbeit von Dreivierteln Ihrer besten Einheit mit unseren Außendienstmitarbeitern, im Speziellen aus dem deutschen Sektor.“ „Das war nicht durch mich autorisiert“, knirschte Perser mit den Zähnen und die Dame des Hauses lächelte charmant. „Dennoch sind es Personalkosten, die Ihnen dadurch entstanden sind und die Ihnen abgegolten werden müssen. Ebenso wie die vergangenen und noch kommenden Heilungskosten für Ihren Außendienstmitarbeiter, der von den unseren entführt und verhört wurde.“ Er erwiderte nichts und sie starrte für eine Weile abwesend in ihren Whiskey, den sie sacht in ihrem Glas hin und her schwenkte. Sie schien innerlich mit sich zu ringen und auf ihr anhaltendes Schweigen sah ihr Adjutant hoch, sah ihr ernst in die Augen. Für einen kurzen Moment runzelte er die Stirn und nickte dann, während sie unmerklich mit den Schultern zuckte. „Ich schlage Ihnen die Dienste unserer hier stationierten Außendienstmitarbeiter in Höhe der Ihnen entstandenen Kosten vor“, neigte sie schlussendlich den Kopf und sah ihm herausfordernd in die Augen. Manx wusste, dass hinter der sorgsam ruhig gehalten Fassade Persers deutliche Überraschung schwelte. „Zusätzlich zur Behebung des gemeinsamen Problems, versteht sich“, setzte sie nach und nickte. Perser hob die Augenbrauen, dann gestattete er sich ein kurzes Lachen. „Berichtigen Sie mich, wenn ich falsch liege, aber grundsätzlich stehen wir auf verschiedenen Seiten. Wir stehen für etwas Anderes ein als Ihre Auftraggeber.“ „Wenn es gegen einen gemeinsamen Feind geht, kann man sich keinen zwei Fronten Krieg leisten“, verstand sie ihn mit Absicht falsch und Perser runzelte missbilligend die Stirn. „Ich spreche nicht nur von unserem gemeinsamen Feind. Wie kann ich derart…vorbelastete Außendienstmitarbeiter, wie es die Ihren sind, in meine Dienste nehmen?“ „Wenn es um die Sicherheit Ihres Landes geht, so wundert es mich, dass Sie nicht zu jedem Mittel greifen, das sich Ihnen bietet.“ „Dann wäre ich nicht besser als Ihr momentanes Protegé, das Ambitionen hegt, die Macht in Japan zu ergreifen.“ Sie ließ ein leises, wohlklingelndes Lachen ertönen, das nicht halb so ernst gemeint war, wie es im ersten Moment schien. Die unergründlichen, grauen Augen hielten noch etwas Anderes, etwas Dunkleres, das nun hervortrat. „Interessant, wie sehr sich gleiche Gene doch unterscheiden können in ihrem Streben, das Land in eine neue Zukunft zu führen“, merkte sie an und Manx war erstaunt, wie viel die andere Frau eigentlich wusste. Von ihnen allen vermutlich. Sie hob die Augenbraue in Richtung Farfarello, der sie ruhig fixierte und an seinem Wasser nippte. Dass sie eine PSI war, stand außer Frage, doch wo Manx eine eher gewalttätige Gabe für die oberste Exekutorin von Rosenkreuz vermutet hatte, so gewann sie nach und nach den Eindruck, dass es etwas Subtileres sein musste. Telepathie vielleicht? „Es gibt nur eine richtige Seite. Das ist die unsere. Die Seele meines Bruders ist verdorben bis auf den Grund, abgrundtief verrottet mit dem Samen der Korruption und Niedertracht.“ „Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich dem vorbehaltlos zustimme?“ „Dann würde das immer noch nicht bedeuten, dass Sie auf meiner Seite stünden.“ Sie schnaubte verächtlich. „Was, wenn ich Ihnen sage, dass meine Auftraggeber die Machenschaften des Mannes, den Sie Bruder nennen, mit kritischem Blick betrachten?“ Manx verschluckte sich an ihrem Wasser, das sie unvorsichtiger Weise just in diesem Moment getrunken hatte. Was die Dame des Hauses implizierte, war nichts anderes als das Abwenden von Takatori hin zu…ja was? Zu ihnen? War das eine Falle, in die sie tappen sollten? Schwarz sollte zugunsten von Kritiker tätig werden um was? Takatori aus dem Weg zu räumen? Nach Jahren des Kampfes zwischen Perser und seinem Bruder sollte das also die Lösung sein, auf einem Silbertablett präsentiert. Einfach so, als hätte es nie einen kräftezehrenden Kampf zwischen der guten und der bösen Seite gegeben. „Warum sollten Sie das tun?“ „Menschliche Gier ist etwas Wunderbares, aber gleichzeitig auch so Gefährliches. Menschliche Gier öffnet Tore, die sonst verschlossen bleiben würden, sie schafft Verbindungen, die für die Zukunft immanent wichtig sind. Auf der anderen Seite jedoch verdirbt menschliche Gier und pervertiert schließlich den Nutzen einer Person. Sie führt zu Chaos und Zerstörung, zu unerwünschter Instabilität.“ „Warum Instabilität gleich durch eine entsprechende Person hervorrufen, wenn man sich von Anfang an für die richtige Seite entscheiden könnte?“ Ein schmallippiges Lächeln huschte erneut über das glatte Gesicht der Exekutorin. „Das obliegt nicht Ihnen zu entscheiden. Auch nicht mir. Aber es kommt letzten Endes doch nur auf das Ergebnis an, nicht wahr?“ Perser schwieg und ließ sich das Gesagte anscheinend durch den Kopf gehen. Währenddessen trank sie entspannt und ruhig ihr Glas leer und schlug die Beine über. „Zwei Söhne wurden aus den Trümmern des Anwesens geborgen, Shuichi“, begann sie vertraulich. „Und zwei mögliche Zukunftsvisionen mit eben jenen haben die Hellseher von Rosenkreuz für Sie gesehen. Sie können so weitermachen wie bisher. Es wird zu einer Konfrontation zwischen Ihnen und Ihrem Bruder kommen, der Sie erliegen werden. Ihr Sohn wird Ihr Erbe fortführen und dabei alles hinter sich lassen, was ihn jemals glücklich gemacht hat. Ihre beste Einheit wird zerbrechen und in ihre Einzelteile zerfallen, jedes Mitglied wird seiner Wege gehen, keines von ihnen wird glücklich werden. Abyssinian wird sterben, abgestochen durch ein Kind in einer Großstadt außerhalb Japans, Balinese wird sein Gedächtnis verlieren und sich nie wieder an das erinnern, was er kann und getan hat und Siberian wird im Gefängnis verrotten. Oder aber Sie beschreiten neue Wege. Die Konfrontation mit Ihrem Bruder wird es nicht geben. Sie werden weiterhin für Gerechtigkeit und Recht sorgen, Ihre beste Einheit wird weiterhin Ihr schlagender Arm sein und schlussendlich wird es Ihnen gelingen, Japan in eine stabile Zukunft zu führen. Welche Zukunft wählen Sie, Shuichi, für sich und Ihr Land?“ Blass und geschockt lauschte Manx den Worten der Exekutorin. Was, wenn all das eine Lüge war? Was, wenn all das vorgetäuscht war, eine Intrige, falsche Worte? Schließlich gehörte sie zu Rosenkreuz, schließlich wollte Rosenkreuz die Welt beherrschen. Was also, wenn das eine Falle war? Alleine das Wissen um Persers Verbindung zu Omi zeigte doch, wie gefährlich die Frau war, mit der sich Perser gerade unterhielt. Zwei Söhne, zwei Zukünfte. „Der Schlüssel zur zweiten Zukunft sind beide Söhne, nicht wahr?“, erwiderte Perser schließlich und sein Gegenüber nickte. „Schwarz ist der Schlüssel zu Weiß‘ Wohlergehen und zu einer stabilen Zukunft“, holte eine raue Stimme sie aus ihrem Gespräch und sie alle starrten den amüsierten Iren an, der nun in sich versunken kicherte, als hätte er einen besonderen Scherz gemacht. Manx hingegen war sich nicht sicher, ob der Scherz besonders war, ihr war übel von der Bedeutung des Ganzen. Vorsichtig ließ sie ihren Blick zu dem Leiter von Kritiker gleiten, der den verrückten Schwarz ausdruckslos maß. „Ich möchte Bedenkzeit“, äußerte Perser schlussendlich und setzte sein Glas auf den Tisch. Die Dame des Hauses nickte bedächtig. „Ich werde morgen früh unseren Außendienstmitarbeitern einen Besuch abstatten. Darf ich annehmen, dass Sie daraufhin bald eine Entscheidung getroffen haben werden, Shuichi?“ „Das dürfen Sie, Siobhan“, stimmte er zu und zum ersten Mal flackerte die Selbstbeherrschung in ihren Augen zugunsten von etwas Anderem auf. Was genau es war, das konnte Manx nicht sagen und der Ausdruck erlosch, bevor sie einen weiteren Moment Zeit hatte um ihn zu analysieren, als Perser sich erhob und ihr die Hand reichte. Die Dame des Hauses erhob sich ebenso und schlug ein. „Ich veranlasse die Sicherheitsfreigaben und stelle Ihnen eine Eskorte zur Verfügung, damit Sie und Ihr Assistent sicher dorthin geleitet werden.“ Eskorte, Bewacher, wie man es auch nennen mochte, grimmte Manx in Gedanken. Ihr Blick ruhte auf Perser, der anscheinend sehr wohl wusste, wen er hier vor sich hatte. Der mit keinem Wort erwähnt hatte, dass er mit der Dame des Hauses bereits beim Vornamen war. „Ich bedanke mich vielmals für Ihre Sorge. Ich freue mich auf Ihre Entscheidung in der Folge des morgigen Tages.“ Sie nickte Manx zu und die rothaarige Kritikeragentin spürte für einen Moment lang das Prickeln einer gewaltigen Kraft wie tausend Ameisen, die unter ihre Schädeldecke krochen. Ein kurzes Zucken um die Mundwinkel verabschiedete sie, die gedanklichen Worte der Exekutorin waren jedoch um Längen einprägsamer. ~Die Arielle des deamhan also~, geisterte es durch ihre Gedanken und Manx blinzelte überrascht. Dann hatte sich die Dame des Hauses auch schon weggedreht und verließ mit ihren Begleitern das Separee. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)