Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 12: Von Musen und Märchen --------------------------------- Crawford ließ den Kopf an die Kopfstütze zurückfallen, kaum, dass er sich mit Bedacht auf den Fahrersitz seines Wagens gesetzt hatte. Fujimiya lag schlafend im Kofferraum und würde vor morgen früh nicht aufwachen, doch das tat seiner Wirkung als Stabilisator und Katalysator für Crawfords Fähigkeiten keinen Abbruch und so genoss Crawford zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl frei fließender Visionen, die ihm nach seinem Belieben zur Verfügung standen, ihn gänzlich erfüllten und die er vor allen Dingen nach Belieben steuern konnte. Mit jeder verstreichenden Minute kam er mehr zur Ruhe und fand zu seiner stoischen, kühlen Gelassenheit zurück, die ihm helfen würde, die kommenden Diskussionen mit seinem Team zu seiner Zufriedenheit zu lösen und sich nicht noch einmal die ungewollte Aufmerksamkeit Takatoris zu sichern. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Fujimiya zu holen, befand Crawford, auch wenn ihm dessen Verhalten auch jetzt noch unerklärlich schien. Da, wo er erwartet hatte, dass Fujimiya tobte, schrie oder versuchte ihn umzubringen, hatte dieser resigniert im Angesicht der jüngsten Erpressung. Beinahe schon körperlich hatte er die Aufgabe des Weiß gespürt und störenderweise hatte es ihm ganz und gar nicht geschmeckt. Dabei sollte es ihm egal sein, was Fujimiya über sein Handeln dachte. Er hatte seinen Zweck zu erfüllen und nach drei Monaten würde Crawford ihn wieder freilassen, was mehr war, als dieser verlangen konnte. Er sollte sich glücklich schätzen, dass Crawford ihm danach keine Kugel durch den Kopf jagte. Insbesondere dann, wenn sie sich zusammen mit Takatori dem Wahlsieg widmeten und ihre cholerische Marionette die Macht in den Händen hielt, die ihm Rosenkreuz geliehen hatte. Danach würde Fujimiya garantiert nicht mehr benötigt werden. Auch dieser Gedanke ließ ihn die Stirn runzeln und Crawford schnaubte frustriert über die trübe Bitterkeit, die seinen Triumph schmälerte. Er öffnete die Augen und startete seinen Wagen. Zeit, sich seinem Team zu stellen und endlich für einen gewohnten Gang und Ruhe zu sorgen. ~~**~~ Seit Nagi mit Crawford telefoniert und zu seinem Entsetzen festgestellt hatte, dass er es nicht nur gewagt hatte, einen Befehl seines Anführers zu missachten, sondern diesen dabei auch noch gravierend zu hintergehen, tigerte Nagi unruhig durch ihr Anwesen, unstet und unsicher, was nun geschehen würde, dabei immer auf der Suche nach etwas, das er zu tun vermochte. Eines hatte er schon getan: er hatte Jei für seine dreiste, widerliche Lüge, die eben hierzu geführt hatte, bestraft. Bestrafen. Nagi schnaubte. Bestrafen konnte man das nicht nennen, eher Rache nehmen, denn jetzt konnte ihr hauseigener Märchenliebhaber zusehen, wie er sein neuerstandenes philippinisches Märchenbuch sorgsam wieder zusammenstückelte, so gründlich, wie es Nagi auseinandergerissen hatte. Oh, wie groß war der Hass gewesen, den er in dem verbliebenen Auge gesehen hatte ob seiner Rache. Und wie sehr sich die vernarbten Lippen gefletscht hatten. „Beschwer dich beim Weiß“, hatte Nagi abfällig über seine Schulter zurückgeworfen und den Iren alleine gelassen in einem ungeordneten, chaotischen Meer aus Seiten und Seitenteilen. Das hatte ihm eine kurzzeitige Befriedigung verschafft, die aber nicht lange angehalten hatte, so wartete er nun nervös auf Crawfords Ankunft, die sich schließlich leise knirschend auf dem Kies ihrer Einfahrt ankündigte. Mit klopfendem Herzen trat er in die Garage und wartete darauf, dass das Orakel den Wagen verließ. Nervös bohrte er seine Fingernägel in die Handballen und wartete auf die Reaktion des Mannes, der weder Versagen noch Verrat tolerierte. Jede Strafe, die Crawford ihm auferlegte, würde er tragen. Er war nicht klug genug gewesen um Jeis Spiel zu durchschauen und den Zweifeln stattzugeben, die in ihm geherrscht hatten, warum der Weiß plötzlich zurück zu seinem Team gebracht werden sollte. Stumm verfolgte Nagi Crawfords Weg zum Kofferraum und sah, wie dieser nach dem Öffnen für ein paar Sekunden nachdenklich hineinstarrte. „Komm her“, drang der kühle Befehl seines Anführers zu ihm und beinahe schon überhastet eilte Nagi zu ihm. Schuldig hatte bereits etwas angedeutet und das sah Nagi nun in der Form des bewusstlosen Weiß bestätigt. Wieder einer. Dieses Mal nicht zu Gast im Schlachthof, sondern bei ihnen zuhause. Nagi hätte es lieber gehabt, wenn es andersherum gewesen wäre und Tsukiyono an Fujimiyas Stelle gewesen wäre, auch wenn er es vorgezogen hätte, gar keinen Weiß in ihrem Zuhause zu sehen. Sorgsam neutral betrachtete Nagi den Inhalt des Kofferraumes, bevor er erneut einen Blick auf Crawford wagte, dessen Haltung minimal gekrümmt schien. Nagi runzelte die Stirn. Das hatte er schon einmal gesehen, nicht bei Crawford, sondern bei Schuldig, kurz nachdem dieser von Takatori beinahe krankenhausreif geschlagen worden war. Die Frage war, ob das auch auf ihren Anführer zutraf, nachdem er sich für den Verlust ihrer zu schützenden Person hatte rechtfertigen müssen. Ganz sicher hatte Takatori etwas damit zu tun und unwillkürlich ballte der junge Telekinet seine Hände zu Fäusten. Der alte Mann hatte nicht das Recht dazu, Crawford anzurühren. Niemand hatte das. Niemand fasste sein Team an. „Bring ihn in Jeis alte Zelle“, erhielt er seinen eindeutigen Befehl und Nag neigte gehorsam den Kopf. Leise räusperte er sich und nahm mit eisern ineinander verschränkten Fingern all seinen Mut zusammen, um Crawford auf die Katastrophe seines unbedachten Ungehorsams anzusprechen, die sich vor nicht einmal ein paar Stunden aufgetan hatte. „Crawford?“, tastete er sich vor und die durchdringenden, hellbraunen Augen bohrten sich mit einer wütenden Intensität in die seinen, die Nagi frösteln ließ. Abrupt verbeugte er sich tief unter der Musterung seines Anführers und gab sich Mühe, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, wenngleich das von mäßigem Erfolg gekrönt war. „Ich möchte mich in aller Form für mein Versagen entschuldigen und erwarte demütig jede Strafe, die du für mein fehlerhaftes Verhalten angemessen hältst“, presste er leise und mit einem verräterischen Zittern in der Stimme hervor. Es kam nicht oft vor, dass er sich entschuldigen musste und er konnte an fünf Fingern abzählen, wann er sich in dieser Art entschuldigt hatte. Doch es war das Mindeste, was er tun konnte um für seine Dummheit und Torheit zu büßen und schlussendlich die Zufriedenheit wieder herzustellen, die Crawford mit Recht durch ihn erwarten konnte. Schweigen trat zwischen sie und Nagi spürte nur zu deutlich, wie er durch Blicke seziert wurde. Je länger eben das andauerte, desto unsicherer wurde der Telekinet und desto ängstlicher war er, dass er Crawford dieses Mal ernsthaft und unwiederbringlich enttäuscht hatte. Doch just in dem Moment, in dem er zu einer erneuten Entschuldigung ansetzen wollte, nickte Crawford und bedeutete ihm mit einer knappen Handbewegung, sich aufzurichten. Nagi folgte dem beinahe augenblicklich, aus Angst, durch erneuten Ungehorsam zu provozieren. „Du hast getan, was du glaubtest, das mein Befehl sei. Das ist dir nicht zur Last zu legen. Zudem deine Tat keine negativen Auswirkungen auf unsere Aufgabe hier hat. Im Gegenteil. Die Rückkehr zu seinem Team wird für uns einen Vorteil darstellen.“ Nagi nickte schweigend, dankbar und insgeheim glücklich, dass Crawford ihn nicht strafte und dass er trotz seines katastrophalen Verhaltens doch noch etwas Gutes hatte tun können. „Ich danke dir, Crawford“, murmelte er und verbeugte sich ein weiteres Mal, bevor er den bewusstlosen Weiß mithilfe seiner Gabe aus dem Kofferraum schweben ließ. „Möchtest du ihn auf eine bestimmte Art vorbereitet sehen?“ Crawford schüttelte den Kopf. „Nein, du kannst ihn so belassen, wie er ist.“ „Sehr wohl.“ Zusammen mit Crawford und dem Weiß trat er in das Haus und geleitete diesen in den fensterlosen Kellerraum, der ganz früher, vor seiner Zeit, einmal Jeis Zimmer gewesen war. Gefängnis wäre da wohl die treffendere Beschreibung, wenn er sich die Gitterstäbe und die kalten, weißen Fliesen ansah, die einfache Matratze auf dem Boden und die mit eisernen Stäben gesicherte Lampe. Kontrolliert ließ er den leblosen Körper hinab auf die Matratze und verschloss dann die Gittertür. Es wurde höchste Zeit, dass er Schuldig ausfindig machte und den Telepathen fragte, warum sie nun einen weiteren Weiß – ausgerechnet deren Anführer - beherbergten, dieses Mal in ihrem eigenen Haus. Denn was Jei an Beruhigung mit der Rückkehr des Taktikers erreicht hatte, würde sicherlich mit Entführung des rothaarigen Mannes verloren gehen, oder nicht? Nagi runzelte die Stirn. Warum ausgerechnet Fujimiya, das war ihm ein Rätsel. Wenn es darum gegangen wäre, eine Geisel zu haben, wäre Tsukiyono weitaus besser gewesen, auch wenn Nagi in so einem Fall dessen Abwesenheit im Netz bedauert hätte… die unabsehbaren Folgen einer Gefangenschaft einmal außen vorgelassen, die den Anderen womöglich gebrochen hätten. Da war ihm Fujimiya wesentlich lieber, aber dennoch bedeutete die Anwesenheit ihres Gastes verschärfte Sicherheitsvorkehrungen und Probleme mit Weiß und Kritiker. Nagi fand ihren Telepathen auf der Couch, wo er es sich bereits mit seinem Nackenkissen auf der Couch gemütlich gemacht hatte und seinen Folterkater mit einem großen Glas an Saft auskurierte. Nagis Mitleid mit dem auf den Polstern herumlungernden Mann hielt sich stark in Grenzen, schließlich hatte er unautorisiert und eigenmächtig gehandelt. Es hätte nicht sein müssen, also sollte er nun auch die Konsequenzen tragen. Ein kurzer, wütender Seitenblick machte ihm deutlich, dass Schuldig nicht zu krank war um seine Gedanken zu lesen. Minimal erhob sich der Mittelfinger. ~Fick dich, Naoe.~ ~Nein danke, ich habe Besseres zu tun. Kannst du mir erklären, warum der Weiß unten im Keller ist?~ ~Weil du ihn auf Crawfords Befehl dorthin gebracht hast.~ Manchmal war Schuldig wirklich einer der größten Klugscheißer, die er kannte, befand Nagi. Noch mehr als Jei und das wollte schon etwas heißen. ~Warum habe ich ihn dahin gebracht? Was soll er hier?~ ~Crawford den Schwanz lutschen.~ Nagi blinzelte und zuckte unwillkürlich zurück. Fassungslos starrte er Schuldig an, bevor er sich dazu durchringen konnte zu blinzeln. „Was?“, entfuhr es ihm dann und er versuchte sich mit einem Mal verzweifelt einen Reim darauf zu machen, wieso Crawford plötzlich ein amouröses Interesse an Fujimiya haben sollte. Insbesondere, wenn er ihn bewusstlos in den Käfig unten sperrte, schien das nicht von beiden Seiten gewünscht zu sein. Warum holte sich Crawford nicht jemanden, den er nicht zwingen musste? Das tat er doch sonst auch immer. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es Nagi ein ungutes Gefühl bereitete, wenn der Mann, zu dem er aufsah, sich jemandem aufzwingen musste um Befriedigung zu erlangen. Er warf einen hilflosen Blick zu Schuldig und dessen faules Grinsen reichte aus um ihm zu sagen, dass der Telepath ihn hereingelegt hatte. ~Schuldig!~, fauchte er indigniert und der rothaarige Mann lachte unterdrückt. ~Das ist nicht witzig! Ich verstehe es wirklich nicht. Er wird uns nur Arbeit bereiten.~ ~Frag unseren ach so weisen Anführer, was er mit Abyssinian in unserem Haus möchte, er wird dir sicherlich eine offene und ehrliche Antwort darauf geben.~ Schuldig grinste schief und drehte sich zur Rückenlehne. Müde schloss er seine Augen und legte einen Arm über seinen Kopf. ~Lass mich bis morgen in Ruhe, Kleiner. Mir geht’s nicht gut.~ ~Bekomme ich dann morgen meine Antwort?~ ~Wenn du brav bist.~ Nagi schnaubte und drehte sich gerade rechtzeitig um, als Crawford das Wohnzimmer betrat. Schuldbewusst zuckte er zusammen und schluckte mühevoll, bevor er kurz verlegen lächelte. Wie immer nahm das Orakel keine Notiz von eben jenem, sondern wandte sich größeren Problemen zu – Schuldig auf der Couch zum Beispiel. Oder Jei, der nun hinter ihrem Orakel das Wohnzimmer betrat und sich weit weg von Schuldig entfernt auf einen der Sessel niederließ, die am nächsten am Fenster standen. Immer noch zornig bohrte sich das Auge in Nagi und dieser nahm sich den Sessel, der Crawford am Nächsten war, als dieser ihm bedeutete, dass er sich setzen sollte. „Fujimiya wird die nächsten drei Monate unser Gast sein und Aufträge für Schwarz ausführen. Seine Schwester befindet sich ebenso in meinem Gewahrsam und ist somit eine wirkungsvolle Leine, um ihn zu Gehorsam zu zwingen“, erleuchtete Crawford Nagis Unverständnis über den Weiß im Keller und er wagte einen Blick zu Jei, der nicht im Mindesten davon überrascht schien. Wie immer war es, als ob der schweigsame Ire mehr wusste als sie alle zusammen und wie immer hielt er es nicht für nötig, sich ihnen mitzuteilen. Irritiert runzelte Nagi die Stirn. Schuldig stöhnte genervt auf, hielt es aber nicht nötig, ihnen etwas Anderes als seinen Hintern entgegen zu strecken. „Und wir sollen dann auf dein Betthäschen aufpassen, dass er uns nicht die Inneneinrichtung zerlegt?“, murmelte er undeutlich gegen das Couchkissen. Nagi sah Crawford schmal lächeln, eine automatisierte Geste für die Mehrzahl von Schuldigs Kommentaren, die wirklich keine bessere Antwort verdienten. Nagi konnte es aber beiden gerade nicht verdenken, weder Crawford noch Schuldig. „Im Gegensatz zu dir ist der Weiß gut erzogen und weiß sich sicherlich zu benehmen, wenn es um das Wohl seiner Schwester geht.“ „Klar, ich habe ja schließlich keine Schwester.“ „Der Untergang der Menschheit, wäre das der Fall gewesen.“ Jei räusperte sich vernehmlich und ließ sein Auge pointiert auf Crawford ruhen. Auch wenn er die Mehrzahl von Crawfords und Schuldigs Schlagabtäuschen tolerierte, so war auch er manchmal genervt von den beiden Männern und ihrem stetigen Kampf um die Vorrangstellung. Mona „Wie dem auch sei. Ich möchte, dass du Zutritt zu seinen Gedanken erlangst, Schuldig. Das traumatisierende Desaster wie mit Tsukiyono ersparst du mir allerdings. Er wird auch nicht angerührt, es sei denn, es ist nötig ihn zu bestrafen.“ Stille trat zwischen sie und in dieser Stille drehte sich Schuldig langsam und umständlich zu ihnen. Er gab ihnen einen vollen Einblick in das dunkle Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete. „Und wie das nötig sein wird. Um was wetten wir, dass er ungezogen sein wird?“ Nagi warf einen kurzen Seitenblick zu ihrem Telepathen und kam nicht umhin, dessen Worte zu bestätigen. Die Kombination, dass der Weiß seine natürlichen Barrieren aufzugeben hatte in Verbindung mit dummen Dingen, die er wissentlich und unwissentlich anstellen würde, war ein Freibrief für Schuldig, ihn zu bestrafen. Das konnte nicht gut gehen. „Wofür brauchen wir ihn?“, fragte Nagi und ging in Gedanken die Fähigkeiten des Weißanführers durch. Er könnte verstehen, den Taktiker zu nutzen, aber Abyssinians Talente waren hier nicht einsetzbar und damit verschwendet. „Erledigung der Drecksarbeit.“ „…namens Lasgo“, warf Schuldig ein und Crawford hob eine Augenbraue. Nagi überkam ein unwillkürlich ungutes Gefühl, als auch ihm die Spannungen bewusst wurden, die zwischen den beiden Männern schwelten und keinen Ausgang fanden. „Auch der.“ Crawfords schlichte Worte waren eine Warnung. Mehr als das. „Also war er doch in dem Areal.“ Irgendetwas in Schuldigs Worten warnte Nagi, nachzufragen, was das zu bedeuten hatte. Crawford hatte ihm doch gesagt, dass er alleine dort gewesen war, von dem Weißanführer hatte er nichts gesagt. Da die Anwesenheit von Weiß in ihren Berichten immer essentiell zu erwähnen war, kam Nagi nicht umhin, mit der Stirn zu runzeln. Crawford versagte Schuldig und ihm eine Antwort, doch die schlechte Stimmung, die zwischen den beiden Männern die Luft zum Brennen brachte, war nunmehr nur allzu greifbar. Es erschreckte Nagi immer wieder, wenn die beiden Älteren aneinander gerieten, auch wenn er durchaus verstand, dass sie so verschieden waren, dass sie niemals Freunde werden würden und dass es in der Natur des Telepathen lag, gegen seinen Anführer aufzubegehren und zu versuchen, ihm den Rang streitig zu machen. Bisher hatte Crawford jeden dieser Versuche mit Leichtigkeit abgewehrt. Eben jene beiden hatten ihre Kommunikation auf die telepathische Ebene verlagert und Nagi war in diesem Moment dankbar darum, so wie sich Crawfords Gesicht verfinsterte. Doch es blieb dabei, keine andere Regung deutete daraufhin, was Schuldig ihrem Anführer gerade an den Kopf warf. Wieder war es Jei, der die beiden auseinanderbrachte, indem er missbilligend zischte und sich ungeduldig erhob. Nagi sah an ihm hoch und erkannte, dass sein Auge einzig auf Crawford ruhte. „Arielle ist an Land gespült worden“, sagte Jei rau und Nagi runzelte erneut die Stirn. „Sie schnappt elendig verrottend nach Luft und kann gar nicht verstehen, warum das so ist. Sie möchte Heim, zurück ins Meer zu ihren Fischfreunden, zu Sebastian, der Krabbe, dem Musikanten. Und dann ist da Schneewittchen in all ihrer ebenholzfarbenen und schneeweißen Pracht, die die Lage verkennt.“ Jei verzog die Lippen zu so etwas, was ein Lächeln sein sollte und Nagi runzelte die Stirn. Das gab keinen Sinn. Jei hatte anscheinend wieder zuviel durcheinander gelesen und gab ihnen nun Rätsel mit seinen verschrobenen Antworten auf. Tief seufzte der Telekinet. Das war nun nichts Neues, aber es entschärfte die Situation auch nicht. Ganz im Gegenteil. Nun fokussierte sich die Wut des Orakels auf ihn und das, nachdem er dessen Befehl sowieso schon hintergangen und nicht befolgt hatte. „Ich sehe dich in meinem Büro, Schuldig“, erwiderte Crawford in seine Überlegungen mit eisiger Ruhe und Nagi schluckte. Beinahe schon erleichtert seufzte er, als die beiden ihr Wohnzimmer verließen um den aufkommenden Streit in Crawfords Büro auszutragen. Jei blieb derweil nachdenklich in seiner Nähe und legte den Kopf schief, während er ihn musterte. Nagis Blick verfing sich an dem vernarbten Körper und er erhob sich. „Wieso hast du das getan?“, fragte Nagi reichlich verspätet nach dem Grund für das ungehorsame Handeln des Anderen. Selbstironisch merkte er an, dass er das vielleicht hätte vorher fragen sollen, bevor er eines von Jeis heiligen Märchenbüchern zerstörte. Wie immer musste er nicht erläutern, was er meinte, weil der vernarbte Mann ganz genau wusste, um was es ging. „Er gehörte nicht dorthin.“ „Und deswegen missachtest du einen Befehl von Crawford?“ „Er gehörte nicht dorthin“, wiederholte Jei eindringlicher, auch wenn alles in seinem Gesicht auf gelangweilte Akzeptanz hindeutete. „Wir waren nicht autorisiert, ihn zurück zu seinem Team zu bringen und dann auch noch die Weißagentin zu verletzen.“ Nagi grollte, als ein drittes „Er gehörte nicht dorthin.“ zu ihm schallte und verließ genervt das Wohnzimmer um sich an seine Hausarbeit zu setzen, die dank des Weiß immer noch nicht fertig war. Dass er währenddessen eruieren würde, ob der junge Weiß bereits wieder online war, schrieb Nagi seiner Informationspflicht zu, die er schließlich hatte und zu der auch die Eruierung gehörte, ob der Taktiker des feindlichen Teams wieder einsatzfähig war. ~~**~~ Die Art, wie sich sein Anführer bewegte, erlaubte Schuldig für einen kurzen Moment einen ungeschönten Einblick in dessen körperliche Verfassung, um die es tatsächlich gar nicht mal so gut stand. Crawford hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne, bevor er sich auf seinen Bürostuhl setzte und sich hinter seinem Schreibtisch verbarrikadierte. Die Tasse Kaffee, die jetzt ihren Weg an Crawfords Lippen fand, war ebenso ein Prokrastinationsmanöver wie der lange Blick auf die Unterlagen, die das Orakel sicherlich schon längst durchgearbeitet hatte. Schuldig lümmelte sich unweit des Schreibtisches auf die Couch und warf von dort aus einen Blick auf das Schachbrett, wo ihr Hellseher schon seit Wochen gegen sich selbst spielte. Er rollte mit den Augen und kehrte mit seiner Aufmerksamkeit dann wieder zurück zu dem Arschloch, das meinte, ihn darüber belehren zu müssen, den Weiß nicht zu foltern und ihn dann beinahe umzubringen. Ne, klar. Wie so vieles, was in den letzten Tagen passierte, machte das keinen Sinn und Schuldig kam nicht umhin, über die Worte des entsprechenden Weiß nachzudenken, die in der absoluten Überzeugung ausgesprochen worden waren, wahr zu sein. So wahr, dass der Jüngste des gegnerischen Teams sich in seiner Verzweiflung dazu entschlossen hatte, Crawford damit zu provozieren und damit auch höchst erfolgreich gewesen war. Erfolgreicher als er selbst, mochte Schuldig meinen, denn er für seinen Teil hatte den Weiß nicht beinahe umgebracht mit seiner Wut. Die Frage war nur: Wut worüber? Hatte Bombay Recht gehabt und Crawford war wirklich Lasgos persönlicher Sexsklave gewesen? Schuldig versuchte sich vorzustellen, wie jemand den Anführer von Schwarz unterwarf und auf diese ganz spezielle, widerliche Art und Weise demütigte. Er scheiterte daran. Crawford war unantastbar. Das Orakel hatte alleine schon durch seine Gabe einen unschlagbaren Vorteil und so sehr es Schuldig auch mit den Zähnen knirschen ließ, ihr Anführer war gut in dem was er tat. Wobei gut der falsche Ausdruck war. Exzellent, ein Streber in ihrer Rosenkreuzausbildung, der trotz der strengen Erziehung und des für ihn noch härteren Trainings scheinbar mühelos bestanden hatte. Sämtliche Lehrer und Trainer, die er gehabt hatte, hatten es ihm nicht leicht gemacht, im Gegenteil. Es schien, als hätten sie den Befehl bekommen, ihn doppelt und dreifach so hart durch die Mangel zu drehen als sie es mit anderen Studenten taten. Und Crawford hatte alles, was sie ihm zur Aufgabe gestellt hatten, mit stoischer Sturheit erledigt, egal, was es ihn gekostet hatte, egal, was es für Konsequenzen für ihn selbst bedeutet hatte. Egal, was es seine Klasse gekostet hatte. Schuldig rollte mit den Augen. Natürlich waren sie alle dazu erzogen worden, in einem Team zu arbeiten und sich aufeinander zu verlassen, doch Rosenkreuz hatte ihnen auch ganz klar und deutlich gemacht, dass Leistung belohnt werden würde, sodass sie in einem stetigen Konkurrenzkampf um die Position des Besten miteinander standen. Schuldig hatte sich auf vieles eingestellt nach dem Abschluss seiner Ausbildung, aber Crawford war nicht dabei gewesen. Also das selbstherrliche, egoistische, biedere, zynische, streberische Arschloch namens Bradley Crawford, Sohn von und zu. Wie hatte Schuldig ihn während ihrer Ausbildung gehasst, wie hatte er es gehasst, als er ihm zugeteilt worden war und das Orakel ihn mit nach Japan genommen hatte, damit sie dort für Takatori arbeiten konnten, der zu dem Zeitpunkt ein aufstrebender Politiker gewesen war. Er hatte Japan gehasst, seinen Anführer, seinen Klienten, ihre Aufgaben und ganz sicherlich hatte er die Wahl des dritten Teammitgliedes gehasst, das schlussendlich zu ihnen gestoßen war: ein verrückter, irischer Mann mit einer Vorliebe für unkontrollierte Messereinsätze und Massaker, der weder Crawford noch ihn verstehen wollte und ihnen das Leben im ersten Jahr zur Hölle gemacht hatte. Ihnen. Schuldig schnaubte. Der bleiche Geist hatte Schuldig das Leben zur Hölle gemacht, da das selbstherrliche Orakel Kraft seiner eigenen Wassersuppe bestimmt hatte, dass er derjenige sein sollte, der auf dieses gewalttätige, im Körper eines Mannes gefangene, Kind aufpassen musste. So hatte er aufbegehrt. Einmal, zweimal, so oft, dass es Schuldig gar nicht mehr zählen konnte. Und jedes Mal war ihm sein Anführer über gewesen, immer einen Schritt voraus. Ätzenderweise, frustrierenderweise… und so hatte es Schuldig sich zur Lebensaufgabe gemacht, jede einzelne Schwachstelle des Orakels zu nutzen und so lange auszuschlachten, bis er irgendetwas fand, womit er ihn auf die Palme treiben konnte. Seine Erfolge hatten sich in seine Erinnerungen gebrannt und er gierte nach der nächsten Möglichkeit. Gefunden hatte er sie bei Crawfords kühlem, aber seltsamen Befehl, ihn aus einem Hotel abzuholen. Wie einfach doch die verschiedenen Hinweise zu finden gewesen waren, als würden sie auf einem Präsentierteller direkt vor Schuldig liegen: die komische Kleidung, die offensichtlichen Schmerzen, die überraschende, emotionale Instabilität des älteren Mannes. All das hätte er ausschlachten können und es wäre einfach gewesen. Den Finger in die Wunde legen und bohren, bis der Schmerz so groß wurde, dass das Orakel seine Beherrschung verlor. Dennoch hatte sich Schuldig dagegen entschieden und was erhielt er als Dank? Lügen, Halbwahrheiten und Abspeisungen. Das würde auch jetzt nicht anders werden. „Was willst du, Bradley?“, schnarrte Schuldig in ihre Stille hinein und hielt dem Blick der hellen, stechenden Augen mit Leichtigkeit Stand. Dass Crawford sich nicht gegen die Nutzung seines Vornamens wehrte, sprach dabei schon Bände für sich, auch wenn alleine der Ton in Schuldigs Worten normalerweise dafür sorgen würde, dass dieser ihn zumindest an seinen Anführerstatus erinnerte. Doch dieses Mal wurde er nicht zurechtgewiesen. Crawford tat so, als hätte er es nicht gehört. „Fujimiya war ebenso bei unserer Zielperson wie ich auch. Er hatte den Auftrag, den Drogenhändler zu töten. Er war derjenige, der mir zur Flucht verholfen und mich zurück mit nach Tokyo genommen hat“, drang die ruhige Stimme des Mannes zu Schuldig, der ihm so viele Halbwahrheiten über die letzten Tage aufgetischt hatte, dass es dem Telepathen nun schwer fiel, ihm die neuen Informationen zu glauben. Dennoch befand sich eben jene deutlich zu nah an dem, was Bombay ihm gestammelt gestanden hatte, als dass es ihm wohl damit war. Wieder versuchte Schuldig sich das vorzustellen, was der Kleine von Weiß ihm gesagt hatte. Crawford als Opfer einer solch demütigenden und degradierenden Tat. Nein. Unvorstellbar. „Die für die Koordination zuständige Kritikeragentin war ebenfalls vor Ort und hat sich anscheinend dazu entschlossen, die Ideale ihrer Organisation zu verraten und einen Pakt mit unserer Zielperson einzugehen. Nach Fujimiyas Rückkehr haben eben jene wie auch die Zielperson sich mit Abyssinian in Verbindung gesetzt und ihn natürlich mit dem Wohlergehen seiner Schwester erpresst.“ Ein kurzes, ironisches Lächeln huscht über Crawfords Lippen, doch es war so schnell wieder verschwunden, dass sich Schuldig nicht sicher war, ob er es überhaupt gesehen oder sich nur eingebildet hatte. „Während unseres letzten Auftrages haben Balinese und ich uns abseits geschlagen und er war der irrigen Meinung, mich erpressen zu können mit dem, was er bereits weiß und hat versucht, meine Mithilfe bei der Abhilfe von Fujimiyas misslicher Lage zu erzwingen. Was ich hiermit getan habe.“ Nun war es sehr deutlich ein böses Lächeln, das über die schmalen Lippen geisterte und die hellen, stechenden Augen verloren von jetzt auf gleich ihren Fokus, als die Worte anscheinend eine Vision bei ihrem Orakel auslösten. Erst jetzt wurde sich Schuldig bewusst, wie vertraut ihm diese Geste war und wie sehr er sie über die letzten Tage unbewusst vermisst hatte. Stumm wartete er, bis die Gabe des Orakels sich wieder zurückzog, während er die Stille nutzte um sich die geordneten Dokumentenstapel zu beschauen. Als die Aufmerksamkeit seines Anführers zu ihm zurückkehrte, seufzte Schuldig. „Fujimiya ist nicht hier um irgendwelche Aufträge zu erfüllen, die du ihm gibst und die wir mit dem kleinen Finger ausführen können“, nutzte Schuldig die momentane Informationsfreigiebigkeit des Orakels um endlich etwas Licht ins Dunkle zu bringen und bohrte seinen Blick in die nunmehr wieder scharfen Gegenstück seines Anführers. Stirnrunzelnd wurde er gemessen und die Antwort abgewogen, so als ob Crawford seinem Team diese Informationen nicht anvertrauen könnte. Aber wem, wenn nicht seinem Team? Schließlich vertrauten sie ihm auch ihre Leben an, immer und immer wieder. Schlussendlich nickte Crawford und es hatte etwas von einem Einknicken, das sich Schuldig nicht wirklich erklären konnte. „Er ist hier, weil er meine Gabe stabilisiert und katalysiert.“ Die Bedeutung der Worte erschloss sich Schuldig beinahe augenblicklich. Und doch weigerten sich die Gedanken des Telepathen, wirklich zu begreifen, was sein Anführer ihm gerade mitgeteilt und welche Schwäche er ihm just in diesem Moment offenbart hatte. Er hatte viel erwartet, andere Gründe dafür, dass Crawford sich den Anführer des feindlichen Teams in ihr Haus holte. Er hatte damit gerechnet, dass Crawford Weiß schwächen wollte, damit Schwarz trotz Handicap Takatori zum Sieg verhelfen konnte. Oder aus Rache an Kudou. Schuldig hatte viel erwartet, das aber nicht. Das hier war… eine Katastrophe. Der Weiß als Katalysator für Crawfords Gabe war ein unkalkulierbares Risiko. Schuldig schluckte. Das Risiko war so unkalkulierbar, dass er es beinahe nicht verantworten könnte, es Rosenkreuz nicht zu melden. Wenn irgendetwas schief lief, wenn auch nur ein Ding, was sie hier drehten und vor ihrer Organisation verheimlichten, ans Licht kam, dann waren sie geliefert. Alle miteinander. Wieder einmal drängte sich ihm die Frage auf, warum er Crawford nicht einfach an Rosenkreuz verriet und durch die Schwäche seines Anführers selbst eine stärkere Position erlangte. Und wieder einmal hielt er sich davon ab, weil er es nicht wollte, obwohl Crawford diese Art der überraschenden Loyalität mitnichten verdient hatte. Schuldig schnaubte vor Frust über sich selbst und langte nach dem, was seinen Anführer sicherlich ein Dorn im sowieso schon eiternden Fleisch sein würde. „Bindest du dich gerade?“ fragte er mit hoch erhobenen Augenbrauen lauernd und spöttisch und der Mann hinter dem Schreibtisch zuckte zusammen, als käme ihm der Gedanke zum ersten Mal. Ein wütendes, ungezügeltes Grollen war Schuldigs Belohnung für sein Vorhaben und träge schmunzelte er. „Du redest Unsinn. Warum sollte ich mich binden und dann noch an den Weiß?“, verließ es ungewohnt wütend die Lippen des Orakels und ebenso wütend nahm dieser einen Schluck. Doch so blöd war es trotz allen Spotts gar nicht, befand Schuldig. Ganz im Gegenteil. Ließ er die Provokation außen vor, standen da immer noch Fakten im Raum, die nicht von der Hand zu weisen waren. Es war durchaus normal für psychische PSI, wie er oder Crawford es waren, dass sie sich an jemanden banden, der ihre Muse war - wer auch immer sich diesen beschissenen Begriff dafür ausgedacht hatte. So wie Nagi als physischer PSI sich körperlich an Crawford gebunden hatten, indem er ihren Anführer über ein Jahr lang nicht losgelassen hatte, war es möglich, dass sie sich ebenso an jemanden banden. „Lass mal sehen. Als sie dich gefoltert haben, hat sich deine Gabe unter Stress setzen lassen und wurde dadurch instabil. Dann kam der Ritter auf dem weißen, hohen Ross um die Ecke und hat deinen Arsch nach Tokyo verfrachtet. Sein Mitleid und seine Dummheit sind im Übrigen noch größer als ich gedacht hatte und das will schon etwas heißen. Sei’s drum. Er war da, sie hat sich auf ihn fokussiert, er stabilisiert dich und zack, schon ist die Bindung zwischen euch beiden Turteltauben da.“ Crawford starrte ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der Schuldig unwillkürlich lachen ließ. Er mochte sich nicht entscheiden, was ihm daran mehr gefiel. Der Ausdruck, als hätte er etwas äußerst und noch nie dagewesenes Dummes gesagt oder derjenige, als hätte er den Verstand verloren. „Ich muss dich enttäuschen, Schuldig. So binden sich psychische PSI nicht an ihre Musen. Dazu braucht es mehr als eine Stresssituation.“ „Trotzdem besteht die Möglichkeit.“ „Nicht mit dem Weiß“, wiederholte Crawford und betonte genervt jedes Wort. Grollend leerte er seine Tasse und schenkte sich beinahe sofort nach. Beeindruckend, diese Sucht nach Kaffee, befand Schuldig. Auch das war etwas, das er verwenden könnte. Abwinkend ließ er das Thema Muse vorerst hinter sich. „Wie stellst du dir eigentlich vor, dass ich in seine Gedanken komme, ohne dass ich ihn dabei breche?“, stellte er anstelle dessen zur Diskussion. Nach Crawfords Eingeständnis glaubte er nicht, dass dieser es schätzen würde, wenn er den Weiß als sabbernden Idioten zurückließ, weil er ihn erst körperlich, dann geistig gebrochen hatte. „Wie du weißt, hat sexualisierte Gewalt hier die größte Wirksamkeit erwiesen“, stellte er lauernd in den Raum. Lasgos persönlicher Sexsklave. Wenn das wirklich zuträfe, würde Crawford das sicherlich nicht wollen. Oder? Tatsächlich. Das Orakel schüttelte den Kopf. „Er wird dir freiwillig Zugang gewähren.“ „Freiwillig?“, wiederholte Schuldig ungläubig. „Niemals, im Leben nicht. Nicht Abyssinian, der hochgelobte, disziplinierte Anführer von Weiß, der mit Freuden seinen selbstgerechten Stock im Arsch spazieren trägt. Wie soll das denn gehen?“ „Durch Überzeugungskraft und gute Argumente.“ „Habe ich beides nicht.“ „Dann eigne es dir an. Du wirst ihn nicht ficken lassen, Schuldig.“ Schuldig winkte ob der, wie sie beide wussten, unnötigen Warnung ab. „Ja, schon klar, du hast’s angeleckt, also gehört’s dir.“ „Ich habe Besseres mit meiner Zunge zu tun als sie an den Weiß zu verschwenden.“ „Sie in Lasgo zu stecken?“ Die Temperatur des Raumes, in dem sie sich befanden, schien um eine zweistellige Gradzahl zu fallen, so frostig, wie die gesamte Mimik des Orakels nun wurde. Stumm wohnte Schuldig bei, wie sich Anspannung den Rücken seines Anführers hochfraß und das lockere Hin- und Hergeplänkele beendete. Schuldig hob eine Augenbraue und beschloss, seinen Kommentar und Crawfords Reaktion darauf so stehen zu lassen. „Und wenn ich in den Gedanken des Weiß bin, werde ich dann das bestätigt finden, was du mir gerade gesagt hast oder werde ich dann feststellen, dass du mir wieder Informationen vorenthalten hast?“, fragte er ruhig, ohne Spott und ohne Zynismus. Er ließ Crawford sehen, dass es ihm ernst war, nicht noch einmal mit Halbwahrheiten abgespeist zu werden. Und Crawford sah ihn. Er akzeptierte seine Warnung trotz der vorherigen Provokation, von der sie beide anscheinend so taten, als hätte es sie nie gegeben. „Fujimiyas Erinnerungen decken sich mit dem, was ich dir gesagt habe. Darüber hinaus enthalten sie Details, die deine Neugierde befriedigen dürften. Wenn du dir deine Informationen geholt hast, wirst du mich damit nie wieder belästigen. Hast du mich verstanden, Schuldig? Nie wieder.“ Wortlos und überrascht starrte Schuldig eben jenen Mann an, der ihm gerade den Freibrief gegeben hatte, alle Informationen aus dem Weiß herauszuquetschen, derer er habhaft werden konnte. Der Mann, der immer noch offen ließ, was tatsächlich passiert war und sich um eine konkrete Antwort herumlavierte. Der ihn angelogen hatte und nun behauptete, die Wahrheit gesagt zu haben. Schuldig lächelte schmal. „Morgen Abend gehört Fujimiyas Geist mir“, unheilte er und Crawford lachte ernsthaft amüsiert. Das erste Mal, seitdem er wieder hier war, fiel Schuldig auf. „Willst du wetten?“, hielt er mit einer erhobenen Augenbraue dagegen und Schuldig winkte schnaubend ab. „Wetten? Mit einem Orakel? Wirklich, Crawford, für wie dumm hältst du mich?“ „Dumm? Gierig ist das Wort, was du suchst.“ „Sagt das Streberlein. Ist klar.“ Crawford hob beide Augenbrauen. „Raus aus meinem Büro“, sagte er und widmete sich pointiert seinen Papierstapeln, die anscheinend allesamt gerade dringender auf ihn warteten als es jedes Gespräch mit Schuldig in diesem Moment sein könnte. Der Telepath schnaubte und erhob sich langsam von der überhaupt nicht bequemen Couch. Mit einem letzten Blick auf das Orakel verließ er dessen Heiligtum und widmete sich schöneren Dingen. Nagi auf die Palme zu bringen, zum Beispiel, was immer ein wahrer Quell an Freude war. ~~**~~ Es war still in ihrem Anwesen, als Crawford seine Finanzüberprüfung beendete und sich ein schmerzerfülltes Aufstöhnen gestattete, mit dem er dem Protest seines nach Entspannung schreienden Rückens stattgab. Vorsichtig lehnte er sich zurück und erlaubte es sich, für einen Moment die schmerzenden und trockenen Augen zu schließen, vor denen die Zahlenkolonnen nur so hin und herschwammen. Es war spät, er war erschöpft und doch verursachte ihm der Gedanke an sein Bett Unbehagen angesichts des Alptraums der vorletzten Nacht . Ebenso waren es seine Erinnerungen an die Vergangenheit und die Zukunft, die ihn nicht an Schlaf denken ließen, die er sortieren und steuern, katalogisieren und in die letzten Ecken seines Hirns verschieben musste. Doch auch das fand sein Ende und so gönnte er sich nun eine Pause und ließ die Gedanken zu dem Mann schweifen, dessen Anwesenheit die durch ihn benötigte Stabilität ermöglichte. Noch bevor er mit seinem Team gesprochen hat, hatte ihm eine Vision deutlich und klar mitgeteilt, dass er keine andere Wahl hatte als Schuldig damit zu beauftragen, Fujimiyas Gedanken kontrollieren zu können und das gleich aus zwei Gründen. Anscheinend war der Weiß nicht ganz so resigniert, wie es zunächst schien. Den aufkommenden Widerstand würde Schuldig ihm effektiv nehmen und ihn eines Besseren belehren. Und zum anderen – was der weitaus bitterere Grund war – würden die Informationen aus Fujimiyas Erinnerungen Schuldig endlich ruhigstellen. Den Preis der Übelkeit, den der Ausblick auf die Zukunft mit sich brachte, bezahlte Crawford widerwillig und mit einem Zähneknirschen. Die Vorstellung, dass der Telepath ihn so sah wie Fujimiya ihn gesehen hatte, verursachte ihm Kopfschmerzen und innere Kälte vor Ekel. Er wollte nicht, dass Schuldig Zeuge dessen wurde, was geschehen war. Er wollte nicht, dass der ewig nach Konkurrenzkampf gierende Deutsche gleich eine ganzes Waffenarsenal gegen ihn erlangte, das er nach Belieben nutzen konnte um ihm sein Versagen und seine Schwäche vor Augen zu führen. Ganz zu schweigen von dem beißenden Spott, der auf ihn wartete. Doch trotz allem war das das geringere Übel, als wenn er dem sowieso schon Blut leckenden Telepathen verheimlichte, was wirklich passiert war. Wieder kehrten seine Gedanken zurück zu Fujimiya und zu dem, was Schuldig über ihn gemutmaßt hatte. Binden. Dass er nicht lachte. Ausgerechnet an den Weiß. Das war so an den Haaren herbeigezogen, dass Crawford unwillkürlich lachen musste. Ausgerechnet der Mann, der keine Zeit verloren hatte, sich… Abrupt würgte er den aufkommenden Gedankengang ab. Wenn er in die Zukunft sehen wollte, musste er die Vergangenheit hinter sich lassen. Sich immer wieder an dem aufzuhängen, was Fujimiya im Begriff gewesen war zu tun, würde bedeuten, dass er nicht mit der nötigen Objektivität an ihren neuen Gefangenen herangehen würde. Er würde den Weiß töten, dieses Mal mit Sicherheit und so konnte er sich damit begnügen, dass er dessen Leben und Handeln nach den drei Monaten derart kompromittiert hatte, dass weder Kritiker noch Crashers ihn zurücknehmen würden. Crawford nickte zufrieden über die sich ihm eröffnende Zukunft und erhob sich. Sein Körper ächzte protestierend und für einen Moment lang schwankte er, als ihm schwarz vor Augen wurde und er sich an seinem Schreibtisch festhalten musste. Nach der ersten, unkontrollierten Reaktion verlangsamte Crawford bewusst seine Atmung, bis die größten Schmerzimpulse verschwunden waren und er sich vorsichtig aufrichten konnte. Was hatte Fujimiya gleich nochmal gefragt in dieser heruntergekommenen, kleinen Wohnung? Wie Takatori Versagen strafte? Genau so. Mit Schmerz und Herabsetzung. Ach was würde das den Weiß insbesondere jetzt doch freuen. Er leerte seine Kaffeetasse und verließ das Büro. Durch das stille Haus hindurch ging er in den Keller und blieb vor der Zelle stehen, in die Nagi ihren Gast gebracht hatte. Die Gitterstäbe verbargen nichts vor der Außenwelt, wenn es denn etwas zu verbergen gegeben hätte in dem kahlen Raum, der einzig und alleine eine Matratze enthielt, auf der nun der Weiß lag, auf der Seite und drogeninduziert schlief, das Gesicht entspannt, zumindest der Teil, der nicht durch die roten Strähnen verborgen lag. Das Orakel legte seine Hand auf den Fingerabdruckscanner und öffnete die damit Zellentür. Schweigend trat er zu dem Weiß und sah reglos auf ihn herunter. Vor nicht allzu langer Zeit waren ihre Rollen vertauscht gewesen. Hilflos, wie er gewesen war, hatte er nicht viel dagegen tun können, als er sich plötzlich Fujimiya gegenüber gesehen und gewusst hatte, dass dieser ihn umbringen würde. Dass dieser zwischen ihm und Lasgo stehen würde, hatte er keinen Moment lang vermutet und die Überraschung über der Handel des Weiß war immer noch präsent in seinen Erinnerungen. Zwei Tage hatte er anschließend in der Hoffnung gelebt, dass Fujimiya Lasgo töten würde. Nur damit eben diese brutal und effektiv zerschmettert werden würde durch das erneute Handeln des Drogenhändlers. Crawford schwankte vor Ekel und überbrückte seine schlechten Erinnerungen damit, dass er sich eingedenk seines wunden Körpers vorsichtig auf ein Knie niederließ und dem Weiß die Strähnen aus dem Gesicht strich um einen besseren Blick auf das ruhige Gesicht zu erlangen. Binden, dass er nicht lachte. An den Anführer von Weiß. Natürlich. Da konnte er sich ja gleich die Kugel geben. Zumal es nur zwei Arten gab, auf die sich ein psychischer PSI an eine andere Person band. Zum Einen gab es die Zuneigung. Crawford schnaubte amüsiert. Ja, er mochte den Weiß. Wie einen Migräneanfall. Der andere Grund war näher an Schuldigs Vermutung, als Crawford es wirklich lieb war. Es war möglich, sie zwangsweise zu binden, doch das wurde nur durch ein tiefes und weitreichendes Trauma erreicht und war so weit von der freiwilligen Bindung entfernt wie es nur möglich war. Und das hatten weder Fujimiya noch Lasgo geschafft, schließlich hatte ihn der ältere Mann trotz aller Mühen nicht gebrochen. Der schwache, nach Antiseptika anmutende Geruch der Zelle lockte Crawford zurück zu dem Raum, in dem er vor mehr als einer Woche aufgewacht war, nachdem Lasgo ihm etwas unter sein Getränk hatte mischen lassen. Antiseptika und Reinigungsmittel waren es gewesen, die er gerochen hatte und die Ähnlichkeit kroch nun wie ein unerbittliches Raubtier seine Wirbelsäule entlang. Anspannung fraß sich den gleichen Weg empor und Crawford verharrte in seiner momentanen Bewegung, mit einem Mal abrupt gefangen in seinen Erinnerungen an jenen schrecklichen Moment. Nein, verließ es stumm sein Lippen, wie es auch vor nicht einmal einem Monat in seinem Kopf geschrien hatte. Nein, nein, nein. Er hatte das nicht gewollt, nichts davon. Er hatte alles versucht, dem zu entkommen, doch vergebens. Kein Nein hatte geholfen. Keine Gegenwehr. Nichts. Er hatte das ertragen müssen, was ihm aufgezwungen worden war, ohne die Möglichkeit, Lasgos widerwärtiges Spiel zu beenden. Abrupt tauchte Crawford aus seinen Erinnerungen auf. Seine Hände hatten sich in der Kleidung des Weiß verkrampft und er schluckte schwer, als er gegen die Übelkeit ankämpfen musste, die seinen Magen im festen Griff hielt. Schmerzhaft schnell schlug sein Herz und Schweiß stand auf seiner Stirn. Immer noch konnte er Lasgos Atem in seinem Nacken spüren, während dieser ihm deutlich machte, dass er sich mit normaler Folter nicht begnügen würde. Immer noch hörte er das Lachen des widerlichen Mannes, mit dem dieser ihm die dunkelsten Fantasien offenbarte, die er auf ihn zu projizieren gedachte und schließlich auch ausgeführt hatte. Jede einzelne und noch einige mehr. Strauchelnd kämpfte Crawford sich in die Höhe. Er musste raus hier. Er musste weg von diesem Geruch und den Erinnerungen an Lasgo. Zwei Schritte weit kam er, dann hielt ihn der Anblick des Weiß auf, der ihm mit erschreckender Eindringlichkeit mitteilte, dass er den Mann nicht hier unten lassen konnte, denn sonst würde Lasgo kommen und... Crawford zwang sich innezuhalten und seine irrationalen Gedanken zu einem Halt zu bringen. Zum zweiten Mal innerhalb von einer halben Stunde schloss er die Augen und regulierte zwangsweise seine Atmung um zu sich selbst zurück zu finden. Mit eiserner Selbstkontrolle drängte er die dunkelsten Erinnerungen zurück in die Tiefen seines Geistes und verschaffte sich so die nötige Ruhe um den Weiß nicht gleich irrational an den Haaren hier herauszuzerren. Minuten krochen dahin und Crawford fand schlussendlich die Stärke, die er brauchte, um zu sich zurück zu kehren, im Trost seiner Gabe, auch wenn seine Visionen ihm hoch unliebsame Dinge zeigten. Den Weiß hier unten zu belassen würde zu Problemen führen, deren Lösungen ihn Mühe und Zeit kosten würden, die er nicht zu investieren bereit war. Er hatte keine Zeit, sich um die Kindereien das Befinden Fujimiyas zu kümmern. Dieser hatte zu funktionieren. Also war es doch logisch, dass Crawford die Zukunft so modifizierte, dass er den einfachen Weg ging, ohne Theater und ohne Drama, ohne schlussendliches Blutvergießen in seiner Küche, das letztlich zu noch mehr Fragen führen würde. Auch wenn es im Umkehrschluss bedeutete, dass der Weiß die Nacht eben nicht hier verbringen würde, sondern in seinem Raum, präziser noch, in seinem Bett. Crawford grollte erbost und war für einen Moment lang versucht, diese Zukunftsversion zu ignorieren. Einen Moment lang, in dem er sich verweigerte, auch nur darüber nachzudenken, den Weiß hier herauszutragen und in sein Bett zu legen. Es war sein Bett und auch wenn er es diese Nacht nicht nutzen würde, so hatte der Weiß nichts darin zu suchen. Rein gar nichts. Nutzlos wog Crawford ab, wo es nichts zu erwägen gab. Aber wenigstens löschte die Vision die letzten Spuren seiner Erinnerungen aus und ersetzte Hilflosigkeit durch Wut. Wenigstens das. Dunkel starrte er den schlafenden Weiß an und grollte unzufrieden. „Selbst bewusstlos machst du Ärger“, murmelte er und trat erneut zu ihm. Er versuchte, den anderen Mann unter seinem Rücken und den Knien zu fassen um ihn hochzuheben, doch das hatte wenig Sinn, wie Crawford nun selbstironisch feststellte und doch etwas über sich selbst lachen musste, wie er hier kniete und feststellte, dass der nasse Sack Kartoffeln vor ihm sich in seinem momentanen Zustand so nicht bewegen lassen würde. Also tat Crawford genau das, was er mit einem nassen Sack Kartoffeln machen würde: er schulterte den Weiß und spürte, wie sein eigener, geschundener Körper unter der zusätzlichen Belastung ächzte und schrie. Mit zusammengebissenen Zähnen trug er seine schwere Last langsam nach oben und stieß seine Tür auf. Stumm fluchend ließ er den Weiß auf sein Bett fallen und hob die Augenbraue, als dessen Hinterkopf unrühmlich mit einem dumpfen Laut auf sein Bettgestell traf. Geschah der ewigen Nervensäge von einem Weißanführer recht, befand er und drehte sich weg von dem Mann, dessen rote Haare wie Blut auf dem weißen Kissen lagen. ~~**~~ Das Erste, wessen Aya sich gewahr wurde, war ein Buch, dessen aufgeschlagene Seiten sich seicht im Zug eines scheinbar geöffneten Fensters hin und her flatterten. Sie raschelten sacht und gaben so ein nahezu friedliches Bild ab. Nahezu. Wenn er sich nicht Stück für Stück daran erinnern würde, was passiert war, wo er sich hier anscheinend befand und was in der kommenden Zeit geschehen würde. Auch wenn Aya überrascht war über das Zimmer, das er nun vorsichtig und unter Kopfschmerzen in Augenschein nahm. Nach Omis Erzählungen hatte er einen kalten, weiß gefliesten Kellerraum erwartet, aus dem er nur herausgelassen werden würde, um verräterische Aufträge zu erfüllen. Nicht aber ein Zimmer, das in einer erschreckend puristischen Art und Weise Macht ausstrahlte, die es eigentlich nicht ausstrahlen sollte, angesichts der Tatsache, dass es ein Schlafzimmer war. Ein gut eingerichtetes Schlafzimmer. Aber ein Schlafzimmer nichtsdestotrotz. Alles in diesem Zimmer schrie, das wusste Aya auch ohne dass er fragen musste, nach Crawford. Das hier war das in die Inneneinrichtung eines Raumes gepresste Orakel. Strenge Linien diktierten die Gangart des Zimmers und führten zu den beiden großen Türflügeln, die für ihn unsichtbar in einem anderen Raum mündeten. Es herrschte ein leichter, eiskalter Wind, der Aya kühl über das Gesicht strich. Einen anderen Teil seines Körpers konnte er nicht erreichen, so begraben unter Decken, wie er hier lag. Ungefesselt, als wenn sich Schwarz seiner so sicher waren, dass sie ihn nicht fesseln mussten. Arrogant war es und in einer bitteren Art und Weise nur zu wahr, denn er würde nichts tun können, was seine Schwester gefährdete. Die unsichtbaren Ketten, die ihn zurückhielten, waren ein weiteres Mal schlimmer als es sichtbare jemals sein könnten. Aya ballte die Hände zu Fäusten und zerriss beinahe den weichen Stoff unter seinen Fingern vor hilfloser Wut und bodenlosem Frust über eben jene. Doch er kämpfte beides zurück und schob es in den hinterletzten Winkel seines Geistes. Nichts davon würde ihn hier weiterbringen. Langsam richtete er sich auf und schlug die Decke zurück. Wäre er zuhause gewesen, hätte er sich gut und gerne noch für eine weitere Stunde schlafen legen können, doch das stand hier außer Frage. Aya war sich noch nicht einmal sicher, ob er freiwillig in diesem Haus ein Auge zutun würde in Anwesenheit des feindlichen Teams, das noch vor ein paar Stunden wieder einmal gezeigt hatte, wie sadistisch es sein konnte. Die Frage, die er momentan noch in den Hintergrund drängte, war auch, was sie ihm antun würden. Insbesondere, da er es gewagt hatte, sich an ihrem Orakel zu vergreifen. Aya strich sich die Haare zurück und stellte die Füße auf den überraschend warmen Boden. Trotzdem fröstelte er und schwankte, als er sich erhob. Anscheinend hatte sein Körper die Drogen noch nicht gänzlich verarbeitet, die Crawford ihm verabreicht hatte, so schwindelig, wie ihm mit einem Mal wurde. Frustriert über seine eigene Unzulänglichkeit schloss er die Augen und atmete tief ein, bis er sich sicher sein konnte, dass er keine unliebsame Bekanntschaft mit dem Parkettboden machen würde. Erst dann erlaubte er es sich, seine Augen wieder zu öffnen und erst dann fiel ihm die Kleidung auf, die anscheinend unweit auf einem Stuhl für ihn zurechtgelegt worden war. Der Zettel auf ihnen gab ihm seinen ersten, feindlichen Befehl und er grollte. Geh duschen, stand in klaren, schnörkellosen Schriftzeichen darauf und ein Pfeil in die Richtung Bad lotste seinem Blick auf die Tür, die er bisher missachtet hatte und die anscheinend in den entsprechenden Raum führte, wenn er es richtig interpretierte. Aya war nicht danach, zu gehorchen, so legte er den Zettel beiseite und langte nach der Kleidung. Neugierig darauf, was er nun tragen würde, entfaltete er sie und stellte fest, dass es anscheinend Crawfords Sachen waren, die ihm als Ersatz dienen sollten. Auch wenn er nicht gedacht hatte, dass der Amerikaner eine legere Jeanshose einen einfachen, weinroten Pullover in seinem Kleiderschrank hatte. Ebenso wenig die dicken Wollsocken, die das Ganze zusammen mit noch verpackter Unterwäsche abrundeten. Aya schauderte. Er wollte nicht. Er wollte nicht hier sein, er wollte seine eigene Kleidung tragen, er wollte nicht sein altes Leben hinter sich lassen müssen nur weil er den Fehler gemacht hatte, Crawford das Leben zu retten. Er wollte zurück zu Youji, Omi und Ken, um mit ihnen den Verrat der Agentin aufzuklären und mit Manx zu sprechen. Er wollte für ihren Jüngsten dasein, der gerade eben in diesem Moment seine Hilfe brauchte. Doch das, was er wollte, zählte nicht. Das, was auf Zetteln stand, zählte und machte ihm deutlich, dass er nur ein Gefangener war, dessen Leben für die nächsten Monate fremdbestimmt wurde. Seufzend roch er an sich selbst und zuckte mit gekräuselter Nase zurück, als ihm bewusst wurde, dass die Drogen seinem Körper wohl auch auf andere Art und Weise zugesetzt hatten. Grimmig griff er sich die Sachen und beschloss, das kommende Elend nicht weiter heraus zu zögern. Mit Gänsehaut betrat er das Tageslichtbad, das von schlichtem Luxus ebenso überquoll wie das Schlafzimmer und größer war als ihr Wohnzimmer über dem Koneko. Natürlich verfügten Schwarz über soviel Geld, dass sie sie das leisten konnten. Ein Anwesen im Grünen, wie es schien, weit und breit kein Nachbar. Das war Luxus rund um Tokyo. Das hieß, wenn er überhaupt noch in der Nähe der Hauptstadt war, wusste Aya doch noch nicht einmal, wie lange er geschlafen hatte. Mit Bedacht machte er die Tür hinter sich zu und schloss mit Erleichterung das Bad ab. Nicht, dass es jemanden wie den Telekineten des Teams aufhalten würde, doch alle Anderen hielt es draußen. Vermeintlich. Es reichte, um sein wild klopfendes Herz zu beruhigen, befand Aya, also war es in Ordnung. Schneller als zuhause duschte er und nahm sich die noch verpackte Zahnbürste. Wütend riss er sie auf und erledigte den Rest der morgendlichen Badrunde um sich den Ungeheuern zu stellen, die in diesem Haus auf ihn warten würden. Wie es Youji wohl ging? Sie hatten sein Fehlen sicherlich bemerkt und würden nun nach ihm suchen. Vergeblich, wenn er Schwarz richtig einschätzte und schlussendlich würden sie ihn als Verräter abstempeln. Youjis Worte kamen ihm in den Sinn und Aya musste unwillkürlich bitter auflachen. Als wenn geschlossene Fenster Schwarz aufhalten würden. Nein, das würden sie nicht. Offene aber auch nicht. Wer wusste schon, wie Crawford ins Haus gelangt war. Amüsant war die Vorstellung auf jeden Fall, dass der Amerikaner sich durch das Küchenfenster gequält hatte um ihm in seinem vermeintlich sicheren Zimmer aufzulauern. Aya verharrte noch weitere, nutzlose Minuten voller quälender Unsicherheit im Bad, bevor er sich dazu durchringen konnte, eben jenes zu verlassen und sich dem zu stellen, was ihn erwarten würde. Auf lautlosen Sohlen durchquerte er das Schlafzimmer und musste nicht lange suchen, bis er den ersten Schwarz traf, der ganz mundan Papierkram erledigte, während auf einem Bildschirm links Zahlenkolonnen über der Monitor liefen. Von dem Schreibtisch aus warf Aya einen Blick in das weiträumige, überraschend chaotische Arbeitszimmer. Natürlich war auch hier die Einrichtung teuer und gehoben, das sah Aya auf den ersten Blick, doch auf den Ledersesseln im puristischen Design, auf dem monströsen, antiken Schreibtisch und den Ablagefächern daneben türmten sich nebst Computer Akten, Bücher und Dokumentationen, die für vier Firmen gereicht hätten. Selbst im Büro seines Vaters hatte es nie so ausgesehen. Nur die Couch war frei von allem, ebenso wie das Schachbrett daneben. Inmitten all diesen Wirrwarrs thronte schließlich der Amerikaner selbst. Auf seinem Schreibtischstuhl sah er aus wie ein König, der sein Königreich überblickte, ebenso arrogant und unnahbar. Aya wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber das hier sicherlich nicht. Es war geradezu normal, bis auf das unordentliche Chaos, geradezu menschlich. Schließlich würde Schwarz ja nicht in einem Märchenturm oder in einer dunklen Höhle hausen, nur weil sie für die verdorbene Seite arbeiteten. Crawfords Aufmerksamkeit löste sich scheinbar erst jetzt aus der dicken Kommentierung des Steuerrechts, in dem er etwas nachgelesen hatte und richtete sich auf ihn. Aya schwieg, verspürte er nicht das Bedürfnis, auch nur ein Wort an den Mann zu richten, der Omi gefoltert hatte. Viel lieber lehnte er sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme, nahm dabei Notiz von dem Bleistift, den Crawford sich hinter sein Ohr geklemmt hatte. Natürlich war es Spott, mit dem er gemessen wurde und Aya stellte sich auf Herabsetzung und Beleidigung ein. Doch Crawford enttäuschte ihn. Im Gegensatz zu seinem Lächeln stand die Geste des Schwarz in Richtung weißer Kommode, auf der eine Kanne und mehrere Tassen standen. „Kaffee. Bedien dich“, erhielt Aya seinen zweiten, knappen Befehl und kam nicht umhin, die Spiegelung der Situation zu bewundern, während Crawford sich wieder seiner Arbeit widmete, als würde nicht gerade ein Weiß in seinem Büro stehen. Aya nahm das stumm hin, kam jedoch nicht umhin, über die Surrealität dieser Situation hoch irritiert zu sein. Hatte Crawford keine Bedenken, dass er in irgendeiner Art und Weise Nutzen aus dieser Situation ziehen könnte? Dies hier waren Daten, die ganz sicherlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Fühlte sich der Amerikaner so sicher? Immer noch schweigend ging Aya zu der Kanne, widerwillig, weil er sich genau danach sehnte, nach einer guten Tasse Kaffee, welche die letzten Reste des Schlafes aus seinem Blut vertreiben würde. Ebenso widerwillig, weil er nichts von Schwarz annehmen wollte. Langsam schenkte er sich eine große Tasse schwarzen Gebräus ein. Er nahm einen vorsichtigen Schluck und kam nicht umhin festzustellen, dass der Kaffee um Längen besser gewesen war als der, den er bei Lasgo gekocht oder der, den er an der Tankstelle besorgt hatte. Kurz bevor Aya sich dazu entschließen konnte, doch einen Blick in die zu verlockenden Unterlagen zu werfen, erhob sich Crawford. Der Ausdruck, der nun auf dessen Gesicht lag, war mit Recht als reinster Spott zu bezeichnen und Ayas Nackenhaare stellten sich abrupt auf. Von einem Moment auf den anderen fühlte er sich durch die bloße Anwesenheit des Orakels bedroht und konnte noch nicht einmal sagen, warum das so war. Kurz vor ihm blieb Crawford stehen und gab Aya einen guten Einblick auf seine tiefen und dunklen Augenringe. Überhaupt sah der Schwarz so aus, als hätte er die Nacht über nicht geschlafen, und Aya wurde sich erst jetzt wirklich bewusst, dass es tatsächlich das Bett des vor ihm stehenden Mannes gewesen war, in dem er aufgewacht war. Eine Gänsehaut kroch ihm über den Körper, als der Gedanke sich manifestierte und Aya schauderte. Bei allem, was ihm heilig war… „Willkommen in deinem neuen Team, Fujimiya. Begleite mich nach unten, damit ich dir den Rest vorstellen kann“, präsentierte Crawford eben jenes Haifischlächeln, das bei ihren Aufträgen nichts Gutes verhieß, ganz im Gegenteil. ~~**~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)