Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 6: Verkehrte Welt ------------------------- ~~**~~ Der Weg ins Krankenhaus war Aya noch nie leicht gefallen. Die Gerüche und Geräusche des Krankenhauses deprimierten ihn, ebenso wie die Stagnation, die ihn im Zimmer 315 erwarten würde. Am Anfang hatte er noch Hoffnung gehabt, dass sich ihr Zustand bessern würde, jetzt, da sie gute und teure Versorgung genoss und Kritiker ein Auge auf die warf. Doch nach Monaten des Hoffens und Wartens hatte er begriffen, dass die Versorgung überhaupt keine Rolle für den Zustand seiner Schwester spielte, die einfach nicht aufwachen wollte. Natürlich machte ihn das von Zeit zu Zeit wütend auf sie und beinahe wäre Aya an den widerstreitenden Emotionen zugrunde gegangen. Auf der einen Seite liebte er Aya und würde alles für sie tun. Auf der anderen Seite aber gab es Tage, da ertrug er es nicht, sie so friedlich schlafend in ihrem Bett liegen zu sehen, während er seine Hände ihretwegen mehr und mehr mit Blut beschmutzte. Es war eine vollkommen ungerechtfertigte Wut, dessen war er sich wohl bewusst, doch das hielt seine Emotionen nicht davon ab, von Zeit zu Zeit hochzukochen. Nun war einer dieser Tage, an dem er ungerechtfertigt wütend war auf sie, die Umstände, seine Erpressbarkeit, aber auch auf Kritiker und vor allen Dingen auf Birman. Auch wenn der Zorn auf die in keinem Fall und zu keiner Zeit ungerechtfertigt war. Die Wachen an der Tür zu seiner Schwester waren neu und maßen ihn ruhigen Blickes, als er vor ihnen stehen blieb. „Wer sind Sie?“, fragte Aya mit einem Grollen und in dem Bewusstsein, dass er sich die Frage auch hätte sparen können. Nur eine Person würde es wagen, ihn so derart dreist zu bedrohen. „Keine Sorge, Birman schickt uns um auf Ihre Schwester aufzupassen“, erwiderte der kleinere von beiden, ein schmächtiger Mann, dessen Kampferfahrung alleine durch seine Haltung zur Geltung kam. Entspannt ruhten die Hände an seiner Seite, bereit, einzugreifen, wenn es nötig sein sollte. Aya verzog angewidert das Gesicht und ging zwischen den beiden hindurch in das Zimmer seiner Schwester, das wie jede Woche aufgeräumt, hell, sauber und steril vor ihm lag. Nichts hatte sich geändert, bis auf die Farbe der Blumen nichts. Diese Woche waren sie gelb und violett, nicht rot und rosa wie die Woche davor. Quietschend zog sich Aya einen der Stühle zu ihrem Bett und nahm ihre weiche, nachgiebige Hand in die seine. Er verwob ihre Finger miteinander und presste ihre Hände an seine Wange. Unter ihrer Haut fühlte er ihren Puls, der stetig schlug und von ihrem Leben zeugte, wo es doch ihre sonstigen Regungen schon nicht taten. Eingedenk der Männer vor der Tür sparte er sich das belauschbare Gespräch und richtete all das, was er ihr zu sagen hatte, in Gedanken an sie und bat murmelnd um Verzeihung, dass sie seine Stimme nicht hören würde, solange diese Männer aufpassten, was er tat. Vielleicht erzählte er ihr genau deswegen alles, was er erlebt und was er getan hatte. Er erzählte ihr, was Crawford über sie gesagt hatte und dass sie diejenige war, die Crawford – ausgerechnet den Schwarz – vor einem Unglück bewahrt hatte, als Aya sich ihm beinahe aufgezwungen hätte. Er bat sie um Rat und war doch nicht erstaunt, dass er keine Antwort von dem stillen, schlafenden Mädchen mit den langen, schwarzen Zöpfen erhielt. So war er in den vergangenen Jahren immer gewesen und so würde es noch solange sein, bis sie zu ihm zurückkehrte. „Ich liebe dich, Aya“, murmelte er leise. „Egal, wie lange du noch schläfst, ich liebe dich.“ Und wenn das auch bedeutete, dass er sich von Birman und Lasgo ebenso an die Kette legen ließ wie von Kritiker und das Würgehalsband, welches an der Kette hing, enger und enger wurde. Auch wenn das bedeutete, dass sein Leben aller Wahrscheinlichkeit nach eher enden würde als ihres und dass er für die Zeit nach seinem Tod vorsorgen musste. Er liebte sie, denn sie war die Familie, die er noch hatte, nachdem sein Leben in sämtliche Einzelteile zersprungen war und er die Scherben dessen, was er einmal gehabt hatte, nicht mehr kitten konnte. Sie war sein Rettungsanker, damit er nicht verrückt wurde und damit er weitermachte. ~~**~~ Das Erste und Einzige, was er spürte, als er aufwachte, war vollkommene und abrupte Panik, die sich in jede einzelne Zelle seines Körpers und Denkens fraß. Verzweiflung ließ ihn nach Luft schnappen, während Tränen in seinen Augen brannten, sie er nicht zu weinen vermochte. Vor Angst fuhr er hektisch aus dem Bett, weg von der Schlafstätte, weg von diesem widerlichen Ort. Er durfte hier nicht bleiben! Das war fremdes Territorium, nicht sein Zuhause, nicht das, was Sicherheit versprach! Er musste weg, er konnte hier nicht bleiben, er musste weg, bevor er wiederkam! Sonst würde...sonst würde... Er keuchte, atmete schwer, fuhr sich mit der rechten Hand in einem verzweifelten Versuch, sich von den Händen auf seiner Haut zu lösen, über seinen Oberkörper. Was...?! Das Gefühl der Hilflosigkeit verließ ihn nicht, im Gegenteil, es steigerte sich mehr und mehr, gleich wie dem Schmerz, einem tiefgreifenden, seelischen Schmerz. Schluss...aufhören... Er... Schützende Gedankenwälle, die ihn nun umgaben. Mauern aus unsichtbarem Material. ...konnte nicht... Die dafür sorgten, dass alles, sowohl Leid als auch Schmerz nichtig wurden. ...mehr länger... Stille. Mentale, beruhigende Stille. Keine Gedanken konnten seine Fähigkeiten mehr auf sich ziehen. Schuldig atmete tief durch, beruhigte sein klopfendes Herz. Was zur Hölle war das gerade gewesen? Wer schaffte es, so einfach in seinen Geist zu gelangen und ihm dann SOLCHE Erinnerungen hinein zu projizieren? Noch dazu hier, in ihrem abgelegenen Anwesen. Er streckte seine geistigen Fühler weiträumig nach den Spuren dieses Sturmes aus und stellte fest, dass eine Person ganz in seiner Nähe eben diese Wellen ausgesandt hatte, sich anscheinend völlig unbewusst dessen. Wer auch immer es war, erlebte gerade keinen schönen Traum, das konnte Schuldig mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Also wer? Es konnte nur jemand aus ihrem Haushalt sein, so stark wie die Wellen ihn eingenommen und beeinflusst hatten. Farfarello? Die Träume des Iren waren meist geprägt durch Visionen, die ihn erschreckten und in die er sich nie mehr wieder tiefer hineinbegeben würde. Einmal hatte er es gewagt, ja. Und hatte es bitter bereut. Seitdem wagte er sich noch nicht einmal in die Nähe dieser geistigen Aura. Auch oder gerade nicht in seinen Träumen. Farfarello konnte es auch deswegen nicht sein, weil diese Art Verzweiflung untypisch für ihn war. Nagi vielleicht? Der Junge hatte von Zeit zu Zeit brachiale Alpträume, die durchaus in Schuldigs Gabe bluteten und ihn zu Unzeiten aufweckten. Schuldig streckte seine Gabe in Richtung des jungen Telekineten aus. Da war nichts, außer einem äußerst feuchten Traum, der sich um ein Wesen drehte, das äußerst unanständige Dinge mit dem Kleinen tat. Ein männliches Wesen, wie Schuldig nun grinsend feststellte. Leider war er nicht klar definiert geschweige denn konturiert. Es war einfach nur ein gesichtsloser Körper, der Nagi seine Nächte versüßte. Auch wenn es nicht Schuldigs liebste Unterhaltung war, so war es amüsant genug. Beim Frühstück würde es noch viel amüsanter werden, ihren Jüngsten damit aufzuziehen. Schuldig wagte einen Abstecher in die Traumwelt des Iren und fand diesen wach vor. Nicht, dass es dessen Gedankengänge besser oder klarer machte. Angewidert zog sich Schuldig zurück und schauderte. Doch wer blieb dann übrig? Natürlich. Aber von all den Personen, die er in Verdacht hatte, unbewusst die Verbindung zu ihm geöffnet zu haben, war es nun der Letzte, von der er es vermutet hatte. Schuldig runzelte die Stirn, als er Crawford erreichte, oder zumindest das, was von dem Orakel in seinen Traum momentan noch übrig war. Er hatte es nicht für möglich gehalten, aber irgendwie hatte der sonst so reservierte Amerikaner seine Schilde gesenkt, sich mit seinem Geist verbunden und ihm während er schlief, den eigenen Traum, die eigenen Gefühle aufgezwungen. Schuldig stöhnte genervt auf und rieb sich mit beiden Händen durch sein Gesicht, um nun auch den Rest des Schlafes zu vertreiben. Diese Situation, die zum ersten Mal so geschah, reihte sich nahtlos ein in all die Kleinigkeiten, die ihm seit der verdammten, vergangenen Mission an Crawford aufgefallen waren und die ein schiefes Bild ergaben, eben weil sie nicht zu Crawfords sonstigem Wesen passten. Langsam beunruhigte Schuldig die Aneinanderreihung dieser Kleinigkeiten. Er wusste nicht, ob es klug war, dem anderen Mann gerade jetzt einen Besuch abzustatten, nicht nach so einem Alptraum. Doch als er sich erneut an den Geist seines Anführers herantastete, wusste er, dass er mit seiner Vermutung falsch gelegen hatte. Der Alptraum war noch nicht vorbei. Es hatte gerade erst angefangen und Crawford, gefangen zwischen Panik und Verzweiflung, war in keiner Verfassung, klare Gedanken zu fassen, die ihn genau daraus befreiten. Schuldig fluchte. Crawford war seine Privatsphäre über alle Maßen wichtig. Er schätzte es nicht, wenn sein Team seine Räumlichkeiten betrat, schon gar nicht nachts, schon gar nicht ohne seine Erlaubnis und am besten nach dreifach schriftlich eingereichter Antragstellung. Er hatte Schuldig schon mehr als einmal rausgeschmissen, bis der Telepath den Willen des Orakels schlussendlich widerwillig respektiert hatte, weil der Nutzen den Ärger nicht wert war. Jetzt in diesem Moment? Drauf geschissen. Ohne zu fragen, um Erlaubnis zu bitten oder den Antrag einzureichen, betrat Schuldig eben jenes Heiligtum. Weg mit allem Starrsinn, mit dem ihr Anführer seine Räumlichkeiten und sein persönliches Leben verteidigte, er schien nun alles andere in Kontrolle dessen zu sein. Und wie er Recht behielt mit dem, was ihm noch vor ein paar Augenblicken durch den Kopf geschossen war. Er sah Crawford, beschienen alleine durch das Mondlicht und eine kleine, unscheinbare Nachttischlampe, die ihr warmes Licht im Raum verteilte. Der sonst so disziplinierte Mann lag schweißgebadet und augenscheinlich gänzlich in seinem Alptraum gefangen auf seinem Bett. Er warf sich unruhig hin und her, zerwühlte damit Decken und Bettlaken um sich herum, während sein Gesicht zu einer Grimasse des Schmerzes verzerrt war. Doch das war es nicht, was Schuldig nun bewegungslos an Ort und Stelle hielt. Es waren vielmehr die Geräusche, nicht menschlich, panisch, verzweifelt, angsterfüllt, die ihn die Stirn runzeln ließen. Es waren die Arme, welche nun unsichtbare Angreifer abwehrten, versagten, zu einem erneuten Versuch ansetzten. „Crawford?“ Bevor Schuldig sich selbst aufhalten konnte, hatte der Name seines Anführers zögerlich seine Lippen verlassen, besorgter als er es sich eingestehen wollte. Bevor er auch nur überlegt handeln konnte, war er bei ihrem Orakel und hatte ihm vorsichtig die Hand auf eine der zitternden Schultern gelegt. Das Chaos, was daraufhin ausbrach, hatte nicht auf Schuldigs Rechnung gestanden und erwischte den Telepathen vollkommen kalt. Crawford ließ sich nicht durch die Berührung beruhigen und kam auch nicht zu sich. Im Gegenteil. Seine Muskeln zogen sich unkontrolliert zusammen und waren doch beängstigend zielsicher, als er nach seinem Alptraumwidersacher langte, jedoch mit aller Kraft Schuldig traf. Die Wucht dessen warf den Telepathen ungebremst nach hinten, ließ ihn vor Schmerz aufjaulen und sich zusammenkrümmen. Crawford hatte sein Gesicht getroffen, besser gesagt seine Nase, die, so hoffte Schuldig, nicht gebrochen war, allerdings war diese Hoffnung eher von kurzer Dauer. Dieser verfluchte Scheißhellseher! Allerdings war es nicht seine schmerzende Nase, die ihm in diesem Moment die meisten Sorgen bereitete. Die abrupte Steigerung der Panik in Crawfords unzusammenhängenden Gedanken war es. Bilderfetzen, vollkommen undeutlich, Eindrücke eines Schmerzes, der jenseits von Schuldigs Erfahrungsbereich lag, Wut, Hoffnungslosigkeit, Unglauben, alles verschwommen und nicht klar umrissen, eine Masse an chaotischen Emotionen. Das nahm er in sich auf und konnte es doch nicht verwerten, konnte daraus kein klares Bild entwerfen. Alles, was es ihm sagte war, dass er Crawford aus seinem Alptraum lösen musste und das schnell. Dem schnell ansteigenden Puls des Orakels nach zu schließen, war der Mann kurz davor, zu kollabieren und das gründlich wie alles, was ihr Anführer tat. Schuldig rappelte sich auf und versuchte es erneut, doch auch dieses Mal hatte er keinen Erfolg damit. Im Gegenteil. Nun war es weitaus schlimmer. Sich seines Gegenübers nicht bewusst, begnügte sich Crawford nicht mehr damit, einfach nur nach ihm zu schlagen, sondern setzte blind, aber unzweifelhaft mit dem Instinkt eines Killers Schuldig nach und legte seine Hände in einem eisernen Griff um den Hals des Deutschen. Schuldig keuchte erschrocken auf, als er vollkommen abrupt und unvorhersehbar überrumpelt wurde und ihm eiserne Hände die Luftzufuhr abschnürten, während sie ihn auf den Boden pressten. Dabei war Crawford noch nicht einmal wach! Seine Augen waren geschlossen und nur seine Gesichtszüge verrieten, was er im Moment fühlte. Hass. Angstvollen Hass. Schuldig fluchte mental. Gottverdammte Scheiße, er konnte sich nicht befreien! Crawford war zu stark für ihn und an geistige Kontrolle brauchte er erst gar keinen Gedanken zu verschwenden. In all diesem Chaos würde sich kein einziger Strang finden, den er manipulieren konnte. Also griff er zu dem einzigen Mittel, was ihm in dieser Situation noch möglich schien. ~NAOE! Wach auf, ich brauche deine Hilfe! SOFORT!~ Es brauchte qualvoll lange Momente, bis ihr Jüngster auf seinen Hilferuf reagierte. ~Was ist los, Schuldig? Kannst du nicht jemand anderen belästigen?~ ertönte die schläfrige Stimme des Jungen und war bereits wieder dabei, in die süßen Tiefes des Schlafes zu versinken, als Schuldig ihn auf wachere Ebenen zog und recht unsanft dazu brachte, seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn selbst zu richten. ~Fick dich, Kleiner. Ich brauche deine Hilfe und zwar sofort, also beweg deinen faulen Arsch aus dem Bett und hilf…~ Weiter kam er nicht, da seine eigenen Luftreserven einen bedrohlich niedrigen Punkt erreichten. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen und ließen sein ohnehin eingeschränktes Sichtfeld noch weiter schrumpfen. Er stand kurz davor, sein Bewusstsein zu verlieren, wenn ihr Telekinet nicht eingriff. ~Crawfords Zimmer, Nagi...~, brachte Schuldig mit letzter Kraft hervor, bevor sich seine Augen schlossen und er nur noch Crawfords verzweifeltes, schlafwandelndes Gesicht sah, wie es ihn mit allen Mitteln beseitigen wollte, bevor er dunkel wurde. Doch dann lösten sich abrupt die allzu warmen, klammen Finger um seinen Hals, wurden zurückzogen, gleich nachdem Schuldig wie aus weiter Ferne vernahm, dass es wohl Nagi war, der nun seinem Befehl Folge geleistet hatte und ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Bodenlos erleichtert sackte Schuldig in sich zusammen und rutschte an der Wand hinunter auf den Boden. Hustend und röchelnd saugte er die lebensnotwendige Luft in sich hinein und brachte seine widerspenstigen Lungen dazu, ihren Dienst wieder aufzunehmen. Gottverdammte Scheiße, sein Hals schmerzte! „Was ist hier los?“, fragte Nagi sichtlich irritiert, seine grauen Augen ungläubig zusammengezogen. Glaubte Schuldig zumindest von seiner Position auf dem harten Holzboden, dem er röchelnd beinahe seinen Mageninhalt entgegenspuckte, während er erneut hustete. Wütend grollte er ihrem Jüngsten ins Gesicht und deutete auf ihren Anführer, der in dem ganzen Terz ebenfalls zu Boden gegangen war. „Halt ihn unten, Naoe!“ Alleine dieser Satz schien in Crawford etwas auszulösen, was Schuldig nie für möglich gehalten hatte. Zorn, so unkontrolliert und gefährlich, dass der Telepath mit einem Male all seine geistigen Barrieren hochfahren musste, nur um nicht von dieser alles überwältigen Emotion bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Ein stranguliertes Stöhnen entrang sich der Kehle des älteren Mannes, als er sich vergeblich gegen die unsichtbare Kraft wehrte, die ihn gehorsam am Boden hielt, damit er sich nicht weiter verletzten konnte. Crawford wehrte sich so sehr, dass kleine, bläulich schimmernde Adern an seiner Stirn hervortraten. Doch das war es nicht, was Schuldig und auch Nagi erstarren ließen. Das Oberteil seines Oberteils war verrutscht. Im Schein der Nachttischlampe waren vereinzelte Striemen, mehr jedoch die sich stark von der Haut des Orakels abhebenden Pflaster deutlich zu sehen. Die Handgelenke, die nun frei waren, waren umrandet von roten Ringen, unter denen dunkle Hämatome lagen. „Schuldig, was ist hier los? Was SOLL das? Was ist mit ihm?“, brachte Nagi nun brachial verunsichert hervor, mit der Situation klar überfordert. Da war er nicht der Einzige. Niemand hier hatte gerade den Durchblick und das konnte zu nichts Gutem führen. Insbesondere dann nicht, wenn ihr Anführer aufwachte und mitbekam, was sie hier mit ihm anstellten. ~Verdammte Scheiße, ich weiß es nicht~, sandte Schuldig direkt an den jungen Telekineten, zu schwach noch um seiner Wut und seiner eigenen Verwirrung Stimme zu geben. ~Ich bin mit seinen Gefühlen in mir aufgewacht, die aus den Tiefen seines kranken Scheißhirns kamen! Als ich versucht habe, ihn aufzuwecken, ist DAS hier passiert! Und was das da auf seinem Körper zu suchen hat, weiß ich auch nicht! So eine gottverdammte, verfluchte, verfickte Scheiße! ~ Nagi ließ die Tirade des Deutschen in seinen Gedanken zusammenzuckend über sich ergehen und sah stumm zu, wie dieser sich mit Mühe hochkämpfte und unter wortgewandten Flüchen wacklig auf seinen Beinen zu stehen kam. Er wankte hinüber zu Crawford, der auf dem Boden gedrückt immer noch das vollkommene Gegenteil zu ihrem sonstigen, stoischen und kontrollierten Anführer darstellte. Er zitterte und wehrte sich erbittert, beinahe wie ein Tier, gegen die ihn fesselnden, telekinetischen Stränge. Schuldig ließ sich neben ihm auf die Knie fallen, während das Blut aus seiner Nase auf das Shirt des Mannes tropfte. Nochmals tastete er vorsichtig nach den Gedanken des Orakels und sandte seine Gegenwart wie einen Anker, einen rettenden Leuchtturm im tosenden Sturm, aus. Ein Licht in vollkommener Dunkelheit und Verwirrung, in abgrundtiefer Schwärze durchzogen mit dem gleißenden Rot des Schmerzes. ~Brad!~, sandte er bewusst den Vornamen des älteren Mannes in eben dieses Chaos, ließ ihn durch den gesamten Geist streichen. Auf eine Antwort wartete er jedoch vergeblich. Nicht einmal ein Aufbäumen, nichts. Nur Panik über seinen eigenen Satz, über die Worte, die für Schuldig so lebensrettend gewesen waren, Crawford allerdings in ein Stadium des Schocks versetzt hatten, der ihn noch tiefer in den Alptraum getrieben hatte. So eine gottverdammte, verfluchte, ver- Schuldig wusste mit einem Male, dass ihn ein Eindringen in Crawfords Gedankenwelt nichts bringen würde, nicht mit diesen Voraussetzungen. Also würde er es auf die gute, alte Art versuchen. „Wach auf, verdammt!“, schrie er der unruhigen, bewusstlosen Gestalt entgegen und ohrfeigte ihn. Einmal. Es war etwas, das er bisher nur ein einziges Mal gewagt und bitter bereut hatte. Crawford war kein Mensch, der einen Angriff auf seine eigene Person tolerierte, auch von seinen Teamkollegen nicht. Genauso wenig wie er es damals geschätzt hatte, dass Schuldig anstelle nachzugeben versucht hatte, seinen Vorgesetzten zu übertrumpfen, und das mit Gewalt. Das war in ihrer Anfangszeit gewesen, in der sie ihre Grenzen noch nicht eisern abgesteckt hatten. Und nun forderte Schuldig die des Orakels mehr als wagemutig heraus, als er den älteren Mann auch noch zusätzlich am oberen Saum seines Shirts packte und ihn gewaltsam durchschüttelte. „Komm schon! Wach auf! Crawford, du sturer Bastard, du verdammtes Arschloch, WACH SCHON AUF!“ Nichts, es tat sich rein gar nichts! Schuldig wusste nicht, warum ihn genau das so wütend machte. Tatsache war, dass er den Mann in diesem Moment dafür hasste, dass er ihm nicht zu Willen war und sich aus seiner Panik herauslöste. So sah er auch die braunen Augen, welche ihn weit aufgerissen anstarrten, erst, nachdem er dem Orakel erneut mit vollster Wucht ins Gesicht geschlagen hatte, und zusah, wie dessen Kopf unter der Wucht des Schlages zur Seite ruckte und unsanft auf den Teppichboden traf. Ein gedämpftes, raues Aufstöhnen war das Einzige, was in den folgenden Sekunden die Stille des kleines Raumes durchbrach. Das und Schuldigs unregelmäßiges Keuchen, welches sich erst nach und nach zusammen mit seiner Wut abflachte und einem stillen Entsetzen wich. Er...er war wach. Crawford war endlich wach. Die sonst so ruhigen, beherrschten braunen Augen richteten sich nun wutentbrannt auf ihn, nachdem sie sich ein Bild von der Umgebung des Raumes gemacht hatten. Erst danach kamen sie auf Nagi zum Ruhen und taxierten den jungen Telekineten mit einem abschätzenden Blick. Schuldig wusste, was gerade im Kopf des älteren Mannes vor sich ging, wie er versuchte, dieser Situation eine logische Erklärung abzuringen. Anscheinend fand er sich auch. Gefährlich leise erhob er die Stimme und Schuldig stellten sich die Nackenhaare auf. „Lass mich los, Prodigy. Sofort.“ Schuldig brauchte nur einen Blick auf ihren Jüngsten zu werfen um zu wissen, dass dieser dem Befehl ohne ihn zu hinterfragen gehorchte, aus Angst vor einer nun kommenden Strafe. Und die würde folgen, so ungerecht sie auch sein würde, da war sich Schuldig vollkommen sicher. „Alles wieder in Ordnung?“, forderte Schuldig sein Glück nun auch noch wagemutig wie nie zuvor heraus, verlieh seiner Stimme einen nonchalanten Klang. Er würde den Teufel tun und zulassen, dass Crawford seine Wut an Nagi ausließ. Gleichwohl versuchte er durch seine flapsigen Worte, sowohl Crawford als auch Nagi wie auch sich selbst die Nervosität der gesamten Situation zu nehmen, wenngleich er wusste, dass das Gewitter, was nun darauf folgen würde, alles andere als ein Kinderspiel war. Der Blick, der ihn daraufhin traf, versprach ihm mehr als ein solches. „Raus.“ Schuldig blinzelte, brauchte einen Moment, um überhaupt den Sinn des Wortes zu verstehen und sah beinahe gelähmt zu, wie Crawford versuchte, sich hochzukämpfen und seine bis vor kurzem evidente Panik dorthin zu verbannen, wo sie für sein Team nicht erreichbar war. Hinter seine kalte, unnahbare Fassade an Scheiße. „Raus!“ Schuldig hörte mehr als dass er sah, wie Nagi unter einem Peitschenhieb zusammenzuckte. Auch ohne dessen Gedanken zu lesen, konnte er deutlich spüren, welches Maß an Angst dem Telekineten gerade innewohnte. Crawfords Ton war viel zu ruhig, viel zu beherrscht, als dass er nicht von der unterdrückten Wut und Rachsucht des Amerikaners zeugen könnte. Ohne einen Laut beugte sich Nagi Crawfords Befehl und verließ fluchtartig den Raum. Schuldig selbst jedoch konnte das noch nicht. Viel zu viele Fragen schwirrten in seinem Kopf, viel zu viele von ihnen wollten beantwortet werden. Es reichte ihm mit den Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Es reichte ihm mit Crawfords Nicht-Antworten. Es reichte ihm, dass das Orakel seine Aufgabe nicht richtig erfüllte und damit das Team aus dem Gleichgewicht brachte. Es reichte ihm mit den offensichtlichen und versteckten Verletzungen, die das Orakel vor ihnen verbarg. „Crawford, was zur Hölle war das eben?“, brachte er rau hervor und versuchte wider besseren Wissens doch Informationen aus seinem Anführer herauszubekommen. Er scheiterte kolossal schon im Vorfeld an dessen eiskaltem Blick. „Ich sagte raus, Schuldig.“ Immer wieder dieses eine Wort, der rüde Rauswurf ohne auf irgendetwas einzugehen. Was für ein undankbares Stück ihr Anführer doch war. Aber nicht mit ihm. Es reichte. „Weißt du, dass du mich fast umgebracht hättest, Crawford?“, hielt Schuldig zischend dagegen und spie seinem Glück noch einmal ins Gesicht. Einen Versuch hatte er noch, wenn er hartnäckig genug sein würde, konnte er den anderen Mann vielleicht vom Gegenteil überzeugen. Anscheinend war dieser jedoch nicht der Meinung, als er nun mit einem Satz bei Schuldig war und ihm seine geballte Faust noch einmal ins Gesicht trieb. Mit einem überraschten und gepeinigten Laut taumelte Schuldig nach hinten und stürzte haltlos über den kostbaren Glastisch in der Mitte des Raumes, der unter ihm zerbarst und dessen Splitter sich in seine Haut bohrten. „Keiner, KEINER widersetzt sich meinen Befehlen, ohne dafür die Konsequenzen zu tragen, Schuldig. GERADE du nicht“, donnerte Crawford hasserfüllt und ließ Schuldig seine ganze Wut, seinen absoluten Hass spüren, den er bewusst gegen die mentalen Schilde des Telepathen schleuderte und ihn unter deren Einwirkung aufstöhnen ließ. „Wag das noch ein einziges Mal und es wird das Letzte sein, was du machst, das schwöre ich dir!“ Schuldig wollte widersprechen, er war wirklich bereit dafür, sein Leben in diesem Moment auf das Spiel zu setzen für diesen Kampf, doch etwas hielt ihn davon ab. Vielleicht war es der bewusste Gedanke, dass er doch an seinem Leben hing, egal, wie sehr er sich gegen die Dominanz seines Anführers auflehnte. Vielleicht war es auch gerechter Zorn über die Unfähigkeit ihres Orakels, mit ihnen über das zu sprechen, was anscheinend im Raum stand. Vielleicht war es aber auch der Hass auf die Distanz des Mannes, der Nagi viel bedeutete und der Teil ihres Teams war. Wortlos rollte Schuldig sich zur Seite und kämpfte sich von dort aus aufstöhnend und ächzend in die Höhe. Mit wackligen Beinen strebte er die Tür an, die blutigen Lippen eisern verschlossen. Seine linke Hand befasste vorsichtig seine lädierte Nase, während die andere zittrig den Türgriff umfasste. Hasserfüllt donnerte er die Tür hinter sich zu, widerstand dem Drang, es wieder und wieder und wieder zu tun und sich dabei vorzustellen, dass es der Kopf des Orakels wäre, der sich zwischen Tür und Türrahmen befand. Verfluchter Hurensohn!, fauchte Schuldig in Gedanken, veräußerte es jedoch nicht. Das war Brad Crawford wie er lebte. Wenn es jemand wagte, ihm auch nur zu nahe zu kommen, dann… oh ja. Dann! Aber das nächste Mal konnte das Orakel sehen, wie er nach Hause kam, nachdem er dermaßen aufgemischt worden war, dass er Striemen und Fesselspuren davon getragen hatte. Sollte er doch laufen. Er würde ihn nicht abholen. Er. Nicht. ~~**~~ Er konnte sich nicht erinnern, jemals solchen Schmerzen anheimgefallen zu sein. Solcher Panik, solcher Haltlosigkeit, wie sie sich in den vergangenen Momenten in ihm ausgebreitet hatten. Nicht einmal in der kleinen Wohnung in dem Areal hatte der Alptraum ihn so sehr heimgesucht wie das, was gerade passiert war. Kaum fähig dazu, stand Crawford mitten im Raum und atmete tief ein. Seine Knie zitterten, sein Herzschlag hatte sich innerhalb der letzten Minuten um einiges beschleunigt und seine Hände waren nicht mehr in der Lage, seinen Befehlen zu gehorchen. Sie waren noch nicht einmal fähig, sich die vom Schweiß klammen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streifen. Er hatte keine Ahnung, was vor seinem Aufwachen passiert war. Alles, woran er sich erinnerte, war, dass er sich in einem Alptraum befunden hatte, der ihn gelinde gesagt überrollt hätte, hätten ihn nicht Schuldig und Nagi aus den widerlichen, dunklen Erinnerungen geholt. Das wusste er, selbst wenn er die beiden in diesem Moment dafür hasste, was sie getan hatten. Crawford sah an sich herunter, an dem schwachen, ihm nicht gehorchenden Körper, in dem sein Geist gefangen war und dessen Regiment er sich beugen musste. Dieser schwache, verletzte, bedeutungslose Körper, der sich so gar nicht mit seinem Geist zu synchronisieren schien. Doch war das tatsächlich so oder war er selbst nicht in der Lage, mit dem Geschehenen fertig zu werden? War er zu schwach um die Erinnerungen hinter sich zu lassen? Das konnte nicht sein, soweit war sich Crawford im Klaren. Er herrschte noch immer über diese Maschine und trieb sie dazu an, weiter zu funktionieren. Er war nicht schwach, er war kein Opfer, nicht mehr. Nie mehr. Rosenkreuz hatte ihn für die Zukunft ihrer Organisation auserwählt. Er würde den Teufel tun und sich dem Diktat des schwachen Fleisches beugen, das ihm sein Leben zur Hölle machte. Er war stärker als das. Nein, er hatte stärker zu sein, um die Zukunft von Rosenkreuz zu sichern. Unstet nahm er den Weg zu seinem Bett auf und ließ sich zittrig darauf nieder. Unter seinen nackten Sohlen war der Boden wohltuend kühl und erweckte in ihm das Verlangen, sein inneres Fieber zu kurieren, indem er sich zurücklegte auf das kühle Holz. Er kämpfte gegen sich und seine Dämonen, seinen Stolz, bevor er eben jenen Kampf genauso verlor wie er seine Würde unter Lasgo verloren hatte. Langsam glitt Crawford wieder hinunter und legte sich vorsichtig auf den harten Boden vor seinem Bett. Die vom Schlag erhitzte Wange auf das angenehme Holz zu betten war eine hervorragende Idee, während er darauf wartete, dass auch die letzten Traumfetzen seine Gedanken verließen und ihm normales Denken ermöglichten. Vorsichtig streckte er seine Beine aus und entlastete damit seinen in Flammen stehenden Hüftbereich. Schuldig hatte ihn geschlagen. Er hatte es tatsächlich gewagt ihn zu schlagen. Von dem, was davor passiert war, ganz zu schweigen. Auch wenn Crawford nicht er selbst gewesen war, so erinnerte er sich doch noch sehr gut an das bestimmende Halt ihn unten, das wie ein tiefer Riss seine gehetzten Gedanken durchtrennte. Was maß sich Schuldig an, einen derartigen Befehl zu erteilen? Was hatte Schuldig alles mitbekommen, geschweige denn, wie hatte er selbst sich dem Deutschen gegenüber verhalten um diesen dazu zu veranlassen? Egal, was passiert war, eines wusste Crawford genau. Die ganze Situation war erbärmlich. So erbärmlich, dass er nun mit zitternden Fingern nach den unter seinem Bett wohl versteckten Kleidungsstücken langte. Langsam entfaltete er sie vor sich, den Pullover wie auch die Hose. Wieder und wieder strich er über den billigen Stoff und knüllte ihn schließlich unter seinem Kopf zusammen, sodass er den schwachen Duft des Duschgels roch. Fujimiyas Duschgel. Fujimiya, der ihm diese Kleidung gekauft hatte, wo es eigentlich nicht notwendig gewesen war. Bevor er nackt nach Tokyo zurückgekehrt wäre, hätte er weiterhin Lasgos Kleidung getragen, doch nein, Fujimiya hatte neben dem Kaffee auch daran gedacht. Warum das so war, konnte sich Crawford durchaus ausrechnen. Das lächerlich gute Herz des Weiß, das sogar Mitleid mit ihm hatte. Nicht, dass er eben jenes nötig hätte. Crawford schnaubte verächtlich, während er seine Wange sacht über den Stoff rieb, ließ sich auf seltsam beruhigende Weise trösten. Er ließ Hitze und Kälte in seinem Körper miteinander ringen, während er sich voll und ganz auf den Geruch konzentrierte, der ihm ein Gefühl von Stabilität vermittelte. Nach und nach beruhigte er sich, nach und nach gewann er den Kampf gegen die rasenden Schmerzen, die zu einem dumpfen Pochen abgeklungen waren. Was allerdings lange nicht verschwand, waren die ekelerregenden Erinnerungsfetzen seines Traums, der in Wirklichkeit keiner war. Es war passiert. Alles. Jedes noch so kleine Detail. Ruhe, das brauchte er. Gelassenheit. Emotionslosigkeit. Vergessen. In diesem Augenblick zählte nicht die Frage, wie er am nächsten Morgen seinem Team unter die Augen treten oder wie er normal weiterleben sollte, wie es überhaupt von nun an weiterging, sondern ganz einfach der raue Stoff billiger Kleidung auf seiner von Schuldigs Schlägen brennenden Haut sowie der schwache Geruch des Weiß, der ihm ein paar Stunden Schutz vor Lasgo verschafft hatte. Auch wenn er es nicht wagte, seine Augen zu schließen, sich der Dunkelheit hinzugeben und den Blick vom wolkenverhangenen Mond abzuwenden, so fühlte Crawford sich für diesen Moment sicher. Wieder sicher. ~~**~~ Ayas gesamte Körperhaltung war automatisch auf Abwehr programmiert, als die junge Frau die Tür hinter sich schloss und ihn freundlich anlächelte. Eine Spur zu freundlich, zu nett, zu lieb, wie er wusste, denn ihre Absichten waren alles andere als gut. Wie eine hungrige Raubkatze umkreiste sie ihn, um sich schließlich in einem der bequemen Korbsessel ihres Besprechungsraumes niederzulassen und ihn – ihr Beute – zu fixieren. Sie hatte sein Team gegen ihn aufgewiegelt. Sie stellte ihn als Verräter da. Sie missbrauchte seine Liebe zu seiner Schwester. Wut schäumte in ihm hoch, wie so oft, wenn er an sie und Lasgo dachte. An ihren Verrat, an ihre Bösartigkeit. Dennoch beherrschte er sich, schon seiner Schwester zuliebe. Nur seiner Schwester wegen. „Wie geht es dir, Aya?“, lächelte sie allzu freundlich und deutete auf den Platz neben sich. „Ich würde dich am Liebsten in der Luft zerreißen. Und selbst?“, erwiderte er eisig, ging jedoch nicht auf das fordernde Angebot ein. Was immer diese Frau für ein Spiel spielte, er würde sich nicht beugen. Nicht einfach so. „Ich kann nicht klagen. Soweit läuft alles wie geplant.“ Auch, dass du mein Team gegen mich aufwiegelst?, fragte er in Gedanken, behielt diese jedoch für sich. Es wäre nicht klug, ihr erkennen zu geben, dass er mehr wusste. Sie würde es auf Weiß zurückführen und damit würde er seine Freunde in Gefahr bringen. Nein. Noch würde er ihr nicht sagen, dass er Kontakt zu Crawford gehabt hatte und dass der andere Mann auf dem Weg der Besserung war. „Was willst du hier?“ Birman lachte über seinen verächtlichen Ton, wurde dann jedoch abrupt ernst, fixierte ihn mit stechender Abscheu. „Dir deinen nächsten Auftrag bringen, Abyssinian.“ Aya konnte nicht sagen, ob er sich noch mehr anspannte. Er hatte ein schlechtes Gefühl dabei, ein sehr schlechtes. Birmans Drohung bezüglich seiner Schwester hatte er nicht vergessen. Ebenso wenig wie ihren Plan, ihn aus dem Weg zu räumen. „Der da wäre?“, fragte er misstrauisch und verschränkte schon beinahe stur die Arme vor seiner Brust. Nein, er durfte sich keine Angst vor ihr erlauben. Auch nicht vor Lasgo. Vor niemandem, denn Angst war hinderlich. Und sie wusste das, das erkannte Aya. Ob es sie davon abhielt, ihn zu vernichten, stand auf einem anderen Blatt. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und Aya hätte es ihr am Liebsten aus eben jenem geprügelt. „Dein neuer Auftrag? Persers Tod.“ ~~**~~ „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Schuldig fauchte missgestimmt auf die ausdruckslose Frage ihres Jüngsten und zuckte zurück, als dieser mithilfe seiner Kraft seine Nase abtastete. „Tatsächlich nichts gebrochen“, klang er so erstaunt, dass Schuldig sich dazu genötigt fühlte, gleich ein zweites Mal sein Missfallen auszudrücken. „Natürlich nicht, das Orakel schlägt zu wie ein Blag.“ Sie wussten beide, dass das nicht der Wahrheit entsprach, ebenso wie sie beide wussten, dass Schuldig diese Art der Kompensation gerade brauchte um nicht zurück zu Crawford zu gehen und ihm die Abreibung seines Lebens zu verpassen. Oder es zumindest zu versuchen und grandios daran zu scheitern. Die Besorgnis, die er in den Gedanken wie auch auf dem Gesicht des Telekineten las, hielt ihn davon ab. Auch wenn er wütend grollte, als dieser ihm nun die ersten Glassplitter aus der Haut zog, die sich bei seinem unrühmlichen Sturz dort hineingebohrt hatten. Kläglich zuckte er zusammen, als ein besonders großer Splitter an ihm vorbeischwirrte. „Es verwirrt mich genau wie dich, was da geschehen ist, das kannst du mir glauben.“ Er hörte den Jüngeren hinter seinem Rücken schnauben. Eine abfällige, typische Geste, mit welcher dieser seine Privatsphäre schützte. Schuldig respektierte eben jene, zumeist. Manchmal. Also grundsätzlich schon. Wenn ihr Küken nun wirklich in Ruhe gelassen werden wollte, dann schon. Der letzte Splitter verließ seinen Rücken, während Nagi ihn dank seiner Kräfte nun auch noch heilte und seine Wunden verschloss. Mit Präzisionsarbeit ließ er die winzig kleinen Moleküle und Zellen wie durch ein Wunder zusammenwachsen. Manchmal beneidete Schuldig den Telekineten wirklich um diese Kraft. Wie immer war er jedoch dankbar für diese Art der Kunst, was er den Jungen auch spüren ließ. Alleine schon, um dessen Selbstbewusstsein zu füttern, das insbesondere nach Crawfords rüdem Rauswurf am Boden lag… oder sechs Fuß darunter, je nachdem, wie man es sehen wollte. ~Du hast einen gut hierfür, okay, Kleiner?~, adressierte Schuldig direkt an Nagi und streckte sich schließlich wohlig. Bis auf ein minimales Ziepen war nichts mehr von ihrem nächtlichen Gefecht übriggeblieben. Nachdenklich verzogen sich die jungen Gesichtszüge, die sonst eher reaktionsarm waren. Nagi beschäftigte das, was er gesehen hatte. Es machte ihm Angst, dass er Crawford so gesehen hatte. Es machte ihm Angst, derart starke Emotionen zu sehen. „Was denkst du, was passiert ist, Schuldig?“, fragte er unsicher. Schuldig wandte sich um und sah Nagi direkt in die grauen, aufgewühlten Augen. „So wie er aussieht und sich verhält? Gefoltert vermutlich.“ Schuldig verstummte für einen Moment. Crawford…gefoltert. Es hinterließ einen schalen Geschmack in seinem Mund. Rosenkreuz hatte sicherlich diese Lücke in der Gabe ihres Anführers schon überprüft und den Grund gefunden, warum es überhaupt soweit kommen konnte. Dennoch fragte sich Schuldig nach dem Grund. Nicht, dass er jemals eine Antwort bekommen würde, vermutete er. Trotzdem. Crawford war nicht fehlerhaft. Nichts, was das Orakel tat, war zum Scheitern verdammt, eben weil er alles sah, was wichtig für sie und ihre Bestimmung war. Deswegen führt er dieses Team. Deswegen hatte Rosenkreuz ihn zum Leiter der Operation Japan gemacht. Nicht zuletzt wurde er deswegen als Kronprinz für die Nachfolge von Leonard gehandelt. Die Spuren an seinen Handgelenken und auf seinem Oberkörper sprachen da eine andere Sprache und zwar eine sehr deutliche. Schuldig hatte noch nie derartige Verletzungen an ihrem Anführer gesehen und das machte es bitter. Das machte es unmöglich. Ihr Orakel war unantastbar. Nagi dachte das Gleiche wie er auch und ließ seinen Blick dabei ins Leere schweifen. Er ähnelte dabei beängstigend dem Orakel selbst. In fünf bis sechs Jahren wäre das vielleicht noch mehr der Fall als zu diesem Zeitpunkt. In ihrer Starrköpfigkeit, ihrer äußeren Arroganz, in ihrem Verhalten war es aber bereits jetzt schon. Natürlich... Nagi eignete sich wie jeder Jugendliche gewissen Manieren seiner Respektsperson an, kleine Gesten, Dinge, die vorgelebt wurden, all dies. „Wie kann das sein? Wie kann ihm jemand so nahekommen? Wie kann ihm jemand das antun?“, spie Nagi schließlich die gleichen Fragen aus, die auch Schuldig sich nur Sekunden vorher gestellt hatte und auf die es aber vermutlich keine Antworten außer der, dass sie das nichts anging, geben würde. Schuldig schnaubte innerlich. Nichts anging…dass er nicht lachte. Und ob sie das etwas anging, wenn ihr Anführer sie durch seine Träume nachts aufweckte und nicht mehr er selbst war. „Ich weiß es nicht, Kleiner. Und ich glaube auch nicht, dass wir jemals schlauer werden, was das angeht.“ „Meinst du, es hat ihn schlimm getroffen?“ Es war, als hätte ihr Jüngster den Begriff Sorge quasi breit und leuchtend auf seiner Stirn stehen. Zuviel Sorge für Crawford Geschmack, wie es sich vorhin gezeigt hatte. „Ich denke nicht...und zur Sicherheit können wir ja noch einmal unser Leben riskieren und uns vergewissern. Oder wir warten, bis er von selbst mit uns darüber spricht. Was von beidem scheint dir erfolgversprechender?“, troff Schuldigs Stimme nur so vor ungerechtem Zynismus, den er aber dann wieder wettmachte, als er Nagis niedergeschlagenen Gesichtsausdruck sah. Ihr Jüngster hatte das nicht verdient. Wirklich nicht. Wortlos wuschelte er ihm durch die Haare. ~Du könntest dir die Kameraaufnahmen beschaffen, damit wir Klarheit bekommen?~, schlug Schuldig parallel dazu mental vor und erntete ein – ebenso mentales – Schnauben. ~Hänge ich an meinem Leben?~, fragte er ebenso ironisch zurück. ~Von alleine wird er nicht sagen, was ihm zu schaffen macht.~ ~Er wird es vorhersehen und mich dafür bestrafen. Nein danke, Schuldig.~ Nagi mochte Recht haben mit dem, was er sagte. Vielleicht aber auch bestand die Möglichkeit, dass Crawfords Gabe nicht ganz so zuverlässig arbeitete wie vorher. ~~**~~ Wie ein Besessener schlug Aya auf den Baum ein, der sich ihm stumm und robust als Wutableiter zur Verfügung stellte. Genau wusste er nicht, wann er hierher gefahren war, wann er sich in sein Auto gesetzt hatte und durch die Straßen gerast war, auf der verzweifelten Suche nach Ablenkung. Nach einer Möglichkeit, seinen Hass auf etwas, JEMANDEN, projizieren zu können. Was… WAS…. in aller Welt nahm sich diese Frau heraus, ihm das Leben so zur Hölle zu machen? Ihn als ein solches Instrument ihrer Macht zu missbrauchen? Was gab ihr das Recht, ihm das Leben zur Hölle zu machen, ihn SO zu hintergehen? Perser so zu hintergehen, wie es schlimmer nicht ging? Sein Katana riss den hölzernen Stamm in splitternde Stücke, ebenso wie es seine Stimme mit der Luft tat. Er schrie, schrie seinen Schmerz und seinen Zorn hinaus in den stillen Wald. Wie hatte das alles nur so schieflaufen können? Wie hatte er sich jemals so viel Ärger einhandeln können? Das Leben seiner Schwester, nein mehr als das, stand auf dem Spiel. Auch sein Leben, doch das kümmerte ihn nicht. Er wollte, dass Aya lebte, dass sie eine glückliche Zukunft hatte. Er wollte, dass der anscheinend nicht involvierte Perser lebte, um weiterhin für die Gerechtigkeit zu sorgen, die Polizei und Staatsanwaltschaft nicht geben konnten. Und genau das wurde ihm nun durch Birman genommen. Der Frau, die ihn so betrogen hatte, wie es schlimmer nicht ging. Nur weil er sich dagegen ausgesprochen hatte, Crawford ebenso menschenunwürdig zu behandeln wie sie selbst auch! NUR deswegen! Er konnte das nicht, hatte es nicht tun können und würde es auch in Zukunft nicht tun. Es ging einfach nicht. Er konnte nicht nach ihren Regeln spielen, er konnte ihr nicht zu Gefallen sein und diese Selbstmordmission auf sich nehmen, denn genau das war es. Er würde dem nicht lebend entkommen, das konnte er auch jetzt schon sagen und genau das war ihr Plan. Sein Tod. Und selbst wenn er lebend entkam, dann klebte das Blut Persers an seinen Händen. Das konnte er nicht. Sein Katana rutschte ab, ließ ihn sein mühsam aufrecht erhaltenes Gleichgewicht verlieren und zu Boden taumeln, der sich hart und spitz in seine Knie bohrte. Aya hieb mit der Klinge auf den Boden ein, wieder und wieder und wieder. Es war noch nicht genug. Die Wut war immer noch zu groß, zu übermächtig, als dass er an seine Arbeit zurückkehren oder auch nur daran denken konnte, seinem Team unter die Augen zu treten und all das hier vor ihnen zu verschweigen. Es ging nicht. Er würde Youji alles sagen, ihm jedes kleine Detail unterbreiten. Genau das mochte auch der Grund sein, warum er die Mission abgelehnt hatte, die sie in der kommenden Nacht hatten und zu der ihn Birman so süffisant eingeladen hatte. Er brauchte die Zeit um sich einen Notfallplan zu überlegen. Aya lächelte bitter. Was war der Ausweg aus dem Ganzen hier? Drei Wochen…drei Wochen und er musste diesen Auftrag erfüllt haben, sonst starb seine Schwester. Das waren die Konditionen, aus denen es für ihn kein Entrinnen gab. Er konnte nichts dagegen tun, wirklich rein gar nichts. Ungeweinte, zornige Tränen ließen seinen Blick an Schärfe verlieren. Es gab doch sonst IMMER einen Ausweg, wieso also jetzt nicht? Wo war der Lichtblick, an dem er sich festhalten konnte? Was würde er darum geben, wenn Birman nun hier unter ihm läge, wenn er sie würgte, ihr den letzten Funken Leben aus dem zuckenden Körper pressen und ihr nachher das falsche, schwarze Herz herausreißen könnte. Frustriert grollte er. Niemand würde ihm zum jetzigen Zeitpunkt helfen können. Weiß allen voran auf keinen Fall, dafür waren sie in zu großer Gefahr. Er konnte sie nicht mit hineinziehen und ihre Existenzen für sein privates Glück aufs Spiel setzen. Allerdings... Ayas Augen weiteten sich, als er selbst nicht glauben konnte, was er gerade gewagt hatte, in Erwägung zu ziehen. Er hatte sich geschworen, sich von niemandem an die Kette legen zu lassen und sich nicht noch einem Herrn zu beugen. Er hatte geschworen, eine bestimmte Grenze nicht zu überschreiten, wenn es darum ging, der guten Sache zu dienen. Wenn es aber darum ging, seiner Sache zu dienen und seine Schwester zu schützen, so fragte sich Aya, ob er seine Grenze nicht herabsenken musste. Die Ketten, mit Hilfe derer an ihm gezerrt wurde, wurden kürzer und würgender. Er sah keinen Unterschied mehr zwischen gut und böse, was daran liegen mochte, dass es keinen mehr gab. Die klare Trennung zwischen schwarz und weiß war aufgehoben zu einem dunklen, aschfahlen Grau. Was also machte es da für einen Unterschied, ob er sich von einem widerlichen Miststück erpressen ließ oder ob er einen Hellseher um einen Gefallen bat? Keinen. Es machte keinen. Weil seine Schwester verdient hatte zu leben. Weil Perser es verdient hatte. Weil Weiß es verdient hatte. Daher machte es keinen Unterschied. Nicht mehr. ~~**~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)