A New Life von Lady_Red-Herb ================================================================================ Kapitel 6: Between Life And Death --------------------------------- Chris stand vor Piers‘ Wohnungstür, klingelte und wartete ab, klingelte noch einmal, noch einmal… Dann rief er nach dem Jüngeren, flehte ihn an, die Tür zu öffnen, dass es ihm leidtat, dass sie noch einmal über alles reden sollten… Nichts. Vermutlich war Piers gar nicht zu Hause, vermutlich war ihm klar gewesen, dass Chris zu ihm kommen würde. Oder aber er war da und wollte seinem Captain nur einfach nicht aufmachen. Vielleicht hätte der nicht so klar sagen sollen, dass er es war, der vor der Tür stand. Aber das hatte Piers sich vermutlich eh gedacht. Seufzend blickte Chris auf den Blumenstrauß in seiner Hand hinab und ließ den Kopf hängen. Was, wenn Piers nicht zu Hause war? Was, wenn ihm auf dem Weg irgendetwas passiert war? Sollte er zurück ins Krankenhaus und nachfragen lassen, ob jemand ihn gesehen hatte? Sollte er hier warten? Sollte er Piers‘ Heimweg selber absuchen? Chris wusste wirklich nicht, was er nun tun sollte, und irgendwie hatte er mit einem Mal ein ganz ungutes Gefühl. Obwohl er nach wie vor keine Antwort erwartete, klingelte er noch einmal, rief wieder nach Piers und kramte in seiner Tasche. Als Chris vor einer guten halben Woche aus China zurückgekommen war, hatte man direkt Piers‘ Spind leergeräumt und ihm, als seinem Captain und engsten Freund hier, die Sachen in die Hand gedrückt, zusammen natürlich mit Piers‘ zweiten Wohnungsschlüssel. Der Plan hatte vorgesehen, dass Chris, wenn es ihm selber besser ging, sich dorthin begab und sich um das Ausräumen kümmerte, damit die Wohnung komplett geräumt und neu zum Verkauf angeboten werden konnte. Man verlor eben keine Zeit. Sentimentalitäten spielten keine Rolle, und Piers hatte, soweit Chris wusste, keinerlei Verwandte, zumindest keine, zu denen er irgendwie Kontakt hatte. „Naja, ist ja kein Einbruch, wenn man den Schlüssel hat oder?“, murmelte der Soldat vor sich hin, zuckte mit den Schultern und steckte den Schlüssel ins Schloss. Nichts passierte. Der Schlüssel ließ sich nicht ganz reinstecken und auch nicht drehen. Das hieß, dass Piers zu Hause war und sein anderer Schlüssel von innen steckte. „Also will er mich einfach nicht reinlassen oder was?“, murrte Chris und begann erneut, mehrmals an der Tür zu klingeln und Piers‘ Namen zu rufen. Ein Wunder, dass bisher noch keiner der Nachbarn aus seiner Wohnung gekommen war, um sich über diesen Lärm zu beschweren. Aber selbst nach fast zehn Minuten Dauerklingeln hatte Chris noch immer keine Antwort erhalten, und das ungute Gefühl in seiner Magengegend war noch stärker geworden. Mittlerweile hätte Piers eigentlich längst an der Tür sein müssen, und sei es nur, um seinem Captain zu sagen, dass er sich endlich verziehen sollte. Aber dass so gar keine Reaktion kam… Selbst unter der Dusche hätte er das Klingeln und Rufen hören müssen. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. „Okay, dann eben auf die harte Tour. Geht ja nicht anders, und ich tu das nur, weil ich mir verdammte Sorgen mache“, murmelte sich Chris selber zu, atmete tief durch, nahm Anlauf und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Diese gab erschreckend schnell nach, und der Brünette stolperte halb in die Wohnung, erlangte sein Gleichgewicht wieder und erstarrte mitten in der Bewegung. Da hatte er den Grund, weshalb Piers ihm nicht die Tür geöffnet hatte. Der Scharfschütze lag mitten im Wohnzimmer auf dem Boden, auf der Seite, der Tür den Rücken zugedreht, und rührte sich nicht. „Ich hab’s befürchtet, verdammt…“, knurrte Chris, eilte auf den Jüngeren zu, ließ die Blumen achtlos neben sich auf den Boden fallen und sich selber neben Piers in die Hocke sinken. Vorsichtig rüttelte er an seiner Schulter und drehte ihn auf den Rücken, als er keine Reaktion erhielt. Der junge Soldat atmete schwer und langsam, aber wenigstens atmete er überhaupt, schien aber bewusstlos zu sein. Seine Wangen waren leicht gerötet, und Schweiß stand auf seiner fieberheißen Stirn. Chris war nicht sonderlich verwundert, Piers in einem solchen Zustand vorzufinden, und am liebsten hätte er ihn jetzt einfach wieder zurück ins Krankenhaus gebracht, aber er tat es nicht. Der Scharfschütze war schon wütend genug gewesen, und das würde sich nicht bessern, wenn er erwachte und sich erneut im Krankenhaus wiederfand. Chris würde sich nun selber um ihn kümmern, und nur wenn es wirklich nicht anders ging, würde er ihn doch zurückbringen. Also hob der Captain seinen besten Mann erst einmal auf die Arme und trug ihn rüber in dessen Schlafzimmer, wo er ihn vorsichtig auf dem Bett ablegte und etwas zudeckte. Fieber sollte man ausschwitzen, das war das Beste. Dann verschwand Chris kurz im Bad, machte einen Waschlappen nass, kramte in den Schränken nach fiebersenkenden Mitteln, und kam dann wieder zurück, zusätzlich noch mit einem Glas Leitungswasser. Die Tablette löste er im Wasser auf, das Tuch legte er auf Piers‘ Stirn, stellte dann aus irgendeinem Grund noch die mitgebrachten Blumen in eine Vase, und anschließend setzte er sich zu dem Bewusstlosen ans Bett, auf den Boden, die Arme auf die Bettkante gelehnt und Piers nachdenklich betrachtend. Nun konnte er nur warten, bis der Jüngere wieder zu sich kam. Es dauerte gute fünf Stunden, bis der junge Soldat erste Regungen zeigte. Ein leises Stöhnen war zu hören, dann flatterten Piers‘ Lider, öffneten sich kurz, fielen wieder zu, öffneten sich erneut, und schließlich schaffte Piers es, die Augen offen zu halten, und er blickte müde an die Decke hoch, vernahm leise Geräusche und drehte den Kopf in deren Richtung. Der Scharfschütze erblickte Chris, der dort saß, auf dem Boden sitzend, Kopf und Oberkörper auf dem Bett abgelegt. Der Ältere schien zu schlafen, zumindest hatte er die Augen geschlossen und atmete ruhig. Kurz überlegte Piers, ob er seinen Captain wecken sollte, entschied sich jedoch dagegen und setzte sich stattdessen vorsichtig auf, wobei ihm der Waschlappen in den Schoß fiel. „Was zum…?“, murmelte Piers leise und nahm den Lappen in die Hand. Langsam erinnerte er sich wieder, was passiert war. Chris hatte ihm die Abfuhr seines Lebens verpasst, und so hatte Piers sich selber aus dem Krankenhaus entlassen. Es hatte etwas an Überzeugungskraft gekostet, doch er hatte die Ärzte schließlich davon überzeugen können, dass es ihm gut genug ging, und er hatte versprochen, sofort zu kommen, wenn doch etwas war. Sie hatten ihn dann tatsächlich gehen lassen, wenn auch etwas zögernd. Vom Virus war keine Spur mehr zu bemerken gewesen, und so sahen die Ärzte und Wissenschaftler wohl auch kein sonderlich großes Risiko darin, Piers‘ Bitte nachzugeben. Aber offenbar war er doch nicht ganz so fit gewesen, wie er gedacht hatte. Er hatte es bis zu seiner Wohnung geschafft, bis ins Wohnzimmer, das wusste Piers noch, doch da war ihm irgendwie schwindelig geworden, und er musste zusammengebrochen sein. Aber wie kam Chris hier her? Warum war er überhaupt hier? Was wollte er hier? Der Captain hatte Piers ja deutlich klar gemacht, was er von dessen Gefühlen hielt, und dass er sie in keinster Weise erwiderte. Klar, ein wenig sanfter war er zum Schluss in seiner Wortwahl geworden, Piers war ihm eindeutig nicht egal, aber trotzdem. Chris hatte dem Jüngeren einen Schlag in den Magen verpasst, als er dessen Gefühle eiskalt als widerlich bezeichnet hatte. Der junge Soldat hätte damit leben können, hätte Chris einfach gesagt, dass er diese Gefühle nicht erwiderte, aber dass er so reagieren würde, damit hätte er im Leben nicht gerechnet. Er schien den Älteren vollkommen falsch eingeschätzt zu haben. Aber es änderte nichts. Nichts daran, was Piers für ihn empfand. Auch jetzt, als er ihn so da sitzen sah, schlafend, einen zufriedenen und entspannten Ausdruck auf dem Gesicht. Piers wünschte sich in diesem Moment so sehr, er hätte nichts gesagt und seine Gefühle für sich behalten. Dann wäre da immer noch diese Ungewissheit gewesen, ob er jemals eine Chance haben würde, aber zumindest wäre sein Herz dann jetzt nicht so dermaßen gebrochen. Aber als Chris ihn so angesehen hatte, mit all dem Schmerz und den Selbstzweifeln im Gesicht, da hatte er einfach nicht anders gekonnt. Er hatte die Wahrheit sagen müssen, dem Captain klarmachen, was er empfand, wieso er das alles wirklich getan hatte. Wie hatte Piers ahnen können, dass eine solche Reaktion kommen würde? Irgendwie passte das so ganz und gar nicht zu Chris. Und jetzt, da er etwas Ruhe hatte und noch einmal richtig über all das nachdenken konnte, fiel ihm ein, wie Chris sich im Grunde selber widersprochen hatte. Nicht zwingend in seinen Worten, sondern vielmehr in seinen Handlungen, seinen Blicken. Die Kälte, die der Ältere zu Beginn an den Tag gelegt hatte, war so schnell verschwunden, und er hatte Piers einen Großteil des Gesprächs nicht einmal angesehen. Und der Scharfschütze bezweifelte mittlerweile, dass das an diesem angeblichen Ekel vor dem Schwulsein gelegen hatte. Nein, irgendetwas stimmte da nicht. Und auch Chris‘ Worte… sie waren im Laufe des Gesprächs leiser geworden, sanfter, hatten verzweifelter geklungen, und am Ende hatte er einfach nur gewollt, dass Piers dablieb, dass er nicht einfach ging, dass er in Sicherheit war und sich erholte. Aber vermutlich interpretierte der junge Soldat da irgendetwas hinein. Chris hatte es ja selber gesagt: Nur weil er seine Gefühle nicht erwiderte, hieß das nicht, dass Piers ihm egal war. Er hatte Schuldgefühle, Piers‘ vermeintliches Opfer hatte ihm einen herben Schlag verpasst. Und dem Jüngeren waren auch die Tränen nicht entgangen, die sich nach seinem Erwachen in Chris‘ Augen gesammelt hatten. Aber genau das war es, was Piers nicht verstand. Auf der einen Seite benahm sich Chris, als hätte er die Liebe seines Lebens wieder, auf der anderen tat er so, als widerte ihn Piers‘ Schwulsein an. Dann wirkte er einen Moment lang kalt wie Eis, und im nächsten versuchte er dann ganz offensichtlich, sich auf seine eigene Art und Weise für diese Kälte zu entschuldigen. Was sollte das alles? Warum benahm Chris sich so seltsam? Piers schüttelte den Kopf und griff sich leicht an diesen. Irgendwie wurde ihm schwindelig und sogar ein wenig übel. Und das Gefühl der Übelkeit wurde stärker und stärker. Der junge Soldat hielt sich kurz eine Hand vor den Mund und atmete innerlich auf, als er sich nicht einfach übergeben musste. Aber das konnte noch immer passieren, und er wollte das nicht unbedingt hier tun, wenn es dazu kam. Sollte er Chris vielleicht doch wecken? Nein, egal, wie sehr der Ältere ihm das Herz gebrochen hatte, er hatte sich ein wenig Ruhe verdient. Sicherlich waren die letzten Tage auch für ihn nicht leicht gewesen, von den letzten Monaten mal ganz zu schweigen. Also atmete der Scharfschütze ein paar Mal tief durch und stand dann langsam und vorsichtig auf, um seinen Captain nicht doch noch aus Versehen zu wecken. Eine ganz dumme Idee war das gewesen, wie Piers erschreckend schnell feststellte. Kaum, dass er stand, wurde das Schwindelgefühl stärker, und der gesamte Raum begann, sich um Piers herum zu drehen. Er stützte sich an der Wand ab, schloss die Augen und versuchte, tief durchzuatmen, was ihm aber irgendwie nicht gelang. Ihm wurde immer heißer, das Blut rauschte in seinem Kopf, und ein stechender Schmerz begann, sich durch seinen ganzen Körper zu ziehen. Was passierte hier mit ihm? Das war doch keine Erkältung oder Grippe oder so, und das konnte nur eines bedeuten… Das Virus war immer noch da. Piers biss die Zähne zusammen, rang nach Luft und ließ sich an der Wand zu Boden sinken. Okay, jetzt brauchte er Chris‘ Hilfe wohl doch, er konnte sich selber kaum noch bewegen, alles tat einfach nur weh, und jeder Atemzug fühlte sich an, als steckten Rasierklingen in seiner Lunge. „Chris…“, versuchte er zu rufen, aber Piers‘ Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er hustete etwas, versuchte, sich zu räuspern und dann noch einmal nach seinem Captain zu rufen. Etwas lauter schaffte er es dieses Mal, und tatsächlich regte der Ältere sich leicht, murrte leise und öffnete die Augen. „Piers, ist alles…“ Chris erstarrte und stockte mitten im Satz, als der junge Soldat nicht mehr im Bett lag. „Piers?!“, schrie er nun richtig entsetzt und sprang regelrecht auf, sah sich panisch um, und vernahm erneut die leise und schwache Stimme des Jüngeren, die nur ein gekeuchtes „Hier, Captain…“ zustande brachte. Chris drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und mit einem Satz war er bei Piers, als er diesen entdeckt hatte. Der Jüngere sah alles andere als gut aus. Wieder stand Schweiß auf seiner Stirn, seine Lippen waren blau, und seine Versuche, irgendwie nach Luft zu schnappen, schienen nach und nach schwächer und erfolgloser zu werden. Der rechte Arm des jungen Soldaten war nach wie vor unmutiert, aber es legte sich eine leichte Schicht aus dem seltsamen Material um ihn, wie es ihnen bei den Kokons aufgefallen war, aus denen einige der J‘avos geschlüpft waren, und zu denen auch ihr restliches Team in Edonia geworden war, nachdem Ada, wie Chris zu diesem Zeitpunkt noch dachte, sie alle in eine Falle gelockt hatte. Und auch über Piers‘ rechte Gesichtshälfte schien sich wieder ein Teil dieser Masse zu legen, auch, wenn sie hier weniger fest und eher schleimig wirkte. Es ähnelte seinem Anblick, als er mutiert gewesen war, nur nicht ganz so schlimm und mit dem Unterschied, dass zumindest sein Auge dieses Mal unversehrt blieb. Aber das war irgendwie nur ein schwacher Trost, wenn man sich den Scharfschützen mal so ansah, nach Luft schnappend wie ein sterbender Fisch an Land, der Blick getrübt und mittlerweile ohne Erkennen, als er ein wenig zu Chris aufsah. Was passierte hier? War das Virus doch noch vorhanden? Hatte es sich nur irgendwie… zurückgezogen, um sie in Sicherheit zu wiegen? Oder war es zuvor einfach zu schwach gewesen, um bemerkt zu werden, und hatte nun an Stärke gewonnen? Aber ganz egal, was auch der Grund war, fest stand, dass Chris sich nun definitiv nicht mehr selbst um seinen Soldaten kümmern konnte. Piers musste zurück zum Krankenhaus der B.S.A.A., und das so schnell wie möglich. Also zog der Captain sein Handy aus der Tasche, wählte die erste Nummer, die ihm in der Situation in ddn Sinn kam, die von Rebecca, und rief die Jüngere an. Sie würde sich schon darum kümmern, dass man ihnen einen Krankenwagen kommen ließ. Während Chris nun darauf wartete, dass Rebecca ranging, legte er eine Hand an Piers‘ Stirn und biss sich leicht auf die Lippen, während er versuchte, den Jüngeren zum Wachbleiben zu bewegen. Er war nicht gut darin, Temperaturen zu schätzen, aber es war ganz klar, dass Piers‘ Fieber viel zu hoch war, dass er in diesem Zustand nicht mehr lange durchhalten würde. „Komm schon, geh ran… Geh ran, verdammt noch mal!“, knurrte Chris verzweifelt, und er atmete innerlich auf, als es kurz in der Leitung knackte und sich Rebeccas Stimme schließlich meldete. Der Brünette ließ sie aber gar nicht erst wirklich zu Wort kommen und wies sie stattdessen sofort an, unverzüglich einen Krankenwagen zu Piers‘ Wohnung zu schicken. Und dass es am besten war, wenn sie oder ein anderer Wissenschaftler diesen Krankenwagen begleitete. Chris nahm sich nicht die Zeit, alles genau zu erklären und sagte der Jüngeren deshalb nur, dass Piers hohes Fieber hatte und sich das Virus wieder regte. Und dass sie sich gefälligst beeilen sollte, weil er nicht wusste, wie lange der Scharfschütze noch durchhalten würde. Nachdem Chris sich hatte versichern lassen, dass Rebecca sich beeilte, so gut sie konnte, legte er auf, ließ das Handy einfach achtlos fallen und wandte sich wieder dem Jüngeren zu, der aufgehört hatte, so angestrengt nach Luft zu ringen, und nun einfach nur noch regungslos dasaß, die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite geneigt, alle Spannung schien aus seinem Körper gewichen zu sein. „Piers…?“ Chris‘ Stimme zitterte merklich, als er den jungen Soldaten ansprach, wieder eine Hand ausstreckte und sanft über seine Wange strich. Sie war glühend heiß, und als Chris‘ Hand ein wenig zu Piers‘ Lippen wanderte, bildete sich ein dicker Kloß in seinem Hals. „Nicht doch“, hauchte er, schüttelte den Kopf und versuchte, Ruhe zu bewahren. Er musste jetzt professionell handeln und durfte sich nicht, wie so oft, von seinen Gefühlen übermannen lassen. Noch lebte Piers, noch war ein schwacher Puls zu spüren, und somit war noch nichts verloren. Aber der Scharfschütze atmete nicht mehr, und so musste Chris das für ihn übernehmen und versuchen, ihn wieder dazu zu bringen. Also atmete der Captain einmal tief durch, dann zog er Piers etwas von der Wand weg und legte ihn vorsichtig auf dem Boden ab. Kopf überstreckt, Lippen geöffnet, Atemwege überprüft, Nase zugehalten, zwei Beatmungen. Chris hatte den Blick auf Piers‘ Brustkorb gerichtet, und da dieser sich durch die Atemspende brav hob und senkte, ließ Chris zwei weitere Beatmungen folgen. Kurz wartete er, und als keine Reaktion kam, machte er weiter, wieder und wieder, nur mit kurzen Pausen, in denen er prüfte, ob Piers vielleicht wieder aus eigener Kraft Luft holte. Aber das tat er nicht. Und als der Captain in der Ferne die sich nähernden Sirenen des Krankenwagen hörte, machte er erneut eine kurze Pause, drückte die Finger gegen Piers‘ Hals, und der Kloß in seinem eigenen wurde größer, als er nichts mehr spüren konnte. Piers starb, er starb, und Chris begann, am ganzen Körper zu zittern, kaum noch in der Lage, irgendwie Ruhe zu bewahren. Aber das musste er, er konnte diesen jungen Mann nicht sterben lassen. Er wollte sich doch noch entschuldigen, wollte ihm sagen, was er wirklich empfand, dass er wusste, wie dumm er gewesen war, und dass er sich das alles selber niemals verzeihen würde. „Scheiße…“, flüsterte der Brünette, und seine Stimme zitterte, ebenso wie sein Körper. Er blinzelte die Tränen weg, die sich schon wieder in seinen Augen bilden wollten, und blendete alles aus, alle Ängste, die sich in seinem Kopf breit machten, alle Bilder, die sich vor seinem inneren Auge abspielen wollten. Er schob Piers' Shirt, das dieser trug, so weit nach oben wie möglich, und platzierte seine Hände übereinander an der richtigen Stelle auf dem nun freigelegten Brustkorb. 30 Herzmassagen, zwei Beatmungen, dann das Gleiche wieder. Kurz warten, Puls und Atmung prüfen, eine weitere Runde. 30:2, 30:2, 30:2… "Komm schon, atme endlich..." 30:2, 30:2... "Wach auf, tu mir das nicht an, verdammt nochmal...!" Ein verzweifelter Faustschlag auf die Brust, dann machte er weiter... 30:2, 30:2, 30:2, 30:2... "Piers!!!" 30:2, 30:2... Kurz legte er den Kopf auf Piers' Brust, lauschte... Nichts... 30:2, 30:2, 30:2... Ein Klingeln an der Tür ließ Chris aufzucken. 30... „Ist offen!" Nur eine knappe, abwesende Antwort, er hatte keine Zeit für mehr, musste weitermachen... weiter... und weiter... 30:2, 30:2, 30:2, 3... Starke aber sanfte Hände zogen den Captain von Piers weg, unterbrachen ihn in seinem monotonen Tun, und der Besitzer dieser Hände nahm seinen Platz ein, gemeinsam mit einer weiteren Person, um nun zusammen Chris‘ Versuche fortzuführen... Und von diesem Moment an bekam er kaum noch etwas mit. Er hörte gedämpft Rebeccas Stimme, verstand aber nicht einmal, was sie sagte, und es kümmerte ihn auch gar nicht. War doch egal, was sie sagte, was änderte das an der momentanen Situation? Nichts. Also konnte sie doch genau so gut einfach die Klappe halten oder? Der Captain ging auch gar nicht auf die Jüngere ein, nicht einmal, als diese ihn etwas schüttelte und ihre Stimme lauter wurde. Was wollte sie denn? Konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Ohne es wirklich zu merken, schüttelte Chris Rebeccas Hände ab und blickte zu den beiden Ärzten, die Piers auf eine Trage verfrachtet hatten, um ihn aus der Wohnung zu tragen. Sie versuchten immer noch, ihn zu reanimieren, und Chris‘ Hoffnung begann, sich in Luft aufzulösen. Nach allem, was geschehen war, nach allem, was Piers überstanden hatte, nachdem Jake ihn extra stundenlang durch die Gegend geschoben hatte, würde er nun sterben, weil er, Chris, wieder einmal versagt hatte. Ganz automatisch trugen seine Füße ihn zur Wohnungstür, zum Krankenwagen und hinten in diesen hinein, wo er sich auf eine der Bänke sinken ließ, ohne das alles wirklich zu registrieren. Die Ärzte hatten Piers' Shirt nun aufgeschnitten und ihn an einige Geräte angeschlossen, und das durchdringende Piepen brannte sich in Chris‘ Kopf. Einige Momente lang war eine Unterbrechung zu hören, schnell, viel zu schnell, dann ein ganz leichtes Zucken, das durch Piers‘ Körper ging, als ihm ein Schock verpasst wurde, und anschließend wieder das gleiche durchgehende Piepen von zuvor. Zwei Mal ging das noch so während der Fahrt, und am Ende war da wieder nur dieses schrille Piepgeräusch, das Chris‘ Verstand aber kaum noch erreichte. Er funktionierte einfach nur noch wie eine Maschine. Der Wagen hielt an, die Trage wurde rausgeschoben, und der Soldat stieg wie mechanisch aus und folgte den Männern, den Weg entlang, durch die Tür, in die Notaufnahme… Und erst als ihm hier eine große Doppeltür vor der Nase zugeschlagen wurde, kam Chris wieder richtig zu sich. Er starrte die Tür an, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, überhaupt etwas zu tun. Wieder griffen sanfte Arme nach ihm, dieses Mal aber mit weniger Kraft, und es waren kleinere, zartere Hände. Rebecca hatte ihn sanft am Arm gepackt und zog ihn zu einer Bank, auf die sie ihn drückte. „Gib die Hoffnung nicht auf, Chris. Piers ist stark. Er hat bisher überlebt, er wird sich jetzt nicht unterkriegen lassen“, murmelte sie leise, aber dem Älteren entging nicht, wie sehr sie sich anstrengen musste, um noch irgendwie echte Hoffnung in ihre Stimme zu legen. Aber zumindest schaffte sie es, und das hieß, dass sie ebendiese Hoffnung noch nicht vollkommen aufgegeben hatte. Und auch Chris wollte weiterhin hoffen, wollte Piers nicht aufgeben, nicht nach alledem. Er hatte dem Scharfschützen noch so viel zu sagen, so viel zu gestehen, da durfte Piers jetzt einfach nicht sterben, er durfte es nicht. Chris verbot es ihm, als sein Captain. Aber er wusste auch, dass Piers gut darin war, nicht auf ihn zu hören... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)