Stroboskoplicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 2: Konfrontation ------------------------ Zeitliche Einordnung: Wenige Tage nach dem letzten Kapitel von Raupe im Neonlicht. Silvester ist vorbei und die Weihnachtsferien bei Jonas‘ Eltern neigen sich ebenfalls ihrem Ende entgegen.   Konfrontation Schneeflocken wirbelten vor den Fenstern, im Ofen knackten Holzscheite und der Duft nach Plätzchen lag in der Luft. Innerlich seufzend fragte sich Erik zum wiederholten Mal, wie zur Hölle er in diese Situation geraten war. Verstohlen schielte er über seine Schulter, in der Hoffnung einen Blick auf Jonas und den restlichen Teil der Familie, der sich dem Kampf gegen die Geschirrberge verschrieben hatte zu erhaschen. Wie gerne wäre er bei ihnen. Verkrustetes Pastinakenpüree aus einem Topf zu kratzen klang bedeutend entspannter als … was auch immer er hier gerade tat. Zugegeben, die Feiertage waren deutlich harmonischer verlaufen als befürchtet. In den Wochen nachdem er sich hatte breitschlagen lassen, Jonas über Weihnachten zu seinen Eltern zu begleiten war er ein Horrorszenario nach dem anderen durchgegangen und anfänglich hatte es so ausgesehen, als würde sich jedes einzelne davon bewahrheiten. Aber irgendwie hatten Jonas und seine Mutter die Kurve gekriegt. Halbwegs, zumindest. Das bedeutete allerdings nicht, dass Erik besonders erpicht darauf war, Zeit mit Monika Staginsky zu verbringen. Vor allem dann, wenn sich der Rest der Familie in der Küche verschanzte. „Sie müssen mich für eine grauenhafte Mutter halten.“ Frau Staginskys leise Stimme schnitt durch Eriks festessenbetäubtes Gehirn. Er wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so sehr um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht hatte. Möglicherweise nie. „Das würde ich so nicht sagen.“ „Aber Sie denken es.“ In Ordnung, offensichtlich gab es keinen einfachen Weg an diesem Gespräch vorbei. Erik war sich ohnehin nicht sicher, ob er das wollte. Er musterte Frau Staginsky. Klein, mit einem Körperbau, der von jahrelanger harter Arbeit sprach, zahlreichen Lachfalten und ersten grauen Strähnen im Haar, stellte sie das Ebenbild strenger Mutterliebe dar. Ihre Lippen teilte sie mit Christine und ihre Nasenflügel flatterten bei Aufregung wie Vronis, aber wenn er in ihre Augen blickte, sah er Jonas. Dunkle Wärme, die ihn an Kaminfeuer und heiße Schokolade erinnerte. „Ich halte Sie nicht für eine schlechte Mutter.“ Bevor sie mehr als ein verächtliches Schnauben erwidern konnte, fuhr er fort. „Jonas ist einer der wundervollsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Er ist herzlich, gutmütig und neigt dazu, sich mehr um das Wohl anderer als sein eigenes zu sorgen. Natürlich braucht man nicht unbedingt ein liebevolles Elternhaus, um ein guter Mensch zu werden, aber ich sehe dieselben Eigenschaften bei jedem einzelnen hier im Haus.“ Unbemerkt von Erik schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Außerdem bewundere ich Jonas für seinen Mut, Menschen nah an sich heranzulassen. Darauf zu vertrauen, nicht von ihnen verletzt zu werden.“ Bewundern war ein Wort, beneiden vielleicht das treffendere, aber Erik musste Frau Staginsky nicht alles auf die Nase binden. „Ich denke, das lernt man nur, wenn dieses Vertrauen nie tief erschüttert wurde. Also nein, ich glaube nicht, dass Sie und Ihr Mann schlechte Eltern sind.“ „Vertrauen kann ausgenutzt werden“, presste Frau Staginsky zwischen schmalen Lippen hervor. Erik erkannte einen Giftpfeil, wenn er ihm ins Herz geschossen wurde. Er rang seinen ersten Instinkt – aufspringen und weglaufen – nieder, schlug stattdessen die Beine übereinander und holte einmal tief Luft. „Denken Sie, dass ich das tue? Jonas‘ ausnutzen, meine ich.“ „Vielleicht nicht bewusst, aber ja, so wie ich die Situation einschätze, stellen Sie Ihr eigenes Wohl über das meines Sohnes.“ „Was bringt Sie auf den Gedanken?“ Frau Staginsky schwieg eine ganze Weile. Auf ihrem Gesicht jagte eine Emotion die nächste, keine davon besonders freundlich. „Ich glaube Ihnen, dass Jonas Ihnen viel bedeutet. Am Anfang nicht, das gebe ich offen zu, aber ich bin bereit, diese Einschätzung zu revidieren.“ Erik merkte, dass er begonnen hatte an seinem Hemdsärmel zu zupfen und zwang sich aufzuhören. „Trotzdem wird Ihr Lebenswandel Jonas auf Dauer nicht glücklich machen. Ein Leben in der Großstadt, hunderte Kilometer von seiner Familie entfernt, keine Chance, jemals eigene Kinder zu haben. Das ist nicht Jonas. So gut kenne ich meinen Sohn. Und wenn wir ganz ehrlich sind, dann glaube ich, dass Sie das auch wissen. Im Moment sind Sie nur zu egoistisch, um sich das ihm und Ihnen selbst gegenüber einzugestehen.“ Jetzt war es an Erik, zu schweigen. In seinem Inneren fochten Verstand und Emotionen einen Kampf aus, seine Erwiderung in die richtigen Worte zu pressen. Frau Staginsky lag nicht falsch. Genaugenommen hatte sie eine seiner größten Ängste ausgesprochen. Allerdings war er durchaus bereit, das zuzugeben. Nur nicht ihr gegenüber. Nicht gegenüber der Frau, die den Mut ihres Sohns mit Kontaktabbruch beantwortet hatte. Gegenüber der Frau, derentwegen Jonas‘ sonst so allgegenwärtiges Lächeln erloschen war. Und die ganze Zeit hatte Erik tatenlos zusehen müssen, unfähig, die Liebe zu spenden, nach der sich Jonas am meisten sehnte. Er bezweifelte, ihr das jemals vergeben zu können, selbst wenn Jonas die Stärke dazu fand. „Ich könnte Ihnen jetzt versichern, dass ich Jonas bei dem wenigsten, das Sie gerade genannt haben im Weg stehen werde. Nicht, wenn er von Berlin weg will. Nicht, wenn er näher hierher oder tatsächlich aufs Land ziehen möchte.“ Erik zählte die einzelnen Punkte an seinen Fingern auf. „An der Kinderthematik kann ich leider nichts ändern, das liegt außerhalb meines Einflussbereichs.“ Worüber er sich nur allzu bewusst war, egal, wie sehr Jonas ihn bat die Hoffnung nicht aufzugeben. „Aber das ändert nichts für Sie, oder?“ Röte legte sich auf Frau Staginskys Wangen. Noch etwas, das sie ihrem Sohn vermacht hatte. „Was soll das heißen?“ „Nehmen wir an, Jonas beschließt, nach seinem Studium – oder noch früher, wenn Ihnen diese Vorstellung leichter fällt – zurück nach Bayern zu ziehen. Nach München, oder sogar ins Nachbardorf.“ Beides Optionen, die sie in den vergangenen Tagen besprochen hatten. „Jedenfalls in die Nähe seiner Familie. Mit einem Job, der ihn glücklich macht. Und mir.“ Frau Staginskys kurzfristig aufgeflammtes Lächeln fiel in sich zusammen. Ganz so, wie Erik erwartet hatte. „Sehen Sie? Das meinte ich. Ihnen geht es nicht um das Glück Ihres Sohnes. Oder nicht nur. Ihnen geht es um das Bild, das Sie von ihm und sich selbst haben. Von Ihrer Familie.“ „Das ist nicht wahr! Solange Jonas glücklich ist …“ Aber sie beendete den Satz nicht. Erik setzte sich gerade auf, die Hände auf den Knien seiner überschlagenen Beine gefaltet. Eine Körperhaltung, die von vielen als feminin wahrgenommen wurde und möglicherweise nur eine weitere Provokation seinerseits. Ein Teil von ihm hoffte inständig, nicht gerade die zarten Bande, die Jonas mit seiner Mutter geknüpft hatte endgültig zu zerschlagen. Ein anderer hatte es satt, jemandem Respekt zu erweisen, der nicht dieselbe Höflichkeit zeigte. „Ich halte Sie nicht für eine schlechte Mutter“, wiederholte er. „Aber hier geht es nicht um Sie. Es geht auch nicht um mich.“ Frau Staginsky schloss ihren zu einer Erwiderung geöffneten Mund wieder. „Ich weiß nicht, ob Jonas für immer sein Leben mit mir teilen möchte. Ich hoffe es, aber Garantie habe ich keine. Vielleicht wird er mich eines Tages verlassen. Vielleicht werden unsere Leben einfach so auseinanderdriften. Vielleicht lernt er jemanden kennen, der ihm mehr bieten kann als ich.“ Erik versuchte diese Gedanken nicht zu nahe an sich heranzulassen. „Ich weiß nicht, was unsere Zukunft bringt. Ich weiß aber, dass Sie ihn mit Ihrer Ablehnung jeden Tag ein wenig mehr verletzen. Wie lange Sie das noch so weiterlaufen lassen wollen und ob Sie wirklich bereit sind, das Risiko einzugehen ihn irgendwann ganz zu verlieren, ist Ihre Entscheidung.“ Einen Moment lang war er sich sicher, aus dem Haus verwiesen zu werden. Dieser Moment zog sich. Erik hatte schon den Mund zu einer, nun ja, vielleicht keiner Entschuldigung, aber doch Abmilderung seiner Worte geöffnet, als Jonas das Wohnzimmer betrat. Ein bunt gemustertes Geschirrtuch in der Hand, brauchte er nur einen Sekundenbruchteil, um die angespannte Stimmung zu erfassen und zu entscheiden, sie zu ignorieren. „Hey.“ Er lächelte, als wäre der Anblick seiner Mutter und Erik im selben Raum das Schönste, das er je hatte erleben dürfen. „Sorry fürs Wartenlassen. War ‘n echter Tellerberg. Ähm, sollen wir’s dann für heute packen?“ Erik nickte stumm. Nur zu bereitwillig nahm er die ausgestreckte Hand, sprichwörtlich wie buchstäblich, entgegen und stellte sich an Jonas‘ Seite. Jonas richtete sein strahlendes Lächeln auf seine Mutter. „Wenn ihr heut schon so aufgekocht habt, will ich nich‘ wissen, was es morgen gibt. Fühlt sich echt schräg an, dass das dann schon unser letzter Abend hier is‘. Ging echt sch–total schnell rum, die Zeit.“ Vermutlich war er der einzige, der das so empfand. Erik wusste nicht, wie er Frau Staginskys Gesichtsausdruck deuten sollte, schickte jedoch vorsorglich ein Stoßgebet zum Himmel, nicht auf den letzten Metern alles versaut zu haben. Notlagen schienen selbst den überzeugtesten Atheisten temporär zum Glauben zurückführen zu können. „Da werdet ihr euch schon überraschen lassen müssen.“ Für den Fall, dass Erik den Plural überhört hatte, fixierte Frau Staginsky ihn mit ihrem eisernen Blick. „Ich behaupte aber mal, niemand wird enttäuscht sein.“ Ihr Lächeln ließ einiges an Jonas‘ Freude und Offenheit vermissen, doch es wirkte echt. „Fahrt nicht zu schnell, auch wenn die Strecke kurz ist. Die Straßen sind glatt. Und schlaft gut. Wir sehen uns morgen.“   Autorenkommi: Lange, lange hat es gedauert. Ihr habt hoffentlich in der Zwischenzeit nicht alles vergessen :D Ich hatte mit einem mittelschweren Fall von Schreibblockade zu kämpfen und bin mit nichts so wirklich vorwärtsgekommen. Aber: Es geht wieder voran und ich hoffe, auch hier häufiger ein Kapitel liefern zu können. Ein schönes Wochenende euch allen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)