Stroboskoplicht von Noxxyde ================================================================================ Kapitel 1: Perspektivwechsel ---------------------------- Perspektivwechsel – RiN 1 Erik stützte die Ellbogen auf den Tresen und die Stirn auf seine Hände. Kopfschmerz pochte gegen seine Schläfen und er verfluchte sich dafür, auf seinen Mittagsschlaf verzichtet zu haben, um sich auf diese verdammte Nachholklausur vorzubereiten. Ihm war klar, dass er sie bestehen würde, so kompliziert war der Stoff auch wieder nicht, aber wann immer er mehr als fünf Minuten für etwas anderes vergeudete, setzte sein Herz zu einem Sprint an. Nichts Neues, diese Prüfungsangst begleitete ihn seit Jahren, damit umgehen konnte er dummerweise bis heute nicht. Warum hatte er die Hauptklausur überhaupt sausen lassen? Ach ja, wegen der Hoffnung, in ein paar Wochen würde es im Club ruhiger zugehen und er sich nicht mehr konstant zwischen Arbeit und Studium aufreiben. Überraschung, das war nicht der Fall. Zu allem Übel musste er jetzt auch noch eine zuverlässige Mitarbeiterin ersetzen, die über die vorlesungsfreie Zeit einen besseren Job gefunden hatte. Er gönnte es ihr von Herzen, allerdings nur dann, wenn er sie nicht gerade dafür auf den Mond schießen wollte. So wie jetzt. Wäre Tanja geblieben, hätte ihm das die heutigen Vorstellungsgespräche erspart, die bisher ein kurioses Sammelsurium an Ärgernissen und Zeitverschwendungen darstellten. Im Moment wartete er seit über zehn Minuten auf den nächsten Bewerber. Zehn Minuten, in denen er sich eine Kopfschmerztablette hätte holen können. Zehn Minuten, die der Ladenschluss und damit die Gefahr eines weiterhin leeren Kühlschranks näher rückten. Zehn Minuten, in denen er schlafen, oder essen, oder arbeiten, oder lernen hätte können. Die Eingangstür des Clubs öffnete und schloss sich, Schuhe quietschten auf dem PVC-Boden. Offenbar hatte sich der Bewerber entschieden, doch noch aufzutauchen. Erik setzte sich gerade hin und überflog die auf seinem Tablet geöffnete E-Mail. Jonas Staginsky stand in der Signatur. Davon abgesehen waren die enthaltenen Informationen spärlich. Alter, Adresse, die Uni, an der Staginsky studierte, dazu eine knapp formulierte Bitte um einen Job. Immerhin mit halbwegs höflicher Ausdrucksweise und ohne Tippfehler. Das genügte, um ein Vorstellungsgespräch zu ergattern. Genaugenommen hatte Erik von allen Bewerbern des heutigen Tags die größte Hoffnung in Staginsky gesetzt, aber eine fünfzehnminütige Verspätung war alles andere als ein guter Einstieg. Es war zwar keine Katastrophe, wenn sowas mal bei einer Schicht passierte – Erik hatte lange aufgegeben absolute Pünktlichkeit von Mitarbeitern zu verlangen, die nebenbei ihr restliches Leben jonglierten und erfahrungsmäßig nach wenigen Monaten ohnehin in einem anderen Job arbeiteten – aber bei Wiederholung ärgerlich für jeden, der derweil entsprechend zusätzliche Arbeit leisten musste. Oder nicht dazu kam eine Schmerztablette zu schlucken, obwohl ihm das Hirn aus den Ohren klettern wollte. „Ähm, hi.“ Der E-Mail zufolge war Staginsky gerade zwanzig geworden, aber seine Unsicherheit und der Hall des Raums ließen ihn jünger klingen. Auch die nur zögerlich näherkommenden Schritte zeugten nicht unbedingt von Selbstbewusstsein.   Erik ermahnte sich, sich zusammenzureißen. Staginsky zu bestrafen, nur weil ihn dieser eine geschlagene Viertelstunde hatte warten lassen war alles andere als professionell. Auch, wenn die Verspätung wohl bedeutete den Abend mit Kopfschmerzen zu verbringen und ohne die Nussschnecken, die es nur in dieser einen Bäckerei gab, die pünktlich um zwanzig Uhr ihre Pforten schloss. Sein Blick huschte zur Zeitanzeige im unteren Eck des Tablets. Noch zwanzig Minuten. Wenn er das Gespräch aufs Nötigste beschränkte, ging es sich vielleicht aus. Dann sollte er allerdings langsam anfangen. „Jonas Staginsky, nehme ich an?“ „Japp.“ „Setzen Sie sich.“ Erik deutete auf den Hocker zu seiner Rechten. „Sie sind zu spät.“ „Sorry, hab meinen Bus verpasst.“ Innerlich verdrehte Erik die Augen. Lügen konnte der Kerl schonmal nicht. Ausgehend von der Adresse, die Staginsky angegeben hatte wohnte er keine fünf Gehminuten vom Tix entfernt und selbst, wenn er von woanders gekommen war, fuhren die Busse um diese Zeit noch im Fünfminutentakt. Stau hätte Erik ihm abgekauft, aber bei fünfzehn Minuten Verspätung hätte Staginsky mehr als einen Bus verpassen müssen. Egal. Es brachte nichts, sich an solchen Kleinigkeiten aufzuhängen. „Schon gut. Sie sind sowieso der letzte Kandidat für heute.“ Der Hocker neben Erik schrappte über den Boden, als Staginsky ihn ein Stück wegrückte, um sich zu setzen. Erik überflog derweil erneut die kurze E-Mail, die er von Staginsky erhalten hatte, darauf bedacht, ihn nicht anzusehen, solange er nicht absolut sicher sein konnte, dass sich sein Unmut nicht länger auf seinem Gesicht zeigte. „Mein Name ist Erik Kolb“, stellte er sich nebenbei vor. „Ich bin der kaufmännische Leiter dieses Clubs.“ „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Na, wenn das mal nicht auswendiggelernt geklungen hatte. Nun siegte doch die Neugierde und Erik nahm Staginsky zum ersten Mal in Augenschein. Süß. Das mochte ein eher unpassender Gedanke für ein Vorstellungsgespräch sein, war aber blöderweise trotzdem der erste, der ihm durch den Kopf schoss. Große Augen, dichte Wimpern und Wangen, so rot, dass nicht einmal die schummrige Clubbeleuchtung sie verbarg. Dazu dieses jugendliche Getue, das vermutlich haufenweise Unsicherheiten verdeckte. Einfach süß eben, allerdings bemitleidete Erik jeden, der sich in Staginskys Bann ziehen ließ. Dieser Junge roch nach Chaos. Zeit, zu seinem eigentlichen Job zurückzukehren. Obwohl die optische Einschätzung der zukünftigen Servicekräfte durchaus ein Teil davon war – attraktive Bedienungen zogen Kundschaft an – ging es sicher nicht darum, Staginsky auf seine Beziehungstauglichkeit zu analysieren. „Sie wollen also hier an der Bar arbeiten?“ „An der Bar, an der Garderobe, als Reinigungskraft. Was auch immer mir hilft, die Miete zu zahlen.“ Sieh einer an, Staginsky konnte ja doch ehrlich sein. Erik kämpfte gegen das Lächeln, das an seinen Mundwinkeln zupfte und rettete sich in Sarkasmus. „Ah, das überzeugt mich natürlich von Ihrer Motivation für den Job.“ „Ich kann Ihnen auch vorschwärmen wie erfüllend ich es finde, jeden Abend Betrunkene noch betrunkener zu machen, bis sie auf die Tanzfläche kotzen. Is‘ dann Ihre Sache, ob Sie mir das abkaufen.“ Nicht lachen. Nicht lachen. Nicht lachen! Ein rascher Blick zu Staginsky verriet Erik, dass diesen seine patzige Antwort wesentlich mehr schockierte als Erik. Er sah aus, als hätte er die Worte am liebsten mit den Händen eingefangen und zurück in seinen Mund gestopft. Mit Mühe verkniff sich Erik ein Schmunzeln und fragte stattdessen betont trocken: „Haben Sie Erfahrung im Gastgewerbe?“ Augenscheinlich erleichtert, nicht sofort vor die Tür gesetzt zu werden, gab sich Staginsky ungewohnt friedfertig. „Meine Eltern haben ‘ne Wirtschaft. Ich kellnere, seit ich ‘ne Halbe tragen kann.“ „Hier in Berlin?“ „Nee, bin erst vor ein paar Wochen fürs Studium hergezogen.“ „Verstehe. Sie studieren …“, dem Anschein zuliebe widmete sich Erik Staginskys E-Mail, obwohl er deren Inhalt inzwischen auswendig kannte, „… an der Universität der Künste?“ „Japp.“ „Hm. Standen Sie auch schon mal hinter einer Bar?“ „Nee, jedenfalls nix, was mit dem Club hier vergleichbar wäre. Wir haben natürlich auch Alk ausgeschenkt, aber halt mehr für gutbürgerliche Stammtische und so.“ Erik mochte Staginskys Offenheit, dummerweise half sie ihm nicht den Job zu ergattern. „Wie sind Sie auf die Stelle hier gekommen? Wir haben sie nicht öffentlich ausgeschrieben.“ „Über die Freundin einer Freundin.“ Staginsky klang verlegen, als fürchtete er, Ärger dafür zu bekommen. „Im Moment jobbe ich in ‘nem Café, aber ich würd lieber nachts arbeiten.“ „Hm …“ Erik revidierte seinen ersten Eindruck. Er mochte Staginsky und konnte ihn sich gut in ihrem Team vorstellen. Allerdings fehlte es ihm an Erfahrung in diesem Bereich und er wäre weiß Gott nicht der erste, der nach ein paar Schichten merkte, dass tagsüber studieren und nachts arbeiten mehr Kraft verlangte als er aufbrachte. Erik zog das Tablet, das er eben erst zur Seite gelegt hatte wieder zu sich und rief die Excelübersicht der bisherigen Bewerber auf. „Ich setze Sie mal auf die Liste für die engere Auswahl. Wenn alle Gespräche durch sind, melden wir uns nochmal bei Ihnen.“ „Das war’s schon?“ Staginskys Stimme schwankte zwischen Unmut und Enttäuschung. „Sagen Sie doch gleich, dass Sie mich nich‘ nehmen.“ Erik bemühte sich, kein schlechtes Gewissen aufkommen zu lassen und scheiterte. Still verabschiedete er sich von den Nussschnecken, denn alles in ihm weigerte sich, jemanden so früh in den Regen zurückzuschicken, der es geschafft hatte ihn ein paar Minuten von der anstehenden Klausur und seinen Kopfschmerzen abzulenken. Also ratterte er seine beste Erklärung herab, weshalb Staginsky die Hoffnung auf einen Job hinter der Bar noch nicht aufgeben sollte – ‚Wir haben hier eine hohe Fluktuation, blabla‘ – und fragte sich, ob er damit ihn oder sich selbst überzeugen wollte. „Wir können uns noch den hinteren Bereich ansehen“, bot er am Ende an, „und ich erzähle Ihnen ein bisschen was über die Stelle. Dann wissen Sie schon mal, was auf Sie zukommt, falls wir Sie nehmen.“ Gehorsam folgte Staginsky Erik in den Personalbereich. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen fand er Gefallen am Aufenthaltsraum der Mitarbeiter und während sein Blick über Hocker, Garderobe und Kaffeemaschine schweifte, nutzte Erik die Gelegenheit ihn nochmal im Licht der Halogenlampen zu mustern. Staginsky war schlaksig und hatte vermutlich pünktlich zum Eintritt ins Erwachsenenleben noch einige Zentimeter an Höhe hinzugewonnen, womit er Erik immerhin bis zu den Augenbrauen reichte. Außerdem schien er sich noch nicht an den Undercut gewöhnt zu haben, der lediglich einen Schopf seines dunklen Haars in der Mitte ließ. Immer wieder wanderte seine Hand zu seinen Schläfen, als wollte sie an einer Strähne zwirbeln und sank herab, nachdem sie ins Leere gegriffen hatte. Seine Kleidung – schwarzer Hoodie mit buntem Muster, Skinny Jeans und Boots – komplettierten den Eindruck eines jungen Mannes, der versuchte, seinen Weg im Leben zu finden, ohne dabei ausgetrampelten Pfaden zu folgen. Nur, um dabei in die Spuren Hunderter vor ihm zu treten, die demselben Ziel nachgejagt waren. Staginskys Augen waren allerdings etwas Besonderes, das musste sich Erik eingestehen. Groß und dunkel, mit dichten Wimpern und einem Ausdruck irgendwo zwischen jugendlicher Naivität, Lebensfreude und Herzlichkeit. Der letzte Mann, der Erik so angeblickt hatte hatte sich binnen kürzester Zeit in sein Herz gefressen. Erik schob den Gedanken beiseite. Viele Männer hatten schöne Augen und er sollte sich weiß Gott zusammenreißen, weil all das absolut nichts bei einem Vorstellungsgespräch zu suchen hatte. Er öffnete die Tür neben dem Lastenaufzug. „Gleich hier ist der Lagerraum.“ Kalte Luft schlug ihnen entgegen und Staginsky stieg vorsichtig die für ihn ungewohnten Stufen herab. Am Treppenende sah er sich um, wirkte allerdings nicht übermäßig beeindruckt. Kein Wunder. Seine Familie besaß ein Restaurant, da war ein mit Lebensmitteln gefüllter Keller vermutlich kein besonders neuer Anblick. Die Brauen zu einem V zusammengezogen drehte er sich zu Erik. „Wie stehen meine Chancen, die Stelle zu bekommen? Also keine Warteliste und so ‘n Schei–“, er räusperte sich, „Schrott, bei dem ihr euch dann irgendwann meldet, wenn ich längst mitm Studium fertig bin.“ „Ganz ehrlich?“ Erik wägte ab, wie direkt er sein wollte. Dass auch ihm die Antwort nicht gefiel, ließ ihn eine weitere Sekunde zögern, bevor er mit der Wahrheit rausrückte. „Ihre Referenzen sind nicht schlecht, aber wir suchen im Moment nur eine Kraft und es gibt zwei oder drei Bewerber, die deutlich mehr Erfahrung speziell in diesem Bereich mitbringen. Allzu große Hoffnungen sollten Sie sich nicht machen.“ Das war offensichtlich nicht das, was Staginsky hatte hören wollen. Sein Mund verzog sich zu einem stillen Fluch und seine in den Hosentaschen steckenden Hände ballten sich zu Fäusten. Aber die Explosion, die Erik erwartet hatte blieb aus. Staginsky qualmte lediglich einen Moment still vor sich hin, dann glätteten sich seine Züge zu stummer Resignation. Erik entschied, ihm ein Fenster zu öffnen, durch das er sich vermutlich nicht würde zwängen können, das aber vielleicht die verschlossene Tür ein wenig leichter verdaulich machte. „Die endgültige Entscheidung liegt allerdings nicht bei mir, sondern bei der Besitzerin.“ Das entlockte Staginsky tatsächlich ein Grinsen. „Scheiße, da hätte ich mir meinen ganzen Charme ja sparen können.“ Nun schmunzelte auch Erik. So frech gefiel ihm Staginsky gleich viel besser. „Mein Glück, dass Sie es nicht getan haben.“ Staginsky stockte. Offenbar hatte Erik ihn aus dem Konzept gebracht, doch bevor er sich fragen konnte, ob er gerade eine Grenze überschritten hatte, die er keinesfalls hätte überschreiten dürfen, erwiderte Staginsky: „Sie nutzen mir aber nix!“ Erleichtert stellte Erik fest, dass da immer noch ein Lächeln auf Staginskys Lippen lag. „Ah, ein Opportunist. Schade für mich.“ Zeit, das Gespräch zu beenden, oder er lief ernsthaft Gefahr, sich in einen kleinen Flirt zu verrennen. Er trat einen Schritt zur Seite und gab die Treppe frei. „Ich lege dennoch ein gutes Wort für Sie ein.“ Nachdem die Clubtür hinter Staginsky zugefallen war, erlaubte sich Erik ein Seufzen. Noch nie hatte er sich während eines Vorstellungsgesprächs so unprofessionell verhalten. Mit dem festen Entschluss, so etwas nie wieder vorkommen zu lassen, kehrte er in sein Büro zurück und druckte die Anschreiben der heutigen Bewerber aus, um sie auf den Schreibtisch seiner Chefin zu legen. Sie alle wanderten auf den Absagestapel, nur bei Staginsky zögerte Erik. Schließlich packte er ihn zu den beiden Bewerbern vom Vortag, die er in die engere Auswahl genommen hatte und versah das Schreiben mit einer Notiz: Erfahrung im Restaurantbetrieb, aber nicht in Nachtclubs. Kam 15 Minuten zu spät. Wirkt offen, freundlich und würde vermutlich gut ins Team passen. Selten war er so froh gewesen, eine Entscheidung seiner Chefin überlassen zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)