End of Time Anthologie von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Besuch um Mitternacht Teil I --------------------------------------- Gut 48 Stunden nach dem Bombenanschlag auf das Pierre-Hotel räumt Bürgermeister Geoffrey Whinesteen Unstimmigkeiten mit der Veranstalterin Yadis abin Nahela ein. Auf die Frage, ob ein Dissens zwischen ihm und Nahela bestehe, antwortete Whinesteen in einem Interview dem Magazin „The Inquirer “: „Es gab Anlass zur Vermutung dass die Gala im Pierre noch einem anderen Zweck diente, als einer Weihnachts-Charity für Waisenkinder.“ Bereits im Frühjahr 2017 hatte Nahela Unsummen in die Weiterentwicklung von Sicherheitssystemen investiert, mit denen das Pier ausgestattet war. Nach Angaben öffentlicher Behörden wurden die Tochterunternehmen des Pier-Hotels, dazu zählten alle Srayedix-Immobilien und diverse kleinere Lokalitäten wie die Underground-Kette, mit entsprechenden Frühwarnsystemen und Security-Gates ausgestattet. Was war Grund zu dieser Vorsichtsmaßnahme? The Inquirer hat für Sie recherchiert!   Ein weißer elektromagnetischer Blitz verschluckte die Eilmeldung auf seinem Monitor. Schwärze. Verwundert blinzelte Parker auf den Bildschirm. In letzter Zeit hatte er öfters Sendestörungen des analogen Radio- und TV-Empfangs zu beklagen. Dass ihm das Fernsehbild abrupt abhanden kam, war neu. Die Ursache hinter einem schlecht abgeschirmten Antennenkabel oder den Strippen an der Steckdose vermutend, rutschte der von zahllosen Überstunden ermüdete Cop mit mäßig guter Laune hinter den Flachbildschirm und rüttelte am Stecker. Ein Wechsel der Koaxialkabel sowie alter Antennendosen hatte ihm der Elektriker beim letzten Besuch geraten. Parker verstand kein Wort. Ein banales Rütteln am Kabel tat es manchmal doch auch schon. Doch so glorreich er auch an der Steckdose herumwackelte, passieren tat ja doch nichts. Der nächste Gang ging auf weichen Hausschuhen zum Stromkasten in der Abstellkammer. Parker betätigte den Lichtschalter um Sehen zu können, zu seiner Verwunderung geschah nichts. Klick. Klick. An und aus. Gleichbleibende Dunkelheit. Was zur Unzufriedenheit führte, ergab auch gleichzeitig die Fehlerdiagnose: Stromausfall. Also ging es im Stechschritt zurück ins dunkle Wohnzimmer. Hier genoss Parker den 24-Stunden-Dauer-Service UV-durchlässiger Panzerglasversiegelung auf Panoramafenster-Basis. Vom Boden bis zur Decke, von rechts nach links, war alles in dieser Wohnung von meterlangen Glasscheiben durchzogen. Einige davon waren schon beim Einzug integriert gewesen, einige wenige andere, wie die in der Küche und die im Schlafzimmer, hatte er erweitern lassen. Licht. Sonne. Viel Sonne. Parker hätte nie gedacht dass er einmal froh sein würde rund um die Uhr beleuchtet zu werden. Das intelligente Glas hatte natürlich auch den Vorteil die niemals schlafende City unterhalb des zehnten Stockwerks, Nachts durch die Scheiben flimmern zu lassen. Das sparte fast schon zwei Monats-Strom-Rechnungen pro Jahr, war ökologisch und passte in den kleinen Privat-Olymp mindestens genauso gut, wie die handgewobenen, seidenen, weißen Vorhänge, die Parker nun mit großspurigen Bewegungen aufzog um die hunderten flimmernden, strudelnden und zackigen Farben der Großstadt in seine Wohnung zu lassen. Das grünblau des Werbelogos von Srayedix-International auf der Spitze des Wolkenkratzers seinem gegenüber, tauchte sein widerwilliges Profil, in ein interessantes Farbenspiel. Das blau schimmerte wie ein Neonfarbstift auf seinen Wangenknochen, das grün streifte seine Schläfe. Parker streckte sich nach einer Taschenlampe, oben auf einem Regal und leuchtete sich damit den Weg zurück zur Abstellkammer, gleich neben seiner Wohnungstür. Mit der einen Hand erforschte er die Sicherungsschalter, während die andere mit Leuchtmittel assistierte. Doch egal welchen Schalter er bewegte, Strom gab es keinen in seiner Wohnung. Erst dachte er erschrocken an den Kühlschrank. Seine Milch würde schlecht werden. Dann dachte er an die Heizung. Es war tiefster Winter, selbst ohne die Schneetreiben der letzten Wochen war es in Agóna erstaunlich kalt geworden. Würden endlich die Wolldecken, die ihm eine Freundin letztes Jahr während einer aufsässigen Erkältung geschenkt hatte, zum Einsatz kommen. Doch jemand, der sich nicht mit weniger zufrieden gab, als ihm zustand, arrangierte sich nur äußerst ungern mit einem Stromausfall. Zumal ihm nicht mehr einfallen wollte ob er beim letzten Einkauf an Batterien für die Taschenlampe gedacht hatte. Licht war in Zeiten wie diesen kostbar. Für Parker mehr, als für jeden anderen Menschen. Kerzen war das Stichwort, dass ihn eiligen Schrittes zurück ins Wohnzimmer trieb. Wieder an den Schrank zurück, durchsuchte er eine kleine Kiste mit einem illustren Konglomerat an Kerzen und Kerzenhaltern. Erfreulich dass die meisten davon nicht mal angesetzt waren. Hatte er sie nie gebraucht? Schwelgend erinnerte er sich an eine Zeit, da standen jeden Abend Kerzen auf ihrem Tisch. Ryan liebte den unsteten, gezierten Tanz der Flammen. Wie Sternschnuppen, die auf der Spitze des Dochts festsaßen, bis man sie zurück in den Himmel pustete. Ein geradezu lächerlich kitschiger Vergleich, doch jetzt, wo Parker die Kerzen zum ersten mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder in Händen hielt und sie sorgsam nebeneinander auf den Sofatisch reihte, sehnte er sich nach jemandem, der ihm solche biedermeierlichen Tagträume ins Ohr wisperte. Nur ein Flüstern, dann ein Schaben wie von spitzen Steinen, die über Holz kratzten. Parker schreckte unweigerlich auf. Instinktiv suchte seine Hand seinen Gürtel ab, doch sein Waffenhalfter hing an der Garderobe im Flur. Ganz ruhig. Du hörst wieder Gespenster. Hier ist niemand. Dort, wo jetzt der Sofatisch stand, lag vor nicht ganz zwei Wochen dieser riesige Raubvogel. Ein Raubvogel, der sich zusehends vermenschlichte, bis die abgerissenen, stumpfen Federn nur noch nackte, rosige Haut bedeckten. Seth Kennedy hieß der Mann, der ihm diese Paranoia eingeflößt hatte. Doch er war weg. Schlicht nicht mehr existent, seit die Welt sich unter dem Outcoming vor 48 Stunden gewandelt hatte. Hier war kein Seth und damit auch kein Grund sich verrückt zu machen vor – Parker überlegte – vielleicht einem Nachbarn, der spät Nachts noch die Wohnung kehrte. Oder renovierte. Oder… was für ein seltsames Geräusch das nur war. Es wollte ihm nichts einfallen was dazu passte. Doch ehe er sich länger fragen konnte was es damit auf sich hatte, beschleunigte ein Scheppern seinen Puls. „Kommen Sie raus da! Ich weiß das Sie da sind!“, hob Parker ohne Berücksichtigung der fortgeschrittenen Stunde an. Stille war seine Antwort. Da war nichts. Nur die Geister seiner überdrehten Fantasie. Dennoch rührte sich der zähe Cop eine ganze Weile lang einfach nicht. Er verharrte zur Salzsäule erstarrt unter dem blau-grünen Licht von Srayedix-International, starrte geradeaus in den schwarzen Flur hinein und sah das dahinter liegende Schlafzimmer auf einer Linie, das vom Lichtschein des Bank-Sektors der City in rot und weißlichen Farbkoalitionen verworfen war. Ungläubig setzte er schließlich einen vorsichtigen Schritt voraus. Je näher er dem Flur kam, desto mehr glaubte er in den Abwegen seiner überstrapazierten Nervenbahnen, eine Scheme vor seinem Bett stehen zu sehen. Er erschauderte, doch er ließ sich nicht beirren. Diesmal nicht. Ihm schwante die vielen Medikamente der letzten Tage, der fehlende Schlaf, diese unglaubliche Offenbarung der Nachtschwärmer und nicht zuletzt seine eigenen inneren Dämonen nagte an seinem Verstand. Wenn dort wirklich jemand stand, musste dieser Jemand auch herein gekommen sein. Das hieß die Wohnungstüre wäre offen, denn das Wohnzimmerfenster und die Fenster im Schlafzimmer waren es nicht. Und auch die Küche ließ sich vom Flur aus in Augenschein nehmen. Parker wand den Kopf ab von der schwarzen Gestalt neben seinem Bett und blickte zum Fenster hinter seiner Kochstelle. Natürlich war es zu. Er wusste es. Wieder eine Einbildung. Er musste unbedingt einen Arzt aufsuchen und sich mal durchchecken lassen. Gut denkbar dass ihm die psychodelen Mittel nicht länger gut bekamen. So wahr er im Begriff sich von seinem Trugbild mit aller Erleichterung, die sein nervöses Herz aufbringen konnte, selbst durch einen Handschlag zu überzeugen, wollte schon auf dem Absatz Kehrt machen, als er aus dem Augenwinkel die Wohnungstüre vom Wind aufschwingen sah. „Oh Gott...“, wisperte er. Zu einem weiteren Gruß kam es nicht mehr, da bestürmte ihn die dunkle Scheme, tauchte aus dem Schlafzimmer in den Flur und bewegte sich so zielsicher auf ihn zu, dass Parker keinerlei Zweifel mehr daran hatte, dass die Bruderschaft ihn endlich ausfindig gemacht hatte. Panisch ergriff er die Flucht, rutschte auf den Hausschuhen über den glatt polierten Boden und verlor einen Schuh. Egal. Die nächsten Meter waren entscheidend. Mit dem aufregenden Trommelschlag seines Herzens, stürmte er an die Wohnungstür und riss sie ungeachtet sich selber auszusperren, hinter sich zu. Der Fahrstuhl war sein Ziel, doch noch während er den zweiten Schuh verlor und nun auf baren Sohlen zum luxuriösen Lift durch sprintete, krachte seine Wohnungstür gegen die Wand des Hausflurs und ein wildes Fußgetrappel jagte ihm nach. Einbildung oder Realität? War er wach oder träumte er nur? „Hilfe!“, schrie er einmal kurz, das Widerhallen seiner Stimme beeindruckte jedoch niemanden. Die meisten schliefen und die, welche es nicht taten – oh, mochten sie den Schrecken überwinden und hinaus auf den Hausflur schauen! Parker flehte innerlich, während er ohne Unterlass weg rannte. Der Fahrstuhl war keine Option mehr, denn zu dicht auf den Fersen war ihm schon dieses Ding, was auch immer es war. Also nahm er die Treppe, übersprang jede zweite Stufe und sprang immer die letzten vier keuchend hinab. Sein Verfolger nahm nur jede Dritte, sprang die letzten sechs ohne auch nur einen Mucks zu tun, hinter ihm her. Er haschte nach ihm. Parker spürte seine Finger am Rücken. Ein Schrei. Seine Stimme, die im wallenden Echo durch den Flur schallte und zu ihm zurück wallte. Parker legte noch einen Gang mehr zu. Diesmal ungeachtet der Stufen, visierte er das Geländer an und nahm so viele Stufen er nur konnte, immer das Geländer als stützenden Handlauf unter seinen tauben Fingern. Noch eine Etage und noch eine. Der Verfolger blieb hartnäckig und unermüdlich. Parker glaubte er würde es nicht schaffen. Niemals würde er diese Ausdauer beibehalten können. Irgendwann wären seine menschlichen, begrenzten Reserven aufgebraucht und das Ding holte ihn ein. Nur das wenige Licht durch die meterhohen Glasscheiben des Hochhauses, ließen ihn die Zentimeter vor seinem nächsten Schritt erkennen. Er brauchte Licht. Ein gutes Stichwort. Vielleicht schaffte er es seinen Jäger mit dem Licht des Treppenhauses zu erschrecken. Kaum kam er einem Schalter näher, zimmerte er mit dem Handballen ordentlich dagegen. Die ersten beiden Treppenabsätze tat sich gar nichts und er musste seine Flucht unweigerlich ohne Licht fortsetzen. Doch dann machte es Klick und ein statisches Rauschen flitzte durch alle Stockwerke und entzündete die grellen Leuchtstoffröhren des Hausflurs. Und tatsächlich, für einen winzigen Moment hörte er die Schritte nicht mehr hinter sich. Innerlich jubelnd, nahm er das letzte Stück bis zur Haustür, stürzte sich dagegen und schlug die Klinge in blinder Panik hinab. Klick. Klick. Klick. Klick. Klick. Es. Tat. Sich. Nichts. Entgeistert starrte der Cop einen Moment lang auf die Türklinge, blinzelte verstört durch das Glas der Tür hinaus auf den Vorhof der Parkanlage und die vielen Autos die sich außerhalb des Parkhauses dort zwischen den Grünflächen tummelten. Doch die Tür blieb zu. Abgeschlossen, wie es die Hausordnung für die Nacht vorsah. Zögerlich drehte er der Tür den Rücken zu. Schritte, wie das Donnern von Pferdehufen. Mit jedem Schritt, hüpfte sein Herz ein Stück dichter unter sein Kinn. Doch es war noch nicht aus. Er sah den großen Schatten gegen die Wand vor sich werfen, da rutschte er rechts von sich an den Briefkästen vorbei, neben den Fahrstuhl und betätigte den Knopf. Er hatte Glück und die Tür sprang mit einem einladenden „Pling“ auf. Doch Parker folgte der Einladung nicht, betätigte nur einen Knopf, zuckte zurück ehe sich die schweren Metalltüren geschlossen hatten, griff an den Knauf der Kellertür zu seiner Schreibhand und schob sich so geräuschlos wie irgendmöglich, durch den schmalen, schwarzen Spalt ohne auch nur einmal Luft zu holen. Seine Finger bebten so stark, dass er es kaum zu Stande brachte den Knauf richtig fest zu halten. Mit beiden Händen zog er langsam und bedächtig die Türe zu, in der Hoffnung der schwarze Schatten bemerke es nicht. Leise, ganz still und stumm, wie ein Kind, dass sich in einem Kleiderschrank vor dem Monster unter seinem Bett versteckte. Parker scheute die Dunkelheit, doch jetzt wo er sich alleine hinter der verschlossenen Türe glaubte, war sie ihm ein willkommener Freund. Angehaltenen Atems bewegte er sich vorsichtig von der Türe weg und drehte ihr leise den Rücken zu, bevor er sich abwärts, ins Parkhaus begab. Und tatsächlich war seine Finte mit Erfolg gekrönt.   Der Abstand zwischen sich und der Kellertür wurde größer, mit jedem Meter den er auf das mit orangenem Licht durchflutete Parkhaus zustrebte. Bedächtig rückte er vor, die Füße spürte er nicht auf den kalten Steinfliesen. Nach und nach nahm auch sein Puls wieder gesundheitlich vertretbare Werte an, kaum dass er durch die angelehnte Tür unter das Parkdach trat. Doch nichts und niemand hätte ihn jetzt davon abhalten können wieder zu laufen. Er brauchte dringend mehr Abstand. Die unzähligen Alpträume, in denen man ihn zu Tode gehetzt hatte, waren gute Lehrstunden der Theorie gewesen. Es brauchte immer mehr Abstand, es gab niemals genug. Also wetzte er an den verschlossenen Fahrertüren vorbei, sogar an seinem eigenen Fahrzeug, dessen Schlüssel er zu seinem Leidwesen noch am Schlüsselbrett neben der Wohnungstür hängen hatte. Er suchte hinter großen Vans und Minitransportern Schutz, verschnaufte dort ein paar geringe Atemzüge und nahm sogleich erneut wieder die Flucht auf. Sein Ziel: Das Wärterhäuschen. Parker sah dort hinter der Glasscheibe ein Licht brennen und wenn er sich nicht irrte, sah er auch Lyle Grandelby wie jede Nacht mit seiner Geliebten Lydia am Handy telefonieren. Parker rief ihm schon vom Weiten zu, dass seine Verzweiflung nur so von den Wänden erwidert wurde. Von allen Seiten erschallte es „Machen Sie die Türe auf! Bitte!“ Doch Grandelby plauschte lebhaft, bemerkte den herannahenden Beamten nicht wirklich, je, drehte sich auf seinem drehbaren Untersatz zu Parkers Entsetzen sogar noch in die entgegen gesetzte Richtung. „Ich flehe Sie an!“, kreischte der Mann, just in diesem Moment umschlang etwas seine Schulter und riss ihn mit einer schier so überwältigenden Kraft nach hinten, dass er für einen kurzen Augenblick den Bodenkontakt verlor. Unter einem Aufschrei landete der Cop auf dem Rücken, im Gegenlicht der Energiesparlampen erhob sich erneut der schwarze Schatten. Eilends fuchtelte der Mann mit den Armen vor sich, um dem kompromisslosen Griff nach seinen Handgelenken keine Chance zu geben, doch der Schatten beugte sich über ihn und schlug einfach nur blind auf ihn ein. Parker glaubte er müsse sterben. Die Todesangst trieb ihm die Tränen in die Augen, ließ ihn herumzappeln wie ein wildes Tier unter einem Elektroschocker. Wehrhaft kratzte, biss und trat er um sich, sein hilfloser Blick strengte sich an noch einmal das Wärterhäuschen zu erspähen.   Lyle Grandelby lachte in den Hörer. „Ach komm schon, so schlimm war es doch gar nicht. Der Nachtisch ging immerhin aufs Haus.“ Er drehte mit dem Kugelschreiber sinnlose Kreise über sein Notizbuch und malte aus den krakeligen Schöpfungen kleine, schwarze Sonnen. Eine Frau am anderen Ende der Leitung antwortete ihm amüsiert. Ihr quietchiges Lachen war kaum zu ertragen, wenn man den Hörer nicht ein Stück weit von der Ohrmuschel weg hielt. „Du bist so süß, wenn du dich über solche Leute aufregst. Gehen wir doch einfach nicht mehr in das Lokal? Zwingt uns ja keiner.“   „Oh Gott! Bitte! Lyle!! HILFE! Uff-“ Ein Kalochnikov an Schlägen und die Urgewalt zerrte ihn am Kragen zu sich hinauf.   „Wir sollten mal wieder in das Badelokal fahren. Weißt du noch? Da wo wir Harriet letztes Jahr getroffen haben, zu dieser großen Geburtstagsfeier. Was? Das Teil wurde doch nicht in den Nachrichten genannt… ehrlich? Ich dachte zu Srayedix zählen nur solche kleinen Lokale. Hier, wie diese Disko… wie heißt sie noch gleich?“   „Oh Gott, bitte nicht! Warum tun Sie-“ Die Arme hoben ihn so weit vom Boden hinauf, dass er einen Moment schwebte, dann warfen sie ihn rücklings auf eine Motorhaube. Die Alarmanlage schrillte panisch auf und Parker spürte wie ihn der Riese an den Füßen packte und vom Auto zerrte. Hektisch versuchte er nach irgendetwas zu greifen. Im Ringen nach Atem und abseits jeder Schmerzwahrnehmung, hielt er sich einen Moment lang an der Stoßstange des Wagens fest.   „Underground! Richtig!“ Lyle schaute auf. In der Ferne glaubte er eine Alarmanlage zu hören. „Du Schatz, warte mal kurz. Hier spinnt wieder irgendein Alarmsystem. Wird bestimmt wieder ein Eichhörnchen sein, dass sich verirrt hat.“ Der Mann legte das Handy weg und griff nach der Taschenlampe. Sein rollbarer Untersatz schabte über den Boden, als er sich davon abstieß um in der Aufrechten hinter seiner schützenden Scheibe, das Parkhaus auszuleuchten. Jeden Winkel erwischte er, stellte aber fest dass die Parkfläche leer von Menschen war.   Man hatte ihn hinter die nächste Mauer gezogen. Eine Hand, die eines Menschen, zwang seine Worte zurück in die Kehle. Verängstigt schnaufte der SKA-Beamte über den blassrosanen Handrücken. Er wusste es war eine Dummheit, aber er musste das Gesicht des Mannes sehen, der ihn jetzt gleich töten würde. Er musste hinauf schauen. Unter Winden und Ächzen rollte er die hellblauen Augen hinauf. Das erste was er sah, war nur eine dunkle Kinnspitze. Ein Bart. Der Kiefer des Jägers schnappte auf seine Stirn und hielt ihrer beider Köpfe unten, als Lyle Grandelby zu dem schrillenden Fahrzeug rechts von ihnen schlurfte und mit dem Hörer am Ohr seiner Freundin lachend erzählte was für ein kopfloser Idiot er doch war, wo Eichhörnchen Winterruhe hielten. Parker stiegen die Tränen der Wut in die Augen, während er krampfhaft versuchte sich aus dem Schraubstockgriff des anderen zu winden. Ja, Lyle Grandelby, du dämlicher Vollidiot! Ich werde verrecken, weil du mit deiner dämlichen Schlampe von Freundin plauderst, als hättest du hier keine Arbeit! Mögest du mit mir in der Hölle schmoren, du Affenarsch! Ruckartig schliff ihn der Hüne mit sich zurück Richtung Fahrstuhl, da hörte er Lyle schon wieder auf dem Rückweg zum Wärterhäuschen. „KOMM ZURÜCK!“, wurde durch die Hand vor seinem Mund, zu einem dumpfen Gemurmel. Die Fahrstuhltür war noch offen. Parker versuchte nach dem kleinen Finger des Mannes zu angeln. Man hatte ihnen beigebracht sich selbst zu verteidigen. Doch was half die idealisierte Praxis, wenn du es mit einem Übermensch zu tun hattest? Parker war sich mittlerweile sehr sicher dass dieser Mann, der ihn wie eine Schaufensterpuppe einfach so in die Luft heben konnte, Vampirblut in seinen Adern hatte. Ein Stichwort. Die Finger waren zu stark, Parker zu untrainiert. Dann biss er zu. Kaute sich in die Handfläche rein und schnappte, wie ein tollwütiger Straßenköter. Und tatsächlich, fast schon erschrocken plumpste Parker zu Boden. Sein Rivale hatte ihn los gelassen. An seinen schlanken Beinen vorbei, sah der Cop wie die Fahrstuhltüre zuging und Lyle sein Wärterhäuschen aufschloss. „LYLE!“ Pling. - Sie fahren in den zehnten Stock - „So, was sollte das Rumgehampel? Heißt man so einen Gast willkommen?“ Die schlanken Beine glitten vor dem angeschlagenen, verschreckten Mann in die Hocke und peilten ihn über seine angewinkelten Beine an. Ein schmales Gesicht, glatte Haut, kaum sichtbare Poren, kurze Nase, Mandelaugen, schwarzes Haar, Ziegenabart und ein Blick, als wolle er ihn jeden Moment von innen heraus aufschlitzen. Zigarettenrauch. Würzig, herb, eine Note Drachenkultur. Die Marke nannte sich Shuang Xi und wurde bei den Pagoden verkauft. Parker schluckte, brachte keinen Ton über die Lippen. Sein Herz setzte einen Moment aus, als ihm das asiatische Gesicht bedrohlich nahe kam. „Du hast dich nicht mehr bei der Bruderschaft gemeldet. Also dachte sich die Bruderschaft, sie meldet sich bei dir.“ Typisch chinesischer Einschlag. So einen Dialekt kannte er aus den vielen Razzien in China-Town. Parker traute sich die Stimme zu erheben. Kleinlaut, zerbrechlich, dünn wie ein Jungfernhäutchen. Doch sie verfehlte ihre Wirkung nicht: „Fick. Dich.“ Kapitel 2: Besuch um Mitternacht Teil II ---------------------------------------- „Wollen wir uns nicht ein wenig unterhalten? Nein? Nicht? Ziemlich still hier oben. Man bekommt den ganzen Stadtlärm nicht so mit. Ist bestimmt nicht günstig hier zu hausen. Ich hoffe Sie haben sich schon gut eingelebt. Sie wohnen noch nicht lange hier? Habe in der Abstellkammer ein paar Umzugskartons stehen sehen. Zerreißen Sie die doch mal und werfen Sie die weg. Wer braucht so was schon?“   Die Wohnung war stockduster und nur durch die einrahmenden Vorhänge des Wohnzimmers drangen einen Spalt breit lebhafte neonfarbene Lichter der niemals schlafenden Stadt unter dem zehnten Stockwerk. Parker saß angespannt wie eine Harley Benton Saite auf einer Geige vor dem Chinesen. Zumindest glaubte er dass es ein Chinese war. Er sah nicht viel von dessen Gesicht, dafür war es eindeutig zu dunkel. Doch was er erkannte war der mandelförmige, clevere Blick des gegenüber und was er hörte war der typische lispelnde Einschlag auf den S-Lauten mit den langen, klagevollen Vokalen wie sie typisch für einen solchen Asiat waren. Der Chinese hatte es sich vor ihm auf einem umgedrehten Stuhl bequem gemacht und starrte ihn unentwegt über die Lehne gebeugt an, während er munter in Parkers sterilem Appartement seinen Zigarettenqualm paffte. Shuang Xi, eine abscheuliche Marke – feurig wie Drachenatem und würzig wie ein Potpourri zur Dämonenausräucherung. Doch den einzigen Dämon den es hier auszuräuchern gab, war der Syndikat-Wichsfrosch in seiner Wohnung, der sich als Mitglied der Bruderschaft vorgestellt hatte und ihm munter ins Gesicht schmauchte, dass seine Augen von beißenden, ätherischen Ölen nur so tränten. Während Parker durch die spaltbreit geöffneten Vorhänge gerade mal das nötigste in der Dunkelheit erkannte, die das Gegenlicht hinter dem lauernden Chinesen gebar, tanzten von draußen regenbogenfarbene Neonlichter auf seinen Zügen und der Chinese, wollte Parker wetten, sah alles. Er war kein Mensch, das wusste er auch ohne die ausgefahrenen Fänge des Mannes gesehen zu haben. Die Schnelligkeit mit der ihn dieser Drachen verfolgt und im Parkhaus aufgelesen hatte, war gewaltig. Die Kraft mit der er ihn an Armen und Beinen zurück in seine Wohnung geschleift hatte noch viel gewaltiger. Sein Atem unterschied sich von dem eines Menschen gänzlich, war viel flacher und reptilienhaft. Die Gelassenheit mit der ihn der Mann vor sich auf den Stuhl platziert hatte, wie ein lebloses Stoffpüppchen, war so rücksichtslos und grob wie eines Lageristen der Paletten weg sortierte. Gefühllos wie jemand der das schon tausendfach getan hatte und immer wieder eine diabolische Freude dabei empfand wenn sich das Püppchen – in diesem Falle Parker – vor seinen hungrigen Blicken unsichtbar machte. Doch Parker gab dem Mann nicht was er sehen wollte. Sein Kopf blieb oben, auch wenn seine Hände hinterm Rücken furchtbar zitterten und mit jeder Bewegung sich Kabelbinder scheußlich durch die Handgelenke fraßen. Mit trotzigem Stolz im Blick reflektierte er das erhobene Kinn des Mannes, der immer wieder an seiner Zigarette sog und den weißen Qualm durch die Finsternis auf ihn zu atmete. Ein und aus. Ein und aus. Er nahm möglichst flache Atemzüge und dennoch schmeckte es furchtbar bitter den Rauch aus seinen Lungen zu filtern. Parkers Magen war auch ohne das kohlenstoffdioxyd-Nikotin-Gemisch schwer ruhig zu halten, die Aufregung Gefangener seiner eigenen Wohnung zu sein war eine neue, schockierende Erfahrung auf die er gerne hätte verzichten können. Es war mitten in der Nacht. Heilig Abend. Kaum einer war auf der Straße, die meisten eifrig damit beschäftigt schnellstmöglich heimwärts zu fahren. Niemand würde kommen um ihm zu helfen. Die Leute hockten zuhause bei ihren Familien und beschenkten sich unterm Tannenbaum. Seine Nachbarn waren vor Tagen schon ausgeflogen nach Kanada zu einer entfernten Tante. Er erinnerte sich verschwommen daran dass über ihm die Leute seit dem Outcoming Srayedi verlassen wollten. Parker hatte die wilde Theorie gehabt, die freundliche Mrs. Olson und ihr taubstummer Ehemann seien selber Vampire, war der Sache aber aus Respekt vor dem zerbrechlichen Alter des Renterpärchens nicht mehr nachgegangen. Unter ihm die Wohnung stand noch frei. Er war ausgeliefert. Die Welt feierte die Geburtsstunde Jesus Christus und er? „Warum Sie nicht, Parker?“ Er brauchte eine Weile um zur Stimme zu finden. Kratzig wie Schmirgelpapier, wie jemand der lange und still geweint hatte klang sie. „Ich halte nicht viel von Feiertagen.“ „Ah, der Herr hat doch noch Stimme!“, schallte es falscher Freude. „Schlechte Erfahrungen gemacht?“, paffte der Chinese wissbegierig nach. Parker schwieg und antwortete nicht. Seine Hände waren kaltschweißig und klebten wie in Leim gebadet. „Also schlechte Erfahrungen gemacht“, glaubte der Chinese aus dem Schweigen zu deuten und rückte mit dem Stuhl ein wenig auf Parker zu, der seinerseits unwillkürlich zurückweichen wollte. Doch im Gegensatz zum anderen war er an seinen Stuhl gefesselt. Freiheitsentziehende Maßnahmen, Geiselnahme, Beamtenbeleidigung, Bedrohung und körperliche Gewalt. Der schlitzäugige Penner würde, käme das hier an die Öffentlichkeit – einige Jahre gesiebte Luft schnuppern dürfen. Seine Waden waren eins mit den Stuhlbeinen, um seinen Thorax lag ein enges, fast gezogenes Seil und seine Arme banden durch einen Kabelbinder auf dem Rücken zusammen. Er war verschnürt wie ein Weihnachtsgeschenk und völlig hilflos einem Vampiren ausgeliefert. Ein toller Verein, diese Bruderschaft, dachte er. Hatte Berceuse nicht gesagt diese Freaks seien für den Fortbestand der Menschheit da – ein Backup um das Überleben der unterlegenen Rasse zu sichern? Parker kam der Gedanke dass damit etwas ganz anderes gemeint gewesen sein könnte. Vielleicht hielten die Vampire die Menschen wie Schlachtvieh und ernteten hin und wieder – das waren vielleicht die Cold Cases des SKAs, die niemals Aufklärung fanden, weil dieses organisierte Verbrechen im Deckmantel des übermächtigen Paladin, seine Tricks hatte mit dem es Leute einfach so verschwinden lassen konnte. Parker dachte an Ryan. Er hatte sich kurz etwas anderem als dem Gesicht des Chinesen zugewandt. Um genau zu sein war er dessen Blick zu einer Schublade gefolgt, die noch halb offen stand und in der ein Konglomerat an Kerzen rollte. „Aber offenbar wollten Sie es sich hier etwas schnuckelig machen. Ist doch nett, Parker. Stehen Sie ruhig zu Ihren nostalgischen Gefühlen. Wer will Sie dafür verurteilen.“ Parker dachte nur: Der Typ hat weit gefehlt. Wie kann man nur so falsch liegen. Er dachte: Schlimm genug hier gegeißelt zu sein, doch was der Typ macht geht weit über physische Gefangennahme hinaus. Er spürte wie in seiner Brust unschuldige Furcht mit brodelndem Hass kämpfte. „In China hält man nicht viel vom Weihnachtsfest, auch wenn einige westliche Unternehmen am Nachmittag des heilig Abends und am Folgetag frei geben. Stattdessen haben wir das Frühlingsfest. Ist netter. Da werden bunte Buden für die Kinder aufgebaut und es gibt Karussells und so nen Scheiß.“ Der Chinese erhob sich und trug sich mit zähen Schritten an die Schublade, ging davor in die Hocke und ruckelte sie auf um einen Blick hinein zu werfen. „Rote Kerzen, weiße Kerzen, Kerzen mit Motiven. Hah! Sind das etwa Bären in Kleidchen? Meine Fresse, Parker. In Ihnen steckt also auch noch ein kleiner Junge. Fantastisch!“ Die waren ein Geschenk von einer guten Freundin. Parker fand diese Kerzen abscheulich, aber es wäre eine Verschwendung gewesen sie wegzuschmeissen. Außerdem war das Motiv egal, wenn die Kerzen ihre Funktion erfüllten. Er sah die Dinge praktisch und auf ihren Nutzen reduziert. Aber das erklärte er dem Chinesen nicht, der in seinen Sachen wühlte wie ein ein-Mann-Sonderkommando mit Hausdurchsuchungsbeschluss. Die eine Hälfte Parkers Gesichts überzog sich mit grünem Licht von draußen. „Also gut“, sagte der Drache, wie jemand der keine Lust mehr hatte noch länger um den heißen Brei zu reden. Er erhob sich wieder mit einem Bündel Kerzen in der Hand und reihte sie hinter Parker auf dem Tisch auf, während er bedächtig weiter sprach. „Sie wissen ja warum mich die Bruderschaft geschickt hat“, sagte er. „Ich kann's mir denken, ja.“ „Hat man Ihnen gesagt wie es von statten geht?“ „Sie meinen die Sache mit dem Gedächtnislöschen?“, vergewisserte sich Parker mit bebender Stimme. „Genau die, Sportsfreund.“ Er hörte es hinter sich klackern als eine Kerze zu Boden rollte. Der Chinese griff hinab um seine Dominoreihe aus Wachs zu vervollständigen. Er spielte mit ihm. „Miss von Berceuse erklärte mir den Vorgang… ein wenig spartanisch“, setzte Parker an, beließ es dann aber dabei. Er wollte nicht wirklich wissen wie sich der Vorgang einer Gehirnwäsche vollzog. Er wollte niemanden an seinen Gedanken rumdoktorn lassen. Niemand hatte das Recht dazu das heiligste eines Menschen zu manipulieren. Das was einen selbst ausmachte und was zurück blieb, wenn man schließlich nichts mehr hatte: Seine Gedanken. „Nett von ihr. Sie ist doch ne nette, finden Sie nicht? Nein? Ja, ich weiß. Sie stehen nicht auf Frauen. Ist der Mann neben Ihnen auf dem Bild im Schlafzimmer ihr Freund? Wo ist er jetzt eigentlich?“ Die Frage kam reichlich spät, dachte Parker. Dass sich der Drache nicht schon eher um einen möglichen Lebensgefährten gesorgt hatte, der zur späten Abendstunde heim kehrte, wunderte Parker. Doch gleichzeitig war er sich fast sicher, dass dieser Mann die Antwort bereits kannte. Die Frage war reine Willkür um die Unterhaltung am Laufen zu halten. Ein Zippo zündete hinter seinem Rücken, danach wurde es heller im Raum. Die Kerzen flackerten den finsteren Schatten eines an einen Stuhl gefesselten Mannes vor ihm an die TV-Wand. „Sie verbringen Weihnachten alleine in Ihrer Wohnung. Sie sind nicht mehr mit ihm zusammen. Ihr Ex also“, sagte der Chinese betont sachlich. Mit gewisser scharlatanischer Vorfreude tauchte er wieder vor Parkers Gesicht auf. Dann stutzte er. „Oh, nein. Nicht weinen, Parker“, kommentierte er eine Veränderung in Parkers hellen, vom grünen Licht durchbrochenen Seelenspiegeln. Der Cop schaute zu Boden und stellte betroffen fest dass er seine Füße nicht sehen konnte, so eng hatte ihn der Mann am Stuhl festgeschnürt. „Lassen Sie uns fröhlich sein. Es ist Weihnachten. Draußen leuchtet die Welt. Jeder weiß jetzt dass es Vampire gibt. Es gibt keinen Grund sich länger zu verstecken. Das ist ein Grund zu feiern.“ „Warum tun sie das?“ „Was?“, hakte der Drache ernstlich verwirrt nach. Parker sammelte Stimme, letztendlich schaffte es nur ein halb ersticktes „Das!“ über den Kloß in seinem Hals hinweg. „Sie meinen meinen Besuch hier? Das wissen Sie nicht?“ Er pausierte und bedachte Parker betont besorgt, wie ein Psychologe der ein hartes Stück Arbeit vor sich sah und ganz genau wusste, an dieser Phase der Selbsterkenntnis seines Patienten waren sie bereits vorüber und nun fiel der Patient in ein altes Muster zurück. Viel Arbeit würde das sein, den Kopf des Klienten wieder zu richten. Viel Arbeit. „Die Bruderschaft vergisst nie, Mister Parker. Sie haben uns entdeckt und wurden eingeweiht mit allem was es zu wissen gibt. Die Vampire haben sich der Welt gezeigt, das wäre angesichts ihres Wissens ein Vorteil für Ihre Situation, verstehen Sie? Jetzt weiß ja ohnehin jeder Bescheid, warum also schickt man einen Eraser zu Ihnen um Ihr Gedächtnis zurück zu setzen?“ Ja, warum tat man so etwas? Parkers Blick hob sich vorsichtig in das Leuchten einer magentafarbenen Reklametafel. Seine glänzenden Augen suchten in den Schatten das vergnügte Gesicht des Chinesen nach ersten Hinweisen einer Antwort ab. Doch da war nichts in diesem Mann vor ihm. Weder Erbarmen, noch ein anderes Gefühl neben dem unvergleichlichen Hohn dem ihm dieser Mann gegenüber ausstrahlte. So sehr wie er diesen Vampiren hasste, so sehr hasste dieser Mann ganz offensichtlich ihn, auch wenn Parker nicht verstand wieso oder was er dem Vampiren getan hatte. Er kannte den Mann ja nicht einmal. „Die Antwort ist ganz einfach. Sie haben sich wenig kooperativ gezeigt und haben nicht nur Insider-Wissen über Lesser und deren Position in der modernen Neuzeit, sondern kennen auch die wichtigsten Abläufe der Bruderschaft. Sie kennen mich. Sie wissen welche Aufgabe ich im Rahmen der Bewahrerfunktion unserer Gesellschaft vertrete und sie wissen von den Gaben, die uns Gott mit in die Wiege gelegt hat. Mister Terdion war so freundlich und hat uns einen Bericht zukommen lassen aus dem hervorgeht über welches Wissen sie verfügen, beispielsweise sind sie ja ein kleiner Profi in Sachen Regenerationsprozess eines Vampiren und sie kennen auch die lebensverlängernden Gaben von Miss von Berceuse oder den emotionalen Transfer von Mister Suaco. Sie haben Ahnung, Mister Parker. Viel Ahnung und das macht Sie selbst nach dem weltweiten Outcoming der Vampire zu einem gefährlichen Mitwisser.“ Parker blieb die Spucke weg. Er wusste gar nicht was er auf die Schnelle antworten sollte. Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein wie faustgroße Hagelkörner. Zum Beispiel dass er niemals um das Wissen über Vampire gebeten hatte. Terdion hatte ihm seinen Arm vor die Nase gehalten und demonstrativ mit einem Messer längs seiner Sehnen entlang geschlitzt, nur um ihm zu demonstrieren wie phänomenal die Heilungsfähigkeit eines Überwesens war. Von Berceuse meinte ihm erklären zu müssen was es mit der Gabe Leben zu geben und zu nehmen auf sich hatte, was sie am Verwelken und Erneuern einer Narzisse demonstriert hatte und was Suaco betraf, er hatte keinen blassen Schimmer was der Drache mit Suacos emotionalem Transfer meinte. Er wusste nur eines: „Ich wollte das alles doch gar nicht wissen!“ „Sehen Sie“, antwortete der Chinese gelassen. „Deswegen bin ich hier, um ihren Verstand zu rebooten. Sie werden das alles bald schon nicht mehr wissen. Das könnte ein wenig weh tun, aber Sie werden es schon überleben. Stellen Sie sich einfach etwas schönes vor. Hmm, denken Sie an Ihren Ex. Oder ist der Gedanke zu bieder? Nein, sonst hätten Sie womöglich nicht das nette Foto auf Ihrem Nachtisch stehen. Also, entspannen Sie sich. Wenn Sie wieder aufwachen ist alles vorbei und Sie sind wieder der pupsnormale SKA-Mitarbeiter, der in sein langweiliges Polizisten-Leben zurück kehren kann.“ Der Chinese trat einen Schritt auf Parker zu, die Hände nach seinen Schläfen ausgestreckt. Er spürte förmlich die Kälte aus der Ferne anrücken, die in diesen Fingerspitzen lauerte. Panisch platzte er ein „Warten Sie!“ hervor. Und in der Tat, der Chinese hielt kurz vor seinem Gesicht inne. Vermutlich dachte er dass es keine Rolle spielte ob sie noch fünf Minuten plauderten, wo er ohnehin schon fast eine halbe Stunde allein damit verplempert hatte ein paar Kerzen aufzustellen und sich die Umzugskartons in der Vorratskammer anzuschauen. „Werden auch noch andere Erinnerungen gelöscht?“, hastete er. Der Drache zuckte die Schultern. „Mal so, mal so. Ist ein wenig wie das Entleeren eines Papierkorbs. Was mit Kaugummi an der Tüte klebt bleibt zurück, selbst wenn man den Eimer umwirft.“ Das war nicht hilfreich. Im Gegenteil. Es versetzte Parkers ohnehin unruhig schlagendes Herz in ein angsterfülltes Flimmern. Konnte Blut schaumig werden? Falls ja, musste Parker bald um sein Leben fürchten. Er glaubte er würde ohnmächtig vor Angst. „Wie weit werden Sie gehen?“ „Wann sind Ihnen denn die ersten Vampire begegnet? Vor zwei oder drei Wochen? Dann wären es etwa drei Wochen. Gut möglich dass ich etwas mehr weg nehmen muss. Ich greife quasi ins dunkle Ihres Bewusstseins. Da nimmt man, was man zu fassen bekommt. Wenn man einen Tumor entfernt, schneidet man ja auch ins gesunde Fleisch. Kann also nichts versprechen. Aber Sie schaffen das schon, sind doch schon groß.“ „Und was ist mit anderen Erinnerungen? Was ist mit anderen Dingen, die nichts mit euch Vampiren zu tun haben? Kindheitserinnerungen zum Beispiel?“ Er brauchte Zeit. Ein Plan musste her. Eine Idee wie er sich aus dem Stuhl befreien und sich des Vampiren entledigen konnte. „Was weiß ich, Parker. Seien Sie nicht so eine Mimose und hören Sie schon auf zu heulen. Sie werden sich eh an nichts mehr erinnern. Ich schnapp mir Ihre Erinnerungen und dafür behelligt Sie die Bruderschaft nie wieder. Ich sag Ihnen, dass ist das Beste was Ihnen hier und heute passieren kann. Sie werden sehen, es ist gleich vorbei.“ Ohne weitere Vorwarnung umschlossen die kühlen Finger des Mannes Parkers Kopf wie einen Helm. Beinahe hätte er sich vor Angst kaum rühren können, doch der Wille seine Erinnerungen mit allem was er hatte zu verteidigen, war stärker. Von den klammen Fingern aufwärts, schüttelte Parker Arme, Beine und Kopf so wild er konnte um sich von dem festen Griff der Hände los zu reißen. „Hören Sie schon auf! Das ist doch albern“, belächelte ihn der Chinese und für einen kurzen Moment befreite er ihn aus seiner Klammer um ihm eine Backpfeife zu verpassen. Parker spürte jedoch weder einen Schmerz, noch sah er den Mann richtig vor sich. Das Bild verwackelte einen Augenblick wie die Störung auf einem Monitor. Er winkelte die Fersen an und schaukelte den Stuhl nach hinten. Erneut kippte das Bild, doch diesmal weil der Stuhl der Gravitation nach hinten folgte und Parker mit der Lehne auf die Tischkante aufschlug. Das Holz brach hinter seinem Nacken und schützte ihn womöglich vor einem hässlichen Genickbruch. Und dann, endlich, wich der Hochmut aus der Haltung des glattgesichtigen Drachen mit den Schlitzaugen. Der Chinese tobte und griff nach dem Kragen des Polizisten. „Sie Irrer. Haben Sie eine Ahnung was man mit Ihnen tut, wenn Sie das hier schadlos überstehen?“ Zwischen den zerbrochenen Überresten taumelten die wenigen brennenden Kerzen. Einige waren durch den Luftzug des umschwingenden Möbelstücks erloschen, doch die, welche noch brannten, rollten Richtung seines Kopfes und Parker blies panisch in Richtung des rollenden Bären in Knickerbocker und Hut. Doch in seiner verzweifelten Lage blies er gleich mehrfach daneben. Über funkelnden Bärenaugen flirrte blutrotes Licht der Kerze. Bevor ihn das heiße Wachs die Augen verbrannte, zerrte ihn der Chinese allerdings wieder in die Aufrechte und mit ihm den zerbrochenen Stuhl, der schwer an seinen Waden hing. Erneut klackerte es hinter ihm und das Sammelsurium an Kerzen verteilte sich auf dem Wollteppich. „Oh shit“ und irgendwelche chinesischen, unartikulierten Laute überfielen die entgleisten Züge des Drachen, dem die Zigarette nur so aus dem offenen Mund fiel. Unter dem Tisch brannte Parkers Teppich lichterloh und das noch kleine, gemütliche Feuer tanzte verzückt über echte Schafswolle Richtung Vorhang. Der Chinese trat mit einem Bein den Glastisch weg, entschlüpfte seinem Jackett und warf es wie einen Umhang über die Flammen. Riverdance auf weißem, in Flammen stehendem Satin ließ die vorherige, heimelige Stille weichen und in Parkers Wohnung überschlugen sich die Ereignisse binnen Sekunden. Hinter dem trampelnden Chinesen kam der Polizist wieder auf die Beine und humpelte umständlich mit dem Stuhl Richtung Tür. Binnen weniger Sekunden verlor er ein weiteres mal das Gleichgewicht, stürzte zu Boden wie ein Rugbyspieler und robbte auf allen vieren unterhalb des dichter werdenden Rauches, der sich in seinem Wohnzimmer ausbreitete. Der nächste Fluch des Chinesen ging in ein schrilles, ohrenbetäubendes Piepen über. Über dem Fernseher blinkte aufgeregt der Feuermelder und versetzte die gesamte zehnte Etage des Hochhauses in Aufruhr. Parker vernahm einen mächtigen Tritt in sein Kreuz, doch seinen Schrei hörte er selber kaum in dem tosenden Lärm des Alarms. „Du blöder Penner. Dafür lösche ich dir dein gesamtes Hirn und mach aus dir einen verdammten, sabbernden Lappen!“, hätten die Worte sein können, die der Chinese ihm entgegen spie als er ihn zurück auf den Rücken drehte, doch der Drache stand in züngelnden Flammen und Parker sah wie die brennende Gestalt über ihm nach seinem Hals angelte und falls das Worte sein sollten, die da aus seiner Kehle drangen, war es nur das animalische Gebrüll eines Tieres das er verstand. Der Rauch wölkte schwarz und monströs wie eine Gewitterwolke über ihren Köpfen zusammen und der kreischende Vampir drückte seine Kehle zu, streifte mit der anderen Hand Parkers Gesicht und legte ihm die Hand über Augen, Nase und Mund. Er brüllte etwas, vielleicht aber war es auch nur das Fauchen der Flammen oder die herabstürzenden, lodernden Vorhänge die in Parkers Ohren krachten wie aufplatzende Autoreifen. Seine Augen brannten und seine Kehle schwoll zu. Parker wusste, wenn er nicht ersticken sollte, dann würde er an einer Rauchvergiftung elendig krepieren. Beides bedeutete unweigerlich seinen Tod. Trotz seines wilden Herzschlags und der durcheinander tauchenden Rauchsäulen, sah er einen Augenblick verdammt klar. Er sah durch die Fingerzwischenräume das langsam in sich einfallende Gesicht des Chinesen, dessen schmale Schlitzaugen beinahe nur noch schmale Striche waren. Zum ersten mal war es hell genug dass er den schwarzhaarigen Asiat deutlich erkannte. Über seinen vollen Lippen kräuselte sich ein dunkler Bartflaum. Die Haare des Mannes waren so wild durcheinander geworfen wie das Feuer, das hinter ihm tanzte. In seinem weit aufgerissenen Mund glänzten zwei spitze Fänge. Parkers tränenfeuchter Blick verschwamm bevor der wahnsinnige Beisser seine Augen vollends bedeckte. Doch es fühlte sich wie weit mehr an, als wären nicht nur seine Augen blind, sondern auch seine Seele. Als läge sich ein Schatten über seine Gedanken, der ihn in eine dumpfe Schwerelosigkeit drückte und das knisternde Feuer, den Gestank von verbrannter Wolle und zerlaufender, wachsgleicher Vampirhaut in weite Ferne entrückte. Er würde sterben. Hier und heute. Wenngleich er es sich selbst verbockt hatte und in seiner panischen Aktion seine Wohnung in Flammen gesetzt hatte, erfasste ihn doch eine angenehme Zufriedenheit mit sich und der Welt. So wie er da unter dem Würgegriff des Vampiren nach Sauerstoff ringend röchelte, funkelte um ihn herum alles in wunderschönen orange-roten Tönen, da kam ihm nur ein befreiender Gedanke in den Sinn: Gleich bin ich bei dir Ryan.   ...   Das starre Piepen der Maschine ließ ihn aufschrecken. Er war hellwach, als hätte er nie geschlafen. Vor ihm, hinter einem metallischen Bettgitter, erspähte er einen Tisch auf dem jemand einen Blumenverkaufsstand eröffnet zu haben schien. Er hatte keine Ahnung welcher Gattung diese Gestecke angehörten, dafür sah er noch nicht klar genug, doch die satten, bunten Farben vor dem sterilen, neutralen weiß der Wand, erinnerten ihn an seinen vorletzten Krankenhausaufenthalt. Schwerfällig drehte Parker seinen Kopf auf einem weichen Kissen und schaute sich um. Rechts und links von sich standen große Geräte, die ihn weit überragten. Verworrene Kabelknoten spannen sich von den Apparaturen bis hin zu seinem Bett und geradewegs an seine Brust und Arme. Er glaubte irgendwo einen Schnabelbecher zu erkennen, außerdem stand dort ein Spind und auf einem Stuhl lag eine Sporttasche, die ihn an seine eigene von zu Hause erinnerte. Horchte er tief in sich hinein, sagte ihm irgendeine Stimme, dass das seine Tasche war und dass die Blumen ihm gehörten und dass er gestern Mittag Besuch hatte von netten Kollegen, die ihm damit Genesungswünsche vorbei brachten. Er wusste aus einem Instinkt heraus dass er erst mal liegen bleiben sollte, bis ein Arzt kam, weil er sich ein einem Krankenhaus auf der Intensiv-Station befand und er ahnte was der Grund für diesen Kurzurlaub war. Rauchvergiftung, klang es unheilkündend in seinem Hinterkopf. Eine mittelschwere Rauchvergiftung und viele fachsprachliche Worte kreiselten dort hinter seinem trüben Blick herum, die er nicht zuzuordnen wusste. Es dauerte einige Minuten bis endlich jemand durch die Tür an sein Bett trat. Das Gesicht der Pflegerin war matt, aber freundlich. Sie trug eine Haube und rosigen Lippenstift. Ihr Ausschnitt war von einem blauen Kittel bedeckt und sie half Parker auf die Bettkante, nahm ihm Blutwerte ab um eine Unterzuckerung auszuschließen, nahm seine Vitalwerte zu Protokoll und tastete seinen Puls. Sie sprach nur wenig, doch was sie sprach, brachte Parker zum Lächeln. „Da haben Sie aber noch mal richtig Glück gehabt. Ich glaube morgen früh verlegen wir Sie wieder auf die normale Station.“ „Das freut mich zu hören“, sagte Parker, weil er glaubte etwas sagen zu müssen, nicht weil es ihn wirklich freute. Er hatte das Gefühl dass so etwas wie Freude in nächster Zeit nicht möglich wäre. „Wie fühlen Sie sich allgemein?“, hakte die Schwester nach. „Uhm, etwas benebelt. Habe ich Schmerzmittel bekommen?“ „Ein paar. Vertragen Sie Novamin? Sie hatten keine Unterlagen dabei, aber das ist eigentlich ein gängiges Präparat in solchen Fällen.“ Novamin ist in Ordnung, dachte Parker. Allerdings sagte er nur „Ich fühle mich etwas leer.“ „Sie haben ein schweres Trauma, Mister Parker. Sie brauchen viel Schlaf nach dieser Sache.“ „Sie meinen den Brand.“ „Oh… ja“, sagte die Schwester. Parker schaute sie eine Weile fragend an. „Sie sollten sich nach Ihrem Krankenhausaufenthalt vielleicht einen Psychologen suchen. Wir haben ein paar gute an der Hand. Es ist oft schwer für Opfer von Gewaltverbrechen in Ihr normales Leben zurückzukehren. Vor allem nachdem sie so vieles verloren haben.“ Es wäre sicherlich trefflicher gewesen nun noch einmal den Blutdruck zu überprüfen. Parkers Herz machte einen Satz. „Opfer von Gewalt…? Ich verstehe nicht.“ „Sie erinnern sich sicherlich bald wieder. Gestern hat es auch einen Moment gedauert ehe die Gedanken wieder zurück kamen.“ „Gestern war ich schon wach?“ Er überlegte kurz. Ja, richtig, er war bereits erwacht. Doch diese Erinnerung konnte er nicht richtig erfassen. Es war so eine Ahnung: Ja, ich ahne dass ich wach war. „Ja. Sie sind schon seit einigen Tagen wieder unter den Lebenden, wenn ich das so sagen darf“, lächelte die Schwester in ihre Worte rein. „Aber heute sind Ihre Werte besser als die ganze vergangene Woche. Sie sind bald wieder fit.“ „Was genau ist passiert?“, beharrte Parker und versuchte dabei so locker wie möglich auszusehen. „Sie sollten sich noch etwas ausruhen, Mister Parker. Ihr Chef kommt heute Nachmittag vorbei, sagt er. Er möchte sich mit Ihnen über den Vorfall unterhalten.“ Nach einigem Zögern fügte sie jedoch etwas leiser hinzu: „Sie sagten im Schlaf immerzu Sie wurden von einem Vampiren attackiert.“ „Einem… Vampiren?“, wiederholte Parker fast lachend als wäre dieser Gedanke absolut absurd.   Doch dann hielt er einen Moment inne als würde er tief in sich hinein lauschen. Da war diese leise Stimme, die ihm half sich neu zu orientieren. Sie flüsterte ihm unaufdringlich zu, bis seine Gedanken wieder klarer wurden, dann verschwand sie. Parker mutmaßte das es seine eigene Stimme war, denn die Worte die sie sprach, waren formuliert, wie er für gewöhnlich formulierte. Schließlich wiederholte er was ihm die Stimme diktierte. Er sagte in das verblüffte Gesicht der Schwester: „Ist der Vampir tot? Habe ich ihn umgebracht oder war es das Feuer?“ Er machte eine kurze Pause und seine matten Züge formten ein halb hoffnungsvolles, halb verbitteres Lächeln. „Ich hoffe ich bin es gewesen.“ Kapitel 3: Clanblood -------------------- Fast 70 Jahre sind vergangen, seit ich den Vampirjägern entronnen bin. Unter dem blutroten Vollmond haben wir sie für ihre Anmaßung, sich gegen unser Geschlecht zu erheben, bestraft. Nicht einer kam mit dem Leben davon. Und es kehrte wieder Ruhe und Friede ein. Doch nach all den Jahren erwacht in den Herzen der Menschen erneut die Furcht vor den Unsterblichen. Gerüchte über blutdürstige Monster in den Wäldern Böhmens erreichen uns selbst hier auf der Insel. Mit Sorge beobachten unsere Späher, wie sich der Mob der böhmischen Dörfer um Inquisitoren und Jäger schart. Niemals, so habe ich mir damals geschworen, würde ich wieder zulassen, dass sie so stark und einflussreich werden, dass sie es wagen könnten, den Kampf erneut bis vor unsere Haustür zu tragen. Ich habe keine andere Wahl, als den Gerüchten über reißende Vampire auf den Grund zu gehen, und die Bedrohung unserer Art auszumerzen.     "Lauf! Lauf!" Balta wagte einen kurzen Blick über die Schulter und schubste seinen Bruder weiter. Im Norden erhellten Fackeln die Nacht. Das Gebell der Hundemeute hallte durch den Wald. Ihre Verfolger kamen rasch näher. Im Gegensatz zu seinem ewig durstigen Bruder hatte Balta schon eine Weile nicht mehr getrunken. Seine Ausdauer war erschöpft und sein Atem glich dem Röcheln eines sterbenden Wals. "Verdammt, lauf!" Er packte den jüngeren unterm Arm, als dieser über eine Wurzel strauchelte und zog ihn um eine alte, knorrige Weide herum. Dahinter erstreckte sich das im Mondlicht glitzernde Band einer Flussbiegung. Schlitternd und stolpernd bahnte sich das Duo einen Weg die Böschung hinunter.   Eiskaltes Wasser spitzte bei jedem Schritt auf. Die Brüder zogen es vor, eine Weile durch das Wasser zu waten, um die Nasen der Bluthunde in die Irre zu führen. Kaum kletterten sie einige hundert Meter weiter wieder aus dem Bach, erschienen die ersten Köter im Schatten der Weide. Wildes Kläffen verfolgte sie. Aus dem Gestrüpp heraus konnten die beiden nachtaktiven Männer gut erkennen, wie die Tiere eifrig das Ufer erkundeten. "Sie werden die Spur bald wieder aufgenommen haben, Balu." Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Trotzdem konnte er das Flüstern mit Leichtigkeit hören. Zu seinem Ungemach, klang sein kleiner Bruder alles andere als verängstigt und gestresst. Im Gegenteil war er viel mehr der Ansicht, dass sie nicht davonlaufen sollten, wie die Hasen. Balta antwortete nicht. Die geschärften Sinne des Vampirs versuchten, alles in der Umgebung zu erfassen. Jedes verpasste Detail könnte sie ins Verderben stürzen, und dann würde ihnen nur noch Folter und ein schrecklicher Tod blühen. Baltazar hatte Angst. Er hatte seine Eltern qualvoll sterben sehen. Er würde alles tun, um seinem kleinen Bruder dieses schreckliche Schicksal zu ersparen. Alles. "Ich lenke sie ab. Lauf weiter Richtung Süden. Ich locke sie eine Weile nach Westen und schlage dann einen Bogen. Wir treffen uns dann in ... Oder auch nicht ..." Kopfschüttelnd hechtete Balta hinter dem noch ungestümeren Sander her, der bereits losgeprescht war ... Richtung Osten. "Verflucht ..." Weit sollten sie jedoch nicht kommen. Zwei pfeilschnelle Schatten, schwärzer, als die Nacht um sie herum, sprangen den Flüchtigen in den Weg und ...     Der Jungvampir blinzelte ins unstete Licht der Fackeln. Ein vorsichtiger Blick verriet ihm, dass er sich in einem Zelt befand. Die zweckdienliche Einrichtung und die detaillierte Karte, mit mehreren Zinnfiguren darauf, die auf dem Tisch ausgerollt worden war, sprachen dafür, dass es sich um das Lager einer militärischen Einheit handelte. Er war alleine. Oder halt ... Nein. Im Schatten einer Zeltstange stand ein schwarzgelockter Mann. Seine Augen waren so dunkel, wie zwei Kohlestücke. Balta erschrak. Für einen Moment glaubte er, diese fremden Augen seien tatsächlich zur Gänze schwarz, ohne jedes Augenweiß. Dämon! Doch der Mann wandte den Kopf in seine Richtung, blinzelte und dieser unheimliche Eindruck verschwand. Dennoch machte Balta das ausdruckslose Starren Angst. Draußen erklang ein leiser, trällernder Pfiff, ähnlich dem Schrei eines kleinen Kauzes, dicht gefolgt vom Kläffen der Bluthunde. "Wo ist mein Bruder?" "Es geht ihm gut. Und jetzt still! Bleib hier!" Baltas Mund klappte zu. Trotz des drängenden Fluchtreflexes gehorchte er, ohne es zu wollen. Das war ihm zuletzt bei seinem Vater passiert. Sein Mund war zu trocken, um schlucken oder gar widersprechen zu können, und so verfolgte er stumm, wie der Mann mit dem unüberhörbaren Akzent das Zelt verließ. Die Minuten vergingen qualvoll langsam. Balta wagte nicht, sich zu rühren. Draußen winselten die Hunde und kurze Zeit später, ertönten hier und da qualvolle Schreie und dann ... wurde es still.     Blutbefleckt und mit einem hungrigen Feuer in den Augen, so wie es Balta es noch nie zuvor gesehen hatte, kehrte der Fremde zurück. Flankiert von mehreren gerüsteten Kriegern, deren Schwerter noch in ihren Händen lagen. "Nun zu dir, Reißer! Aufstehen." Balta gehorchte. Selbst wenn er es gewollt hätte: Baltazar konnte sich der befehlsgewohnten Stimme nicht entziehen. Die blankgezogenen, blutfleckigen Klingen machten ihn unruhig. Mit klopfendem Herzen überlegte er, ob er mit seinen vampirischen Reflexen in der Lage wäre, fünf trainierte Soldaten zu eliminieren und aus dem Zeltlager zu flüchten. Er würde seinen Bruder finden müssen, und dann ... "Denk nicht mal dran." Lakonisch hob der Krieger zur Rechten des Schwarzhaarigen sein Schwert und schenkte Balta ein freudloses Lächeln. Zwei nadelspitze Eckzähne blitzten auf und enthüllten die wahre Identität dieser Männer. Balta sackte erleichtert in sich zusammen. Nach all den Jahren hatten sie endlich andere Vampire gefunden. Oder besser gesagt, die Vampire hatten die Sanderbrüder gefunden. Leider war die Erleichterung nur von sehr kurzer Dauer. Nervös blickte er von einem zum anderen, als die Soldaten einen Ring um ihn bildeten, während sich ihr Anführer letzte Blutreste aus den Mundwinkeln wischte.   "Keinerlei Kontrolle! Wie tollwütige Tiere, zieht ihr seit Monaten eine Spur aus Blut und Tod hinter Euch her. Euch waren fünfzehn Jäger der Inquisition auf den Fersen. Zusätzlich zu den wütenden Dorfbewohnern der ganzen Region. Ihr seit eine Gefahr für jeden Vampir im Umkreis von tausend Meilen!" Der Anführer der Vampire trat auf ihn zu und schnaubte ihn mit heißem Atem an. Er roch nach dem frischen Blut getöteter Vampirjäger. So verlockend, dass Baltazar leise knurrte und einen starren Blick bekam. Eine starke Hand schoss auf ihn zu und schloss sich um seinen Hals. Der Jüngere schnappte nach Luft und grapschte ungeschickt nach dem erbarmungslosen Handgelenk. "Bitte ... Herr ..." Die dunklen Iriden des anderen funkelten kalt. Doch er ließ Baltazar unvermittelt los. "Caidan ..." Der Angesprochene wusste, was zu tun war. Während ein weiterer Vampirkrieger Baltazar auf die Knie zwang, senkte der Mann, der auf den Namen Caidan hörte, seine Waffe auf Baltas Schulter und nahm Maß. Die malachitgrünen Seelenspiegel des jungen Mannes zuckten von einem Gesicht zum anderen. Eines erschien ihm unerbittlicher, als das nächste. "Dein Name?" "Baltazar, Herr. Baltazar Sohn des Alexander." Caidan, dessen kantiges Haupt ungewöhnlich kurz geschoren war, peilte mit der Klinge die Kehle des Böhmen an und sprach, als hätte er die Worte bereits vor langer Zeit auswendig gelernt: "Baltazar, Sohn des Alexander, nach den Gesetzen der Bruderschaft verurteilt Euch Clan Baring für das Reißen von Menschen zum Tode durch das ..." "Was? Wartet ... Wartet. Was für eine Bruderschaft? Welche Gesetze? Ihr ... Ihr seid, wie wir ... Dann kennt ihr den Hunger ... Was sollten wir denn tun? Wir müssen uns ernähren ... wir ... Wir haben nie ..." Baltazar stockte, etwas in den emotionslosen Gesichtern sagte ihm, dass er Atemluft verschwendete. Aber er war noch nicht bereit aufzugeben. Er wollte noch nicht sterben. Aber noch weniger wollte er, dass sein Bruder den Tod fand. Diese Vampire sprachen von Gesetzen. Gesetze forderten Strafen, wenn sie gebrochen wurden. So einsichtig war er. Schon einmal mussten Familienmitglieder für das bezahlen, was er verbrochen hatte. Auch wenn es dieses Mal der Blutdurst seines Bruders gewesen war, der sie in diese Lage gebracht hatte, so fühlte sich Baltazar doch dafür verantwortlich. "Bitte ... Bitte verschont meinen Bruder. Er ist unschuldig. Die Jäger suchen nach mir, nicht nach ihm", brachte er zitternd hervor. Die Männer wechselten ein paar Worte in einer ihm fremden Sprache. Doch ihren Blicken nach zu urteilen, glaubten sie ihm nicht. Einer der Vampire beugte sich sogar zu ihm herunter und schnüffelte, woraufhin er den Kopf schüttelte. Der Schwarzgelockte schnaubte erneut und legte seinem Vollstrecker die Hand auf die Schulter, um ihm Einhalt gebieten. "Wie lange folgt ihr bereits dem Blut?" "Was?" "Mein Herr will wissen, seit wann du und der Kleine bereits vollwertige Vampire seid." Der eisenharte Griff um seine Schulter verstärkte sich, und ließ den jungen Böhmen winseln. Aber er begriff. "Zehn Jahre, Herr. Mein Bruder erst seit diesem Sommer", stöhnte Baltazar und keuchte auf, als man ihn auf den Wink des Anführers hin losließ. Der Mann wirkte unzufrieden. Er schien eine andere Antwort erwartet zu haben. Eine Antwort, die eine simple Problemlösung erlaubte. Doch damit konnte der junge Sander offenbar nicht dienen. "Zwei Welpen also", seufzte der Vampir auf, "Großartig. Wer kümmert sich um euch? Wo sind eure Erzeuger?" "Unsere Eltern sind tot, Herr. Ich kümmere mich um meinen Bruder." "Ja, das haben wir ja zu genüge gesehen ..." Finstere Blicke wurden ausgetauscht. Balta bebte. Er wartete auf die naheliegende Frage. Doch sie kam nicht. Stattdessen bedeutete man ihm, aufzustehen. "Ruft nach Marie. Der Mann muss trinken ... Mein Name ist Robert Baring. Earl of Wiltshire. Setz dich, Junge." Ein Earl? Was machte ein verfluchter englischer Lord hier mitten im Böhmerwald? Doch spielte es für Baltazar eine Rolle? Wohl kaum. Er folgte dem Wink des Adeligen und nahm auf der Kante des Feldbetts Platz, während alle anderen Vampire bis auf Caidan das Zelt verließen. Kurze Zeit später trat eine junge Frau ein. Haare wild und rot, wie das Feuer und Augen so blau, wie die See. "Mylord", grüßte sie den Earl und bewegte sich, auf dessen Nicken hin, auf den Jungvampir zu. Irritiert wechselte Baltazars Blick zwischen dem englischen Lord und der aufreizenden Schönheit hin und her, die sich neben ihm niederließ und ihr Handgelenk freimachte. Als der Böhme keine Anstalten machte, ja nicht einmal zu verstehen schien, was man nun von ihm erwartete, entblößte die Vampirin ihre Reißzähne und biss sich selbst die Pulsadern auf, und hielt Balta die sprudelnde Quelle des roten Lebenssaftes direkt vor die Nase. Ein Angebot, welches der ausgehungerte Blutsauger nicht ausschlagen konnte. Die ungezähmten Instinkte übermannten ihn. Mit einem gierigen Knurren griff er zu und schlug seine eigenen Zähne in das zarte weiße Fleisch. Noch nie zuvor hatte er so köstliches Blut geschmeckt. Noch nie hatte er sich so schnell satt und zufrieden gefühlt. Er erinnerte sich nur noch vage an die Zeit seiner Wandlung. Maries Blut weckte die Vergangenheit. Für eine Weile fühlte Baltazar sich zurückversetzt, in die Zeit, in der seine Eltern noch für ihn dagewesen waren, ihn mit Blut versorgt und vor allem Übel bewahrt hatten. Das lang vermisste Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit stellte sich ein, während er sich sättigte. Und doch verlangte es ihn nach mehr. Und noch mehr.     Marie wurde bleich und schwankte. "Genug", donnerte Roberts Stimme, deutlich lauter als die beiden Male zuvor, und riss Balta endlich aus seiner Trance. Es rang ihm alles an Willenskraft ab, die verkrampften Kiefer zu lösen und die Hand der Frau freizugeben. Caidan erbarmte sich ihrer und führte Marie hinaus, wobei er versprach, ihr selbst gleich als Stärkung zu dienen. Beschämt über seine eigene Gier, senkte Baltazar den Blick und murmelte eine Entschuldigung. "Wann hast du dich zuletzt richtig genährt, mein Junge?" "Vor drei Wochen, Herr. Ich war vorsichtig, Herr. Nur ein heimatloser Dieb in der Nähe von Prag. Seitdem habe ich meinen Bruder versorgt." Er erschrak, als ihm aufging, dass er soeben indirekt seinen kleinen Bruder verraten hatte. Aber darauf ging sein Gegenüber gar nicht weiter ein. Lord Baring schüttelte den Kopf. "Ich spreche eigentlich davon, wann du zuletzt von einem Vampir getrunken hast." Balta zögerte. "Vor knapp neun Jahren, Herr." So verwirrt der jüngere Vampir Robert auch ansah, diesem ging ein Lichtlein auf. "Du weißt, dass Menschenblut nur Notbehelf für einen Vampir sein kann?" "Herr?" Robert sah den jungen Reißer forschend an und zog seine Schlüsse. "Habt ihr je andere Vampire, außer euren eigenen Eltern gesehen?" Ein verunsichertes Kopfschütteln bezeugte, dass Balta nicht wusste, ob es gut, oder schlecht war, dass dem nicht so war. Der Engländer seufzte und nickte Caidan zu, der soeben zurückkehrte. Der große Krieger wirkte etwas blasser, als zuvor, aber das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er dennoch mit einem unerfahrenen Hänfling, wie Baltazar, mit links fertig werden würde.   "Fein. Baltazar Sander. Nichtsdestotrotz, die Gesetze wurden gebrochen. Wir haben hier nur zwei Alternativen, diese Angelegenheit zu regeln. Für gewöhnlich werden Satropen, unkontrollierte Reißer, wie ihr es seit, sofort einem Tribunal zugeführt und exekutiert. Wer einmal dem Blutrausch verfallen ist, kommt nur selten wieder von seinen animalischen Trieben los. Du und dein Bruder, ihr seit allerdings noch sehr jung. Unerfahren und ohne jede Führung. Es besteht noch die Chance, dass ihr euch in die Bruderschaft integrieren und euch unsere Regeln zu eigen machen könnt." Balta starrte mit klopfendem Herzen von einem zum anderen. Hatte er gehofft, Zustimmung in der Miene des anderen zu finden, wurde er enttäuscht. Dieser Caidan warf seinem Lord zweifelnde Blicke zu. Ein stummes Kopfschütteln. Zwischen den beiden uralten Wesen schien eine wortlose Debatte zu entbrennen, die der Anführer jedoch für sich gewann. Ohne, dass für Baltazar ersichtlich wurde, welche Inhalte gerade mit nur einem einzigen Blick ausgetauscht wurden, senkte der kurzhaarige Soldat den Blick und sah dann zu Balta. Es war offenbar nicht selbstverständlich, dass man Gnade vor Recht ergehen ließ. Auch dann nicht, wenn man offensichtlich noch den Welpenschutz genoss. Mit mahlendem Unterkiefer straffte Caidan seine breiten Schultern und sprach mit düsterer Stimme: "Ihr werdet begnadigt. Unter einer Bedingung: Ihr schließt euch Clan Baring, und damit der Bruderschaft, an. Ihr werdet lernen, was es heißt, ein wahrer Vampir zu sein. Was die Verantwortung dieses Erbes bedeutet. Wir bieten euch Schutz, Nahrung und eine Aufgabe. Es wird dafür von euch Folgendes verlangt: Gehorsam und Loyalität." Robert fuhr nahtlos fort: "Es wird nicht einfach werden. Der Durst nach Menschenblut kann einen Reißer sein Leben lang verfolgen. Es ist süß und verlockend. Es ist wie eine Droge. Aber das Blut eines Vampirs ist um ein Vielfaches nahrhafter. Es sättigt länger und macht euch stärker. Vergleichbar mit einem saftigen Stück Braten neben einem Stück Kuchen. Wenn ihr bei uns bleiben wollt, ist der Kuchen, das Menschenblut, ab sofort für euch tabu." "Brecht ihr dieses Gebot, folgt die Strafe auf dem Fuß. Was euch heute erspart blieb, wird euch treffen, solltet ihr schwach werden und euch nehmen, was verboten ist." "Dass ihr heute verschont werdet, solltet ihr als Bewährungsprobe betrachten." "Bist du gewillt der Bruderschaft beizutreten und Lord Baring den Treueid zu leisten?" Mit klopfendem Herzen schwankte Baltazars Blick zwischen den beiden Männern hin und her, die sich so gekonnt die Bälle zuspielten, als wären sie bereits seit Jahrhunderten ein perfekt eingespieltes Team. "Habe ich denn eine andere Wahl?" Caidan verzog das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen. "Man hat immer eine Wahl ..." Knurrend zeigte Robert seine scharfen Fangzähne. Die Augen, schwarz wie die Nacht, glitzerten unmenschlich im Fackelschein. "Jetzt hast du eine Wahl ..." Während Baltazar blinzelte, bewegte sich der Earl, so schnell, dass es an Teleportation grenzte, direkt vor den jungen Böhmen. "Sie lautet: Willst du leben? Ja, oder nein ...?"       "... bei meinem Blut und meiner Ehre, gelobe ich ewige Treue und Gehorsam. Ich werde die Gesetze der Bruderschaft achten und meinen Clan mit meinem Leben verteidigen", gelobten noch in jener Nacht zwei böhmische Männer feierlich, umringt von einer Kompanie Soldaten in englischen Rüstungen. Als sie sich erhoben, wich die Skepsis und der Argwohn aus den Gesichtern der meisten von ihnen. Denn dies war kein Schwur, den man leichtfertig tat. Er war mit dem Herzen geleistet und mit Blut besiegelt worden. Für Baltazar gab es keine Zweifel. Sir Robert hatte ihm nicht nur sein Leben und das Leben seines Bruders geschenkt, sondern ihnen einen Platz in seiner Familie geboten. Nach neun langen Jahren, des heimatlosen Streunens, glaubte er sich erstmals seit langer, langer Zeit wieder irgendwo zuhause. Erst auf der Überfahrt von Calais nach London bereute er seine Entscheidung. Bitterlich. Wie sich herausstellte, war er an Bord der "Odin" die einzige Landratte, welche die See nicht vertrug. Bereits wenige Minuten, nachdem er die Planken des schwimmenden Sargs betreten hatte, glaubte er, er müsse qualvoll sterben. Zwei Stunden später wünschte er sich, ihn würde tatsächlich endlich das Zeitliche segnen. "So viel kann ein Mann überhaupt nicht im Magen haben", amüsierte sich Robert und gesellte sich zu dem leichenblassen Vampir, der noch immer über der Reling hing und würgte. Seine dunklen Iriden wanderten zurück zu dem blonden jungen Mann, der fröhlich mit Marie flirtete und einen Becher Branntwein nach dem anderen trank. Unglaublich, dass diese beiden so grundverschiedenen Vampire tatsächlich Brüder waren. "Es gibt doch nichts Schöneres als die unendliche Weite und Freiheit des Meeres." "Was ist daran so toll?", stöhnte Balta verzweifelt und Robert lachte. "Ich bin damit aufgewachsen. Bevor wir die Insel eroberten, stammte mein Clan von den Fjorden im Norden. Wir waren Wikinger." "Hättet Ihr nicht ..." ... auf dem Festland bleiben können, wollte der Böhme sagen, aber sein Magen, hielt nicht besonders viel von gepflegter Konversation auf See.     Nachdem Robert seine Aufgaben in der Hauptstadt Englands erledigt hatte, reiste die Gesellschaft bald weiter nach Wiltshire. Die Burg nahe der Ortschaft Trowbridge war ein grauer, abweisender Klotz, bestehend aus fünf hohen Türmen, von denen der höchste von ihnen von unzähligen Krähen umschwärmt war und garantiert einen atemberaubenden Blick über den River Avon und das gesamte Umland bot. Die Truppe näherte sich von der Südseite und passierte dort das gewaltige Burgtor. Einst mochte der Graben rings um die steilen Mauern geflutet gewesen sein, doch heute lag er trocken und mit Gras und Wildblumen bewachsen da. Benedict Caidan verriet den staunenden Bauernjungen, dass der Graben im Belagerungsfall mittels Schleusen mit Flusswasser gefüllt werden konnte. Doch das war seit Jahrhunderten nicht mehr notwendig gewesen. Linker Hand wies der Stellvertreter des Clanführers auf die Wirtschaftsgebäude und Stallungen der Burg. Dort würden die müden Gäule untergebracht und von Knechten versorgt werden. Zwischen den beiden östlichen Türmen lud eine breite Freitreppe zur Großen Halle ein, wo die Krieger und Damen des Hauses Baring zum Abendmahl und zu Festen zusammenfanden. Baltazar war beeindruckt von der Größe und Architektur des Bollwerks. Anstatt die Ritter der Grafschaft in die Enge der Wohntürme zu drängen, hatte man die vom Fluss geschützte Nordostmauer verbreitert und dort in einem langgestreckten Bau Unterkünfte für die zahlreichen, lichtscheuen Bewohner geschaffen. Caidan glitt aus dem Sattel und winkte einen Knaben heran. "Hier, die Tiere müssen versorgt werden. Besorge diesen beiden Herren ein anständiges Quartier." Damit wandte er sich an die Sanderbrüder: "In zwei Stunden erwartet euch Sir Robert in der Großen Halle." Der blonde Junge, von vielleicht zwölf Jahren verbeugte sich artig und und nahm die Zügel des schwarzbraunen Hengstes des Kriegers entgegen und zuckte mit keiner Wimper, als Baltazar ein hungriges Knurren entkam. Mit dem ersten Schwung Gäule verschwand der Kleine Richtung Stall und Balta starrte Caidan mit großen Augen an. "Er ist ein Mensch ...", stellte er verwundert fest. Schrecken schwang in seiner Stimme mit, doch der kurzgeschorene Krieger nickte ohne besondere Regung. "Natürlich. Viele der Bediensteten sind Menschen." "Aber ... wenn sie herausfinden ..." "Sie wissen es." Baltazar war verblüfft. "Aber ..." "Früher haben wir die Menschen ebenso gemieden, wie ihr. Aber die Menschen sind nicht dumm. Wenn ein großer Haushalt wie Wiltshire Castle nur nachtaktiv ist, fällt das auf. Es führt zu Gerede und lädt geradezu zu Verdächtigungen ein. Robert Baring dient dem König von England, wie jeder andere Kronvasall und muss entsprechend Vorsicht walten lassen. Unsere Eingeweihten dienen Seiner Lordschaft bereits seit mehreren Generationen und sind unserer Art treu ergeben. Sie nennen sich selbst voller Stolz Doggen." "Haben ... Haben sie keine Angst?" "Weshalb sollten sie? Doggen und ihre Familien stehen unter dem Schutz der Bruderschaft. Wir behandeln sie gut und sie genießen viele Privilegien. Sie empfinden es als Ehre uns zu dienen." "Sirs?" Der Bursche war mit einem Kameraden zurückgekehrt, der sich Baltazars Pferd annahm. Unsicher folgte er dem blonden Wuschelkopf, der ihn in ein Gemach führte, in das die gesamte Kate seiner Eltern gepasst hätte. Es befand sich nur ein Bett darin und sein Bruder war in den Nebenraum geführt worden. Er fühlte sich unbehaglich. Insbesondere, da ihn der Junge behandelte, wie einen hohen Lord und nicht wie der vagabundierende Förstersohn, der er nun einmal von Geburt an war.     ".... sagte, es ist genug! Genug für heute." Baltazar stieß ein wildes Fauchen aus. Das Schwert zum finalen Schlag erhoben, rief ihn die donnernde Stimme des Lords zur Besinnung. Keuchend steckte er das Schwert ein und verneigte sich erst vor seinem am Boden liegenden Trainingspartner. Dann vor dem Earl of Wiltshire, der sich an die Seite seiner Rechten Hand gesellt hatte. Auch wenn Ben Caidan die Ausbildung der Krieger leitete, hielt auch Robert stets ein Auge auf seinen Nachwuchs. Dass dieser den hitzigen Zweikampf im Burghof beendete, kam für Baltazar dennoch unerwartet. Der abschätzende Blick der beiden Altvampire machte ihn nervös. Hatte er einen Fehler gemacht? Waren sie unzufrieden? Was für eine Frage! Caidan war chronisch unzufrieden mit seinen Rekruten. Baltas Blick huschte zu dem jungen, schweißbedeckten Kameraden, der sich den blutigen Schwertarm hielt. Eine klaffende Wunde zog sich der Länge nach über den Oberarm. "Lass deine Wunden versorgen. Achte das nächste Mal besser auf deine Deckung. Das war erbärmlich mit anzusehen!" Der Bursche, bleich, wie ein Leichentuch, schwankte mit einem "Aye, Sir" davon und es wurde still im Hof. Weit über ihnen krächzten die Krähen auf dem Nordturm und Balta fragte sich unweigerlich, auf was sein Lord wartete. In seinen Augen leuchtete ein wildes Feuer. Robert tauschte mit Ben einen langen Blick, der weit mehr aussagte, als ein Außenstehender je begreifen würde, dann nickte Caidan widerstrebend. "Er ist noch immer sehr ungestüm. Kaum zu zügeln, wenn er einmal Blut geleckt hat. Aber im Schwertkampf selbst kann ich ihm nicht mehr viel beibringen. Etwas mehr Verantwortung, könnte seine Energie vielleicht in die richtige Richtung lenken. Aber ... du hast es selbst gesehen, Robin. Er ist tollwütig. Außer Kontrolle, kaum dass Blut fließt." "Ja." Robert of Wiltshire begutachtete den jungen Vampir aufmerksam. "Er ist ein unverbesserlicher Hitzkopf ... Erinnert mich an jemanden ..." Sir Caidan warf seinem Freund einen vielsagenden Blick zu und lachte dann trocken: "Wie wahr, wie wahr. Dann nimm ihn mit, wenn du denkst, einen Großbrand mit einer Feuersbrunst eindämmen zu können. Gib ihm Hermes ... Oder nein, warte ... Ares." Balta sah angespannt von einem zum anderen. Robert bedachte seinen Stellvertreter mit einem zweifelnden Blick, nickte dann aber voller Vertrauen. "Dann komm mit, du hitzköpfiger Bauernlümmel. Es wird Zeit, dass du etwas ritterliche Zurückhaltung und Disziplin erlernst. Hol Deimos und Ares her."   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)