Meines Bruders bester Freund von eulenkueki ================================================================================ Prolog: -------- „Seid ihr beide eigentlich völlig bescheuert?!“   Tja.   Wenn man in flagranti erwischt wird hat man, glaube ich, ein paar verschiedene Möglichkeiten.   Auf das schwarze Loch warten, das sich hoffentlich bald auftut und in dem man bis zum Sankt Nimmerleinstag versinken kann. Einen coolen Spruch bringen. Ärgerlich anmerken, dass man ja wohl anklopfen könnte, bevor man in ein Zimmer rein platzt, das nicht das eigene ist.   Es gäbe so viele Möglichkeiten.   Leider ist mein Hirn zu so einer Leistung gerade nicht fähig.   Mein Freund scheinbar auch nicht, denn der schiebt mich ziemlich rabiat von sich. Er sieht wahnsinnig erschrocken aus. Seine Lippen öffnen und schließen sich, doch kein Ton kommt heraus. Ein bisschen scheiße finde ich das schon – er ist immerhin der Ältere, der Erwachsene. Müsste er nicht das Ruder in die Hand nehmen?   Immer muss ich alles machen.   Dabei hat alles so völlig harmlos angefangen...   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Ich bin in Noah verknallt seit ich dreizehn bin.   Also, eigentlich bin ich schon immer in Noah verknallt, nur wusste ich mit vier, fünf Jahren natürlich noch nichts von der Liebe. Immer wenn Noah zu Besuch war, hat er mit mir gespielt, mir durchs Haar gewuschelt. Hat den Ball gekickt, wenn ich danach gefragt habe. Als Teenager hat man sicherlich besseres zu tun, als mit einem Kleinkind zu spielen, aber Noah hat das nie was ausgemacht. Er ist immer freundlich gewesen, hat sich Zeit für mich genommen – obwohl ich gestehe, dass ich sicherlich eine Nervensäge war. Mein Bruder, Bastian, ist davon noch heute felsenfest überzeugt.   Jedenfalls hat es in meinem Leben kaum einen Tag gegeben, an dem ich Noah nicht gesehen habe. Im Sommer, wenn meine Eltern ihre Grillparties schmeißen, ist Noah Stammgast. In den Schulferien hat er oft ein oder zwei Wochen bei uns verbracht. Wir sind sogar schon mal zusammen in Familienurlaub gefahren, an den Gardasee. Da bin ich neun gewesen. Glaube ich.   Noah ist quasi adoptiert und gehört zur Familie.   Zu seinen eigenen Eltern hat er nämlich nie einen guten Draht gehabt. Die waren in seiner Kindheit schon immer mega streng gewesen und haben sich nie viel um ihren Sohn gekümmert. Egal was er getan oder erreicht hatte, es war nie gut genug gewesen. Ich glaube er war oft traurig, aber meistens war ich noch zu jung um zu verstehen, wieso Noah manchmal so abwesend gewirkt hat. Wieso er manchmal ganz alleine mit Bastian reden wollte – so leise, dass ich nicht mal durchs lauschen rauskriegen konnte, was die so wichtiges besprechen.   Heute weiß ich, dass seinen Eltern ihre Berufe wichtiger waren als die elterliche Zuneigung zu ihrem Sohn. Solange er gute Noten mit nach Hause brachte und es keinen Grund für Klagen gab, war alles in Ordnung. Erfolgreich im Fußballverein, Abitur mit Bestnote bestanden, Jurastudium begonnen.   Jurastudium auf halber Strecke abgebrochen und stattdessen ein Pädagogikstudium angefangen. Seine Eltern setzten ihn daraufhin vor die Tür. Noah hatte sich eine WG gesucht, nebenbei in einer Bar angefangen zu arbeiten und so seinen Lebensunterhalt bestritten. Ich glaube, es war manchmal ziemlich schwer für ihn, aber Genaueres habe ich nie mitgekriegt. Inzwischen arbeitet er in einer Jugend Wohngruppe und soweit ich das beurteilen kann, macht es ihm Spaß. Arbeitet immerhin schon fast zwei Jahre dort.   Ich war gerade dreizehn geworden und seit einiger Zeit ein bisschen verwirrt.   In der Schule haben sich die Jungs langsam für die Mädels interessiert. Die Mädels fanden die Jungs plötzlich auch interessanter als zuvor. Als ich einige Wochen zuvor mit Laura Anstandshalber rum geknutscht hatte – man muss ja Erfahrungen sammeln – fand ich das allerdings nur bedingt geil. Ich meine, jemanden küssen ist grundsätzlich eine ganz nette Sache. Aber weder fand ich Laura nett, noch die Tatsache, dass sie ein Mädchen war. Es war mir auch egal, dass sie eine der hübscheren Mädels aus der Klasse war. Und sie hatte schon ein klein wenig Busen. Die anderen Jungs hatten oft von ihr gesprochen und ich weiß noch, dass ich mich damals irgendwie cool gefühlt hatte, weil ich sie zuerst hatte küssen können. Naja. War halt nicht so geil wie es sich zuvor noch in meinem Kopf abgespielt hatte.   Als ich dann nach der Schule nach Hause kam, war Noah zu Besuch.   Es war Sommer und Bastian und er hatten sich im Garten im Pool abgekühlt bevor sie es sich auf den Sonnenliegen gemütlich gemacht hatten. Ich hatte eigentlich nur Hallo sagen wollen, aber als ich im Türrahmen der Terrasse gestanden bin, waren meine Knie seltsam quabbelig geworden. Mein Mund staubtrocken.   Noah war wahnsinnig schön.   Seine honigblonden Haare waren feucht vom Poolwasser, er hatte sie mit einem Tuch halbwegs trocken gerubbelt weshalb sie von allen Seiten abstanden. Anbetungswürdig. Seine Haut glich einem Karamellbonbon. Er hatte die Arme hinter seinem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen. Die Sonne schien ihm auf den nackten Oberkörper und ließ vereinzelte Wassertropfen glitzern. Ich konnte sein Sixpack sehen und den schmalen, dunklen Schatten an Haar, der sich unterhalb seiner Badeshorts fortsetzte. DAS konnte ich zwar nicht sehen, aber ich wusste es. Seine Brust hingegen war haarlos und seine Achseln getrimmt. Mir war nach kaputt gehen.   Mein Herz bollerte in meiner Brust, in meinem Bauch flogen Kamikaze-Schmetterlinge umher und in meiner Sommershorts... au kacke. Es wurde gefährlich eng.   „Ey Giftzwerg, hast du nicht Klavierunterricht?“   Mein Bruder hatte mich bemerkt und seine Sonnenbrille auf den Kopf geschoben. Ich konnte noch sehen, dass Noah sich auf die Ellbogen aufstützte, dann war ich auf mein Zimmer gerannt.   Ab da war mir klar gewesen: Brüste fand ich nicht so geil. Schwänze hingegen schon. Also, jedenfalls Noahs, den ich zu dem Zeitpunkt zwar noch nicht kannte, ihn mir aber oft genug vorstellte. Und wann immer ich es nicht mehr aushalten konnte – und zum Spaß für zwischendurch – hatte ich beim onanieren an Noah gedacht. Das war am Anfang mega schwer, weil mein Körper einfach völlig verrückt spielte, wann immer Noah in meiner Nähe war. Und weil er ein fast täglicher Gast bei uns war, war das ein einziger Spießrutenlauf.   Ein halbes Jahr nach meinem dreizehnten Geburtstag brach Noah mir unbeabsichtigt das Herz.   Er hatte einen Freund.   Noah war schwul – und die nächsten vier Jahre die Hölle. Sein Freund, Frank, war echt nett. Jedenfalls so lange, bis er ihn betrogen und Noah mit ihm Schluss gemacht hatte. Das war vor ein paar Monaten, ich glaube drei. Vielleicht auch vier.   Seitdem ist Noah Single und ich der Meinung, dass ich endlich Nägel mit Köpfen machen muss.   Klingt soweit nicht weiter schlimm, oder?   Tja.   Noah ist der beste Freund meines Bruders.   Noah ist sechsundzwanzig, ich gerade siebzehn geworden.   Ich bin seit vier Jahren – bewusst – in den schwulen besten Freund meines Bruders verknallt, fast zehn Jahre jünger, gehe noch zur Schule und möchte endlich einen Freund haben.   Möchte Noah haben.   Und ich habe keinen Peil, wie ich das anstellen soll.   Kapitel 1: ----------- Noah hat sich von Frank getrennt! Im ersten Moment möchte ich Luftsprünge machen. Im zweiten möchte ich Frank schlimm verprügeln, weil der einfach mit jemand anderen vögelt, wo er den wundervollsten Mann an seiner Seite hat, den man sich wünschen kann. Und im dritten Moment plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich mich nicht darüber freuen sollte, dass meinem Schwarm das Herz gebrochen wurde. Schließlich möchte ich doch nur, dass er glücklich ist... mit mir, zugegeben. Noah ist vor einer Woche hier aufgekreuzt, eigentlich nichts Ungewöhnliches. Als ich die Tür öffnete, waren seine Augen feucht. Entweder hatte er geweint oder stand kurz davor, keine Ahnung. Er ist wohl genauso überrascht wie ich gewesen, dann hatte er sich an mir vorbei gedrängt, nach Bastian gerufen und ist mit ihm in dessen Zimmer verschwunden. Ich hatte Noah an diesem Tag nicht mehr gesehen, erst am nächsten Morgen, als er mit am Frühstückstisch saß. Da hat er mir ein strahlendes Lächeln geschenkt, wie immer, schob mir einen heißen Kakao über den Tisch und plauderte völlig gelassen daher, als hätte er am Tag zuvor nicht Nervenzusammenbruch ausgesehen. Bastian erzählte mir später, dass Noah mit Frank Schluss gemacht hatte. Die Freude hält seit einer Woche an, allmählich ebbt sie jedoch ab. Ich sollte mich schrecklich fühlen, aber das einzige, woran ich denken kann ist die Frage, wie ich es nun schaffe, Noah von mir zu überzeugen. Der geht mit der Situation entweder mega souverän um oder versteckt seinen Kummer sehr gut. Ich kann das nicht so einschätzen, weil wir nicht viel Zeit miteinander verbringen – leider. Schließlich ist er nicht mein bester Freund. Trotzdem versuche ich ihn so oft zu sehen wie möglich, lauer am Fenster und warte, dass er vorbei kommt. Manchmal bin ich schnell genug und öffne ihm die Tür, manchmal kommt Bastian mir zuvor. Der ist im Großen und Ganzen einfach nur genervt und hackt ständig auf mir rum. Das hat er schon immer. Ich bin nur der Giftzwerg oder Grottenolm. Noah hat mich schon immer liebevoll verteidigt – alleine dafür muss man ihn ja schon lieben – aber am Ende des Tages hat er sich immer mit Bastian zurückgezogen und mir nur durch die Haare gewuschelt. Ich heiße im Übrigen Konstanin, bin letzten Monat – im Juni – siebzehn geworden, gehe auf die örtliche Realschule und hoffe, dass ich das Abitur nicht völlig in den Sand setze. Ganz auf den Kopf gefallen bin ich zwar nicht, aber Mathe... puh, also den Kram, den wir da durchnehmen? Bin ja schon froh, dass ich mich beim Vorrechnen an der Tafel nicht völlig blamiere... nicht immer jedenfalls. Ich würde mich als guten Durchschnittsschüler bezeichnen. Bisher war ich noch nicht versetzungsgefährdet, aber sind wir doch mal ehrlich: würde ich nicht ständig wie ein Besessener lernen, könnte das durchaus Realität für mich werden. Die restlichen Fächer sind soweit in Ordnung, Musik das einzige in dem ich wirklich glänze. Ich spiele nämlich seit dem Kindergarten Klavier und habe damit bis heute nicht aufgehört. Eigentlich gibt es nicht viel, über das ich groß klagen könnte. Meine Eltern, Lisa und Richard, sind super lieb, kümmern sich und wir wohnen in einem netten Haus mit Garten. Wir baden zwar nicht im Geld, aber schlecht geht es uns auch nicht. Passend zum Familienbild haben wir auch einen Hund: groß, schwarz, haarig. Der heißt Oskar und ist so treudoof, der würde dem Einbrecher den Tresor zeigen anstatt ihn zu verjagen. Seine Schäferhundgene müssen wohl irgendwann in seinen fünf Jahren abhanden gekommen sein. Meistens muss ich mich um ihn kümmern, weil meine Eltern beide Vollzeit arbeiten und Bastian mit dem Zug zwischen daheim und seiner Arbeit als Fotograf in einer anderen Stadt hin und her pendeln muss. Wir haben auch hier genug Studios, aber er wollte nicht in der Nähe arbeiten. Wette, der hat das extra gemacht. Und weil ich nur zur Schule gehe, habe ich die meiste Zeit... lernen ist ja nicht ganz so wichtig wie arbeiten. Ich möchte mich nicht beschweren, Oskar ist toll, der versteht einen. Der hört zu, legt den Kopf schief und kuschelt mit einem. Leider gibt er mir keine klugen Ratschläge bezüglich Noah was wiederum ziemlich doof ist. Über meine Freunde kann ich auch nicht klagen. Ich würde nicht behaupten, dass ich besonders viele habe, eher viele Bekannte mit denen ich gelegentlich was unternehme. Meine beste Freundin Hannah findet, dass ich Noah einfach vor vollendete Tatsachen stellen soll. Ich finde, Hannah hat keine Ahnung. Wir haben uns zwar erst auf der Realschule kennen gelernt, aber es war bei uns Freundschaft bis in den Schwachsinn auf den ersten Blick. Hannah ist wie Oskar, allerdings helfen mir ihre klugen Ratschläge nur bedingt. Es weiß nämlich außer ihr niemand, dass ich auf Jungs stehe. Also, auf Noah. Meine Eltern und Bastian sind zwar super tolerant und hätten bestimmt auch kein Problem damit wenn ich mich oute, aber wissen müssen die es trotzdem nicht. Erstmal. Es ist eh schon schlimm genug, dass Bastian mich ständig damit aufzieht, dass ich noch keine Freundin habe. Er hatte mit vierzehn seine erste Freundin und in meinem Alter war er schon längst sexuell aktiv. Ich möchte mich für Noah aufsparen, weil ich andernfalls das Gefühl habe, ihn zu betrügen. Hannah ist ja der Meinung, dass zwischen Erfahrung sammeln und betrügen ein großer Unterschied liegt. Noah hat schließlich Erfahrung und weiß bestimmt was er will – wenn er dann mit mir ins Bett hüpft, erwartet er bestimmt das ich weiß wo's lang geht. Ich mache mir viele Gedanken über Sex und das nicht nur, weil ich ein Teenager bin. Sex mit Noah... ich weiß, dass ich das will, aber wenn ich anfange darüber nachzudenken, kriege ich trotzdem kalte Füße. Ihn küssen und mit ihm kuscheln ist da ein viel sicheres Thema. Leider tun wir weder das eine, noch das andere. Seit mit Frank Schluss ist hätte ich jeden einzelnen Tag ehrlich zu ihm sein können. Wir hatten auch oft genug Zeit alleine – wenn Bastian verspätet nach Hause kam weil der Zug nicht zurande kam. Dann haben wir Karamell-Krokant-Cappuccino getrunken und zusammen gewartet. Kann ihn ja schließlich nicht alleine lassen, das wäre doch langweilig für ihn. Finde ich jedenfalls. Mann, Noah macht mich schrecklich nervös. Ich hab total Probleme, ihm länger als ein paar Minuten in die Augen zu schauen. Die sind stahlgrau und funkeln ständig wie verdammte Sterne, weil er fast immer lächelt. Seine blonden Haare liegen zur perfekten Out-of-Bed-Frisur auf seinem Schädel. Meistens hat er einen leichten Drei-Tage-Bart was ich wahnsinnig sexy finde. Wenn alle Männer so aussehen würden wie er... vielleicht würde das vieles einfacher machen – da kann ich dann auch notfalls Erfahrung sammeln. Noah trägt bevorzugt schwarze Jeans die eng genug sind, um seine trainierten Fußballerbeine zu unterstreichen. Kombiniert er dann oft mit einem coolen, feschen Tshirt und / oder Hemd. Ich glaube, er besitzt Chucks in allen Variationen. Gott, Noah ist so cool. Mein Bruder und er kennen sich im Übrigen seit dem Kindergarten. Da haben die sich aber zunächst gehasst, weil Bastian schon damals ein totaler Draufgänger gewesen ist, Noah das genaue Gegenteil. Irgendwann ist die Abneigung dann aber umgeschlagen und sie haben festgestellt, dass sie ohne einander nicht wollen. Seitdem sind die beiden ein Herz und eine Seele. Bastian hat auch überhaupt keine Probleme damit, Noah nah zu sein. Der kann ihn auch in die Arme nehmen und trösten, wenn es ihm nicht gut geht. Das weiß ich, weil ich mal heimlich durchs Schlüsselloch geguckt habe... ich bin so krass neidisch auf meinen Bruder, weil der Noah wie selbstverständlich berühren kann und ich schon Schweißausbrüche kriege, wenn er mir die Hand zum Geburtstag schüttelt. Wenn er mir durch die Haare wuschelt, kribbelt mein ganzer Körper. Wenn er mich anlächelt, möchte ich die ganze Welt umarmen. Wenn er mit mir spricht, kann ich manchmal nur noch auf seine Lippen starren. Ich mag ihn so gerne küssen, dass es weh tut. Leider signalisiert er mir keinerlei Interesse gegenüber. Also, Interesse, das über die alltäglichen Fragen nach Schule und was ich so mache hinaus geht. Ich bin nämlich nur der kleine Bruder von Bastian, der immerhin keine ätzende Nervensäge ist, weshalb er auch Zeit mit mir verbringen kann – zumindest bis Bastian aufkreuzt. Die beiden haben früher zusammen Fußball gespielt, jetzt spielt nur noch Noah. Ich habe ja kein einziges Spiel verpasst. Manchmal mit Bastian zusammen, meistens aber heimlich. Noah weiß nämlich nicht, dass ich alles über seinen Fußballverein weiß und jede News wie ein Stalker verfolge. Nicht, dass mir mein umfangreiches Wissen nützt, weil ich nämlich nie über so was mit ihm rede. Will mich ja nicht verdächtig machen. Und dann ist da noch die Sache mit dem Alter. Bis vor einem Monat war er halt noch zehn Jahre älter als ich. Jetzt bin ich zwar siebzehn und wenn etwas zwischen uns laufen würde, wäre es ja mit meinem Einverständnis und ausnutzen würde er mich auch nicht. Andererseits bin ich mir doch relativ sicher, dass meine Eltern das nur semi-geil finden würden. Mal völlig abgesehen davon, wie Noah wohl darüber denken würde? Frank war zwei Jahre älter als er, stand fest mit beiden Beinen im Berufsleben – irgendwas im Bereich Hotelmanagement – und hatte sein Leben voll im Griff. Also, hat er immer noch, aber weil er quasi Geschichte ist, rede ich über ihn nur in der Vergangenheit. Aber dieser Knallkopp soll uns nicht weiter interessieren. Jedenfalls mache ich mir dann doch ein bisschen Sorgen, dass Noah vielleicht nur das Kind in mir sieht. Noch schlimmer: den kleinen Bruder seines besten Freundes. Ist das nicht sowieso ein totales Tabu? Immerhin möchte ich mich ja nicht zwischen die beiden drängen weil ich dann doch weiß, wie viel die beiden einander bedeuten. Jeder, der die beiden kennt, sieht das. Ändert nur leider nichts an meinen Gefühlen. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Mann, mir geht echt die Pumpe. Nervös spiele ich mit der Karte in meinen Händen herum. Morgen, also Sonntag, habe ich ein Charity Klavierkonzert. Das wurde schon vor ein paar Monaten bekannt gegeben, aber ich habe Noah davon nichts erzählt gehabt. Bastian hat ihm das wiederum bestimmt erzählt, weil sowohl er als auch unsere Eltern anwesend sein werden. Hannah wird auch da sein und eine Karte habe ich noch übrig... Ah, ich höre Stimmen! Verrenke mir halb den Kopf um aus meinem Fenster zu gucken, das nämlich raus zur Straße geht – die Haustür also perfekt im Blick! Noah verabschiedet sich gerade von Bastian, der war nämlich für einen der regelmäßigen Spieleabende zu Besuch. Noah verlässt die Einfahrt und macht sich auf dem Weg zum Bahnhof, er wohnt sechs Stationen weiter weg etwas außerhalb vom Stadtzentrum. Bis zum Bahnhof braucht er knapp zehn Minuten. Oskar braucht nochmal einen Abendspaziergang! Die Karte verschwindet in der Tasche meiner Sommershorts – ehrlich, es ist schon nach sieben am Abend und draußen kann man immer noch ein Steak in die Sonne halten um es schön durchzubraten – meine Schlüssel in der anderen, dann sprinte ich die Treppen nach unten und pfeife nach Oskar. Der kommt glücklich angesprungen wie ein Reh, ich mache die Leine fest und schlüpfe in meine Birkenstock Sandalen. An dieser Stelle dürfen jetzt alle bitte den Mund halten, ok?! Bastian zieht eine Augenbraue hoch als er mir entgegenkommt. „Wo willst du denn noch hin?“ Ich deute auf Oskar, der Bastian mit großen Augen anhechelt. „Ich drehe nochmal ne Runde mit Oskar.“ Schwupps, ab durch die Tür, die ich schnell hinter mir zuziehe. Dann sehe ich zu, dass ich nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam hinter Noah her eile. Der soll immerhin nicht denken, dass ich ihm nachrenne... Noah biegt gerade in den kleinen Schleichweg nach links ab und ich nehme allen Mut zusammen, sprinte mit Oskar auf die andere Straßenseite und rufe nach Noah. Der zuckt etwas erschrocken zusammen, bleibt stehen und dreht sich um. Als er mich sieht, scheint er ehrlich überrascht zu wirken, auf ein freundliches Lächeln muss ich aber nicht lange warten. Weil ich keine Kondition habe und Oskar fröhlich mit dem Schwanz wedelnd ein bisschen nach vorne zieht, geht mein Atem etwas schneller, als ich vor Noah stehen bleibe. „Alles in Ordnung bei dir?“, erkundigt sich Noah mit warmer, tiefer Stimme, die sofort die Schmetterlinge in meinem Bauch aufschreckt. Mann, ich wünschte, der würde mir mit dieser Stimme ins Ohr flüstern... und seine Lippen würden dann ganz zart mein Ohr und Nacken streifen. Au weia, jetzt bloß nicht mit zu fantastischen Gedanken ankommen! „Ja, ich... Oskar, sitz!“ Der Hund beschnuppert Noah nämlich viel zu intensiv und stupst ihn mit der Schnauze gegen das Bein. Der hat keine Hemmungen um nach Aufmerksamkeit zu betteln. Noah tätschelt ihm lieb den Kopf, Oskar setzt sich neben ihn hin und ist mit sich selbst scheinbar vollauf zufrieden. Gott, der ist so ein süßer Trottel. Endlich wage ich es, Noah anzuschauen und muss leicht schlucken... also, wir sind uns nicht ZU nah, aber auch nicht gerade auf normalen Abstand weil die Leine für Oskar kurz gestellt ist und ich deshalb nicht so weit von ihm weg kann ohne ihn zu strangulieren. Ich kann Noahs Parfüm ganz dezent riechen. Mann, ich mag meinen Zinken an seinen Hals vergraben. „Sorry das ich dich aufhalte. Äh, ich... ich habe morgen ein Klavierkonzert und noch eine Karte übrig...“, fische besagte Karte aus meiner Hosentasche und halte sie Noah hin, „und dachte, du hättest vielleicht Zeit und Lust zu kommen?“ Haha, kommen... oh Mann, ich bin so ein scheiß Teenager. Mein Gesicht fühlt sich unglaublich heiß an, aber das ist die Abendsonne. Immerhin sind es noch gefühlt tausend Grad hier draußen! Noah senkt den Blick auf die Karte in meiner Hand, etwas überrascht, aber immer noch lächelnd. Dann streckt er seine rechte Hand aus und nimmt die Karte entgegen, wobei seine Fingerspitzen die meine hauchzart berühren. Meine Finger gehen in Flammen auf!! Ich kriege Gänsehaut. Leider ist dieser zarte Kontakt viel zu schnell vorbei und ich habe alle liebe Mühe, den Blickkontakt aufrecht zu halten. „Klar, gerne. Danke für die Einladung, Konstantin. Das ist echt lieb von dir.“ Oahhh, wenn er mich bei meinem Namen nennt, wird mein ganzer Körper zur reinen Quabbelmasse. Ich fühle mich wie die Hyänen bei König der Löwen. Mein ganzer Körper kribbelt und ich hab das Gefühl mich angenehm schütteln zu müssen. „Äh...cool, das freut mich. Bastian ist auch da.“ Oh Gott, ich bin so ein Trottel! Es soll doch um mich gehen, wieso erwähne ich da meinen doofen Bruder?! Das ist ja wie, als würde man beim Date über den oder die Ex reden. „Super, ich freue mich. Gehst du noch eine Runde mit Oskar?“ Ich nicke vielleicht etwas zu heftig. Fühle mich wie ein Wackeldackel im Auto mit Schleudertrauma. Meine Kehle ist auch so furchtbar trocken gerade, ich bringe irgendwie keinen Ton raus. Freut er sich wegen mir? Oder weil Bastian da sein wird? Argh!! „Lass uns doch ein Stück zusammen gehen, dann ist es für uns beide nicht so langweilig.“ Noah zwinkert mich an und Sekunden später laufe ich wie betäubt neben ihm her. Oskar trottet mit sich selbst zufrieden brav mit. Mein Schwarm und ich schweigen, was mich in eine tiefe Krise stürzt. Ob ich ihn langweile? Ist er nur freundlich, weil es sich so gehört? Mann, wieso fällt mir nichts Cooles ein, das ich zu ihm sagen oder ihn fragen könnte? Das ist nämlich leider auch so ein Problem. Ich weiß immer nie, worüber ich mit ihm reden soll oder kann. Wenn er zu Besuch ist, sind es eher belanglose, alltägliche Dinge. Worüber man halt so quatscht. Aber ich will ja, dass er mich mag und mich interessant findet. Zum Glück nimmt er mir das gerade ab. „Hast du deswegen die letzten Monate so viel geübt?“ Oh Gott, das ist ihm aufgefallen?! Mir ist nach kaputt gehen. Ich nicke schwächlich. „Irgendwie wollte es mir nicht so richtig gelingen. Ich spiele selten Beethoven und das 5. Klavierkonzert ist so beliebt, dass ich es auf keinen Fall versemmeln will.“ „Ich bin mir sicher, dass du es auf keinen Fall versemmeln wirst.“, muntert Noah mich auf und blickt mich von der Seite her an. Das kann ich allerdings nur aus dem Augenwinkel sehen, weil ich befürchte, dass meine hochrote Birne sonst explodiert wenn ich ihn ansehe. Mir bedeutet sein Zuspruch so wahnsinnig viel, gleichzeitig möchte ich schreien, weil es für ihn einfach nur nette Worte sind – die mir allerdings Herzrasen bescheren. Ich schaffe es ein leises Danke zu nuscheln bevor der blöde Bahnhof in Sicht kommt. Ärgerlich stelle ich fest, dass ich die Zeit mit Noah einfach nie richtig nutze. Warum muss der mich auch so nervös machen? Ich wünschte, ich könnte so cool und entspannt sein wie er es ist. Ob es am Altersunterschied liegt? Oder doch nur an meiner völlig aus den Fugen geratenen Gefühlswelt? Egal. Wir bleiben vor den Treppen zum Gleis stehen – ich schaffe es endlich, Noah anzusehen. Mann, der ist so unfassbar schön. Und wenn er mich so anlächelt... ich möchte schmelzen. „Danke für die Einladung. Wir sehen uns dann morgen Abend.“ „Ja... ich freue mich. Es gibt anschließend noch einen kleinen Umtrunk, aber wenn es dir zu spät wird, musst du natürlich nicht bleiben!“, schiebe ich schnell hinterher und bete innerlich, dass ich ihn nach dem Konzert noch sehen kann. „Da werde ich nicht nein sagen. Also dann, machs gut Konstantin.“ Seine linke Hand legt sich auf meinen Kopf und... wuschelt mir durch die Haare. Seine Berührung jagt ein Kribbeln durch meinen Körper, ich will ihm um den Hals fallen, will seinen Geruch einatmen, meine Arme und Beine um ihn schlingen... verliebt sein ist furchtbar anstrengend. Bilde ich es mir nur ein, oder bleibt seine Hand länger als sonst auf meinem Kopf liegen? Noah blickt mich einen Moment einfach nur an, dann lächelt er, zieht seine Hand zurück, tätschelt Oskar, der fröhlich mit seinem Schwanz wedelt und macht sich auf zum Gleis. Mir ist nach sterben. Ich kann ihm nur völlig entrückt nachsehen, finde aber, dass ich mich schnellstmöglich vom Acker machen sollte. Nicht das er noch denkt, ich würde wie eine über fürsorgliche Mutti darauf warten bis er in den Zug eingestiegen ist. Oskar trabt munter neben mir her während ich mich fühle, als würde ich dringend ein Sauerstoffzelt benötigen. Wie soll ich Noah denn jemals meine Liebe gestehen, wenn er mich so wahnsinnig verunsichert? Ich bringe kaum einen vernünftigen Satz raus. Also, keinen von wirklicher Bedeutung. Ich möchte gerne unbeschwert mit ihm umgehen, bin aber viel zu nervös und verunsichert. Einerseits finde ich, dass ich einfach ehrlich sein sollte. Was habe ich zu verlieren? Wenn er mich nicht mag – also, nicht SO mag – dann wird das auch nicht der Weltuntergang sein, ganz gleich, wie es sich für mich anfühlen wird. Dann weiß ich immerhin, woran ich bei ihm bin. Andererseits bin ich davon überzeugt, dass ich ihn von mir überzeugen muss. Wenn er mich eben noch nicht im richtigen Licht sieht, muss ich dafür sorgen, dass er es tut. Wie? Keine Ahnung. Das sollte ich besser nochmal ausführlich mit Hannah diskutieren. Sicher ist sicher. Nach einer kleinen Runde durch den Park muss ich Oskar davon überzeugen, dass nach Hause gehen bei den Temperaturen eine gute Idee ist. Ihr müsst verstehen: Oskar liebt es, draußen zu sein. Egal wie das Wetter ist. Das ist im Hochsommer eine Qual und im Winter genauso. Ich bin nämlich eine totale Frostbeule und permanent erkältet, sobald die Temperaturen unter fünf Grad sinken. Mit einem Hund ist das ganze eher suboptimal. Am Ende kommen wir aber doch nach Hause, Oskar schmeißt sich auf den kalten Fließenboden in der Wohnküche und ich verziehe mich mal ganz schnell auf mein Zimmer. Ich wähle Hannahs Nummer noch während ich mich auf mein Bett fallen lassen. Es dauert nicht lange, bis sie abnimmt. „Und?“, kommt es neugierig vom anderen Ende der Leitung und ich weiß genau, dass meine beste Freundin aufgeregt an ihrem Daumen rum knabbert. Das ist nämlich so eine Angewohnheit von ihr. „Er kommt! Also, zum Konzert, meine ich.“ Hannah lacht sich schlappt. „Das ist mir auch klar, Blödkopp. Siehst du, hab doch gesagt, dass er sich dein Geklimper nicht entgehen lässt.“ Auch wenn Hannah immer brav zu all meinen Konzerten kommt – klassische Musik ist nichts für sie. Sie liebt es laut, rockig, punkig, Hauptsache sie kann auf der Tanzfläche herum hopsen wie ein verdammtes Eichhörnchen auf irgendwas. Vor einiger Zeit hatte sie ihren Kopf dabei zu sehr herum geschleudert und musste für eine Weile eine Halskrause tragen. Meistens gehen wir zusammen an den Wochenenden feiern und auch wenn ich hauptsächlich klassische Stücke auf dem Klavier spiele, höre ich in meiner Freizeit lieber rockiges und alternatives. Ich finde, es ist eine gute Mischung. „Er bleibt anschließend auch noch zum Umtrunk.“ „Also die perfekte Gelegenheit ihm zu sagen, dass du verknallt bist! Mit ein Glas Sekt geht das bestimmt viel einfacher.“ Ich bräuchte eher ein ganzes Fass, befürchte ich heimlich. „Das kann ich ihm doch da nicht sagen! Meine Eltern und Bastian werden auch da sein. Das geht nicht.“ „Meine Güte, du findest auch für alles eine Ausrede. Du hast doch seine Nummer, oder?“ Naja... ICH hab die nicht, aber unser Haustelefon hat seine Nummer im Telefonbuch. Ich nicke. Weil Hannah das ja aber nicht sehen kann, bestätige ich es auch nochmal mit Worten. „Ruf ihn doch einfach an und frag ihn, ob er mal Zeit hat sich mit dir zu treffen.“ „Das hatten wir doch schon, wieso sollte er sich mit mir treffen? Alleine?“ „Wieso sollte er nicht?“ „Weil ich nicht sein bester Freund bin?“, schlage ich etwas gereizt vor. „Aber sein zukünftiger boyfriend. Mann, ernsthaft, du schleichst vier Jahre schon um ihn herum. Wenn das so weiter geht, stirbst du noch als alte Jungfer. Maxi findet dich übrigens süß.“ Ich werde schlagartig rot. „Wer?“ „Maxi. Du erinnerst dich? Klein, Schmollmund zum Knutschen, Schneewittchen Look?“ Mir dämmerst es ein klein wenig, glaube ich. Letztes Wochenende waren wir nämlich in unserem Stamm Club, dem Horizon, wo Hannah mich auf diesen zugegeben süßen Jungen aufmerksam gemacht hat. Ich selber bin nicht sonderlich groß, etwas über einen Meter siebzig, aber dieser Maxi ist noch ein Stück kleiner gewesen. Von Kopf bis Fuß steckte er in schwarz und sein Tshirt war gewollt ein bisschen löchrig – perfekte Aussicht auf seine Schneewittchen Haut. Im Discolicht konnte ich leider nicht erkennen, welche Farben seine Augen hatten, aber groß interessiert hat mich das auch nicht. Ich bin schließlich in Noah verknallt und habe keine Augen für andere Jungs. „Ja und?“, frage ich deshalb ein bisschen blöde nach und hoffe, dass Hannah nichts Blödes gesagt hat. Ich meine, woher weiß die, dass der mich süß findet? Die Frage schiebe ich direkt mal hinterher. „Mann, Maxi ist in der Parallelklasse! Er hilft in der Schulbibliothek aus und wir unterhalten uns halt öfter. Und am Montag haben wir halt zufällig gequatscht und da hat er nach dir gefragt.“ Wenn man Hannah kennen lernt, möchte man nicht unbedingt glauben, dass sie viel mit Literatur am Hut hat. Wenn man sie dann besser kennt, ist man doch ein wenig sprachlos. Hannah liest so wahnsinnig viel, dass in ihrem Zimmer mehr Bücher als alles andere zu finden ist. Ihre Bücher stapeln sich inzwischen auch auf dem Boden, weil sie kein weiteres Bücherregal in ihr Zimmer kriegt. Davon hat sie nämlich vier, alle doppelreihig mit Büchern voll. „Der erzählt dir einfach so, dass er mich süß findet? Ich bin doch kein kleines Kätzchen.“ „Er hat halt gefragt, ob du eine Freundin hast. Da hab ich nein gesagt, weil du Jungs interessanter findest. Hättest sein Gesicht sehen sollen, dem ist echt die Sonne aufgegangen und...“ „Hannah!“, kreische ich in einer Tonlage, die für mich völlig neu ist. Hab ich das gerade richtig verstanden? „Aua, was denn? Musst du so kreischen?“ Ich komm der gleich durch die scheiß Telefonleitung!! „Du hast ihm gesagt das ich schwul bin? Bist du wahnsinnig? Das muss doch nicht die ganze Schule wissen!“ „Ich hab doch nicht gesagt das du schwul bist. Nur, dass du Jungs interessanter findest. Und Maxi ist ja wohl nicht die ganze Schule.“ „Jungs interessanter finden impliziert ja wohl schwul sein. Ich fasse es nicht, du kannst doch nicht einfach so jemanden sagen... Mann, Hannah, das ist echt nicht okay.“ „Ach Konsti, tut mir leid. Ich dachte, da wäre nichts dabei. Maxi wird das garantiert nicht rum posaunen. Ehrlich, der ist total lieb. Und für den Fall, dass Noah dir einen Korb gibt...“ „... soll ich zu Maxi rennen? Das ist doch wohl völlig bescheuert.“ „Du kannst ihn ja mal kennen lernen. Er kommt am Freitag auch ins Horizon.“ Ich bringe Hannah um!! „Ich werde nicht mit ihm rum knutschen.“ „Du sollst ja auch nicht direkt über ihn herfallen. Was ist so schlimm daran, ihn kennen zu lernen? Und selbst wenn du Noah endlich deine jahrelange Liebe gestehst und ihr tatsächlich zusammen kommen solltet, hättest du in Maxi immerhin einen guten Freund.“ „Aber wie scheiße ist das denn bitte? Wenn er mich... äh, süß findet, ich aber in jemand anderen verknallt bin... das ist doch wohl total gemein. Ich will ihm keine Hoffnungen machen.“ „Sollst du ja auch nicht. Meinetwegen kannst du ihm auch direkt sagen, dass du verknallt bist. Dann weiß er woran er ist, aber Freunde könnt ihr ja trotzdem sein.“ Mir wird dezent schlecht. „Das ist wie, als wenn man nach einer Trennung sagt, dass man Freunde bleiben kann. Wie Fußpilz. Will keiner.“ „Du bist echt so anstrengend. Ich leg jetzt auf, da wartet noch ein Buch auf mich. Wir sehen uns morgen. Hab dich lieb.“ „Ich dich auch Hannah.“ „Weiß ich doch. Gute Nacht!“ Zack, da hat sie aufgelegt. Grrr, dieses Mädel macht mich noch wahnsinnig! Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ich liebe Hannah. Also, freundschaftlich. Sie ist die wunderbarste Freundin, die man haben kann. Lieb, intelligent, hilfsbereit. Ich kann sie zu jeder Tag und Nachtzeit anrufen. Aber manchmal könnte sie ruhig einen Gang zurückschalten. Sie will natürlich nur mein Bestes und unterstützt mich auch total darin, Noah für mich zu gewinnen. Ihre Mama ist nämlich Friseurin und Hannah hat viel von ihr gelernt und mir erst vor ein paar Wochen einen neuen Haarschnitt verpasst. So irgendwas zwischen Side- und Undercut. Ich finde, dass mir die langen Ponysträhnen echt auf den Senkel gehen, Hannah meint, dass es modisch und frisch aussieht. Naja, sie wird ja wohl Ahnung haben, oder?! Hannah wohnt übrigens mit ihrer Mama alleine, weil ihre Eltern sich getrennt haben, als sie in der Grundschule war. Weil Hannah aber eine recht große Familie mütterlicherseits hat und ihre Großeltern sie vergöttern, war es für ihre Mama als Alleinerziehende nicht ganz so schwer. Hannah selbst hat im Übrigen keinen Freund – auch keinen Schwarm. Dafür wollen ungefähr alle Jungs aus der Klasse mit ihr ausgehen. Ich kann es ihnen nicht verübeln, Hannah ist eine verfluchte Schönheitskönigin. Lange, rote Locken hat sie und große, grüne Augen. Gerade die richtige Anzahl an Sommersprossen und sie ist weder zu dick, noch zu dünn. Ich glaube, man nennt es Sanduhrfigur. Sie ist ein Stück größer als ich. Als wir uns in der fünften Klasse kennen lernten, saß sie neben mir und, offen und herzlich wie sie eben ist, streckte mir sofort ihre Flosse hin und stellte sich vor. Danach hat sie nicht mehr locker gelassen. Ich gebe zu, eine Zeit lang fand ich Hannah auch echt hübsch. Aber ich hätte mir niemals vorstellen können, mit ihr zusammen zu sein. Sie ist immerhin meine beste Freundin – da macht man so was nicht. Mit Hannah kann ich über alles reden. Sie auch mit mir. Mit dreizehn rief sie mich sonntagmorgens um sechs an und berichtete mir stolz, dass sie endlich ihre Tage gekriegt hat. Das ist, zugegeben, eine Info gewesen, die ich nicht unbedingt gebraucht habe. Aber es zeigt ganz gut, dass wir keine Hemmungen haben, uns auch intime Dinge zu erzählen. Wir gehen auch zusammen shoppen und ich habe Hannah bereits in Unterwäsche gesehen. Wenn sie neue BHs aussucht, muss ich das meistens erstmal absegnen. Wir haben keine Berührungsängste. Und so, wie sie mich wegen ihrer Tage anrief, rief ich sie an um ihr zu sagen, dass ich in Noah verknallt bin. Ich lege mein Handy auf meinen Nachttisch und bleibe erstmal eine Weile liegen. Muss das immer noch verdauen. Ein Junge findet mich süß. Also, ich erinnere mich, dass ich ihn auch eigentlich ganz nett gefunden habe. Hannah und ich haben uns gerade noch ne Cola zum Abschluss bestellt, als ihr dieser Junge auf der Tanzfläche aufgefallen ist. Da hat sie mir mit den Ellbogen in die Rippen gestoßen, dass ich meine Cola beinahe meinem Nachbarn in die Visage gekippt hätte. Maxi – jetzt weiß ich ja, wie er heißt – hat nämlich ganz entspannt herum getanzt und, das muss ich zugeben, sehr reizend ausgesehen. Ich meine, nur weil ich anderweitig verliebt bin heißt das ja nicht, dass ich nicht trotzdem feststellen kann, das jemand gut aussieht oder so... Jedenfalls hat er eine blaue Jeans getragen, die ziemlich verboten tief und bestimmt eine Nummer zu klein auf seinen schmalen Hüften saß. Und das schon erwähnte Tshirt hat ganz knapp über der Jeans geendet, weshalb man seinen Bauch ein bisschen sehen konnte. Wenn er die Arme über den Kopf gehoben hat, konnte man seinen Bauchnabel sehen. Ja, süß ist er. Aber ich bin halt in Noah verliebt. Bevor ich an diesem Abend schlafen gehe, gönne ich mir erstmal noch eine Dusche und studiere nochmal die Notenblätter, spiele mit meinen Fingern auf meinem Schreibtisch. Morgen werde ich nochmal lernen und beten, dass ich am Abend nicht versage. Genau in dem Moment denke ich an Noahs aufmunternde Worte und schlafe mit einem Lächeln auf den Lippen ein. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Mann, mir ist so schlecht, ich glaube ich muss brechen. Das liegt zum einen daran, dass draußen tausend Grad sind und ich im schnieken Anzug zugeknöpft schon jetzt schwitze wie ein Stier, zum anderen an meiner Aufregung. Hannah hat mir daheim noch die Krawatte gebunden, dann sind wir zu viert zur Philharmonie gefahren. Während ich mich verabschiedet habe, hat Bastian gerade mit Noah telefoniert, der bereits auf dem Weg sei. Ich möchte sterben. Auch wenn ich mich für das Konzert gewappnet fühle und heute bei der Probe keinen Fehler gemacht habe, bin ich wegen Noah mega nervös. Der wird nämlich mit in der ersten Reihe bei meiner Familie und Hannah sitzen. Zu wissen, dass hundert Augenpaare auf mich gerichtet sein werden, ist das eine. Zu wissen, dass Noah mich beobachten wird... Tief durchatmend strecke ich meine Finger, lasse meine Handgelenke kreisen, schüttele sie ein bisschen aus, strecke die Arme, entspanne meine Schultern. Es ist nur ein Konzert. Ich werde den Gästen Beethoven um die Ohren schmettern, mich brav verbeugen und anschließend eine Flasche Sekt köpfen. Klingt nach einem guten Plan. Als ich wenig später die verdammte Bühne betrete und das Publikum applaudiert bin ich froh, dass ich schon vorher vor Panik geschwitzt habe. Bevor ich Platz nehme, ruht mein Blick auf dem Steinway & Sons Konzertflügel. Ich brauche diese kleinen Momente, um mich mit dem Instrument bekannt zu machen. Das klingt merkwürdig, aber es ist eine fast schon intime Beziehung für mich. Wir werden eine Weile Zeit miteinander verbringen. Es wird still im Saal, ich setze mich. Und dann fange ich an. Meine Mutter liebt klassische Musik und hat mich, als sie mit mir schwanger war, mit Mozart, Beethoven, Bach und wie sie alle heißen beschallt. Ich spielte Stücke von Mozart bevor ich in die Grundschule kam. Als Baby habe ich nur zu klassischer Musik einschlafen können. Lego und der ganze Kram hat mich nie interessiert. Ich spielte nur mit musikalischem Spielzeug – damals noch sehr zum Leidwesen meines Bruders und Vaters. Meine Mama und ich stehen uns sehr nahe, die Musik verbindet uns einfach. Mein Papa und ich haben eine guter-Kumpel-Sohn-Beziehung, auch wenn er mir echt im Nacken hängt, was die Schule angeht. Er findet nämlich, dass ich mich nicht darauf ausruhen sollte, ein guter Pianist zu sein. Das tue ich auch nicht, aber wie ich bereits erwähnte... würde ich nicht so viel für die Schule lernen, würde ich mein Abitur wohl tatsächlich in den Sand setzen. Ich finde es auch wichtig, dass ich einen guten Schulabschluss habe und überlege, ob ich nicht sogar studieren soll. Am Ende breche ich mir noch die Hände und dann wars das mit meiner Karriere als Pianist, wobei ich nicht plane, damit wirklich erfolgreich zu werden. Naja, ich weiß es noch nicht. Keine Ahnung. Ich bin siebzehn, da muss man sich über so was noch keine Gedanken machen, oder? Ich habe gerade andere Probleme. Im Kindergarten habe ich bereits erste kleine Auftritte gehabt, meistens auf Festen, die wir gefeiert haben. Dasselbe hat sich dann in der Grundschule fortgesetzt, mit dem Ergebnis, dass ich nicht gerade beliebt gewesen bin. Vor allem nicht bei den Jungs. Die waren der festen Überzeugung ich sei ein Langweiler und gehöre verkloppt. Keine Sorge – ich bin kein Mobbingopfer gewesen. Aber die Jungs wollten nie mit mir spielen. Besser ist es auf der Realschule geworden, wobei Hannah da sicherlich auch ein nicht zu verachtender Faktor gewesen ist. Die findet Mobbing, Lästereien und blöde Witze nämlich total doof und teilt fleißig aus, wenn man etwas Blödes sagt oder tut. Ich verstecke mich nicht hinter ihr, aber manchmal bin ich doch froh, dass ich sie an meiner Seite weiß. Ein paar meiner besseren Bekannten – ich würde schon wagen, sie Freunde zu nennen, zumindest bis das Abitur vorbei ist – interessieren sich zwar nicht für meine Musik, aber zusammen feiern gehen ist kein Problem. Da können wir Spaß haben, über Dinge quatschen und einfach nur nett Zeit miteinander verbringen. Nicht, dass ich mich nur für Musik interessiere, aber sie spielt halt doch eine große Rolle für mich. Ich spiele eigentlich täglich auf meinem Flügel daheim – und wenn nicht, habe ich ganz schlimme Magenschmerzen. Ich habe es früher mal mit Sport probiert und – haha – auch Fußball gespielt, aber das ist mir dann doch etwas zu heikel gewesen. Und, bei aller Liebe, ich muss nur zehn Meter sprinten und brauche schon einen Notarzt. Neunzig Minuten einem Ball hinterher rennen? Selbstmord. Durch die Familienurlaube habe ich außerdem mein Interesse fürs reisen entdeckt. Und wenn es nur ein Städtetrip ist, ich mag die unterschiedlichen Kulturen und vor allem das Gefühl, dass mich keiner kennt. Noah ist vor einigen Wochen in Dublin gewesen, ganz alleine, ohne Bastian. Die fahren nämlich öfter mal zusammen weg... ich möchte vor Neid am liebsten grün werden. Jedenfalls möchte ich jetzt auch nach Dublin, schließlich brauche ich Gesprächsstoff, um mich mit Noah zukünftig austauschen zu können! In der Grundschule habe ich dann auch Klavierunterricht genommen – zunächst an einer Musikschule, durch die ich gute Kontakte bekam, später mit einem Privatlehrer, der zu uns nach Hause kam. Inzwischen übe ich lieber alleine oder gehe doch mal in die Musikschule und quatsche dort mit den Lehrenden und ein paar anderen Pianisten. Über die Musikschule ist auch das Charity Konzert organisiert worden und ich bin ziemlich überrascht gewesen als ich gefragt wurde, ob ich nicht spielen wollen würde. Meine Finger fliegen über die Tasten, gelegentlich schaffe ich es meine Augen zu schließen. Die Musik strömt durch meinen Körper, legt sich beruhigend um mich wie ein wärmender Mantel. All meine Sorgen und Gedanken sind wie weg geblasen. Ich fühle mich, als könnte ich Noah endlich sagen, was ich für ihn empfinde. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Natürlich tue ich das nicht. Nach dem Konzert bin ich nass geschwitzt und will nur noch nach Hause unter die Dusche. Ich konnte mein Frack nicht mehr anbehalten und habe es noch auf der Bühne ausgezogen. Die Krawatte habe ich immerhin hinter den Kulissen gelockert und die oberen Knöpfe meines Hemdes geöffnet. Ich bedanke und verabschiede mich von den Leuten vom Orchester und dem Dirigenten, dann sehe ich zu, dass ich meine Familie suche. Hannah findet mich zuerst. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid mit hauchdünnen Trägern, an der linken Seite hat es einen tiefen Schlitz. Sie ist dank der Highheels die sie trägt nun ein noch deutlicheres Stück größer als ich. Wie sie darauf laufen kann, ist mir ein Rätsel. „Konsti, du warst wundervoll!“, ruft sie fröhlich, schmatzt mir einen Kuss auf die Stirn und drückt mich viel zu fest. Ich tätschel ihr den Rücken – ihre Haut ist babyweich, das Kleid am Rücken vielleicht eine Spur zu tief ausgeschnitten. Ich erwische Bastian, wie er ihr heimlich auf den Hintern schaut. Ha! Mama und Papa umarmen mich auch. Dann fällt mein Blick auf Noah, der zwar keinen Anzug trägt, aber eine nette Hose mit Hemd und schöner Jacke. Mir wird direkt ein wenig schwumselig weil die Knöpfe seines Hemdes weit genug geöffnet sind, um die Mitte unter seinem Hals zu sehen. Dort, wo die Schlüsselbeine zusammen laufen. „Hab dir doch gesagt, du wirst es nicht versemmeln.“, strahlt er mich an und... wuschelt mir durchs Haar. Daran stört sich keiner: er wuschelt mir durchs Haar, da habe ich gerade laufen gelernt. Es ist, als würde er mir die Hand reichen. Hannah tätschelt mir den Arm. „Siehst du, du warst mal wieder der einzige, der sich verrückt gemacht hat. Also ich könnte jetzt einen Drink vertragen. Bastian, hattest du nicht die Bar gesehen? Kannst du mir zeigen wo sie ist?“ Bastian will, glaube ich, gerade widersprechen, aber Hannah hakt sich bei ihm unter und zieht ihn davon. Hannah ist nämlich ungefähr so oft bei uns wie Noah und irgendwie kann keiner ihr was übel nehmen, geschweige denn protestieren. Bastian hackt zwar ständig auf mir rum, aber Hannah findet er lustig und ich glaube, er kann sie gut leiden. Also, nicht auf die Art und Weise, wie ich Noah leiden kann. Eine Zeit lang hat Bastian übrigens geglaubt, dass Hannah meine Freundin sei. Meine Eltern wenden sich an Noah. „Möchtest du auch was trinken?“ Noah schüttelt leicht den Kopf. „Noch nicht, nein. Ich glaube, ich brauche ein bisschen frische Luft.“ Das ist mein Stichwort!! „Das wollte ich auch gerade sagen“, platzt es aus mir raus wofür ich überraschte Blicke ernte, „weil... es war so heiß auf der Bühne und ich hab ein wenig Kopfschmerzen. Die Abendluft tut bestimmt gut.“ „Na, dann sehen wir euch später einfach an der Bar, ja?“ Ich nicke meiner Mama zu und gucke ihnen noch nach bevor sie in der Menge verschwinden. Dann spüre ich Noahs Hand in meinem Rücken und möchte dringend kaputt gehen. „Du musst sicher erschöpft sein?“ Noah führt mich nach draußen und die Treppen hinab. Ein paar Stehtische stehen auch hier draußen und manche Gäste nutzen die Gunst des Außengeländes und rauchen. Wir gehen nach rechts und setzen uns auf den Rand des Brunnens. „Ein bisschen, ja. Aber wenigstens wars das jetzt erstmal. Das nächste Konzert ist irgendwann im Winter.“ Und bis dahin ist noch genug Zeit, in der ich einfach nur für mich alleine spielen kann. Naja und für die Familie oder für Hannah. Die fragt mich nämlich ständig, ob ich ihr dieses oder jenes Stück aus irgendwelchen Filmen oder Videospielen vorspiele und dann muss sie es aufnehmen und auf ihr Handy packen damit sie es ständig anhören kann. Daraufhin schweigt Noah eine Weile was mich in eine tiefe Krise stürzt. Klar, was soll er auch groß mit mir bequatschen oder dazu sagen? Mir fällt wieder auf, dass wir einfach keine gemeinsamen Themen haben. Irgendwann muss sich das doch ändern. Ich meine, wenn wir erstmal zusammen sind, dann müssen wir doch miteinander reden? „Du, Noah?“, höre ich mich plötzlich fragen und obwohl ich weiß, oder ein Teil von mir weiß, dass ich lieber die Klappe halten sollte, muss ich es einfach wissen. „Hm?“ Noah blickt mich neugierig an und... ich weiß nicht. Er sieht interessiert aus, aber sind das Gesprächspartner nicht immer, wenn man miteinander redet? Also, wenn man nicht mit einem völligen Idioten quatscht. Gott, ich hoffe ich bin so einer nicht für Noah!! „Bist du... äh, sehr traurig wegen der Sache mit... Frank?“ Ich glaube Noah guckt ungefähr genauso belämmert drein wie ich. Ich, weil ich keine Ahnung habe, was zum Teufel mich geritten hat, er, weil das wohl nichts ist, was er mit mir besprechen wollen würde, oder? Ich bin schließlich nicht Bastian. Und ein verdammter Teenie. Der hat bestimmt Besseres zu tun, als mit mir über seinen Ex zu reden. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ Argh, ich hasse es, wenn man mir Gegenfragen stellt!! Das macht jetzt alles nur noch komplizierter. Oh Mann, wie soll ich mich denn da jetzt wieder heraus manövrieren? „Ähm... also, naja... keine Ahnung, du wirkst ziemlich gefasst und... also Hannah kennt jemanden, der wohl gerade... ne ähnliche Situation durchmacht und weiß nicht so recht, wie sie ihm helfen kann... naja, da... dachte ich, vielleicht hast du ja einen guten... Ratschlag?“ Konstantin, alle Achtung. Respekt. Das ist ja mal überhaupt nicht durchschaubar! Damit kann ich nicht mal in einer Comedy Show auftreten. Noah wendet den Blick ab und schaut auf seine ausgestreckten Beine. Ich auch. Mann... „Tja... vermutlich. Ich glaube es war gut, dass er fremd gegangen ist. Damit lässt es sich leichter leben, auch wenn es das natürlich nicht besser macht. Das Wichtigste ist Ablenkung. Dank des Jobs habe ich davon ja genug.“, lacht er zuletzt leise und legt den Kopf in den Nacken, den Abendhimmel musternd. Es ist noch nicht wirklich dunkel, aber lange wird es nicht mehr dauern. „Ablenkung also... das werde ich dann mal so weiter geben. Danke dir.“ „Kein Thema. Bist du eigentlich verliebt?“ Ach du scheiße, hat er was gemerkt?! Mir bricht augenblicklich der Schweiß aus – schon wieder. Fuck, fuck, FUCK! Wie kommt der denn jetzt auch darauf? Ich meine, wieso fragt der mich so was? „Äh...“ „Sorry, ich bin sicher nicht der Richtige für so ein Gespräch. Entschuldige die Frage.“ „Nein, nein! Es... es ist kompliziert.“ Noah zieht eine Augenbraue hoch. „Ist es doch Hannah?“ „Hä?“, mache ich ziemlich dümmlich und Noah guckt ein klein wenig ertappt. Was ist denn nun los? Und warum habe ich Vollidiot quasi zugegeben, dass ich verliebt bin?! Ach du Heimatland, ich kann niemals wieder mit ihm reden!! Scheiße, das war irgendwie eine ganz dämliche Aktion. Warum habe ich noch gleich gedacht wäre es so wichtig, dass ich ihm endlich von meinen Gefühlen berichten müsste? „Bastian meinte, du verhältst dich in letzter Zeit etwas seltsam. Ich weiß ja, dass du und Hannah euch sehr nahe steht, aber... naja, beste Freunde und so ist halt immer ein totales Tabu, nicht wahr?“ „Ich bin nicht in Hannah verliebt.“, höre ich mich sagen und beschließe, Bastian irgendwelche Krabbeltiere ins Bett zu stecken. Wieso redet der mit Noah über mich? Und vor allem: wieso redet er über meine Gefühlswelt oder mein Verhalten oder über was auch immer die reden? Geschockt bin ich ein bisschen, weil Bastian scheinbar aufgefallen ist, dass ich mich... seltsam verhalte? Fuck, ich mache doch alles so wie immer. Und überhaupt, seit wann ist der so feinfühlig? Nicht, dass wir uns falsch verstehen. Ich mag Bastian, er ist immerhin mein Bruder. Natürlich muss das nichts heißen, aber bis auf die üblichen Geschwister-Probleme ist zwischen uns alles in Ordnung. Wenn ich ehrlich bin, wäre ich von meinem halbwüchsigen Teenager-Bruder auch genervt. Naja wobei, ich werde ja dann nächstes Jahr schon achtzehn, halbwüchsig bin ich also nicht mehr. Aber wie das so bei Erwachsenen ist: kaum sind sie zwanzig, denken sie, dass sie die Weisheit mit Löffeln gefressen und plötzlich voll den Plan vom Leben haben. Bastian wird im November sechsundzwanzig. „Du musst nicht mit mir darüber reden. Das geht mich schließlich nichts an.“ HAHAHA, wenn der wüsste!! „Nee, ist schon in Ordnung. Ich will dich damit aber nicht voll labern. Mhh, meinem Kopf geht es schon was besser, sollen wir was trinken gehen?“ Mal besser schnell aufs sichere Festland schwimmen. Bin ja schon froh, dass mir der Schädel nicht platzt. Für das erste Gespräch über Gefühle, so mehr oder weniger, war das doch schon mal nicht ganz so schlecht. Noah sieht mich einen Moment lang an. Also, vielleicht etwas länger als einen Moment. Mir wird etwas komisch weshalb ich ganz schnell aufstehe und zumindest noch halbwegs auf Noah warte ehe wir wieder rein gehen und uns zur Bar durchkämpfen. Hannah fällt mir schon wieder halb um den Hals, ein Glas Sekt in der Hand. Ihre Wangen sind etwas gerötet, scheint wohl nicht ihr erstes zu sein. „Hast du's ihm gesagt?“, wispert sie leise in mein Ohr und kichert, als hätte sie mir etwas total lustiges erzählt. Hannah ist eine verdammt gute Schauspielerin. Ich schüttele trotzdem mal ganz schnell den Kopf und bestelle mir ein Glas Wasser. Was anderes werde ich heute nicht mehr runter kriegen. Meine Eltern stehen an einem der vielen Stehtische und unterhalten sich mit irgendwelchen Leuten. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube ich kenne die irgendwoher. Sind glaube ich Bekannte. Als ich nach Noah schiele, sehe ich ihn mit Bastian, beide eine Flasche Bier am trinken. Mann, die sind schon wieder so ekelhaft vertraut und entspannt miteinander, mir wird spontan schlecht. Warum kann ich nicht Noahs Bastian mit gewissen Vorzügen sein? Ich bin leider nur der verliebte Trottel, der es nicht auf die Kette kriegt, Noah meine Gefühle für ihn zu gestehen. Es ist zum Heulen. Nach ein paar wenigen Stunden machen wir uns alle auf den Heimweg. Wir fahren Hannah nach Hause und fahren erst weiter, als sie in der Wohnung verschwunden ist. Noah ist mit dem Zug Heim gefahren, er wollte nicht, dass wir wegen ihm einen Umweg fahren. Das wäre zwar kein Problem gewesen, dennoch hat er höflich abgelehnt. Als wir daheim sind, gehe ich nochmal schnell mit Oskar raus – aber wirklich ganz schnell. Der freut sich wie doof, klar. Weil ich irgendwie das Gefühl habe, heute nicht alleine sein zu können, darf er bei mir im Zimmer schlafen. Meine Eltern wollen das eigentlich nicht, weil sie finden, dass ein Haustier nicht ins Schlafzimmer gehört. Mir ist das egal. Ist ja auch nicht so, als würde er ständig bei mir im Zimmer pennen. Nur manchmal eben. Nach meiner Dusche und Zähne putzen muss ich erstmal mit Oskar kuscheln. „Ich weiß einfach nicht, wie ich es ihm sagen soll.“, klage ich ihm mein Leid, was mir ein stupsen mit der feuchten Nase und ein glückliches hecheln ins Ohr einbringt. Ich sag ja, Oskar gibt keine guten Ratschläge. Wenigstens kuschelt er mit mir. Allerdings ist er auch der einzige. Ein Blick auf meine Wanduhr sagt mir, dass ich besser schon im Bett wäre. Mir ist gar nicht nach schlafen, aber morgen geht die Schule wieder los und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich Dienstag eine Geschichtsklausur. Mann, mein Kopf ist so voll mit Noah, dass mir das glatt entfallen sein muss. Ich werde also morgen nach der Schule mit lernen beschäftigt sein. Aber: neue Woche, neues Glück! Vielleicht schaffe ich es ja dieses Mal, Noah irgendwie anzusprechen... Kapitel 2: ----------- Schule ist echt die Hölle. Vor allem im Sommer.   Warum haben Schulen eigentlich keine Klimaanlage und unter den Tischen Bottiche für ein kaltes Fußbad?   Ich kann gar nicht so viel ausziehen, wie ich gerne würde, weil mir zu heiß ist und ich mich kaum konzentrieren kann. Die Mädels haben es gut. Die tragen luftige Sommerkleidchen. Hannah trägt ein königsblaues Skaterkleid und Sandaletten mit Keilabsatz. Wedges nennt man die glaube ich. Ihre Haare trägt sie hochgesteckt, was bei ihrer Lockenpracht wie eine Frisur für eine Gala aussieht. Ich trage die kürzeste Shorts, die ich in meinem Kleiderschrank finden konnte: mintgrün, Chinolook und obenrum ein weißes Tshirt. Hannah findet, ich sehe meistens so aus, als würde ich morgens früh in meinen Kleiderschrank rein stolpern. Ich finde, solange ich Klamotten am Leib trage, ist doch alles in Ordnung?!   Deutsch und Englisch gehen noch. Der Morgen und Mittag lassen sich gut überstehen. In der Mittagspause bin ich hin und her gerissen mir in der Mensa etwas zu essen zu kaufen oder einfach nur zu sterben. Wenn ich nämlich was essen würde, würde mein Körper arbeiten und das würde bedeuten, dass mir noch wärmer würde. Nee danke, ohne mich. Ich trinke lieber mein Wasser und hoffe, dass es mich bis vier Uhr sättigen wird. Dann ist die Schule nämlich aus, ich kann endlich Heim und was essen ehe ich mich mal wieder ans lernen mache. Mathe kapiere ich nämlich nicht. Mal wieder. Und nächste Woche steht noch eine Klausur an. Mann, wieso vergesse ich den ganzen Scheiß eigentlich dauernd?   Immerhin, es ist Mittwoch. Die Hälfte ist geschafft.   Am Freitag gehe ich mit Hannah ins Horizon und muss wieder daran denken, dass Maxi auch kommen wird. Seit Hannah mir das erzählt hat, nehme ich ihn in der Schule nämlich mehr wahr. Also, richtig wahr. Es spricht wohl nicht gerade für mich, aber er ist in meinem Biologiekurs. Sorry, ich hab halt keinen Kopf für andere Jungs, okay? Wir haben auch noch kein Wort miteinander gewechselt und ich bin mir relativ sicher, dass ich das nicht möchte. Das ist nämlich der Anfang vom Ende, ich weiß das. Sobald man freundlich zu jemanden ist der einen toll findet, schürt man Hoffnungen, selbst wenn man keine machen will. Und wenn ich jetzt plötzlich mit Maxi rede wo Hannah mir am Wochenende erst gesteckt hat, dass er mich süß findet, ja wie kommt das bitte rüber? Dann denkt er doch, dass ich ihn auch süß finde. Gut, er ist kein hässlicher Frosch, aber er ist halt nicht Noah. Punkt, aus, fertig.   Hannah meint, ich sei ein Arsch und es wäre doch nichts verkehrtes daran, wenn ich jemanden kennen lerne und neue Freundschaften schließe. Da würde ich ihr ja grundsätzlich zustimmen, aber... vielleicht, wenn Maxi jemand anderen süß findet. Ich möchte da lieber auf Nummer sicher gehen. Am Ende, das wissen wir alle, werden die kleinsten Dinge nämlich ganz schnell ganz hässlich. Darauf habe ich einfach keinen Bock.   In Musik kann ich endlich etwas entspannen, leider hält das nicht lange, weil ich danach Mathe habe. Ich könnt kotzen. Mathe am Morgen ist besser, als irgendwann am Nachmittag wenn die Luft eh schon raus ist. Bei mir war sie schon um neun Uhr morgens raus. Wenigstens muss ich nichts an der Tafel vorrechnen und versuche stattdessen dem ganzen Kram zu folgen. Vektorrechnung. Ein Kreuz in eine Tabelle kritzeln kriege ich ja gerade so noch hin. Da hört es dann aber auch schon auf.   Ab halb vier gucke ich jede verdammte Sekunde auf die Uhr. Das lässt den Minutenzeiger zwar nicht schneller werden, aber man kann es ja mal probieren. Als es dann endlich klingelt, stürme ich nach draußen und freue mich über die frische Luft, auch wenn es immer noch unerträglich heiß ist. Hannah läuft neben mir her.   „Vielleicht könntest du Noah ja fragen, ob er die Nachhilfe in Mathe gibt?“, schlägt sie nicht zum ersten Mal heute vor. Oder überhaupt. Damit fing sie nämlich vor ein paar Wochen schon an, also noch während Noah mit Frank zusammen gewesen ist. Hannah hat zu viele Bücher gelesen und findet diese ganze Nachhilfe-Sache wahnsinnig spannend.   „Stell dir doch mal vor, wie er sich zu dir lehnt und in deinem Heft mit dem Finger Fehler aufzeigt und dann drehst du den Kopf, weil dir das nicht aufgefallen ist, ihr schaut euch tief in die Augen... und dann küsst ihr euch.“   Mann, was für ein Buch hat die denn gelesen?!   „Ich könnte jeden um Hilfe fragen, wieso ausgerechnet Noah?“, halte ich dagegen und warte mit Hannah an der Bushaltestelle. Das mache ich immer: mit Hannah auf ihren Bus warten. Ich selber kann zu Fuß nach Hause laufen.   „Na, weiß nicht. Vielleicht weil du verknallt bist?! Was fragst du denn so doof. Ich kann ja verstehen, dass du es die letzten vier Jahre nicht gebacken gekriegt hast, immerhin war er in einer Beziehung. Aber jetzt kannst du es ihm doch sagen!“   Jaaahaaa, das weiß ich doch! Hilft mir aber leider nicht weiter.   „Er hat sich gerade erst getrennt... da ist er bestimmt noch nicht bereit für was Neues.“   „Naja, du musst ja nicht gleich mit ihm ins Bett gehen.“   Meine Birne wird ampelrot.   „Ich glaube, da kommt dein Bus. Wir sehen uns morgen.“   Hannah verdreht ihre hübschen Augen, schmatzt mir einen Kuss auf die Wange und winkt fröhlich lächelnd.   „Bis morgen, Konsti.“   Ich winke ihr noch hinterher, dann mache ich mich auf den Heimweg. Hannah hat echt gut reden. Eigentlich sollte es kein Problem sein, Noah zu sagen, wie ich empfinde. Die Welt wird halt nicht untergehen, wenn er mich ablehnt. Das macht es aber nicht einfacher. Ich fühle mich wie damals, als ich festgestellt habe, dass ich Noah liebe.   Und als ich Hannah davon berichtet habe...   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Ach du Heiliger!   Mein Herz rast bis zum Erbrechen, mir ist heiß und kalt gleichzeitig. Ob ich krank werde? Nein, natürlich nicht. Es ist Hochsommer, da kriegt man maximal Heuschnupfen. Wenn ich denn Heuschnupfen hätte.   Noah liegt unten im Garten, nur in Badeshorts. Mann, ist der schön. Ich schmeiße meinen Schulrucksack in die eine Ecke meines Zimmers, mein Tshirt in die andere. Es ist so heiß, dass ich schwitze ohne was zu tun. Und weil ich Noah halb nackt gesehen habe. Der hat Muskeln... also, nicht übermäßig, aber ein Sixpack hat er und Beine... hallelujah, die würde ich zu gerne mal anfassen. Und seine Arme...   Die Sache mit Noah ist ziemlich schnell aus dem Ruder gelaufen. Also, nicht wirklich.   Das irgendwas nicht mit mir stimmt, ist mir vor ein paar Monaten aufgefallen, das war noch vor meinem dreizehnten Geburtstag. Als ich vor einiger Zeit Laura geküsst habe, war das nicht so cool und spannend gewesen wie ich es erwartet habe. Es war nicht schlecht – aber gekribbelt hat es nicht. Im Sportunterricht habe ich nicht nach den Mädels geschielt – sondern nach den Jungs. Die Umkleidekabinen sind der Horror gewesen, weil ich total aufpassen musste, dass mir keine Peinlichkeit passiert. Es hat auch nicht geholfen, dass die Jungs sich manchmal aus Spaß... naja, irgendwie aneinander gerieben haben. Keine Ahnung, vielleicht ein Dominanzverhalten? Zum Glück bin ich nie dazwischen geraten, DAS wäre bestimmt peinlich geworden.   Nachts habe ich dann von Jungs geträumt. Das ist morgens früh beim Aufwachen teilweise echt eine Tortur gewesen. Mir ist klar gewesen, dass ich diese Gefühle nur bei Jungs hatte. Mädchen sind schön und meine beste Freundin Hannah ist das schönste Mädchen das ich kenne, aber... so, wie ich an und über Jungs denke, denke ich nicht an oder über Mädchen.   Noah ist der beste Freund meines Bruders und ich mag ihn echt gerne. Na, wie kann man ihn auch nicht mögen? Er ist charmant, witzig und total lieb. Wenn er zu Besuch ist, findet er immer ein bisschen Zeit um mit mir zu quatschen. Ich kenne ihn seit meiner Geburt, es gibt sogar Fotos von uns, wo er mich in den Armen hält. Oder Bastian und er spielen mit mir. Noah hat sogar Lego mit mir gespielt und ist es nie müde geworden, ein bisschen mit mir den Fußball hin und her zu kicken. Ich habe gerade laufen gelernt, da hat er mir zum ersten Mal durch die Haare gewuschelt. Also, was zu dem Zeitpunkt an Haaren halt so da war. Seitdem ist es zur Angewohnheit geworden. Als ich dann älter wurde war es seine Art mich zu begrüßen oder zu verabschieden.   Vor ein paar Wochen hat es angefangen.   Jede Berührung von Noah hat einen Blitz durch meinen Körper gejagt. Meine Haut hat gekribbelt, mein Bauch hat sich mega lustig angefühlt, ich bin dauernd rot geworden, wenn er das Wort an mich gerichtet hat. Am Anfang habe ich noch versucht, es als langanhaltenden Sonnenstich abzutun. Für einen Sonnenstich hat es sich nur leider viel zu gut angefühlt. Also, zum Glück.   Ziemlich panisch habe ich im Internet recherchiert, was das für komische Symptome sein könnten. Ich bin nicht doof, aber ich wollte es wohl nicht wahr haben. Oder mir Bestätigung holen, keine Ahnung. Man stellt halt nicht mal eben so fest, dass man vermutlich schwul ist, oder?   Schwul und verliebt.   Das Internet knallte mir diese Tatsache um die Ohren, dass ich hätte heulen können. Ich meine, was sollte ich denn tun?   Mit zwölf habe ich mich schrecklich kindlich gefühlt und total nicht bereit dafür. Jetzt bin ich zwar dreizehn, aber das ändert irgendwie auch nicht viel. Noah ist immerhin zweiundzwanzig. Der macht sich strafbar, wenn er was mit mir anfängt. Nicht, dass ich das will! Also, doch... ich meine, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich wahnsinnig verliebt bin.   Panisch rufe ich Hannah an.   „Du musst sofort herkommen!“, stelle ich sie vor vollendete Tatsachen und kreische vermutlich wie ein Mädchen. Ich bin nämlich noch nicht im Stimmbruch, was peinlich genug ist, weil die anderen Jungs das gefühlt schon Ewigkeiten hinter sich haben.   Hannah gibt ein leicht gequält klingendes Geräusch von sich. So klingt sie nur, wenn sie irgendwelche Kuschelsongs im Radio hört, die sie dann immer sofort wegklicken muss.   „Wow, Konsti, komm mal runter. Bin auf'm Weg!“   Ich lege auf und laufe in meinem Zimmer auf und ab wie ein Tiger im Zoo.   Scheiße.   Hannah wird es erfahren, das weiß ich jetzt. Ich werde ihr endlich erzählen, dass ich schwache Knie kriege. Bei Jungs. Das ich in Noah verliebt bin. Wie sie wohl reagieren wird? Hoffentlich rastet sie nicht aus. Andererseits, wieso sollte sie? Hannah ist furchtbar lieb, verständnisvoll und soweit ich weiß sehr tolerant. Sie wird ja hoffentlich kein Problem damit haben, wenn ihr bester Freund schwul ist, oder?   Immer wieder stehe ich am Fenster und warte, dass Hannah in Sicht kommt. Mann, ich muss auf Klo. Renne also schnell rüber ins Bad und während ich mir anschließend die Hände wasche, gucke ich in den Spiegel. Scheiße, ist das ein neuer Pickel? Ich rast aus, hoffentlich hat Noah mich nicht so gesehen! Ich hasse die Pubertät. Meine Haut ist zwar nicht der totale Albtraum, aber rein und makellos sieht anders aus.   „Ey, Grottenolm, deine Freundin ist hier!“, bollert es von unten herauf und ich schrecke aus meinem Tagtraum über Pickel und Pubertät auf. Ist Hannah geflogen oder was? Sie muss nämlich eigentlich den Bus nehmen.   Schnell trockne ich meine Hände ab, verlasse das Bad und renne fast in Hannah, die sich wie selbstverständlich schon mal auf den Weg nach oben gemacht hat. Das stört hier niemanden, schließlich ist Hannah für mich das, was Noah vermutlich für Bastian ist.   Hannah sieht mich entgeistert an und mir fällt etwas unangenehm auf, dass ich immer noch nur meine Sommershorts an habe. Oh weia.   „Ich dachte wir haben uns darauf geeinigt, dass das mit uns nur Freundschaft ist?“, hakt sie vorsichtig nach und zieht eine Augenbraue hoch. Ich beneide sie dafür, weil ich es auch gerne könnte. Manchmal übe ich es heimlich, kriege es aber nicht gebacken.   Schnell packe ich sie am Arm und ziehe sie in mein Zimmer welches schräg gegenüber vom Bad liegt. Nachdem ich die Tür geschlossen habe, krame ich nach einem frischen Tshirt und ziehe es schnell über. Danach laufe ich wieder auf und ab und knete meine Hände. Verdammt, das brennende Verlangen, ihr alles zu erzählen, ist wie verpufft.   „Du großer Gott, was ist denn los? Spucks schon aus!“   Hannah ist nervös, so viel ist klar. Sie wird mir gegenüber nämlich nie ungehalten. Also, sie ist nicht ungehalten, aber ziemlich skeptisch.   „Äh... setz dich besser.“   Schwupps, da sitzt sie auf meinem Bett. Mir wird ein bisschen flau im Magen. Wenn die wüsste, dass ich gestern Abend noch... au weia. Wobei, Hannah ist so abgebrüht – dabei ist sie genauso alt wie ich! - das die sich denken kann, was ich abends so in meinem Bett mache. Mit mir selbst. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Immerhin drängt Hannah mich nun nicht mehr, kann ihr aber ansehen, dass sie die Worte am liebsten aus mir raus prügeln würde.   Ich knete meine Hände als bestünden sie aus Play-Doh. Mann, vorhin ist mir das alles noch etwas leichter vorgekommen. Plötzlich mache ich mir riesige Sorgen. Was, wenn Hannah mich nun doch abartig findet? Ich könnte es, glaube ich, nicht ertragen, würde sie mich dann hassen. Andererseits... es ist Hannah. Die würde mir vermutlich helfen, eine Leiche verschwinden zu lassen anstatt mich der Polizei auszuliefern.   „Ich bin verliebt.“, gestehe ich und bleibe endlich stehen, kann Hannah aber nicht anschauen.   „Konstantin“, bringt sie meinen Namen mit halb angehaltenen Atem hervor und ich weiß, es ist ernst, weil sie mich nie bei meinem Namen nennt, „du bist echt süß und ich liebe dich auch, aber du bist mein bester Freund und das ist alles nur rein freundschaftlich.“, faselt sie und ich möchte sie am liebsten rütteln und schütteln. Ein bisschen weh tun ihre Worte schon, wie ich feststellen muss.   „Doch nicht in dich!“, schiebe ich schnell hinterher, woraufhin sie verstörend erleichtert wirkt.   „Sondern...?“   „In Noah.“   Ich muss wohl genuschelt haben, denn Hannah guckt ziemlich verwirrt.   „Nora? Also, bei aller Liebe, aber sie ist eine Schlange. Die lästert, das glaubst du nicht. Außerdem denkt sie, sie sei was Besonderes, weil ihre Eltern viel Geld haben und ihr alles kaufen, was sie haben will.“   Nora ist in unserer Klasse und ich stimme Hannah in allem zu. Kann verstehen, dass sie mich wohl missverstanden haben muss, weil ich ja nicht gerade deutlich gesprochen habe. Trotzdem... wie kann sie nur denken, dass ich ausgerechnet in Nora verliebt wäre?   „Noah.“   Es herrscht Stille in meinem Zimmer. Hannah sagt nichts. Ich sage nichts. Wir starren uns nur an. Plötzlich springt sie auf und stellt sich ganz dicht vor mich, sucht in meinen Augen nach... keine Ahnung, irgendwas. Ob ich wohl Scherze mache. Wir scherzen viel miteinander rum.   „Sag das nochmal.“   „Ich bin in Noah verknallt.“   „Noah? Du meinst, Bastians Noah? Den besten Freund deines Bruders?“   Wenn sie das so sagt, fühle ich mich furchtbar schlecht. Mir ist sehr danach, ihrem Blick auszuweichen, doch da packt Hannah mich am Kinn und zwingt mich, sie anzusehen. Ich nicke schwächlich, weil ich meiner Stimme nicht über den Weg traue. Hannah sieht... mhh, ich weiß nicht, geschockt aus? Keine Ahnung, ich kann das irgendwie nicht so richtig deuten. Sie lässt mich augenblicklich los.   „Das ist ein schlechter Witz. Das ist doch ein Witz, oder?“   Ich sage nichts.   „Oh Gott, du meinst das ernst! Konsti, also... bist du schwul? Ja klar, wenn du in Noah... ach du kacke, der ist wie alt?“   „Zweiundzwanzig.“   „Zweiundzwanzig! Und du bist dreizehn. Du bist fünf Jahre zu jung, um irgendwas mit dem anzufangen, mal völlig davon abgesehen, dass er der verdammte beste Freund deines Bruders ist. Bastian köpft dich, wenn er das erfährt.“   „Das soll er doch auch gar nicht! Mann, Hannah, ich... ich hab mir das doch nicht ausgesucht. Das kam halt irgendwie... so. Ich musste ständig an Jungs denken und ich kenne Noah seit ich ein Kind bin und...“   „Du bist immer noch ein Kind.“, stellt meine beste Freundin nüchtern fest und zieht mich zum Bett. Ich lasse mich fallen wie ein nasser Sack. Meine Knochen haben sich in irgendeine Quabbelmasse verwandelt. Mein Herz rast.   „Wie lange schon? Also, warum hast du denn nichts gesagt? Wenn du ja offensichtlich schon länger...“, nimmt sie gleich wieder das Wort an sich und ich fühle mich seltsam in die Ecke gedrängt. Dabei spricht Hannah völlig normal mit mir – wie immer.   „Ein paar Monate? Als ich mit Laura geknutscht habe... keine Ahnung, das war irgendwie... nicht so cool, weißt du? Ich hab gar nichts gespürt und fands halt überhaupt nicht schön. Dann hab ich mir vorgestellt einen Jungen zu küssen und das hat irgendwie mehr... gekickt.“   „Wie, das hast du dir einfach so vorgestellt? Ohne Vorbehalte?“   „Nein! Also, ja, irgendwie schon. Keine Ahnung. Irgendwann ist es dann aus dem Ruder gelaufen und ich konnte nur noch, wenn ich an Jungs-...“   „Um Gottes Willen, bitte erzähl mir nichts von deinen Wichs-Fantasien!“, ruft Hannah aus und hält sich prompt die Ohren zu. Ich will ihr am liebsten den Mund zuhalten und im Erdboden versinken. Zeitgleich, am besten. Mensch, was muss die denn hier so rum krakeelen? Hannah weiß, dass ich... naja, das ist ja wohl normal. Das musste ich ihr nicht erzählen, immerhin kann sie sich das denken. Mir ist es auch nicht wirklich peinlich, dass sie es weiß... naja, ein bisschen unangenehm vielleicht. Nicht, dass es wirklich ein Thema zwischen uns ist.   Ich boxe ihr leicht gegen den Arm, sie senkt ihre Hände und greift dann nach meiner. Sie drückt meine ganz fest.   „Hattest du Angst es mir zu sagen?“   „Nein. Ja. Irgendwie schon. Ich wusste nicht... ich meine, ich weiß ja selber nicht, was mit mir los ist... ist es nur eine Phase? Keine Ahnung.“   „Wissen es deine Eltern?“   „Nein! Das kann ich denen nicht sagen.“   „Aber Lisa und Richard sind doch super lieb. Die würden dich niemals verstoßen.“   Hannah darf meine Eltern seit dem ersten Tag duzen. Ich glaube, am Anfang dachten sie noch, dass Hannah mal später die Schwiegertochter wird. Aber so oft wie Hannah hier ist und so oft, wie in den drei Jahren, die wir uns kennen, nichts passiert ist... ich glaube sie haben sich allmählich damit arrangiert, dass Hannah nicht die Mama ihrer Enkelkinder wird.   „Das heißt aber nicht, dass sie es wissen müssen. Außerdem kann ich denen doch nicht sagen, dass ich Noah... liebe.“   „Das kannst du wirklich nicht. Die denken doch, der hätte dich angefasst oder so. Ist Noah eigentlich... äh, schwul?“   „Nein. Keine Ahnung. Also, er hatte wohl mal eine Freundin, aber das ist Ewigkeiten her. Hannah, was soll ich denn jetzt tun?“   Ich glaube ich sehe aus wie Oskar, wenn er sein Leckerchen nicht bekommt.   „Gar nichts. Hoffen, dass es vorbei geht. Ich meine, dir ist doch klar, dass das nicht geht? Also das mit Noah, nicht, dass du schwul bist.“   Manchmal hasse ich es, wenn Hannah so direkt ist.   „Du hast kein Problem damit...?“   Auf ihre Frage bezüglich Noah gehe ich gar nicht erst ein.   „... das du schwul bist? Nee, ich bin doch nicht völlig blöde. Außerdem werde ich später was Besonderes sein, weil mein bester Freund schwul ist. Alle Mädchen wollen einen schwulen besten Freund, keine Ahnung wieso. Scheint wohl ein Trend zu sein.“   Ich bin so erleichtert, dass ich Hannah umarmen muss. Die tätschelt mir den Rücken und drückt mir einen Kuss aufs Haar.   „In deinen Büchern steht nicht zufällig, wie man sich wieder ent-lieben kann?“   „Nee. Vielleicht ist es aber auch keine Liebe sondern irgendein Papikomplex?“   „Ich will Noah küssen.“   Hannah stöhnt und schiebt mich von sich.   „Ok, vielleicht doch kein Papikomplex. Mann, du bist zu jung dafür. Und er ist hoffentlich so verantwortungsbewusst, dass er sich niemals nie mit dir einlassen würde.“   Tja, was soll ich darauf noch sagen?   Am besten gar nichts. Das ist mir sowieso alles zu viel gewesen für heute. Dann werde ich Noah eben heimlich anhimmeln... bis ich achtzehn bin oder so. Vielleicht treffe ich ja aber auch auf einen Jungen in meiner Altersklasse und kann Noah endlich vergessen. Also, im Moment will ich das natürlich nicht, weil ich ihn so wahnsinnig doll liebe... was man halt als dreizehnjähriger von Liebe versteht und weiß.   Ein halbes Jahr später will ich Noah tatsächlich vergessen.   Da taucht er nämlich mit Frank zu Kaffee und Kuchen eines schönen Sonntags hier auf. Eigentlich habe ich ihn nur begrüßen wollen, bin dann aber verunsichert gewesen, weil da eben noch dieser andere Mann war. Der Noahs Hand hielt. Bastian begrüßte die beiden, als wäre es das normalste von Welt. Mama und Papa freuen sich, Frank endlich kennen zu lernen.   Was habe ich eigentlich hier verpasst? Ich kann gar nicht aufhören, Frank anzustarren. Der ist groß, breitschultrig, trägt Markenklamotten und sein schwarzes Haar ist ordentlich zurück gekämmt. Ich finde, er sieht aus wie ein Lackaffe und soll aufhören, Noah so verliebt anzuschauen. Er gehört mir!   Au weia, ich bin total verrückt geworden. Oder die Welt. Ich bin mir da nicht so sicher.   Ich weiß nur, dass Noah mir das Herz gebrochen hat.   Immerhin kann ich ihn jetzt wohl vergessen.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Vier Jahre später habe ich Noah natürlich immer noch nicht vergessen.   Jedes Jahr ist es schlimmer geworden.   Jedes Jahr habe ich Frank ein Stück mehr gehasst und es tunlichst vermieden daheim zu sein, wenn die beiden zu Besuch kamen. Das ist echt schrecklich gewesen, weil ich Noah so dringend und gerne sehen wollte, es aber nicht ertragen konnte, wenn er mit Frank zusammen war. Zwischendurch habe ich oft darüber nach gedacht, ob es nicht doch nur eine Schwärmerei ist. Das kann ja durchaus vorkommen, schließlich bin ich quasi mit Noah in meinem Umfeld aufgewachsen und er ist sicherlich eine Person, auf die ich mich geprägt habe. Die Gefühle, die ich für ihn habe, sind aber nicht nur rein freundschaftlich. Nicht, dass wir Freunde sind... also, jedenfalls nicht so, wie er mit Bastian befreundet ist. Eigentlich weiß ich gar nicht, in welcher Beziehung wir zueinander stehen. Ich weiß nur, dass ich gerne in einer Beziehung mit ihm wäre. So kompliziert die Situation auch ist, an meinen Gefühlen hat sich all die Jahre nichts geändert.   Die Peinlichkeit des Jahrhunderts war es übrigens damals gewesen, als Mama und Papa mich beiseite genommen hatten um mir zu erklären, dass auch zwei Männer sich lieben können.   Wenn die wüssten!!   Hannah hat sich inzwischen damit arrangiert und unterstützt mich total. Ich glaube sie hat eingesehen, dass meine Gefühle für Noah keine pubertäre Schwachsinnigkeit gewesen sind. Unsere Rollen haben sich über die Jahre etwas vertauscht. Ganz am Anfang habe ich Noah alles gestehen wollen. Ich wollte so dringend bei ihm sein, wollte von ihm berührt werden und habe nur darauf gewartet, dass er mir durchs Haar wuschelt. Bis Hannah dann damit anfing, dass ich es ihm endlich sagen sollte. Das konnte ich natürlich nicht, weil er ja mit Frank zusammen war.   Und jetzt sind meine heimlichen Gefühle ein Teil von mir geworden. Ich fürchte ein bisschen, dass sich was ändert, wenn ich es ihm sage. Und ich habe Angst, dass er mich ablehnt. Das wird er nämlich zwangsläufig tun, das weiß ich.   Also muss ich ihn von mir überzeugen, findet Hannah. Sie schleppte mich in den letzten Jahren so oft zum shoppen mit, dass mir das schon total spanisch vorkam. Irgendwann ist mir dann aufgefallen, dass sie ständig Klamotten für mich vorschlug. Insbesondere Hosen, die etwas tiefer saßen und Tshirts, die kurz genug waren um hoch zu rutschen, wenn ich mich strecken würde. Noah soll schließlich was zum Gucken haben hat sie dann immer gesagt und mich in eine mittelschwere Krise gestürzt. Ich meine, ich wollte mich Noah ja nicht anbiedern wie eine läufige Hündin! Hannah möchte auch heute noch die Klamotten für mich aussuchen weil sie findet, dass ich etwas mehr Pepp brauche. Ich bin da aber nicht so der Typ für und trage lieber casual Krams, der so casual ist, dass ich auffalle, weil ich so normal bin. Es kommt selten vor das ich Tshirts mit irgendwelchen Prints trage. Hannah kann darüber nur den Kopf schütteln. Die trägt meistens Bandshirts und Tops, oder hübsche, alternative Kleider. Hannah kann alles tragen. Auch meine ausrangierten Tshirts, die sie als Nachthemden nutzt. Das könnte man creepy finden, mir solls aber recht sein. So weiß ich meine Klamotten immerhin in guten Händen.   Wenn wir freitags – oder generell am Wochenende – ausgehen, habe ich bezüglich meines Outfits kein Mitspracherecht mehr. Auch heute nicht.   Hannah friemelt seit einer gefühlten Ewigkeit an meinen Haaren herum. Während ich die nämlich meistens nur irgendwie durchstrubbel und mal ein bisschen Wachs rein klatsche, schlägt Hannah immer fleißig die Hände über'm Kopp zusammen. Deshalb besteht sie drauf, wenigstens an den Wochenenden was ordentliches mit meinen Haaren zu machen. Ich muss gestehen, ich sehe nicht sehr viel anders aus, wobei meine Haare schon ordentlicher sitzen. Ordentlich unordentlich. Hannah weiß, wie das geht.   Sie beäugt mich kritisch, was ich nicht wirklich sehen kann, weil sie hinter mir steht, aber ich höre, dass sie einen Schritt Abstand nimmt. Das macht sie nämlich immer, um ihr Werk zu betrachten. Dann geht sie um mich herum, friemelt noch an einer Strähne in meinem Gesicht herum und nickt sich dann selber zu.   „Fehlt nur noch Kajal.“   „Hannah...“, seufze ich und weiß genau, dass das mal wieder eine endlos Diskussion wird. Seit wir zusammen feiern gehen, will sie mir Kajal in die Augen schmieren. Das ich ein Junge bin und mir demnach kein Make Up in die Visage klatsche, ist ihr egal. Es gibt schließlich Jungs und Männer die sich schminken, das sei also alles gar kein Problem. Was andere machen, muss ich ja aber nicht auch machen, oder?   „Komm schon, dieses eine Mal wenigstens. Ein ganz kleines bisschen.“, bettelt sie und kramt einen noch verschweißten Kajalstift aus ihrer Tasche hervor. Das Mädel macht mich fertig.   „Hast du dir mal die ganzen Leute mit Kajal angesehen? Das verschmiert, sobald man schwitzt.“   „Na, weil die keinen wasserfesten Kajal nutzen. Der hier ist 'extra waterproof for 24h to rock on' zitiert sie die Beschreibung und öffnet das Siegel. Ich geb auf und lasse die Schultern hängen.   „Ich muss mich doch für niemanden hübsch machen...“, starte ich einen letzten, kümmerlichen Versuch, doch da manövriert Hannah meinen Kopf auch schon in den Nacken und zieht mein rechtes Unterlid etwas herunter. Ich will blinzeln wie doof.   „Ich mich auch nicht, aber es macht Spaß.“   Und das ist alles, was sie dazu sagt bevor sie mir Kajal auf die Wasserlinien aufträgt. Ich blinzel wie ein Idiot und muss direkt in den Spiegel schauen. Hoppla, bin das ich?   Meine Pickel aus den Anfängen der Pubertät sind inzwischen weg, Hannah sei Dank. Die hat mir nämlich irgendwann so eine vegane Gesichtspflege angedreht, ohne die ich nicht mehr leben kann. Seitdem kommt der versprochene natürliche Glow meiner Haut zum Vorschein. Naja, was bei mir halt so glowen kann. Weil ich die Sonne eher meide, bin ich nämlich nicht gebräunt, sehe aber auch nicht aus wie Schweizer Käse. Meine Haare sind rehbraun und damit ein gutes Stück heller als die von Bastian. Er hat blaue Augen, meine sind eher grünlich. Die kommen dank des schwarzen Kajals, den Hannah wirklich sehr dezent aufgetragen hat, noch ein bisschen besser zur Geltung. Der Rest von mir ist wie immer: ein bisschen zu schmächtig für meine Größe, meine Schultern hängen etwas nach vorne. Hannah boxt mir direkt gegen den Arm weshalb ich sofort die Schultern straffe und mich aufrechter halte. Den Jungen im Spiegel erkenne ich direkt nicht wieder. Er sieht selbstbewusst aus, mit allen Wassern gewaschen. Ein bisschen frech, aber auch cool.   Ich bin weder das eine, noch das andere. Ich bin nämlich vollkommen normal und zu feige, meinem Schwarm meine Liebe zu gestehen. Und scheinbar habe ich mehr Ähnlichkeit mit einer kaputten Schallplatte.   „Also ich würde dich sofort anschmachten, wäre ich ein Junge.“   „Findest du mich also sonst nicht anschmachtungswürdig?“   „Ich schmachte doch nicht meinen besten Freund an!“, ruft sie völlig entrüstet aus und klopft mir anschließend tröstend auf die Schulter.   „Du siehst gut aus, Konsti. Und wenn Noah dich nicht will, ist er entweder doof oder blind. Oder beides.“   Ich verdrehe die Augen. Vielleicht könnte er ja auch nicht auf Minderjährige stehen?! Nur so eine Vermutung.   Ein letztes Mal schaue ich in den Spiegel und bin mir sicher, dass ich mich zu Tode schwitzen werde. Hannah ist aber der Meinung, dass die schwarze, enge Jeans – die sie so tief wie möglich auf meine Hüften runter geschoben hat – meine schlanke Statur perfekt unterstreicht und das dunkelrote V-Ausschnitt-Tshirt einen ganz netten Hinweis auf meine Brust gibt. Das es da nichts zu sehen gibt, scheint Hannah entfallen zu sein. Die trägt im Übrigen schwarze Docs – ich würde sterben, wenn ich damit raus müsste! - Netzstrumpfhose, einen schwarzen Faltenrock, schwarzes Top und viele Silberkettchen und Armbänder. Die Haare sind unordentlich-ordentlich hoch gesteckt, Mascara, Kajal und einen perfekten Lidstrich. Ihre Lippen sind knatschrot geschminkt. Sie ist wunderschön, wie ich feststellen muss. Wäre sie nicht meine beste Freundin und würde ich mich für Mädchen interessieren, würde ich sie wohl auch anschmachten.   Ich schnappe mir Schlüssel und Geldbörse, dann gehen wir runter. Mama kommt gerade aus der Küche und blickt auf ihre Armbanduhr.   „Denk dran, um zwölf bist du zuhause.“   Mann, wie peinlich ist das bitte!   „Ja, Mama...“   „Komm mir bloß nicht damit, junger Mann! Hannah, entschuldige, mein Sohn ist manchmal etwas schwachsinnig.“   „Ich weiß genau, was du meinst!“, lacht Hannah und schiebt mich durch die Tür. Ich hasse sie. Nein, ich lieb sie. Aber manchmal möchte ich Hannah ganz schlimm verprügeln.   Zum Horizon müssen wir knapp zwanzig Minuten mit dem Bus fahren – und dann nochmal ungefähr so viel laufen. Es ist acht, wir haben noch nicht getanzt und ich schwitze jetzt schon. Hannah schwebt neben mir her, als würde ihr die Hitze nichts ausmachen. Abends kühlt es leider nicht mehr so wirklich ab, allerdings kriege ich schon die Krise, wenn es nur zwanzig Grad ist. Ich bin echt kein Sommertyp. Frühling geht gerade noch so klar und ein warmer Herbst ist auch ok. Aber alles dazwischen ist irgendwie kacke.   Als wir das Horizon betreten, kriegen wir ein rotes Leuchtarmband um. Das markiert uns als Minderjährige und wenn wir nach Mitternacht noch hier sein sollten, werden uns die Security Männer liebevoll raus begleiten. Alles schon erlebt. Hannah war nämlich mit ihrem Bier noch nicht fertig und fand, dass sie das ja wohl noch zu Ende trinken dürfte. Durfte sie nicht.   Tiefe Bässe schlagen mir um die Ohren, Discolicht flackert über das Publikum und taucht die überwiegend schwarzen Klamotten in etwas farbenfroheres. Das Horizon ist kein Grufti-Schuppen, aber generell eher alternativ, genauso wie das Publikum. Hier gibt es jede Menge hübsche Jungs und Mädels. Alterstechnisch ist es wirklich bunt gemischt. Viele rote Armbänder, Studenten, aber auch erwachsene Männer und Frauen. Hannah hat mich mal gefragt, ob ich auch ältere Männer anziehend finde, da ist mir ja fast alles aus dem Gesicht gefallen. Sie hat das nicht so schlimm gefunden und ja nur mal nachfragen wollen, ob es einfach nur an Noah liegt oder ob ich nicht doch so was wie ein Papikomplex habe. Ich glaube, diesen Gedanken hat sie damals noch einige Zeit fortgeführt.   Wir kämpfen uns zur Bar durch. Obwohl es noch früh am Abend ist, ist es hier immer gut besucht. Sitzplätze sind nämlich rar und heiß begehrt. Ich sehe jetzt schon keine einzige freie Stelle und hoffe, dass mir das nach ein paar Bier egal sein wird.   Hannah bestellt zwei Bier und reicht mir eins, wir stoßen an, lehnen uns gegen die Bar und scannen das Publikum. Plötzlich stupst sie mich an – es ist eine Angewohnheit.   „Da ist Maxi. Sei ja freundlich, ok?!“, zischt sie mir ins Ohr, dann hebt sie den Arm und winkt aufgebracht herum.   „Maxi! Hier drüben!“, brüllt sie und ich mag... ja genau, im Erdboden versinken. Ein paar Gäste schauen zu uns rüber, ich trinke betont gelassen von meinem Bier und verfluche Hannah ein bisschen, weil die so was immer bringt. Naja, nicht immer. Aber sie hat keine Probleme damit, jemanden quer über die Straße zu rufen, wenn sie denjenigen kennt.   Maxi sieht uns und ich glaube, er lächelt, so genau kann ich das in dem Licht mal wieder nicht erkennen. Als er auf uns zukommt, bollert mein Herz fürchterlich in meiner Brust. Ich schwöre, dem seine Klamotten sind eine Nummer zu klein. Vielleicht auch sogar zwei. Mir fällt auf, dass er wohl irgendeine Art Sport machen muss, denn unter seinem Tshirt erkenne ich definierte Muskeln. Seine Beine erinnern mich ein bisschen an Noahs, die sind nämlich auch gut trainiert. Warum ich so nervös bin, ist mir allerdings auch ein Rätsel. An seinem Handgelenk entdecke ich kein rotes Leuchtband. Hä? Ich schwöre, der sieht nicht sehr viel älter aus als Hannah oder ich.   „Hi, ich bin Maxi.“, strahlt er und hält mir seine Hand hin, die ich nur schwächlich schütteln kann. Der ist doch in der Parallelklasse, oder? Naja, das muss nichts heißen... vielleicht ist er ja mal sitzen geblieben.   „Konstantin“, stelle ich mich vor und deute auf die Bar, „willst du was trinken?“   „Nee, im Moment nicht. Habt ihr Bock zu tanzen?“   „Na klar!“, strahlt Hannah und Zeit für Protest bleibt nicht. Sie zieht mich mit auf die Tanzfläche und ich muss aufpassen, dass ich meine Flasche nicht verliere. Hannah tanzt... puh, da werden Jungs echt schwach. Sie balanciert ihr Bier so lässig in ihrer Hand, als wäre es ein Accessoire zum Tanzen. Ich stelle mich zwar auch nicht gerade total dämlich an, aber aufpassen muss ich trotzdem. Maxi bewegt sich ähnlich wie Hannah super selbstbewusst und ich gebe zu, er kann gut tanzen. Naja, so was kann man ja durchaus anerkennen. Wir tanzen zu dritt in einem Pseudokreis, manchmal tanzt Hannah ein bisschen mehr mit mir, manchmal mit Maxi. Ich passe auf, dass Maxi und ich uns nicht zu nah kommen oder ich versehentlich falsche Signale in seine Richtung sende. So beim Tanzen kann das ja durchaus mal passieren. Deshalb komme ich ihm auch nicht zu nah oder versuche ihn irgendwie anzutanzen, wie Hannah es abwechselnd bei uns tut.   Wir hopsen eine ganze Weile auf der Tanzfläche herum, mir ist schon längst der Schweiß ausgebrochen, Hannah und Maxi geht es immerhin ähnlich. Mein Bier ist schon lange leer und ich finde, ich kann die Flasche endlich mal durch eine neue ersetzen.   „Willst du auch noch eins?“, rufe ich Hannah zu, die ihren Kopf in tanzender Manier nickend auf und ab bewegt und mir ihre leere hinhält, die ich direkt an mich nehme.   „Ich glaube, ich hole mir auch was.“, höre ich Maxi und suche Hannahs Augen auf... doch die dreht sich zur Seite und tanzt munter weiter. Argh!!   Maxi folgt mir zur Bar und ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber hat der seine Hand in meinem Rücken? Egal, ich muss was trinken. Wasser und Bier. Bestelle also zwei Bier und ein Wasser, das ich an der Bar trinke. Muss zwischendrin einfach mal sein. Maxi bestellt Gin Tonic. Vermutlich bemerkt er, dass ich bemüht heimlich auf seine Handgelenke schiele... naja, ich bin wohl doch nicht so heimlich unterwegs wie ich gehofft habe.   „Ich bin neunzehn, falls du es wissen willst.“, lacht er und nimmt sein Getränk an, nachdem er gezahlt hat.   „Äh...“   Oh Mann, das ist echt mein Trendwort des Jahres. Manchmal glaube ich, mein ganzes Leben besteht aus Äh.   „Umzug, Klasse neu angefangen, sitzen geblieben.“, erklärt er, als hätte ich ihn danach gefragt. Naja, immerhin weiß ich es jetzt.   „Ist Maxi eigentlich kurz für Maximilian?“   Was Besseres fällt mir leider auch nicht ein. Er nickt, hält mir sein Glas hin, worauf ich den Kopf schüttele.   „Oh Mann, zum Anstoßen, ich gebe Minderjährigen keinen Alkohol.“   Also... ich weiß nicht. Er benimmt sich überhaupt nicht, wie er aussieht. Er ist nämlich, rein optisch, mehr der schüchterne Typ? Keine Ahnung. Vielleicht liegt es daran, dass er ein Stück kleiner ist als ich. Irgendwie erwartet man da doch ein scheues Reh, oder?   Naja, anstoßen kriege ich hin, kann ihm aber nicht in die Augen sehen. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist, aber aus irgendwelchen Gründen macht er mich nervös.   „Was machst du denn so?“, fragt er und muss sich etwas mehr zu mir lehnen, weil ich ihn sonst nicht verstehen könnte.   „Ich spiele Klavier.“   Was Besseres ist mir nicht eingefallen, aber ich will mich ja auch nicht interessant für ihn machen.   „Echt? Cool. Was spielst du denn so?“   „Klassische Musik, Mozart und so was.“   „Wow, das ist ganz schön anspruchsvoll. Ich wollte auch immer Musik machen, aber ich kann einfach nicht still sitzen.“, grinst er entschuldigend und trinkt von seinem Gin Tonic. Vielleicht gucke ich ein bisschen zu genau auf seine Lippen und seinen Hals, als er schluckt.   „Machst du denn irgendwas?“   „Ich spiele Fußball.“   Oha, mir wird schwumselig.   „Welche Position?“   „Außenverteidiger links. Aber ich spiele nicht so regelmäßig, wie meine Eltern das gerne hätten. Die sind nämlich totale Fußballfans und finden, dass ich mal ganz groß raus kommen soll. Auf den Trubel habe ich aber gar keine Lust.“   „Wohnst du noch bei deinen Eltern?“   „Ja, aber sobald ich das Abitur in der Tasche habe will ich ausziehen. Als Student noch bei den Eltern wohnen kommt nicht so gut.“   Tja... Bastian hat während seines Fotografie Studiums noch daheim gewohnt und wohnt jetzt auch noch da. Ich glaube aber, er wird bald ausziehen, sicher bin ich mir da allerdings nicht. Noah wohnt ja irgendwie zwangsläufig alleine...   „Was willst du denn studieren?“   „Das weiß ich noch nicht. Überlege ich mir, wenn es so weit ist.“   Dazu kann ich nun nicht mehr viel sagen und halte beide Flaschen Bier hoch.   „Ich bringe Hannah mal ihr Bier.“   „Klar. Ich mach hier ne Pause.“   Zum Glück!!   Zwänge mich also durch die tanzende Masse und finde irgendwann Hannah, die schon wieder ihren Kopf herum schleudert, dass ich mir Sorgen machen muss. Als sie mich bemerkt, hüpft sie zu mir rüber und nimmt ihr Bier dankend an.   „Und?“, brüllt sie mich an und guckt, als würde sie die Story ihres Lebens erwarten. Die tanzende Meute um uns herum rempelt uns gelegentlich an, aber wirklich dran stören tut sich keiner von uns.   „Was?“, brülle ich zurück und sehe, dass Hannah ihre Augen verdreht.   „Na, du und Maxi! Wie ist es gelaufen?“   Ach du kacke! Ich wusste, dass sie das mit Absicht gemacht hat. Eigentlich kommt Hannah nämlich immer mit um sich ihr Bier selber zu holen. Ich gebe ihr zwar durchaus auch mal eins aus oder sie mir, aber trotzdem gehen wir immer zusammen. Warum ist mir das vorher nicht so wirklich aufgefallen?   „Mann, der ist direkt zur Sache gegangen und hat mich an der Bar geküsst. Mit Zunge.“   Hannah sieht schockiert aus.   „Was? Ey, dieser Arsch, ich dachte der ist etwas rücksichtsvoller!“   „Das war ein Scherz. Wir haben uns unterhalten.“   Haha, wenn ihr Hannahs Gesicht sehen könntet!!   „Du bist ein ganz mieser...!“   „Das ist für deine dämliche Aktion, mich mit dem alleine zu lassen. Mann, ich will nichts von ihm, okay?“   Hannah seufzt, was ich zwar nicht hören, aber sehen kann. Egal. Wir tanzen und das für die nächsten paar Stunden. Zwischendrin holen wir uns immer mal wieder Bier, Maxi gesellt sich auch irgendwann wieder zu uns und insgesamt ist es ein ganz entspannter Abend. Ich denke auch kaum an Noah. Das ist doch schon mal ein guter Start ins Wochenende. Hannah unternimmt auch keine schwachsinnige Versuche mehr, mir Maxi irgendwie schmackhaft zu machen und Maxi behandelt mich völlig normal. Keine Flirterei, kein angetanze. Vielleicht hat er ja durch mein Verhalten bemerkt, dass ich ihn nicht so süß finde wie er mich wie Hannah erzählt hat.   Irgendwann wird mir das ganze Bier zu viel.   Ich gestikuliere Hannah zu und forme mit meinen Lippen das Wort Klo, sie nickt und dann quetsche ich mich durch die Menge. Je später es am Abend wird, desto voller. Man kann kaum noch richtig tanzen, weil man maximal einen Quadratmeter Platz dafür hat. Und selbst das ist schon sehr großzügig bemessen. Ich sehe zu, dass ich schnell zum Klo komme und bin froh, als ich wieder raus bin – die verräterischen Geräusche aus einer der Kabinen haben mir echt den Rest gegeben. Es ist fast zwölf, also müssen Hannah und ich eh bald hier raus. Immer dann, wenn es am besten ist. Die Stimmung ist ausgelassen und die kleinen Kids müssen Heim.   Besser, ich sage Hannah schon mal Bescheid.   Gerade möchte ich los gehen, als ich plötzlich mit jemanden zusammen stoße. Ich habe echt Mühe, mich auf den Beinen zu halten und strecke automatisch meine Arme aus, die sofort von warmen Männerhänden umfasst werden. Auch wenn ich mich glücklicherweise nicht auf die Fresse lege... wo kommt dieses Arsch eigentlich her? Ich möchte direkt ein bisschen schimpfen, doch jedes Wort bleibt mir im Halse stecken.   „Konstantin?“   Noah guckt mich mindestens so überrascht an wie ich ihn.   Au scheiße.   AU SCHEISSE!   Was zur Hölle macht der denn hier? Warum zur Hölle sieht der so unverschämt gut aus? Okay, er trägt eine ganz normale Bluejeans und ein weißes Tshirt... Mann, der ist geschwitzt, sein Tshirt klebt an ihm und ich kann jeden verdammten Muskel seines Oberkörpers sehen... guter Gott, sind das seine Brustwarzen? Scheiße. Mir wird augenblicklich heiß. Also, noch heißer als ohnehin schon. Mein Kopf ist wie leer gefegt und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wo ist meine Stimme hin? Ich bringe noch nicht mal den kleinsten Ton über meine Lippen.   Noah sieht besorgt aus und legt eine Hand an meine Schulter. Mann, seine Hand ist so groß und...   „Hey, geht es dir gut? Ist alles in Ordnung mit dir?“   Das ist eine verdammt gute Frage.   Ich weiß es nämlich nicht. Die Musik dringt nur noch gedämpft, wie durch Watte an meine Ohren. Noah redet scheinbar auf mich ein, das weiß ich aber auch nur, weil ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen. Meine Sicht verschwimmt ein bisschen. Vielleicht habe ich ein Bier zu viel getrunken und die Luft hier drin ist auch nicht unbedingt das gelbe vom Ei. Ein aberwitzig übermütiger Teil in mir findet, dass ich Noah einfach küssen und ihm meine Liebe gestehen sollte. Jetzt kann ja auch nichts mehr schief gehen, oder? Ich meine, wenn er mich hier trifft?   Am Eingang des Horizon weht nämlich eine Regenbogenflagge.   Das heißt natürlich nichts, immerhin kommt Hannah ja auch hierher, aber in aller Regel ist das Publikum... vielfältig. Das Noah hier ist... das kann ich noch verstehen. Das ich hier bin... was denkt er denn jetzt bloß?! Oh Gott, hoffentlich erzählt er das nicht Bastian. Scheiße. Dass das meine geringste Sorge sein sollte, ist mir egal.   „Konstantin?“, versucht Noah es nochmal, dieses Mal energischer und rüttelt mich leicht an der Schulter. Das hilft ein bisschen, weil mir direkt etwas schwindelig wird und mich das wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt.   „Alles gut.“, bringe ich irgendwie röchelnd hervor und blinzel ein paar mal. Bitte, bitte lass das ein Traum sein. Leider verschwindet Noah nicht. Ebenso wenig wie seine Hand an meiner Schulter. In jeder anderen Situation wäre mir das nur recht gewesen, aber doch nicht hier!   „Bist du sicher?“   Er sieht echt besorgt aus aber auch... mhh, neugierig? Keine Ahnung. Vielleicht ist er auch immer noch überrascht, mich hier zu sehen. Ich meine, wir sind uns nie hier über den Weg gelaufen. Oder woanders.   „Ja... ja, alles gut. Äh, Hannah ist noch da, ich... wir müssen jetzt gehen, also...“   Ich sehe zu, dass ich mich vom Acker mache und lasse Noah einfach stehen, schiebe mich durch die Masse, bis ich Hannah gefunden habe und packe sie am Arm.   „Aua! Spinnst...“   „Noah ist hier! Und wir müssen jetzt gehen!“, zische ich und ziehe sie heftig am Arm. Hannah stolpert mir verwirrt hinterher.   „Wo?“   Sie dreht den Kopf in alle Richtungen.   „Und wo ist Maxi? Wir können doch nicht einfach so abhauen ohne Tschüss zu sagen!“   Doch, das können wir und das tun wir!!   Maxi ist jetzt echt meine geringste Sorge. Ich muss hier raus, sonst werde ich noch wahnsinnig. Erleichtert aufatmen kann ich erst, als ich draußen an der... naja, nicht wirklich frischen Luft bin, aber immerhin ist es nicht stickig oder schwül wie im Club. Ich muss erstmal tief durchatmen, stütze meine Hände auf meine Knie. Hannah tätschelt mir den Rücken und streichelt behutsam auf und ab.   „Hey, alles gut. Soll ich ein Taxi rufen?“   Ich schaffe es, meinen Kopf zu schütteln. Ich muss einfach nur atmen.   „Konstantin?“   Ach du kacke! Nicht schon wieder!   Ich hebe nur kurz den Kopf, schaffe es aber nicht in eine aufrechte Position. Hannah tätschelt mir weiter den Rücken.   „Ich glaube, er hatte ein oder zwei Bier zu viel...“, faselt sie entschuldigend und ich weiß, dass ich ihr dafür morgen eine Szene machen werde. Die kann mich doch nicht vor Noah wie einen kleinen Teenie hinstellen, der zu viel trinkt!! Mann, jetzt denkt der doch, ich sei ein totaler Vollidiot.   „Mein Auto steht in der Nähe – ich kann euch nach Hause fahren.“, bietet Noah freundlich an. Stimmt, er hat ein Auto. Das nutzt er zwar kaum, scheinbar aber, um in die Stadt zu kommen. Zumindest hierhin zum... Feiern? Was hat der im Horizon eigentlich zu suchen? Oh Mann, Konstantin... das willst du bestimmt nicht wissen!   „Oh, das ist echt lieb von dir! Macht dir das auch echt nichts aus? Wir wollen dir nicht den Abend vermiesen.“   „Ach was, auf keinen Fall.“   Wenig später sitzen wir in Noash Auto. Der fährt einen Ford... irgendwas. Nettes Teil. Die Klima ist an, wofür ich ihm um den Hals fallen möchte. Hannah möchte ich strangulieren, weil sie darauf bestanden hat, dass ich vorne sitze. Hinten sitzen ist nicht gut, wenn einem schlecht ist, weil es da immer so ruckelt, hat sie erklärt. Es ruckelt vorne auch, Noah sitzt neben mir und wenn er schaltet ist seine Hand meinem Schenkel so nah, dass ich schreien möchte. Ich setze mich etwas anders hin und lehne die Beine so weit wie möglich nach rechts, Hauptsache weg von Noah.   „Nach der Brücke musst du rechts in die Baumallee,“, erklärt Hannah und streckt ihren Kopf zwischen die Vordersitze nach vorne. Hallo? Ist die nicht angeschnallt oder was?   „Da vorne dann links und die zweite rechts.“, ergänze ich und will eigentlich nicht mit Noah alleine im Auto sein. Wir sind noch nie alleine in einem kleinen, begrenzten Raum gewesen. Also, in seinem Auto. Da Hannah etwas mehr Richtung Stadt wohnt, macht es logischerweise mehr Sinn, erst sie nach Hause zu bringen. Dann fahren wir noch zehn Minuten zu mir. Das werden die längsten zehn Minuten meines Lebens, das weiß ich jetzt schon. Und obendrein muss ich auch noch ein bisschen angetrunken spielen. Ich gebe ein tiefes Seufzen von mir und drehe den Kopf etwas zur Seite. Hannah tätschelt mir aufmunternd die Schulter.   „Bist ja bald zuhause, Konsti.“   Morgen ist Hannah fällig, ich schwöre es bei Gott!!   Nachdem wir – ähm, Noah – Hannah daheim abgesetzt und gewartet haben, bis sie nach drinnen verschwunden ist, fahren wir – fährt Noah – los um mich daheim abzusetzen. Wir schweigen. Ich, weil ich ja betrunken spielen muss, er... naja, was hat er auch schon mit einem betrunkenen Teenie zu bequatschen, hm?!   „Ist bei dir noch alles in Ordnung?“   Der denkt bestimmt ich muss kotzen.   „Ja... alles gut. Bin nur müde.“   Wieder schweigen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er manchmal zu mir rüber schielt. Hat bestimmt Panik, dass ich ihm ins Auto kotze. Mann, was für eine total beschissene Situation. Was denkt er wohl gerade von mir? Also, davon, dass ich im Horizon war? Theoretisch hat das natürlich nichts zu bedeuten. Eine Regenbogenflagge hängt ja durchaus auch aus Solidarität mal irgendwo rum. Und nur, weil man eventuell einen entsprechenden Club aufsucht, heißt das ja noch lange nicht, dass man sexuell etwas mit dem eigenen Geschlecht oder was auch immer anfangen möchte. Hannah ist schließlich hetero und geht auch dahin. Es macht halt Spaß, es ist ein cooler Club, gute Musik – alles ganz harmlos.   So alleine mit Noah fällt mir wieder ein, dass es der perfekte Moment wäre, ihm endlich meine Liebe zu gestehen. Naja, mal abgesehen davon, dass ich ja immer noch betrunken sein muss... aber kommt schon: wir sind alleine, es ist Nacht, er bringt mich in seinem Auto nach Hause... das ist doch wie in einem Buch. Hannah muss das wissen, sonst wäre die niemals Feuer und Flamme dafür gewesen, dass Noah uns nach Hause fährt. Manchmal habe ich ein bisschen das Gefühl, dass Hannah ihre eigene Story schreibt und ich die Hauptfigur in ihrem Roman bin. Es ärgert mich ein bisschen, dass sie mich in diese unmögliche Situation gebracht hat.   „Gehst du oft ins Horizon?“, fragt Noah plötzlich, als wir in unsere Straße einbiegen. Er. Mann, wieso denke ich die ganze Zeit an ein wir? Und wie soll ich auf diese Frage antworten, ohne mich irgendwie verdächtig zu machen? Man könnte immerhin annehmen, dass ich... dem eigenen Geschlecht nicht abgeneigt bin. Komm schon, Konstantin, lass dir was einfallen!   „Ja, schon. Die spielen gute Musik.“   Stille. Na, immerhin sind wir jetzt da, also können wir beide dieser Situation endlich entfliehen. Ich sollte jetzt schnellstmöglich hier raus und in mein Zimmer. Aber vorher sollte ich Noah noch Tschüss sagen, doch bevor ich auch nur den Mund öffne, packt Noah mich am Arm. Seine Berührung löst ein kleines Feuerwerk in mir aus. Ich gucke auf seine Hand, dann suche ich seinen Blick auf.   „Du hast nichts genommen, oder? Du wirkst etwas weg getreten, wenn ich ehrlich bin.“   Noah guckt mich ziemlich ernst an. Ich brauche einen Moment bis ich verstehe, was er meint. Fassungslos starre ich ihn an – was denkt der denn von mir?! Mal völlig abgesehen davon, dass es ihm ja wohl egal sein dürfte, selbst wenn es so wäre.   „Ich nehme keine Drogen!“, herrsche ich ihn vielleicht ein bisschen zu aufgebracht an, denn er lässt mich sofort los und hebt abwehrend die Hände.   „Entschuldige, ich wollte nur...“   „Nee, mir tuts leid. Ich wollte dich nicht anschreien...“   Au Mann, ich will doch das er mich mag!   „Schon gut. Also dann, gute Nacht. Wir sehen uns.“   „Ja, bis dann. Danke fürs nach Hause bringen.“   Ich muss ihn anlächeln. Und gucke ihm in die Augen. Ganz lange. Und wirklich bewusst. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so lange angesehen und vor allem nicht in die Augen. Denn eigentlich macht er mich furchtbar nervös. Ständig. Wie es wohl wäre, wenn er mein Freund wäre? Würde er meine Hand halten, wie er es bei Frank getan hat? Würde er mich auch so ansehen, verliebt und glücklich? Würde er mir wohl einen Kosenamen geben? Urgh, besser nicht... ich will nicht Schatz oder so genannt werden. Eigentlich mag ich es, wenn er mich bei meinem Namen nennt.   „Brauchst du Hilfe?“   Grundgütiger, ich sitze immer noch hier und starre ihn an!   Scheiße, ist das peinlich. Mein Gesicht wird ziemlich heiß. Mann, Noah ist mir noch nie so nah gewesen. Er hat sich nämlich ein bisschen zu mir rüber gelehnt, wohl weil er denkt, dass er mir wirklich helfen muss. Schnell löse ich den Gurt und... bleibe immer noch sitzen. Wenn ich es Noah jetzt nicht sage... sage ich es ihm nie. Ich kann Hannah regelrecht in meinem Kopf schreien hören, dass ich es endlich sagen soll. Maxi schleicht sich auch kurz in meine Gedanken.   „Noah...“, bringe ich ziemlich heiser hervor und... ich kann nicht mehr. Ich hab so lange auf diesen Moment gewartet. Ich packe ihn am Tshirt und bringe unsere Lippen zusammen. Ich schwöre, ich kann die Engel im Himmel singen hören. Hannah klatscht in meinem Kopf Beifall.   Oh Mann, Noah hat so weiche Lippen... also, eigentlich sind sie ein bisschen rau, was ich super sexy finde, aber gleichzeitig auch weich... vielleicht kann mein völlig verliebtes Hirn sich auch einfach nicht entscheiden. Und er riecht so gut... ich weiß, dass er geschwitzt hat, denn auch das rieche ich ein bisschen, aber das ist mir egal. Seine Lippen schmecken nach... mhh, Cola. Klar, der trinkt nicht, wenn er noch Auto fährt. Er ist so verantwortungsbewusst, dass ich nie wieder aufhören möchte, ihn zu küssen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit, die ich völlig im Delirium verbringe.   Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet? Wie lange davon geträumt, Noah nah zu sein? Ihn zu berühren, zu küssen? Ich fühle mich wieder wie dreizehn: vollkommen überfordert mit der Tatsache, dass ich scheinbar romantische Gefühle für einen Mann hege. Für den besten Freund meines Bruders. Damals habe ich wenigstens noch den Anstand gehabt, mich ein klein wenig schlecht zu fühlen. Immerhin ist das ja mal völlig Tabu, oder? Später ist es mir egal gewesen. Was soll man auch schon gegen die eigenen Gefühle machen? Ja wohl gar nichts. Solange sie eben nicht schändlich sind.   Naja, Noah ist gerade mal seit zwei Wochen Single. Ein bisschen schändlich ist es vielleicht schon, dass ich ihn hier so küsse. Immerhin hat er mir ja quasi erzählt, dass ihm die Sache mit Frank doch noch etwas zu schaffen macht.   Ablenkung tut gut, fällt mir wieder ein und plötzlich wird mir alles klar.   Der geht ins Horizon um sich Ablenkung zu suchen.   Ich reiße mich von Noah los, der mindestens genauso geschockt aussieht wie ich. Geschockt ist ein gutes Gefühl, oder? Er könnte ja auch total wütend sein oder angeekelt.   „Konstantin...“   Ich falle regelrecht aus dem Auto, knalle die Türe zu und renne ins Haus. Oskar lasse ich links liegen als er mich begrüßen kommt und ignoriere sein leises winseln, als ich die Treppe hoch renne. Mama ist noch wach und ruft mir irgendwas hinterher, aber ich verschwinde in mein Zimmer, reiße mir die Klamotten vom Leib und gehe ins Bett.   Zähne putzen kann ich morgen früh. Sorry, aber ich kann mich jetzt unmöglich mit so etwas Banalem aufhalten. Kapitel 3: ----------- „Du hast was?!“, schreit Hannah mit schriller Stimme... entsetzt? Und spuckt mir beinahe ihr halbes Brötchen entgegen.   Samstagmorgen.   Ich fackel nicht lange, gehe schnell duschen, putze mir endlich die Zähne, ziehe eine langweilige navyblaue Shorts und ein ebenso langweiliges schwarz-weiß-gestreiftes Tshirt an, schnappe mir Oskar, Geld, Schlüssel und Handy und gehe Brötchen kaufen. Obst auch. Oskar kriegt einen ausgedehnten Morgenspaziergang und darf mitkommen. Auf halber Strecke informiere ich Hannah, dass ich auf dem Weg zu ihr bin und wir brunchen werden.   Als Hannah mir die Tür öffnet, ist sie noch im Schlafanzug. Also, sie trägt eine kurze, hellblaue Shorts und ein weißes Top. Einen BH hat sie nicht an – das stört weder sie, noch mich. Ihre Haare sind zu einem... ich glaube, man nennt das messy top bun gebunden. Sie sieht aus, als wäre sie gerade erst aufgestanden... wieder.   Nachdem wir das Brunch vorbereitet haben sitzen wir zusammen auf dem Balkon und essen in Ruhe, bis ich ihr sage, dass ich am Abend zuvor Noah geküsst habe.   Hannah stiert mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. Mir ist das plötzlich sehr peinlich und ich verstehe nicht, wieso sie so übertrieben reagiert? Ich meine, ich bin doch am Ziel angekommen, oder nicht? Naja, sagen wir, ich hab die Hälfte geschafft. Okay, ein Viertel.   „Ich habe Noah geküsst.“, wiederhole ich mich und versuche unauffällig mein Gesicht zu betasten. Nur um auf Nummer sicher zu gehen. Oskar liegt am Boden neben mir und schnüffelt neugierig herum, vermutlich ist doch irgendwas runter gefallen? Er wird es wissen.   „Und? Also, ich meine, wie wars? Hat er was gesagt? Hat er dich auch geküsst?“   „Nein, nichts. Ich hab ihn gepackt und einfach geküsst. Und dann ist mir in den Sinn gekommen, dass er möglicherweise zwecks Ablenkung ins Horizon geht und... bin rein gerannt. Er hat aber noch vorher meinen Namen gesagt.“   Seinen Ton kann ich allerdings immer noch nicht deuten. Keine Ahnung ob er geschockt oder angewidert oder glücklich gewesen ist.   „Also du musst jetzt unbedingt mit ihm reden und zwar Klartext!“   Finde ich nicht.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Finde ich nämlich seit drei Wochen nicht.   Inzwischen ist August und ich bin so oft wie möglich außer Haus. Nach der Schule gehe ich entweder zu Hannah oder mit Oskar raus. Der Sommer ist mir egal, Hauptsache ich laufe nicht Gefahr, Noah irgendwo zu begegnen. Im Horizon bin ich auch nicht mehr gewesen. Eigentlich bin ich überhaupt nicht aus gewesen, was Hannah in eine mittelschwere Lebenskrise zu stürzen scheint. Zwar findet sie es toll, wenn ich bei ihr übernachte, aber das dritte Wochenende in Folge ist ihr wohl schlecht auf den Magen geschlagen. Sie hat mir nämlich ein Ultimatum gestellt: ich darf erst wieder bei ihr übernachten, wenn ich mit ihr ins Horizon gehe.   Ist das gemein oder ist das gemein?!   Ich kann gar nicht sagen, wie es mir geht. Also, nach dem Kuss. Ein bisschen verwirrt bin ich, weil Noah mich nicht sofort von sich gestoßen hat. Das würde man doch eigentlich machen, wenn man etwas nicht will, oder? Selbst wenn man im ersten Moment perplex ist. Weiß gar nicht, wie lange ich ihn geküsst habe. Ne Minute vielleicht? Also, es war ja auch nicht so ein richtiger Kuss. Unsere Zungen sind nicht im Spiel gewesen ich hab einfach nur meine Lippen auf seine gedrückt. Wenn es also eine Minute gewesen ist, hätte er nach mindestens dreißig Sekunden reagieren müssen. Hat er aber nicht.   Was bedeutet das denn jetzt? Und auch anschließend hat er nicht sehr viel getan außer stupide meinen Namen zu sagen. Hallo? Ich weiß wie ich heiße. Wieso hat er mich eigentlich nicht aufgehalten? Gut, ich bin wie der Flash abgehauen, aber trotzdem...   Hannah hat schon irgendwie recht. Ich sollte mit Noah reden, aber irgendwie ist jetzt alles viel komplizierter als vorher. Natürlich könnte ich alles auf den Alkohol schieben, schließlich denkt Noah ja eh, dass ich betrunken gewesen bin. Trotzdem – so betrunken, dass man voller Inbrunst einen Mann küsst, kann man ja eigentlich nicht sein. Zumindest nicht mit siebzehn. Vielleicht denkt Noah ja auch, dass es jugendlicher Schwachsinn gewesen ist. Das wäre zumindest meine Entschuldigung, wenn ich mich irgendwie raus reden wollen würde.   Aber will ich das?   Meine Sehnsucht nach ihm ist schlimmer als je zuvor. Mann, ich hab ihn geküsst wie ein Kleinkind. Hätte ihm meine Zunge in den Mund schieben und die Gunst der Stunde nutzen sollen. Ich habe so richtig Blut geleckt – und will jetzt mehr. Aber irgendwie auch nicht, schließlich ist die Angst vor Ablehnung immer noch übermächtig. Das ich es natürlich nicht besser mache, indem ich nichts tue, versuche ich fleißig zu verdrängen.   Stattdessen lenke ich mich mit Schulkram ab, lerne wie ein Bekloppter und schiebe nachts Panik, weil Mathe mich total fertig macht. Was mach ich denn bloß, wenn ich das Abi nicht packe? Wenn ich die Klasse wiederholen muss? Mann, meine Eltern köpfen mich. Nein, das werden die nicht, aber naja... welche Eltern sind schon begeistert, wenn das Kind eine Klasse wiederholen muss? Bastian macht sich eh schon die ganze Zeit über mich lustig. Typisch. Der ist in der Schule nämlich der totale Überflieger gewesen und hat nie Probleme gehabt.   Apropos, ich höre Bastian draußen auf dem Flur... ich glaube er telefoniert? Mit wem redet der denn noch? Es ist fast elf Uhr abends. Zwar Freitag, aber trotzdem? Er geht die Treppen runter und ich beschließe, dass ich noch einen Tee brauche. Zur Beruhigung. Ich hab mir nämlich neulich so einen Lavendel-Baldrian-Melisse Tee gekauft und bilde mir jetzt fleißig ein, dass mir das hilft.   Unten im Flur treffe ich Bastian, der sich gerade seine Schuhe anzieht.   „Wo gehst'n du noch hin?“, frage ich betont lässig und möglichst desinteressiert... dabei will ich schon wissen, wieso der sich so raus geputzt hat. Also, Bastian sieht eh immer gut aus, glaube ich. Ich meine, was soll man über den eigenen Bruder schon sagen? Er ist größer als Noah und dem gehe ich mit dem Kopf gerade zur Brust. Bastian geht regelmäßig ins Fitnessstudio und hat auch deutlich mehr Muskeln als Noah. Mann, wieso vergleiche ich die beiden? Seine Haare hat er mit etwas Gel oder Wachs oder was auch immer gestylt. Er trägt eine dunkelblaue Jeans und ein weißes Hemd, mindestens die ersten drei Knöpfe hat er offen gelassen.   „Feiern. Warste eigentlich noch mit Oskar draußen? Der ist total unruhig.“   „Äh... nee. Mit wem gehst du denn feiern?“   Bastian verdreht die Augen und drückt mir Oskars Leine in die Hand.   „Mit Noah. Und du gehst jetzt noch mal schön mit Oskar vor die Tür, bevor wir hier nachts in irgendwelche Unfälle rein latschen.“   Ach du kacke!   „Wir?“   „Noah pennt hier. Mann, bist du blöde oder was? Bis morgen, Grottenolm.“   Er schnappt sich seine Schlüssel und dann ist er weg.   Mir wird spontan schlecht. Scheiße! Noah pennt hier? Oh Mann, das geht doch nicht. Ich schlüpfe schnell in meine Sandalen, pfeife Oskar heran und gehe ein paar mal mit ihm um die Häuser. Also, unruhig wirkt der auf mich ja nicht. Trotzdem, ich gehe auf Nummer sicher und wir laufen und laufen bis Oskar sich meiner erbarmt und brav sein Geschäft erledigt.   Als wir wieder zurück sind, rufe ich sofort Hannah an, die etwas träge nach Ewigkeiten klingeln ins Telefon nuschelt.   „Mann, es ist tausend Uhr... was willst du denn?“   „Hannah, kann ich bitte bitte bei dir übernachten?“   „Was? Nein, ey, ich lieg schon im Bett.“   Naja, es ist inzwischen nach elf und Hannah hat heute ein bisschen erschöpft auf mich gewirkt. Die konnte sich in der Schule nicht so gut konzentrieren und klagte über Kopfschmerzen.   „Bastian und Noah gehen feiern und Noah pennt hier. Bitte.“   „Hör mal, ich bin echt müde und du muss dringend schlafen. Und du mit Noah reden.“   „Hannah...“   „Ernsthaft, Konstantin, das ist echt nicht mehr witzig. Gute Nacht!“   Klick, Hannah legt auf. Ich starre auf mein Handy. Hat die mich ernsthaft weg gedrückt? Mir ist nach heulen zumute. Und sauer bin ich auch. Mensch, die ist meine beste Freundin, sollte sie da nicht Verständnis für mich aufbringen? Kann ja verstehen, dass es mit mir in letzter Zeit nicht so einfach ist... naja, in den letzten vier Jahren... aber mich so abzuservieren? Ich brauche meinen Tee. Unten im Wohnzimmer gucken meine Eltern irgendeinen Film von anno-dazumal. Das höre ich, weil die Synchronisation uralt klingt und irgendwie jede Person dieselbe Stimme zu haben scheint.   „Gute Nacht!“, rufe ich und kriege ein doppeltes Gute Nacht zurück. Oskar wird nochmal lieb getätschelt, dann verschwinde ich mit meinem Tee auf mein Zimmer und laufe auf und ab. Ich muss mir dringend überlegen, was ich jetzt tun soll. Auf keinen Fall kann ich Noah über den Weg laufen. Vor allem nicht hier, wo meine Eltern und Bastian sind. Oh Gott, hat Noah Bastian eigentlich irgendwas erzählt? Warum bin ich nicht schon eher darauf gekommen? Kacke, was wenn Bastian von dem Kuss weiß? Andererseits... dann hätte er mich schon längst irgendwie damit aufgezogen oder so. Ich meine, das würde er doch bestimmt tun, oder?   Vielleicht hat Noah es ihm aber auch nicht erzählt, was natürlich die Frage aufwirft, wieso nicht? Naja, vielleicht hat er ja etwas Sorge, was sein bester Freund davon halten würde. Andererseits... geht es irgendwen was an? Muss ja niemand wissen. Und irgendwas sagt mir, dass Noah über diesen Zwischenfall nicht reden wird.   Mit niemanden.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Verdammt, ich habe total verschlafen! Ob das der Tee war?   Es ist kurz nach neun und ich höre Stimmen. Und die Dusche. Kacke. Ich habe mir extra vorgenommen, so früh wie möglich mit Oskar raus zu gehen und einfach nicht wieder zu kommen. Naja, erst irgendwann am Mittag oder Abend, wenn ich halbwegs sicher sein kann, dass Noah weg ist. Leider weiß ich nicht, wo der gerade ist. Unten? In der Dusche?   Das ist ein sehr netter Gedanke...   Kacke, ich hab Hunger. Hab das Gefühl, mein Magen frisst sich schon selbst auf. Und aufs Klo muss ich auch. Könnte mich in das Bad meiner Eltern schleichen, aber was, wenn Noah genau in dem Moment über den Flur latscht? Mein Leben ist doch echt eine einzige Lachnummer. Bin ich eigentlich der einzige Trottel auf der Welt, der solche Probleme hat?   Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab, lausche an der Tür, mache mein Bett ordentlich – mache ich sonst nie – räume Zeugs von A nach B und rede mir ein, dass ich sehr beschäftigt bin. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, weil ich befürchte, dass mir die Blase platzt. Bevor ich jedoch raus auf den Flur trete, ziehe ich lieber ein Tshirt über... nur in Shorts will ich dann doch nicht hier rum laufen wenn wir Besuch haben. Wobei, eigentlich soll Noah ja sehen, was er an mir hat...   Leider ist es nur Bastian, der mir gerade entgegen kommt, die Haare noch nass von der Dusche. Er sieht mich ziemlich skeptisch an, weil ich von einem Bein aufs andere hüpfe.   „Oskar geht es sehr ähnlich. Sieh mal lieber zu, dass du mit ihm raus gehst, anstatt bis in den Mittag rein zu pennen.“   Er schnippt mir gegen die Stirn und geht an mir vorbei nach unten. Hallo? Es ist gerade mal nach neun! Das ist ja wohl früh genug. Warum Bastian so früh wach ist, ist mir allerdings ein Rätsel. Die können ja nicht sehr lange weg gewesen sein, wenn die so früh wieder wach sind. Oh Mann. Noah ist bestimmt schon unten, oder?   Ich renne schnell ins Bad, bevor mir noch ein Unglück passiert, dusche in Rekordzeit und flitze wieder rüber in mein Zimmer um mich anzuziehen. Handy, Schlüssel, Geldbörse... dann schleiche ich leise die Treppen runter. Aus der Wohnküche dringen Stimmen an mein Ohr... das ganze Haus ist wach. Meine Eltern, Bastian und Noah unterhalten sich über... keine Ahnung, mein Hirn kann das nicht so richtig verarbeiten. Ob Noah auch geduscht hat? Ja bestimmt. Oh Mann. Jetzt muss ich mir vorstellen, wie wir beide...   „Oskar!“, rufe ich und höre seine Krallen über den Laminatboden schrammen. Er rennt mich fast um, als er aus der Wohnküche auf mich zu gerannt kommt und mit seinem Schwanz alles kurz und klein schlägt. Schnell mache ich die Leine fest.   „Konstantin?“, ruft meine Mama und kommt einen Augenblick später raus auf den Flur.   „Frühstückst du nicht mit uns?“   Sie schaut mich ein bisschen entgeistert an.   „Nee, Oskar muss dringend raus und... äh, ich bin mit Hannah verabredet. Wir gehen in der Stadt frühstücken.“, lüge ich mir einen dranlang, was Mama natürlich nicht merkt.   „Ach so. Ja na dann, viel Spaß euch. Grüß Hannah schön.“   „Mach ich. Bis später.“   Mama drückt mir einen Kuss auf die Stirn, ich schlüpfe in meine Sandalen und sehe zu, dass ich das Haus verlasse. Was ich jetzt die nächsten Stunden machen soll, ist mir ein Rätsel. Erstmal gehe ich mit Oskar in den Park und drehe dort meine Runden mit ihm. Danach finde ich, dass wir mal wieder durch den nahe gelegenen Wald spazieren können. Es ist erst nach zehn als wir dort ankommen und ich weiß nicht, was ich machen soll.   Zu Hannah gehen kann ich nicht, die weiß von ihrem Glück schließlich noch nichts. Und irgendwie... naja, ich weiß nicht, wenn ich wieder bei ihr aufkreuze, wird sie doch bestimmt sauer sein, oder? Ein bisschen kann ich ja verstehen, dass sie eventuell genervt sein könnte, aber gerade in so einer Situation müsste sie doch für mich da sein, oder?   Ich habe mir das schließlich nicht ausgesucht. Mir wäre es ja auch lieber, wenn ich mich in jemand anderen verliebt hätte. Ein Mädchen vielleicht oder halt einen anderen Jungen in meinem Alter, wo es nicht so schlimm ist und ich es verheimlichen muss. Naja was heißt, mir wäre es lieber... mir wären weniger komplizierte Umstände lieber. Zum Beispiel wäre mir schon damit geholfen, wenn Noah nicht der beste Freund meines Bruders wäre. Vielleicht ist das ja das größte Problem an dieser ganzen Misere.   Ob Noah mich wohl auch lieben könnte? Wenn er beide Augen fest zusammen kneift... Aber wie sähe eine Beziehung zwischen uns aus? Bei mir daheim müssten wir ja immer so tun als wäre nichts. Er würde weiterhin bei Bastian im Zimmer pennen wenn er über Nacht bleiben würde. Und anstatt mich zu küssen würde er mir wie ein kleines Kind durch die Haare wuscheln.   Meine Eltern würde wohl der Schlag treffen wenn die Noah und mich zusammen sehen würden. Ich bin zwar nach wie vor fest davon überzeugt, dass sie tolerant auf meine sexuelle Orientierung reagieren würden, aber... naja, vielleicht ja auch nicht? In Freundes- und Bekanntenkreisen ist das ja immer völlig in Ordnung, aber in der eigenen Familie? Das eigene Kind? Bastian wäre das ohnehin egal, solange ich mich nicht an Noah ran machen würde. Ich gebe zu, ich habe in dieser Hinsicht schon ein ziemlich schlechtes Gewissen. Zwischen beste Freunde und verliebt sein liegt eben ein Unterschied. Außerdem möchte ich Noah ja auch nicht in eine Position drängen, die ihm unangenehm sein könnte. Er soll schließlich nicht zwischen Bastian und mir wählen müssen, aber würden wir zusammen kommen, würde es doch genau darauf hinauslaufen, oder?   Leider kann ich absolut nicht einschätzen, wie Bastian darauf reagieren würde. Es sollte mir egal sein, schließlich kann ich für meine Gefühle ja nichts. Aber er ist nach wie vor mein Bruder. Er und Noah stehen sich so nah... wäre Noah nicht mit Frank zusammen gewesen, ich wäre geneigt zu glauben, dass die heimlich was am laufen gehabt haben. Das ist natürlich völliger Quatsch denn Bastian steht auf Frauen, auch wenn er keine Freundin hat. Wieso eigentlich nicht, frage ich mich? Er sieht immerhin nicht schlecht aus und ist, mal abgesehen mir gegenüber, echt nett. Und witzig. Auf Bastian kann man sich immer verlassen.   Ich seufze tief vor mich hin.   Was ein großer Haufen an Mist.   „Hey, Konstantin! Guten Morgen!“, höre ich eine fröhliche Stimme hinter mir und springe vor lauter Schreck fast aus der Hose. Als ich mich umdrehe erblicke ich Maxi in Sportkleidung. Eine kurze Sweatshorts trägt er und ein Tanktop... Mann, ich sehe jeden scheiß Muskel. Er ist ein wenig verschwitzt und gerade dabei die Ohrstöpsel aus seinen Ohren zu holen. Gemütlich joggt er auf mich zu und ich kriege schwere Beklemmungen.   Der hat mir gerade noch gefehlt!   Oskar, dieser treulose Verräter, wuselt sofort um ihn herum und beschnuppert ihn aufs Heftigste.   „Äh... hi, guten Morgen... was machst du denn hier?“   Wow, Konstantin... er trägt Sportkleidung... offensichtlich geht er joggen?!   „Joggen. Jetzt kann man das ja wenigstens noch machen, bevor es später zu heiß dafür ist.“   Also ich finde es ja jetzt schon viel zu heiß, behalte das aber mal lieber für mich. Dafür fällt mir etwas anderes ein, das ich ihm sagen könnte.   „Du, wegen neulich... sorry, dass wir so plötzlich weg waren ohne uns zu verabschieden. Mir war nicht so gut und ich wollte einfach nur noch nach Hause.“   Das ist zwar gelogen, kommt mir aber so easy über die Lippen, dass es keinen Zweifel an meine Ehrlichkeit gibt. Maxi lacht leise und schüttelt den Kopf.   „Kein Ding, Hannah hat mich angerufen und mir alles erklärt.“   Hä?   „Hä?“, frage ich ziemlich blöde und habe auf einmal ein sehr flaues Gefühl im Bauch. Hätte vielleicht doch was essen sollen, mir ist nämlich plötzlich ein bisschen schlecht vor Hunger. Was hat Hannah dem erklärt? Und wieso zur Hölle hat Hannah seine Nummer?   „Naja, sie rief mich gleich am Abend noch an und entschuldigte sich dafür, aber dir ginge es schlecht und sie bringt dich lieber nach Hause. Inzwischen geht’s dir aber wieder besser, ja?“   „Ja... ja, mir bekommt das Wetter und die Luft und das Bier da nicht so gut. Warum hat Hannah deine Nummer?“   Und das sie ihn noch in derselben Nacht angerufen hat!   Maxi sieht ein wenig verwirrt aus.   „Damit wir uns verabreden konnten. Wusste nicht, wann ihr ins Horizon geht, da sagte sie, sie würde mir eine Nachricht schicken. Also haben wir Nummern ausgetauscht.“   Mann, der muss ja denken, ich sei total bescheuert. Aus irgendeinem völlig absurden Grund bin ich etwas... verstimmt, weil Maxi Hannahs Nummer hat. Und umgekehrt. Mensch, was ist denn bloß los?   „Ach so. Sorry, ich bin wohl noch etwas müde...“, entschuldige ich mich ziemlich lahm und ziehe Oskar ein bisschen an der Leine zurück, weil er Maxi echt auf die Pelle rückt. Mann, dieser Hund macht mich nochmal wahnsinnig.   „So siehst du auch aus. Ist alles in Ordnung?“   Grr, wieso fragen mich das alle?!   „Ja, tut mir leid. Ähm... also wir müssen jetzt mal weiter...“   „Kein Ding. Magst du mir vorher noch deine Nummer geben?“   Ach du kacke!! Mein Kopf leuchtet wie ein Tannenbaum, dessen bin ich mir sicher.   „Wieso willst du meine Nummer haben?“   Maxi lacht und irgendwie klingt das sehr schön?!   „Na, weil ich dich vielleicht mal anrufen mag?“   Weil mir darauf auch nichts mehr einfällt, tauschen wir Nummern aus. Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, dabei brauche ich das gar nicht, weil ich ja nichts Verbotenes tue. Und Maxi ist theoretisch ein Schulfreund, da ist es ja wohl völlig legitim, dass wir Nummern austauschen, oder?   Maxi verstaut sein Handy wieder an so ein komisches Halterungstaschending an seinem linken Oberarm. Mann, der ist echt trainiert... und seine Schneewittchenhaut sieht gar nicht krankhaft aus, sondern eigentlich sehr schön.   „Also dann, wir sehen uns?“   „Ja, okay. Viel Spaß dir noch beim Joggen.“   Maxi lächelt mich an und puh, mir wird das irgendwie alles zu viel. Der soll aufhören, so völlig selbstverständlich mit mir umzugehen. Schließlich kennen wir uns ja praktisch gar nicht.   „Danke, dir auch noch. Bis Montag. Oder heute? Ich gehe abends ins Horizon. Vielleicht sieht man sich ja.“   Er zwinkert, stopft seine Ohrstöpsel wieder in die Ohren und joggt an mir vorbei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich heute nicht ins Horizon gehen werde. Am Ende denkt er noch, ich würde mich für ihn interessieren! Naja, andererseits... er ist ja eigentlich sehr nett. Und hat auch nichts getan, was irgendwie eindeutig zweideutig gewesen wäre.   Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, Maxi zu nah zu sein. In meinem Kopf verdreht Teufelchen-Hannah die Augen. Ich habe nämlich kein böses und kein liebes Engelchen auf den Schultern hocken, sondern eine böse und eine liebe Hannah. Die sich beide leider sehr ähnlich sind.   Ich sehe zu, dass ich mit Oskar weiter gehe, bevor ich noch Wurzeln schlage. Auf einer Wiese spielen wir mit einem Stock, was Oskar tierisch freut. Ich habe schon nach zwei Minuten Muskelkater in meinen Armen. Vermutlich habe ich mir auch die Schulter ausgekugelt.   Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und fahre mit Oskar in die Stadt. Mein Geld für den Bus, wenn ich ihn mal nehme, geht langsam zu Neige... besser, ich hole auch direkt noch etwas Bargeld ab. Und etwas essen sollte ich auch, ich krieg langsam Magenschmerzen.   Nachdem ich etwas Bargeld bei der Bank abgeholt habe, hole ich mir ein Brötchen in einem der vielen Cafés und einen Cappuccino to go. Setze mich mit Oskar auf eine Bank. Also, ich setze mich auf die Bank, Oskar liegt mir zu Füßen. Wenigstens einer.   Ich beiße gerade beherzt in mein Brötchen, als mein Handy klingelt. Es ist Paps.   „Ja?“, nuschel ich mit vollem Mund und bete, dass mir nicht alles raus fällt. Oskar wartet nur darauf.   „Junge, du bist doch in der Stadt, oder? Könntest du später etwas für einen Salat kaufen? Noah bleibt noch bis zum Abendessen und wir haben nichts knackiges da.“   … also ich finde Noah ja durchaus knackig.   „Äh, ja... klar. Besondere Wünsche?“   „Nicht wirklich, such einfach was aus, das du auch magst.“   „Okay. Bis später dann.“   Wir legen auf und ich will heulen. Irgendwann muss ich nach Hause, um die Sachen nach Hause zu bringen und Oskar kann ich bei dem Wetter auch nicht den ganzen Tag durch die Gegend schleppen. Kann Noah nicht bei sich daheim essen?! Der wohnt schließlich nicht bei uns. Mann ey... ich kann mich nicht mit an den Tisch setzen, als wäre nichts passiert. Und ich will auf keinen Fall in die unangenehme Situation kommen, dass wir womöglich alleine sind. Oder er mich ansieht und ich in seinem Gesicht irgendetwas sehe, das ich nicht sehen möchte.   Erstmal esse ich mein Brötchen und spüle es mit etwas Cappuccino runter. Einkaufen gehen dauert vielleicht eine Stunde. Nach Hause fahren eine halbe, wenn der Verkehr gut ist. Ich könnte so um vierzehn Uhr wieder daheim sein und mich auf meinem Zimmer verschanzen. Oder, noch viel besser, mich an meinen Flügel setzen und üben und alleine sein wollen. Das ist nämlich etwas, was durchaus respektiert wird, sogar von Bastian.   Leider weiß ich immer noch nicht, wie ich dem Abendessen aus dem Weg gehen kann. Ob ich Hannah anrufen soll um mit ihr irgendwo was essen zu gehen? Nach gestern habe ich allerdings ein wenig Bammel... ich weiß ja, dass ich mich in diese ganze Sache mit Noah tierisch rein steigere. Es wäre alles viel einfacher, wenn ich es ihm endlich sagen würde, aber... vielleicht bin ich ja doch noch nicht so weit? Oder ist es doch nur eine Schwärmerei? Nein, auf keinen Fall. Ich möchte mit Noah zusammen sein. Ich möchte seine Hand halten, mit ihm Eis essen gehen (und von seinem Eis probieren...), auf dem Sofa sitzen und Filme gucken, mit ihm ausgehen. Ich möchte mich an ihn kuscheln, möchte seine Arme um mich spüren. Möchte seine Lippen auf meinen fühlen. Ich möchte neben ihm einschlafen und am nächsten Morgen mit einem Kuss und Frühstück ans Bett geweckt werden. Und dann gehen wir zusammen duschen und... naja, diesen Gedanken sollte ich mitten in der Stadt besser nicht weiter ausführen. Mein Bauch kribbelt sowieso schon unheilverkündend.   Ich schicke Hannah eine Nachricht und frage, ob sie heute mit mir zu Abend essen gehen möchte. Und entschuldige mich für die späte Störung am Vorabend. Dann gehe ich los zum Supermarkt und darf Oskar permanent hinter mir her ziehen, weil der überall stehen bleibt und rum schnüffeln muss. Mann, dieser Hund treibt mich eines lieben Tages noch in den Wahnsinn!   Schmeiße Eisbergsalat, Gurke, Tomate, Paprika, Feta, Mozzarella Bällchen und Avocado in den Einkaufskorb und überlege, ob ich noch ein Dressing kaufen soll. Wir haben allerdings so viel Zeugs, das können wir auch selber machen. Papa kocht nämlich nur frisch. Mama greift auch gerne mal zur Tiefkühlpizza, hat sich aber damit arrangiert, dass Papa sogar den Reis selber anbauen würde, wenn er könnte. Meistens müssen Bastian und ich aber für uns selber kochen, weil unsere Eltern länger arbeiten als ich in die Schule gehe oder Bastian von seiner Arbeit wieder kommt. Sagen wir mal so: die Basics gelingen mir, der neue Tim Mälzer werde ich aber nicht.   Nach dem Einkauf mache ich mich auf dem Heimweg. Ich werde die blöde Tüte einfach in die Küche stellen und dann auf mein Zimmer rennen. Vielleicht mache ich auch direkt einen Mittagsschlaf. Damit kriege ich die Stunden nämlich auch rum. Klingt nach einem guten Plan, oder?!   Es ist tatsächlich beinahe zwei als ich nach Hause komme. Oskar legt sich direkt in sein Hundebett im Wohnzimmer, die Einkäufe stelle ich in die Küche. Weder Bastian, noch Noah sind weit und breit zu sehen. Meine Eltern hantieren im Garten herum. Als mein Handy in meiner Hosentasche vibriert, kriege ich fast einen Herzinfarkt.   Ich will heulen, als ich die Nachricht lese.   Hannah fühlt sich immer noch nicht besser und kann keinen Besuch empfangen. Und weggehen ist auch nicht drin, wie sie mir mitteilt. Das darf doch alles nicht wahr sein!   Frustriert verziehe ich mich ins Musikzimmer, schließe die Tür und setze mich an meinen schwarzen Flügel. Meine Eltern haben ihn mir zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt, zuvor hatten wir ein Klavier. Ich liebe meinen Flügel. Bedächtig streiche ich über das glänzende schwarz, öffne den Deckel der Klaviatur und berühre die weißen Tasten. Meine Finger kribbeln. Mein Herz klopft mir bis zum Hals.   Ich schließe meine Augen und spiele ein paar einfache Melodien, Kinderlieder, vereinzelte Passagen aus den Werken der großen Künstler. Irgendwann fange ich an Comptine d'un autre été zu spielen. Hannah hat mich so lange genervt, bis ich es gelernt und ihr vorgespielt habe. Es ist eines der ersten Stücke, das ich für sie gespielt habe. Inzwischen kann ich es mit geschlossenen Augen spielen. Der geöffnete Flügel trägt die Laute durch den gesamten Raum, hinaus in den Garten, durch das Haus. Die Musik erfüllt mich, jeder Muskel in mir entspannt sich. Mein Kopf ist frei von jedweden Sorgen.   Wenn mein Leben doch auch nur sorgenfrei sein könnte.   Also, mein Liebesleben, das ich zwar noch nicht habe, aber gerne hätte. Vielleicht sollte ich Noah ja ein Stück schreiben und ihm damit meine Liebe erklären?   …   Das ist echt keine blöde Idee.   Mitten im Stück höre ich auf, springe zum Regal mit meinen Notenbüchern und hole ein leeres Notenheft heraus, schnappe mir einen Bleistift und setze mich wieder hin. Und dann sitze ich eine ganze lange Weile einfach nur da und weiß nicht, wo ich anfangen soll.   Ich habe noch nie etwas selber geschrieben. Als Kind habe ich zwar einfach mal vor mich hin geklimpert, aber das hatte keinen Hintergrund. Außer Spaß an der Sache. Nur Spaß reicht jedoch für das, was ich vorhabe, nicht aus. Außerdem habe ich überhaupt keine Ahnung, wo und wie ich anfangen soll.   Mit einer mittelschweren Lebenskrise bleibe ich eine Weile einfach nur vor meinem Flügel sitzen, starre die leere Seite an, starre auf die Tasten. Alles, was ich nach gefühlten Stunden zu Papier bringe, ist der Name des Stücks: Für Noah.   Dann klopft es zaghaft an der Tür, mein Herz springt mir halb in den Hals. Schnell schlage ich das Heft zu.   „Ja?“   Bastian streckt den Kopf durch einen winzigen Türspalt und ich bete, dass Noah nicht auch noch auftaucht.   „Magst du auch ein Stück Kuchen? Erdbeere.“   Mein Magen knurrt. Bastian grinst.   „Äh... ja bitte.“   „Willst du hier essen?“   Er macht eine allumfassende Bewegung mit seiner rechten Hand. Ich nicke.   „Na gut. Falls du es dir anders überlegst, wir sind im Garten. Kuchen steht in der Küche, du hast ja zwei gesunde Beine.“   Schwupps, da ist er auch schon weg. Grrr, dieser Kerl macht mich wahnsinnig!! Immerhin laufe ich nicht Gefahr, Noah über den Weg zu laufen. Und eine kleine Pause und etwas Abstand von meinem Projekt, das ohnehin noch nicht begonnen hat, ist ja auch nicht verkehrt.   Trotzdem schleiche ich ein paar Minuten später in die Küche und sehe einen zum Niederknien leckeren Erdbeerkuchen auf dem Küchentisch. Mann, ich will mich da rein legen. Vielleicht schneide ich mir deshalb auch ein etwas größeres Stück ab. Ich hab halt nur ein Brötchen bisher gehabt, okay?!   Schiebe mein Stück auf einen kleinen Teller, schnappe mir eine Gabel und... muss aus dem Fenster schauen. Aus Wohnzimmer- und Küchenfenster kann man nämlich den Garten sehen und... da sitzen sie alle. Meine Eltern, Bastian und Noah. Letztere sitzen nebeneinander und ich sehe meinen Schwarm lächeln. Mann, ist der schön. Mein Herz klopft wie wild und am liebsten würde ich mich zu ihnen gesellen. Ich möchte Noahs Hand durch meine Haare wuscheln spüren. Sein Lächeln sehen.   Mein Herz krampft sich schmerzlich zusammen. Da sitzt er, lacht mit Bastian, unterhält sich ausgelassen mit meinen Eltern, schiebt die Kuchengabel in seinen Mund und behält sie gleich etwas länger dort. Mir ist nach dahinschmelzen und das nicht (nur) wegen der Hitze.   Dann wandert sein Blick zum Küchenfenster – unsere Blicke treffen sich, ich spüre das Blut in mein Gesicht schießen und nehme Reißaus. Peinlicher geht es kaum. Der weiß doch, dass irgendwas im Busch ist und nicht stimmt. Wie er wohl über den Kuss denkt? Ich gebe zu, ich bin ihm sehr geschickt aus dem Weg gegangen, aber wenn er es hätte drauf anlegen wollen... hätte er doch mit mir reden können, oder? Ist es nicht auch irgendwie in seiner Verantwortung, diesen Kuss mit mir aus der Welt zu schaffen? Nicht, dass ich das will! Es soll schließlich noch viel mehr Küsse geben. Aber darüber reden müssen wir doch trotzdem irgendwann, oder? Das könnte also auch ruhig er übernehmen...   Ich schlinge meinen Kuchen regelrecht runter, lasse den Teller auf der kleinen Kommode im Musikzimmer stehen und setze mich nochmal an den Flügel. Inzwischen ist es nach vier und ich weiß immer noch nicht, wie ich dem Abendessen aus dem Weg gehen kann. Hannah fällt flach, was eigentlich das Schlimmste an der ganzen Sache ist. Wir verbringen wahnsinnig viel Zeit miteinander, alleine schon durch die Schule. Telefonieren fast täglich. Uns gegenseitig schreiben tun wir sowieso immer. Allerdings hat sie mir auf meine letzte Nachricht zwecks gute Besserung und so nicht mehr geantwortet. Natürlich ist das nichts Ungewöhnliches: wir haben auch Zeiten gehabt, in denen einer von uns erkältet gewesen ist – da leidet man lieber vor sich hin und verabschiedet sich vom Leben, als das man am Handy hängt. Dennoch fehlt mir Hannah gerade jetzt besonders. Schließlich kann ich nur mit ihr über Noah reden.   Noch einmal probiere ich, ein paar Noten für mein eigenes Stück zu schreiben, spiele ein paar Töne und lasse es dann doch sein. Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass ich etwas für Noah schreiben kann. Schließlich kennen wir uns kaum – wenn wir mal ehrlich sind. Ich fühle mich wie ein Beobachter, der nur durchs Fenster schaut, aber nicht selber dabei ist. Es wäre einfach, das Fenster zu öffnen und hinaus zu klettern, genauso gut könnte man sich aber auch bei dem Versuch das Bein brechen. Oder direkt das Genick.   Vielleicht sollte ich ja einfach einen Magen-Darm-Infekt vortäuschen. Da kann ich immerhin sicher sein, dass mich keiner sehen will. Andererseits... ich möchte Noah nicht die Gelegenheit geben über mich nachzudenken, während ich eine innige Beziehung zum Klo führe.   Gott, ist das alles zum Kotzen. Ich sollte am besten ausgehen und den Abend durch tanzen!   …   Moment.   Okay, also Hannah kann zwar nicht mitkommen, aber ich könnte ja auch alleine gehen. Ist schließlich nichts dabei. Wir sind immerhin keine siamesischen Zwillinge und ich brauche auch keinen Personenschutz... sozusagen. Trotzdem ist alleine tanzen gehen irgendwie doof. Von meinen anderen Freunden und Bekannten geht allerdings keiner ins Horizon.   Außer Maxi.   Was der plötzlich in meinen Gedanken zu suchen hat, ist mir ja auch ein Rätsel. Ich bin weiterhin der festen Überzeugung, dass ich den Kontakt mit ihm so spärlich gestalten sollte wie nur möglich, andererseits... die Hannahs in mir finden, dass es doch egal ist, mit wem ich ein Bier trinken gehe.   Ich bin schnell überzeugt und wähle Maxis Nummer. Mein Herz rast.   „Ja?“, höre ich seine Stimme nach ein paar mal klingeln und weiß gar nicht was ich sagen soll.   „Hi, äh... hier ist Konstantin.“   Maxi lacht.   „Das habe ich gesehen. Was gibt’s denn?“   Natürlich hat der meine Nummer auf dem Display gesehen... manchmal möchte ich die Hände über meinen Kopf zusammenschlagen – wegen mir selber.   „Mhh... also, du gehst heute ins Horizon?“   „Ja, ist geplant. Vermutlich so gegen acht.“   „Gut, dann... treffen wir uns?“   Ich höre Maxi Luft holen.   „Echt? Klar, gerne! Sollen wir uns vor dem Eingang treffen?“   Au weia, nein, ich kann mich nicht so fest mit ihm verabreden!   „Ach was, geh dann ruhig schon mal rein. Ich werde vermutlich erst etwas später als acht da sein.“   „Okay. Dann sehen wir uns später?“   „Wir sehen uns später.“, bestätige und ich und will schon auflegen, da höre ich nochmal seine Stimme.   „Danke für den Anruf. Ich freue mich auf heute Abend, Konstantin.“   Ich verabschiede mich ganz schnell von ihm, lege auf und das Handy ganz weit weg von mir. Habe ich mich gerade wirklich mit Maxi verabredet? Ein Teil von mir will diese Verabredung direkt wieder absagen. Der Rest findet, dass ich einen Samstagabend nicht daheim verbringen und stattdessen lieber etwas raus gehen soll.   Naja, was soll auch schon passieren? Ich werde mir ein oder zwei Bier gönnen, eine Cola zum Abschluss und dann werde ich nach Hause fahren und schlafen gehen. Gehe ja schließlich nicht mit Maxi aus.   Es wird ein netter Abend und ich werde Noah nicht über den Weg laufen.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Es ist fast neun, als ich am Horizon ankomme.   Ein bisschen schlecht fühle ich mich ja schon, weil ich mich nicht mehr bei Maxi gemeldet habe und der bestimmt schon wartet. Andererseits habe ich ihm ja gesagt, dass ich später kommen werde. Das war allerdings auch ein Akt, weil ich meinen Eltern erstmal verklickern musste, dass ich auch zu Abend auswärts essen gehe. Nicht falsch verstehen: wir sind eine nette kleine Familie, stehen einander sehr nah. Wir haben Spaß zusammen, spielen gelegentlich Gemeinschaftsspiele, achten aufeinander. Klar gibt es auch mal Zoff. Und es ist auch überhaupt kein Thema, wenn wir was unternehmen und mal aus sind.   Allerdings bin ich in letzter Zeit zu häufig nicht da gewesen weshalb mein Vater etwas auf die Barrikaden ging und es nicht gut fand, dass ich schon wieder Party machen gehe. Und wieder mal nicht daheim bin. Diese Diskussion haben wir immerhin im Flur vor meinem Zimmer geführt, also nicht dort, wo Noah uns womöglich sehen und hören konnte. Letztlich durfte ich aber doch gehen.   Ich habe alles gemacht, wie Hannah es machen würde: meine Haare ordentlich-unordentlich, etwas Wachs zum Definieren. Dunkelblaue Röhrenjeans, die ich an den Knöcheln umgeschlagen habe, weiße Chucks, schwarzes Tshirt mit V-Ausschnitt. Handy und Schlüssel habe ich noch in meine Hosentaschen bekommen... Geldbörse nicht. Ausweis und ein paar Scheine mussten also in die Hülle hinters Handy gestopft werden. Hannah sagt immer, dass ich einen süßen Hintern hätte – ihre Worte, nicht meine! - und der in den engen Jeans gut zur Geltung kommen würde. Ich finde die eher unpraktisch, weil nicht viel in die Taschen passt und sie in Noahs Gegenwart zu körperlichen Beschwerden führen.   Am Eingang kriege ich mein rotes Leuchtarmband und laufe direkt gegen eine Wand aus stehender Luft, Schweiß, Alkohol, Parfüm, After Shave und Rauch. Puh, ich brauche erstmal ein Bier, das ist anders ja nicht zu ertragen.   Samstagabend ist es immer gerappelt voll – noch schlimmer als Freitagabend. An der Bar warte ich bestimmt zehn Minuten bis ich endlich mein Bier kriege und dann muss ich mich an zwei Kleiderschränken vorbei quetschen, damit ich nicht einmal über die Theke gefaltet werde. Mann, vielleicht hätte ich doch mit Magen-Darm daheim bleiben sollen. Wo ich aber schon mal hier bin, halte ich direkt mal Ausschau nach Maxi. Das ist leichter gesagt als getan, denn der geht in der Masse an teilweise doch recht großen Menschen bestimmt unter wie ein Stein. Außerdem fällt er ja auch nicht so krass auf. Ampelrotes Haar hat er jedenfalls nicht – nur dieser eine Typ, der genau deswegen auffällt wie ein schwarzes Schaf. Relativ groß ist er, könnte aber auch sein, dass es seine sehr schlanke Statur ist, die ihn groß erscheinen lässt. Von Kopf bis Fuß in schwarz und löchrig gekleidet, Silberkettchen und Gürtel... mein lieber Schwan. Also, hässlich ist der nicht. Warum der schwarz-glitzernde Docs trägt, ist mir allerdings ein Rätsel. Ich krieg ja in meinen Chucks schon die Pimpanellen! Mit meinen Sandalen kann ich nur leider nicht hier aufkreuzen – da würden mir die anderen Gäste die Haxen brechen.   Oha, Ampelhaar kommt auf mich zu!   Unsere Blicke treffen sich. Er hat ein Augenbrauenpiercing links, sein rechtes Ohr ist komplett durchlöchert und Snakebites und ein Septum hat er auch. Mir wird irgendwie ein bisschen unwohl. Er ist größer als ich, wenn auch nicht so viel.   „Hi, hast du Lex gesehen? Etwa...“, er mustert mich von oben bis unten und leckt sich dabei die Lippen, was leider sehr sexy aussieht, „deine Größe, Vampirhaut und ne Miene, als würde er lieber woanders sein?“   Ich kriege eine Schleudertrauma, wenn ich meinen Kopf weiterhin so schüttele!   „Hm, schade... der ist plötzlich einfach verschwunden. Mhh, meins ist leer, darf ich wohl einen Schluck haben?“   Während ich noch überlege, was er meint, nimmt er meine Hand mit dem Bier, führt die Flasche zu seinen Lippen und... nimmt einen Schluck. Dabei guckt er mich an und... puh, der macht mich nervös. Was ist denn jetzt hier los? Wie dreist ist der bitte?! Ich weiß nicht, ob ich nun staunen oder ihm mit der Flasche das Gesicht verprügeln mag. Wahnsinn, sieht der gut aus. Sehr viel älter als ich kann der nicht sein... jedenfalls sieht er noch recht jung aus.   „Jules“, kreischt eine Mädchenstimme und hinter ihm taucht ein... Goth-Mädchen auf, „lass den armen Jungen in Ruhe! Wo ist Lex? Hast du schon wieder geflirtet und ist er abgehauen?“   Das Mädchen hat schwarz-pinke Haare und... ist von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Die beiden sind wohl Freunde.   Ampelhaar... Jules? Lässt meine Hand los, zwinkert mich an und dreht den Kopf zu dem Mädel, das nun neben uns stehen geblieben ist.   „Ich hab gar nichts gemacht! Der ist plötzlich weg. Der...“, er sieht mich an, „wie heißt du?“   Bin ich hier im falschen Film oder was?!   „Äh... Konstantin.“   „... der, äh, Konstantin hat ihn auch nicht gesehen.“, grinst er und zwinkert mich frech an. Ich glaube, ich will ihm das Gesicht ganz schlimm mit der Flasche verprügeln. Wie in Pans Labyrinth.   Das Mädchen verdreht die Augen, packt Ampelhaar am Arm und zieht ihn von mir weg.   „Du musst Jules entschuldigen, er kämpft gerade damit, verliebt und treu zu sein.“   „Kein Ding...“, sage ich schwach und versuche heimlich nach Maxi zu schielen. Der muss doch hier irgendwo sein!!   „Äh, Konstantin, war nett dich kennen zu lernen. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“, strahlt Ampelhaar mich an.   Bitte nicht!!   Etwas sagen kann ich aber nicht mehr, das Mädel zieht ihn weg und sie verschwinden in der Menge. Wow. Was war das denn bitte?! Jules ist doch nicht sein richtiger Name, oder? Cool klingt's trotzdem. Nicht, dass mich das interessiert.   Ich dränge mich Bier trinkender weise durch die Tanzenden, halte nach Maxi Ausschau. Ich bin fast einmal quer durch den gesamten Club, als er mir endlich auffällt.   Maxi tanzt und das nicht gerade jugendfrei.   Der hat nur eine verboten tief sitzende schwarze Jeans an, in die er bestimmt rein genäht worden ist. An den Knien hat sie voll im Trend liegende Risse. Mann, wie der sich bewegt... er griffelt an seinem nackten Oberkörper herum, fährt sich mit den Händen über den Bauch, die Hüften, wirft den Kopf in den Nacken, bewegt die Hüfte wie ein verdammter Latino-Tänzer. Mann, wo hat der gelernt so zu tanzen?!   Mir wird schwächlich im Gebein, was ich auf die schlechte Klimatisierung im Horizon zurückführe. Wenn ich mich so umschaue, bin ich nicht der einzige, der ihn offensichtlich anstarrt. Manchen hängt der Geifer regelrecht aus den Mündern.   Meine Beine bewegen sich wie von selbst, während ich auf Maxi zugehe. Meine fast leere Flasche Bier drücke ich irgendwem in die Hand, dann bin ich bei Maxi. Der schaut erst etwas überrascht aus als er mich bemerkt, lächelt dann aber.   Ich weiß, dass es falsch ist.   Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte.   Ich weiß aber auch, dass ich frustriert bin und... meine Güte, Maxi sieht gut aus, macht mich nervös und vielleicht reizt er mich ein bisschen, wie der hier so rum tanzt?!   Als ich mich dicht vor ihn stelle, werden seine Augen minimal größer. Auf seiner Stirn glänzt der Schweiß, aber das ist mir egal. Mein rechter Arm legt sich um seine Schulter, meine Hand gleitet in seinen Nacken. Wahnsinn, hat der weiche Haut. Und ganz warm ist er. Heiß. Seine Hände legen sich an meine Hüften, ziehen mich näher. Er bewegt seinen Unterleib gegen meinen, was zugegeben nicht das schlechteste ist. Seine Lippen sind einen kleinen Spalt weit geöffnet, er neigt den Kopf zur Seite, sein Gesicht kommt dem meinen näher. Mir ist alles egal, ich überwinde die kleine Distanz zwischen uns bis sich unsere Münder treffen. Einen Moment lang schauen wir uns an, dann schließen wir die Augen während wir uns küssen.   Also, eigentlich knutschen wir ziemlich heftig miteinander. Seine Zunge erkundet meinen Mund, stupst meine an, umspielt sie, seine Hände krabbeln unter mein Tshirt. Ich kriege trotz der Hitze eine erstklassige Gänsehaut, meine Brustwarzen werden augenblicklich hart als er sie mit den Fingern anstupst. Mein Bauch... da fährt eine Achterbahn herum. Mir ist heiß und kalt und irgendwie denke ich noch, dass Maxi verdammt gut küssen kann. Ich bin immer noch hin und weg von der Tatsache, dass ich einen anderen Jungen küsse. Mann, ist das schön. Ich streiche vorsichtig mit meiner freien Hand über seinen Oberkörper, ertaste feste Muskeln. Wenn ich Hannah umarme, dann ist alles ganz weich, fließend. Maxi zu berühren ist... das ist wie ein Kick. Weil er eben ein Junge ist, nicht, weil er Maxi ist.   Maxi saugt, knabbert, lutscht, leckt an und über meine Lippen, in meinem Kopf dreht sich alles, meine Lippen kribbeln angenehm und ich habe Mühe, dem Kuss noch folgen zu können weil ich fürchte, dass er mich besinnungslos küsst. Seine Hände wandern wieder zu meinen Hüften, nach hinten zu meinem Po, wo er beherzt hinlangt. Mir entfährt ein... keuchen, stöhnen, wimmern? Keine Ahnung, mein Mund macht ein eigenartiges Geräusch während Maxis Hände mit meinem Arsch Gott weiß was treiben.   Als ich seine Finger unter meinem Hosenbund spüre, platzt die Seifenblase, in der ich mich bis dato wohl noch befunden habe, mit einem lauten Knall. Schlagartig bin ich wieder ganz bei, löse den Kuss und schiebe einen reichlich... enttäuscht wirkenden Maxi etwas auf Abstand.   „Ich bin verliebt.“, stelle ich klar und muss zum Glück nicht all zu laut reden, weil wir uns immer noch nah genug sind. Maxi gelingt ein gequältes Lächeln und irgendwie tut er mir dann doch leid.   „Aber nicht in mich, hm?“   Wenigstens klingt seine Stimme nicht so enttäuscht wie er aussieht. Trotzdem ist die Situation nicht gerade angenehm – für keinen von uns.   „Tut mir leid.“   „Seid ihr zusammen?“   „Wer?“, frage ich blöde und kriege Beklemmungen.   „Na, du und dein mysteriöses Herzblatt.“   „Nein... er weiß es nicht. Es ist kompliziert.“   „Ist es das nicht immer?“, lächelt Maxi und nimmt meine Hand, was ich erst etwas unangebracht finde bevor ich mich dann doch damit arrangieren kann.   „Schade. Sind wir trotzdem Freunde?“   Bin ich nicht noch bis gerade eben der Überzeugung gewesen, dass das absolut keine gute Mischung ist? Und hatte ich mir nicht auch fest vorgenommen, ihm keine Hoffnungen zu machen geschweige denn ihm zu nah zu kommen? Alle Achtung, Konstantin, das hat du ja wirklich knallhart durchgezogen.   „Klar.“, nicke ich und weil ich trotzdem finden kann, dass Maxi gut aussieht und einen wirklich heißen Tanz hingelegt hat, muss ich ihn nochmal küssen. Gott, kann der küssen. Ich sehe ein paar kleine Sternchen. Dann zieht er sich etwas zurück.   „Okay, wir müssen damit aufhören. Ich finde dich echt süß und wäre froh, wenn das mit uns... intimer werden würde. Aber ich will kein Ersatz sein und du würdest es nur bereuen.“   Oh Mann, wie das für ihn sein muss, habe ich gar nicht bedacht! Naja, nicht wirklich jedenfalls.   „Und was machen wir jetzt?“   „Ich gehe nach Hause und hole mir einen runter.“   Ach du kacke! Ich werde knallrot und mir scheint wohl wirklich alles aus dem Gesicht zu fallen, denn Maxi lacht ein wirklich nettes Lachen und... wuschelt mir durch die Haare?!   „Du bist echt niedlich. Und ich ziemlich geil. Also, wir sehen uns in der Schule.“   Der lässt mich einfach stehen. Ich werd verrückt.   Hat der mir gerade wirklich gesagt, dass er sich jetzt daheim einen... mein Schädel wird nachträglich noch etwas röter!!   Ich brauche unbedingt noch ein Bier, das ich ziemlich schnell runter kippe. Was war das denn gerade bitte? Wieso um alles in der Welt... also... hab ich wirklich mit Maxi rum geknutscht? Also, wenn wir jetzt mal beide Augen ganz fest zukneifen... geil war es schon. Ich meine, es hat mir gefallen, weil er ein Junge ist... junger Mann. Nicht, weil er Maxi ist. Und, wie ich ja bereits mal erwähnt habe... jemanden Küssen ist grundsätzlich ja eine ganz schöne Sache. Oh Mann, mein Bauch kribbelt immer noch. Und mein Kopf fühlt sich so leicht an.   Noch ein Bier, dann gehe ich tanzen. Die anderen Besucher kümmern mich nicht. Mein Körper folgt der Musik, dem Beat, der den Boden leicht vibrieren lässt. Ich schließe meine Augen, bewege meinen Körper intuitiv, folge dem Flow. Ein bisschen fühle ich mich wohl wie Maxi, als er hier so rum getanzt hat. Mir ist es egal, ob mich andere anstarren. Ich will sowieso nur von einem angestarrt werden.   Und das ist der Moment, in dem ich die Augen aufreiße und ganz genau weiß, was ich will.   Und das finde ich nicht hier.   Keine Ahnung wie spät es ist, ich verlasse den Club, laufe zum nächst gelegenen Bahnhof, ziehe ein Ticket und warte auf die blöde S-Bahn. Als ich irgendwann auf mein Handy schaue, ist es schon nach elf. Und mein Akku neigt sich auch langsam dem Ende zu. Scheiße.   Es ist mir egal.   Nach ein paar Stationen steige ich aus, verlasse den Bahnhof durch die Unterführung, laufe über die große Brücke was bestimmt eine halbe Ewigkeit dauert während unter mir der Fluss im dunklen dahin fließt. Autos fahren an mir vorbei, es ist abwechselnd hell und dunkel. Mein Weg führt mich durch ein Viertel mit vielen kleinen Gassen, durch einen Park, der glücklicherweise gut beleuchtet ist, an einem großen Platz vorbei und dann stehe ich vor dem großen Wohnkomplex, in dem Noah wohnt.   Ich bin noch nie hier gewesen – also, noch nie bei ihm. Ich weiß nur, dass er hier wohnt, nachdem er aus der WG ausgezogen ist und sich was eigenes gesucht hat. Wo ich eben noch genau wusste, was ich wollte und was ich brauche, kriecht nun wieder die Unsicherheit durch meinen Körper. Langsam gehe ich auf das Gebäude mit der Nummer sieben zu. Meine Augen scannen die Namensschilder.   N. Faber   Nach einer gefühlten Ewigkeit drücke ich endlich den Knopf. Es ist still. Nur das zirpen der Grashüpfer... Zikaden... was auch immer, durchbricht die Stille. Nichts passiert.   Ich drücke nochmal auf die Klingel.   Wieder nichts.   Für einen Moment fürchte ich, dass Noah wohl doch noch eine Nacht länger bei uns geblieben ist und seelenruhig bei Bastian pennt.   Ich will gerade nochmal auf die Klingel drücken, als die Gegensprechanlage angeht und ich ein ziemlich verschlafenes – und leicht unfreundliches - „Ja?“ um die Ohren geknallt kriege. Oh Mann. Mir geht die Pumpe.   „Hallo?“, tönt es erneut und ich muss schlucken, weil meine Kehle plötzlich so trocken ist. Dann nehme ich allen Mut zusammen.   „Noah, ich... ich bins, Konstantin... kann ich rein kommen?“   Stille.   Einen Augenblick später wird mir aufgedrückt und das Licht im Treppenhaus geht an. Ich schaue mich um und entdecke einen Aufzug, Gott seis gedankt! Habe schon befürchtet, ich muss die ganzen Treppen bis... ich weiß gar nicht, in welchem Stockwerk Noah wohnt, hoch laufen. Die Klingeln draußen haben das nicht durchblicken lassen. Vielleicht irgendwo im dritten, vierten? Ich drücke die Taste für den Aufzug und bin erleichtert, als mir die Namen der Anwohner auf einer Metallplatte ins Auge springen. Hallelujah, das ist ja wirklich idiotensicher!   Ich fahre in den sechsten Stock, der Aufzug geht mit einem Pling auf. Als ich auf den Flur hinaustrete, fällt mir ein Lichtkegel links auf, ich gehe ums Eck und sehe eine Haustür offen stehen. Und auf der Schwelle steht mein Schwarm.   Noah trägt eine lange, graumelierte Jogginghose und ein einfaches weißes Tshirt. Seine Haare sind etwas zerzaust. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm ansehe, dass er geschlafen hat. Er sieht besorgt aus, als ich vor ihm stehe und es nicht fertig bringe, ihn anzusehen. Mann, was habe ich mir hierbei nur gedacht?   „Ist alles okay? Geht es dir gut?“   Seine Stimme, warm und beinahe liebevoll, geht mir durch Mark und Bein. Ich spüre seine Hand auf meiner Schulter und... ich kann nicht anders. Ich schlinge meine Arme um ihn und halte ihn ganz fest. Naja, eigentlich halte ich mich an ihm fest. Mein Kopf fällt gegen seine Brust, ich lausche seinem Herzschlag. Mhh, das ist schön. Noah ist ganz warm und meine Hände an seinem Rücken haben sich in den Stoff seines Tshirts gegraben. Ich möchte ihn nie wieder los lassen. Bitte, bitte, lass diesen Moment niemals nie enden.   Das er das aber muss, ist selbst mir klar. Trotzdem stehen wir einen Moment einfach nur da, dann zieht Noah mich in seine Wohnung und schließt die Haustür. Ab.   Mein Herz rast.   Verstohlen streife ich meine Schuhe von den Füßen und ich muss wieder daran denken, dass ich noch nie hier gewesen bin. Sein Flur ist erhellt, mir fällt eine Garderobenserie bestehend aus Sitzbank, Spiegel, Schuhschrank und einem Wandstück für Jacken auf. Ein langer, schwarz-weißer Läufer mit Hahnentrittmuster erstreckt sich auf dem Flurboden. Nervös muss ich feststellen, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Mein Kopf ist wie leer gefegt und mein Körper will mir nicht so recht gehorchen. Unsicher suche ich Noahs Blick auf, der selber etwas ratlos wirkt. Dann räuspert er sich.   „Möchtest du etwas trinken? Ich kann dir einen Tee machen.“   Es ist fast Mitternacht, aber was solls. Seine Fürsorge ist so lieb, dass mir ganz warm ums Herz wird. Hauptsache er schickt mich nicht weg. Ich nicke, dann führt er mich... offensichtlich ins Wohnzimmer, das scheinbar wie alle Räume vom Flur aus abgeht. Noah knipst das Licht an. Groß ist es, wobei der meiste Platz von einer riesigen Sofalandschaft eingenommen wird. Sie ist dunkelgrau mit grünen und grauen Kissen. Wie betäubt setze ich mich und bemerke die Wohnwand auf der gegenüberliegenden Seite. Einen großen Fernseher hat er. Gegenüber der Tür an der Wand befindet sich ein großes, bodentiefes Fenster. An den Wänden hängen vereinzelt ein paar eingerahmte Fotos – einige davon erkenne ich als Bastians Werke. Mir wird ein wenig schlecht, doch ich verdränge den Gedanken an ihre Vertrautheit miteinander ganz schnell.   Noah verschwindet kurz, während ich etwas verloren auf dem Sofa hocke. Der Boden ist dunkelgrauer Laminat. Irgendwie im Vintage Stil. Gefällt mir gut.   Von irgendwoher vernehme ich Noahs Stimme.   „Bastian? Hey, sorry für den späten Anruf. Konstantin ist hier bei mir.“   Au scheiße!! Der beruhigt meinen Bruder gerade bestimmt, dass er mich jetzt gleich nach Hause fährt... wieso hat er die Tür dann abgeschlossen? Ich will schon aufspringen und bin kurz davor zu betteln, dass ich hier bleiben darf, da höre ich wieder seine Stimme.   „Ich glaube es geht ihm nicht gut. Wo er schon hier ist, kann er hier schlafen. Ich bringe ihn morgen nach Hause. Nein, alles gut. Ja, okay. Bis morgen dann, gute Nacht.“   Hastig starre ich auf meine Füße als Noah zurück kommt.   „Ist Pfefferminztee okay?“   Ich nicke schwächlich.   „Okay. Bin gleich wieder da.“   Er verschwindet vermutlich in die Küche und mir wird erst jetzt bewusst, was er da gesagt hat. Ich werde hier schlafen. Ich werde bei Noah übernachten. Oh Gott. Mein Herz schlägt spontan noch schneller falls das überhaupt möglich ist und überschlägt sich fast. Ob... hat er ein Gästezimmer? Oder... darf ich in seinem Bett schlafen?!   Meine Gedanken gehen mit mir durch und ich merke beinahe nicht, als Noah mit einer Tasse wieder kommt und sie auf einen Doctor Who Untersetzer auf den kleinen Sofatisch vor uns abstellt. Dann setzt er sich neben mich und... streicht mir über den Rücken?! Mir ist nach kollabieren.   „Danke für den Tee...“, bringe ich heiser hervor und starre auf meine Hände, die ich zwischen meine Oberschenkel geklemmt habe. Da können sie wenigstens nicht irgendwas Dummes machen wie kneten, knibbeln oder Däumchen drehen.   „Nicht dafür. Ist irgendwas passiert? Was machst du hier?“   Das ist eine verdammt gute Frage. Eigentlich weiß ich das selber nicht so genau. Mir war nur so deutlich bewusst, dass ich unbedingt Noah sehen musste. Das ich bei ihm sein wollte. Nein, ich musste bei ihm sein. Das wird mir schlagartig bewusst.   „Ich habe einen Jungen geküsst.“, platzt es dann plötzlich aus mir raus, greife nach der Tasse und nehmen einen viel zu beherzten Schluck. Prompt verbrenne ich mir Lippen und Zunge, jammere leise und stelle die Tasse zurück. Ich bin so doof.   Noahs Hand an meinem Rücken liegt jetzt ganz still zwischen meinen Schulterblättern. Es fühlt sich an, als würde sie durch mein Tshirt hindurch meine Haut verbrennen, so warm ist sie. Seine Berührung macht mich halb wahnsinnig.   Wieso sagt der denn nichts?!   „Er heißt Maxi und geht auf meine Schule“, fasel ich hilflos drauflos und fange nun doch an, nervös meine Hände zu kneten, „und wir haben uns im Horizon verabredet und getanzt und irgendwie... ist es dann passiert und wir haben uns geküsst. Es war schön und alles und... aber er ist...“   Nicht du, beende ich den Satz in meinem Kopf und muss schwer schlucken.   Maxi zu küssen ist wirklich schön gewesen. Auch wenn er nicht Noah ist.   Erst jetzt wird mir wieder wirklich bewusst, dass ich einen anderen Jungen geküsst habe. Kein Mädchen. Ich meine, das ist mir klar und ich weiß, dass ich Jungs mag, aber jetzt fällt es mir plötzlich wie Schuppen vor die Augen. Vor dem Kuss ist es irgendwie anders gewesen. Ich kann es nicht beschreiben. Als wäre es nicht real gewesen.   Ich bin verwirrt, mein Herz tut weh, krampft sich in meiner Brust zusammen. Oha, was ist denn jetzt los?! In meinem Hals sitzt ein fetter Kloß und ich muss nach Luft schnappen weil... du guter Gott, ich werde doch nicht...!   Noah zieht mich in seine Arme, noch bevor die erste Träne über meine Wangen kullert. Und dann bricht irgendein Damm in mir und ich heule los wie ein Schlosshund. Wie Oskar, der sein Leckerchen nicht kriegt, denke ich noch bevor ich mich an Noah festhalte als würde ich ertrinken. Dem scheint es nichts auszumachen, dass ich sein Tshirt vollheule. Mann, der ist so gütig. Seine Hand streichelt über meinen Kopf, meinen Rücken, seine Arme halten mich ganz fest. Mein Körper wird von heftigem schluchzen durchgerüttelt und meine Schultern beben. Mir ist das so verdammt peinlich, am liebsten würde ich mich irgendwo verstecken. Nein, am liebsten würde ich ewig hier in Noahs Umarmung bleiben. Ich kann mich kaum beruhigen, dabei sollte das hier doch ein wahr gewordener Traum für mich sein. Ich meine, mein Schwarm hält mich fest in seinen Armen, ich spüre seinen Körper, kann seinen herrlichen Duft einatmen... er riecht nach Sommer. Nach Zitrusfrüchten und Minze und Strand und Meer.   „Noah...“, röchel ich wie Frankenstein und versuche ein wenig auf Abstand zu gehen.   Ich muss es ihm sagen.   Jetzt!   „Hey, alles gut. Ich weiß wie du dich fühlst und es ist in Ordnung.“   „Ist es nicht.“, schüttele ich meinen Kopf, schniefe und wische mir über die Augen. Ein paar Tränen kullern noch nach, auch die wische ich weg.   „Du brauchst keine Angst haben. Es ist verwirrend, es ist zu viel, aber morgen wird es schon besser sein.“   Wird es nicht. Es wird nie besser sein.   Das sage ich ihm auch, während meine Finger mit dem Stoff seines Tshirts spielen, was er entweder nicht merkt oder ihn nicht stört. Noah sieht ein wenig verwirrt aus, in seinem Gesicht lese ich jedoch nichts als warme Zuversicht. Ist es Mitgefühl, das ich in seinen Augen sehe? Werde ich jemals Liebe in ihnen sehen? Wird er mich jemals ansehen, als würde ich zu ihm gehören? Als würde er mich am liebsten in sein Zimmer entführen, aufs Bett schmeißen und furchtbar unanständige Dinge mit mir tun?   „Glaub mir, es wird besser. Hast du schon mit deinen Eltern gesprochen?“   Schleudertrauma-Kopf! Was ist das überhaupt für einen Frage?!   „Nein! Das kann ich denen doch nicht sagen! Ich meine... sie müssen es doch nicht wissen.“   „Ich bin mir sicher, dass sie damit kein Problem haben werden. Wenn du möchtest, komme ich mit?“   Mann, der ist so lieb, ich möchte direkt wieder los heulen.   „Das geht nicht... oh Mann, ich...“   Noah streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sein Daumen wischt eine Träne weg, ganz nah an meinem Auge. Meine Haut brennt, wo er mich berührt. Der muss aufhören, so zärtlich zu mir zu sein.   „Vielleicht solltest du erstmal schlafen. Morgen wird es dir schon viel besser gehen. Und dann können wir alles weitere beim Frühstück besprechen, wie klingt das?“   Zu schön um wahr zu sein!!   „Du verstehst das nicht...“   Meine Finger haben aufgehört mit seinem Tshirt zu spielen, aber nicht los gelassen. Noah gibt ein leises, vergnügtes schnauben von sich.   „Ich glaube, ich verstehe das sehr gut. Ich war in derselben Situation, Konstantin.“   DAS glaube ich nicht!   Gott, jetzt!   JETZT!   „Mann, Noah... ich... ich bin verknallt in dich!“   Und dann schlinge ich meine Arme um seine Schultern und küsse ihn.   Oh, seine Lippen treiben mich in den Wahnsinn. Meine Beine würden sofort nachgeben, würde ich nicht ohnehin sitzen. Ihm so nah zu sein... noch näher, als im Auto... mein Herz will am liebsten aus meiner Brust in seine Arme hüpfen.   Gleich wird es vorbei sein, ich weiß es, aber... noch nicht. Ich will es noch ein bisschen genießen, seine Lippen noch einen Augenblick auf meinen spüren. Bitte, noch einen Moment...   Dann geschieht etwas seltsames.   Also, nicht seltsam, aber... Noah erwidert den Kuss?!   Er öffnet seinen Mund, ich spüre seine Zunge, die meine Lippen teilt, sich in meinen Mund wagt. Ohgottohgottohgott!! Meine Augen sind längst zugefallen vor Überwältigung. Ein Feuerwerk explodiert in meinem Schädel, Engelchen und Teufelchen Hannah feiern eine Party und kriegen sich gar nicht mehr ein. Ein ganzer Ameisenstaat krabbelt über meine Haut, durch meinen Körper, mein Herz wird zum Presslufthammer. Ich spüre Noahs Arme um mich, eine Hand in meinem Nacken, wir sind uns ganz nah... bitte, lieber Gott, lass diesen Moment nie enden. Lass mich Noah bis ans Ende meines Lebens küssen dürfen. Ich schmiege mich noch näher an ihn, schmelze gegen seine Lippen. Maxi zu küssen war schön. Das hier ist tausendmal besser. Mann, kann der küssen... da ist Maxi ja ein Amateur gegen!   Noahs Kuss ist warm, liebevoll, aber irgendwie auch... vorsichtig? Nein, zurückhaltend. Also, so zurückhaltend wie man sein kann, wenn man einem Schüler die Zunge in den Mund steckt. Oh Mann, seine Zunge... meine eigene liegt fast wie gelähmt in meinem Mund bevor ich es schaffe der seinen entgegenzukommen. Behutsam umkreist seine die meine, als würde er mich bei der Hand nehmen um mir zu zeigen, wie das geht. Noah saugt sanft an meinen Lippen, fährt sie mit seiner Zunge nach bevor er meine wieder umspielt. Ganz sanft und behutsam.   Mir wird bewusst, dass er das hier auch will. Das ist kein Versehen. Noah küsst mich.   Ich bin von diesem Gedanken so überwältigt, dass ich den Kuss lösen und meinen Kopf an seine Schulter schmiegen muss. Halte mich noch immer an ihm fest. Noah hält mich fest. In seinen Armen fühle ich mich sicher und geborgen. Mein Herz klopft wie wild, aber... es ist ein schönes Gefühl. Er sagt nichts. Ich sage nichts. Ich schwebe. Meine Augen bleiben geschlossen, während sich mein ganzer Körper entspannt, sich mehr an Noahs schmiegt. Bitte, lass uns noch eine Weile so bleiben. Die Realität wird uns noch früh genug einholen.   Mir fällt auf, wie erschöpft ich bin. Es ist, als würden die ganzen letzten Jahre, die ich verliebt bis in den Schwachsinn war, mich einholen. Meine Arme halten Noah weniger fest, seine Atmung lullt mich ein... sein Herz schlägt gegen meine Brust, beständig, ohne zu rasen.   Ich bin völlig erledigt... das ist alles zu viel für mich.   Ich bin so müde. Kapitel 4: ----------- Als ich das nächste Mal meine Augen öffne frage ich mich, seit wann mein Bett so groß ist. Und mein Zimmer so ungewöhnlich hell? Ich drehe mich auf den Rücken (bin passionierter Bauchschläfer) und starre an die Decke. Da hängt eine Ventilatorlampe. Echt cool, so was will ich später auch haben.   Warm ist es trotzdem, weshalb ich erstmal die Decke von mir runter strampeln muss. Wo ist denn mein Tshirt?   Verwirrt setze ich mich auf und stelle fest, dass ich nur meine Shorts trage. Meine Klamotten... wo sind die?! Ich schaue mich um und der Hammer trifft meinen Schädel irgendwie unvorbereitet.   Ich bin bei Noah.   In seinem Wohnzimmer.   Auf der Couch.   Und ich trage nur meine Unterwäsche und... ach du Heiliger, ich muss ganz schnell ins Badezimmer! Wieso bin ich fast nackt?! Ich habe... was ist gestern passiert?   Ich habe Maxi im Horizon geküsst.   Dann bin ich abgehauen und...   So, wie Menschen über Nahtoderfahrungen berichten, zieht der vergangene Abend an mir vorbei wie ein Film. Ach du großer Gott. Beim Allmächtigen. Oh Gott!   Ich habe Noah geküsst. Schon wieder. Und... Noah hat mich auch geküsst?!   Der Gedanke daran lässt mein Gesicht heiß werden. Von meinem Schoß will ich gar nicht erst anfangen. Scheiße, das ist verflucht unangenehm. Und noch peinlicher ist ja wohl die Tatsache, dass ich gestern eingeschlafen bin?! So was passiert doch nur in irgendwelchen Büchern. Wie kann ich bitte nach einem Kuss mit Noah – MIT NOAH – einfach so einschlafen?! Ich muss ja völlig weg gewesen sein wenn ich noch nicht mal mitgekriegt habe, dass er mich scheinbar ausgezogen hat. Oh Mann, ich hätte zu gerne irgendeine Erinnerung seiner Hände auf meiner Haut... ob er mich wohl... äh, attraktiv findet?   Ich lasse diesen Gedanken ganz schnell wieder fallen und greife nach meinem Handy, das neben meinen Schlüsseln auf dem Couchtisch liegt. Scheiße, der Akku ist leer. Ich schaue mich um, finde jedoch keine Uhr. Grr! Jeder hat doch wohl eine Uhr im Wohnzimmer hängen, oder?! Vorsichtig stehe ich auf und bete, dass es hier irgendwas gibt womit ich die Peinlichkeit zwischen meinen Beinen verstecken kann. Nichts. Außer die riesige Decke, in die ich mich aus Hitzegründen allerdings nicht einwickeln möchte. Ich schleiche zur geschlossenen Wohnzimmertür und lausche.   Nichts.   Ganz vorsichtig öffne ich die Tür und denke noch, dass die super geölt ist, weil sie keinen Laut von sich gibt. Mein Kopf schiebt sich durch den Spalt. Der Flur liegt halbdunkel da, ich höre kein einziges Geräusch. Keine Dusche, kein Küchengeklimper. Wo sind meine Klamotten?!   Von meiner Position aus kann ich die Haustür links sehen, mir schräg gegenüber befindet sich eine halb offene Tür, weiter rechts runter ist noch eine Tür – die ist geschlossen. Links von mir befindet sich auch eine Tür, durch die ein kleiner Lichtkegel auf den Boden fällt. Auf Zehenspitzen schleiche ich auf die halboffene Tür schräg gegenüber zu und bemerke weiße Fließen. Oh Gott sei Dank, das Badezimmer!   Schnell schlüpfe ich hinein, bin erleichtert bis in den Tod und schließe ab. Danke Noah, dass man dein Bad abschließen kann! Aufmerksam schaue ich mich um. Er hat eine große walk-in Dusche mit Regenduschkopf. Oh wow. Ich muss mir direkt vorstellen... nein, besser nicht. Also, doch, aber... erstmal brauche ich ein Handtuch. Das finde ich in einem Schrank. Auch das Bad hat ein Farbkonzept in grau-grün wie sein Sofa, mal abgesehen von den durchgehend weißen Fließen. Meine Klamotten sehe ich hier aber auch nirgends.   Egal. Ich schäle mich aus meiner Shorts, renne quasi in die Dusche, stelle das Wasser an und kann meine Hand gar nicht so schnell bewegen wie ich kommen will. Das muss man sich doch mal auf der Zunge zergehen lassen. Ich stehe in Noahs unverschämt großen Dusche und hole mir einen runter. Es braucht nur wenige Gedanken an meinen Schwarm bevor ich komme und mir auf die Unterlippe beißen muss. Das war verdammt nötig. Muss erstmal tief durchatmen bis sich mein Körper beruhigt hat. Erst dann schaffe ich es, mich zu waschen und benutze Noahs Produkte, die in einer Wandeinlassung zu finden sind. Das ich nach ihm riechen werde jagt mir eine kleine Gänsehaut über den Körper. Der Duft nach Zitrusfrüchten wirkt bei den Temperaturen wirklich erfrischend. Muss mir auch direkt die Haare waschen, damit ich auch ja von Kopf bis Fuß nach Noah rieche. Hoffentlich fange ich nicht an, an mir selber zu riechen...   Nachdem ich sicher sein kann, dass alle verräterischen Spuren restlos beseitigt sind, stelle ich das Wasser aus, ziehe das Wasser von der Glaswand mit dem Scheibenwischer ab und trockne mich mit dem Handtuch ab. Das ist im Übrigen dunkelgrau. Hätte Noah gar nicht zugetraut, dass der so ein durchdachtes Farbkonzept hat. Andererseits... was weiß ich schon von ihm?! Auf jeden Fall ist er sehr ordentlich und sauber, das ist mir schon gestern Abend aufgefallen. Seine Wohnung sieht bisher aus wie aus einem Katalog abfotografiert.   Angenehm ist es zwar nicht, aber ich kann nur meine Shorts von gestern anziehen. Immerhin sind da keine Flecken drin... Das Tuch hänge ich über eine Halterung, öffne das Badezimmerfenster zum Lüften und wage mich dann nach draußen. Küchengeräusche dringen an meine Ohren und ich finde, dass ich noch nicht bereit bin, Noah zu sehen. Dabei will ich ihn so gerne sehen. Oh weia, wie peinlich ist das bitte, wenn er mich nur in Shorts sieht?! Das er das gestern Abend / Nacht ja eh schon gesehen hat, versuche ich mal auszublenden. Da bin ich immerhin scheinbar bewusstlos gewesen, wenn ich wirklich gar nichts mehr davon weiß. Vielleicht waren da ja auch K.O. Tropfen in dem Tee?   Tief durchatmend folge ich den Geräuschen und dem herrlichen Duft, bis ich in der... grau-roten Küche stehe. Ha! Sein Farbkonzept ist durchbrochen! Darüber kann ich allerdings nicht lange nachdenken, denn am Herd steht eine Lichtgestalt. Ich rieche Pancakes. Ich will Noah heiraten.   Er dreht den Kopf zu mir, den Pfannenwender in der einen, den Griff der Pfanne in der anderen Hand. Wie er da so steht, gibt er den perfekten Hausmann ab. Ein Lächeln huscht über seine Lippen.   „Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?“   Das ist eine gute Frage. Tatsächlich fühle ich mich ziemlich erholt und seltsam entspannt. Wann habe ich mich das letzte Mal so gefühlt? Also, abgesehen von all den Gedanken, die mir sofort in den Kopf schießen. Zum Beispiel, ob Noah gerade wirklich seinen Blick über meinen Körper hat wandern lassen oder ob ich mir das nur eingebildet habe?! Ich verschränke die Arme vor meiner Brust und nicke zaghaft. Glaube nicht, dass ich gerade einen Ton raus bringe. Noah lacht nur leise, während er die Pancakes wendet.   „Entschuldige, ich habe deine Sachen gewaschen. Die sind auf dem Balkon, müssten eigentlich schon trocken sein.“   Er wedelt mit dem Pfannenwender in Richtung besagten Balkons, der von der Küche abgeht. Nicht gerade sehr groß, aber ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Wäscheständer passen drauf. Da hängen meine Jeans, mein Tshirt und meine Socken. Noah selbst trägt nur eine Shorts und ein Tshirt und mir fällt auf, dass er – wie Hannah es wohl formulieren würde – einen absoluten Knackarsch hat. Mir wird ein bisschen schwindelig, als ich seine langen, nackten Beine sehe. Der blonde Flaum macht mich wahnsinnig. Seit wann stehe ich auf Körperbehaarung?! Naja, Noah ist eben ein Mann... meine Körperbehaarung lässt eher zu wünschen übrig. Ich schiebe mich vorsichtig an Noah vorbei, denn im Gegensatz zum Wohnzimmer ist die Küche eher klein. Sie besteht nur aus einem kleinen, hohen Tisch mit zwei Barstühlen, einer Küchenzeile und einem Regal mit diversen Körben, dessen Inhalt ich nur erahnen kann. Sieht jedenfalls alles sehr organisiert aus. Als ich die Tür zum Balkon öffne, schlägt mir direkt eine Wärmefront um die Ohren. Ich will wieder duschen gehen. Aber erstmal ziehe ich mich an, Socken und Jeans zuerst. Das Tshirt ziehe ich mir über, während ich gerade wieder rein gehe und... wendet Noah gerade ganz schnell den Kopf wieder ab oder habe ich mir das auch eingebildet? Vielleicht bilde ich mir ja auch nur ein, dass Noah mich eventuell beobachten könnte... nach gestern Abend.   „Ähm... ich sollte bald gehen...“, melde ich mich endlich zu Wort und streiche mein Tshirt etwas glatt. Noah schnalzt nur mit der Zunge und deutet auf den Tisch.   „Quatsch. Erst wirst du was frühstücken. Trinkst du Kaffee?“   Er drapiert die Pancakes auf zwei Teller und garniert sie mit frischen Beeren und Ahornsirup. Also, meinetwegen kann er immer für mich Frühstück machen. Hätte ich kein Problem mit. Grr, wenn Bastian bei ihm übernachtet kriegt der bestimmt immer so was tolles vor die Nase gesetzt. Bloß nicht grün werden, Konstantin...   „Nee... hast du Cappuccino da?“   „Klar.“   Noah schmeißt den Wasserkocher an und ich versuche ein bisschen zu helfen, indem ich die Teller auf den Tisch stelle. Besteck... wird ja wohl in der Schublade sein, oder? Auf gut Glück ziehe ich die größte Schublade raus und BINGO, ich finde alles, was wir brauchen. Es fühlt sich etwas seltsam an, so selbstverständlich in Noahs Küche herum zu hantieren, aber ihn scheint das gar nicht zu stören. Er kramt zwei Tassen aus einem der Hängeschränke hervor, kippt etwas Cappuccino Pulver rein und stellt sie auf den Tisch. Zwei Gläser und Orangensaft in einer Karaffe folgen. Schon komisch, dass man Orangensaft immer erkennt, ohne davon probieren zu müssen.   Weil ich sonst nichts mehr mit mir anzufangen weiß, setze ich mich auf einen der Stühle und warte auf Noah, der das kochende Wasser schließlich in unsere Tassen füllt. Anschließend sitzt er mir gegenüber und lächelt mich an.   „Das Rezept haben mir die Kids aus der Wohngruppe gegeben. Wenn es also nicht schmeckt, ist es nicht meine Schuld.“, grinst er mich beinahe frech an und zwinkert mir zu. Mir ist nach dahinschmelzen. Weil ich aber nichts sagen kann, ohne mich zum Vollidioten zu machen, fange ich an, meinen super leckeren Pancake zu... verschlingen. Mensch, ich hab echt Hunger, wie mir auffällt. So ein Sonntagsfrühstück tut wirklich gut und das ich es mit Noah verbringen kann ist noch viel, viel besser.   Wenn man mal davon absieht, dass wir eigentlich einen ziemlichen Elefanten in dieser kleinen Küche stehen haben. Noah verhält sich wie immer: freundlich, aufmerksam, höflich distanziert und doch gibt er mir das Gefühl, irgendwie dazu zugehören. Wozu auch immer.   Was ist denn das jetzt mit uns? Denkt er darüber auch nach? Also, über den Kuss. Weil er mich ja durchaus geküsst hat, das ging nicht nur von mir aus, um das nochmal fest zuhalten. Warum hat er das eigentlich gemacht? Die Gunst der Stunde genutzt, mal wieder jemanden zu küssen? Aus Versehen? Weil er mich trösten wollte? Oder... könnte es sein, dass er mich vielleicht auch... mag?   Ich spüre, wie mein Gesicht bei diesen Gedankengängen warm wird und trinke direkt ausgiebig von meinem Cappuccino. Es ist Karamell-Krokant! Mein absoluter Favorit. Keine Frage: Noah liebt mich! Bilde ich mir jedenfalls ein. Hoffe ich verzweifelt.   Wir frühstücken schweigend, was mir nur zum Teil unangenehm ist. Ich bemühe mich, Noah nicht anzuschauen, was ich gleichzeitig aber auch furchtbar unhöflich finde. Allerdings weiß ich nicht, was ich sagen oder tun soll. Das wir über gestern Abend reden müssen, liegt auf der Hand. Ich muss auf jeden Fall darüber reden. Und Noah sollte das auch, immerhin hat er ja doch eine gewisse Verantwortung, oder? Nicht, dass ich das irgendwie auf ihn abwälzen möchte, aber... er kann ja nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen, oder? Andererseits... wenn wir jetzt darüber reden, wie geht es dann weiter? Zu irgendeinem Ergebnis müssen wir ja kommen und ich möchte mich eigentlich nicht mit einem Korb zufrieden geben müssen. Oh Mann. Irgendwie hat diese ganze Sache mit Noah in meinem Kopf noch so viel positiver geklungen. Eigentlich habe ich mir quasi schon ausgemalt, dass wir eines lieben Tages Hand in Hand über den Weihnachtsmarkt spazieren werden, uns beim Filme gucken aneinander kuscheln und so... und dann nicht zu Ende schauen, weil wir anderweitig miteinander beschäftigt sind.   Jetzt wird mir bewusst, dass diese Vorstellung zerplatzen kann wie eine Seifenblase. Und es liegt nicht an mir, sondern an Noah. Vielleicht habe ich mir das ja auch alles viel zu einfach vorgestellt? Für mich hat es immer nur Noah gegeben. Ich kann mir gar keinen anderen als meinen (ersten) Freund vorstellen. Und eigentlich möchte ich auch bis in alle Ewigkeiten mit ihm zusammen bleiben, aber an diesen Punkt müssen wir überhaupt erst einmal kommen.   Das scheint jedoch nicht sehr bald zu sein, denn nach dem Frühstück räumen wir gemeinsam seine Spülmaschine ein, die anderen Sachen weg und Noah verabschiedet sich gerade ins Bad, weil er schnell duschen geht. Ich solle es mir doch im Wohnzimmer gemütlich machen. Ich weiß ja nicht, wie ich es mir gemütlich machen soll, wenn ich daran denken muss, dass Noah nackt in der Dusche steht. Ich meine, ist ja logisch, dass er nackt ist, aber... puh. Ganz schön anstrengend, ein verliebter Teenager zu sein.   Im Wohnzimmer fällt mir auf, dass die Bettdecke, Kissen und das Laken weg sind. Alles sieht aus, als hätte ich nie hier geschlafen. Ein bisschen drückt mir das ja schon auf den Schuh, aber das will ich mal ignorieren. Stattdessen stelle ich mich an das riesige Fenster und genieße den Ausblick. Ich kann einen Kirchturm sehen, den Fluss, die Stadt. Schön wohnt er hier, stelle ich fest. Wenn man hier den Sonnenauf- oder Untergang anschaut, sieht die Stadt bestimmt mega schön aus, nicht nur grau und schwarz und trist.   Ich muss mit Noah reden. Unbedingt. Trotzdem kriege ich erstmal einen Schreck, als der irgendwann im Türrahmen steht. Habe gar nicht bemerkt, dass er schon wieder da ist! Das ging ja wirklich schnell.   „Bist du soweit?“, erkundigt er sich und strubbelt sich mit beiden Händen etwas durch das noch feuchte Haar. Wahnsinn, ist der schön. Er trägt eine knapp knielange Jeansshorts und ein einfaches Tshirt mit V-Ausschnitt. Am linken Handgelenk hat er eine recht große, schwarze Uhr.   „Noah, wir müssen reden.“, stelle ich klar und fühle mich ein bisschen idiotisch, weil wir an zwei völlig unterschiedlichen Enden des Wohnzimmers stehen. Größer kann der Sicherheitsabstand wohl nicht mehr sein. Vorsichtig suche ich nach Anzeichen von... keine Ahnung, Abneigung, Unwohlsein, Verärgerung oder dergleichen in Noahs Gesicht. Er sieht mich jedoch nur völlig... normal an.   „Worüber denn?“   Bilde ich mir das ein, oder ist der wirklich verwirrt? Muss ihm wohl auf die Sprünge helfen. Mutig verringere ich den Abstand zwischen uns und bleibe vor ihm stehen. Er riecht nach mir. Also, er riecht nach sich selbst, aber wir riechen gleich... Mann, ich will mich in seine Arme schmeißen. Es kostet mich einiges an Überwindung, um ihm in die Augen zu sehen.   „Über gestern Abend?“, schlage ich vielleicht ein klein bisschen gereizt vor und bin doch etwas erschrocken, als mir Noahs harter Ausdruck in den Augen auffällt.   „Da gibt es nichts zu reden. Ich habe Bastian geschrieben, dass wir auf dem Weg sind, also sollten wir jetzt los.“   Will der mich verarschen?   Ich stehe meinen Teenager und bleibe stur stehen.   „Wir haben uns geküsst.“   „Was ein Fehler war.“   „Ich bin in dich verliebt.“   Hoppla, seit wann geht mir das denn so einfach über die Lippen?   Warum habe ich das die letzten vier Jahre nicht auf die Kette gekriegt? Naja gut, wegen Frank. Aber ich hatte inzwischen ja oft genug die Gelegenheit gehabt. Jetzt, wo es raus ist, fühle ich mich seltsam erleichtert. Als wäre eine viel zu schwere Last endlich von mir abgefallen.   Noah sieht ein wenig geschockt aus, wenn ich sein Gesicht richtig deute? Keine Ahnung.   „Konstantin, dir ist doch klar, dass das nicht geht, oder?“   Der will mich verarschen, oder wieso redet der mit mir wie mit einem Kind?!   „Wieso hast du mich dann geküsst?“   Das scheint eine sehr gute Frage zu sein, denn er antwortet nicht.   „Wir sollten jetzt los.“, weicht er aus und will gehen, ich halte ihn am Arm zurück. Sieht ein bisschen lächerlich aus, weil ich so viel kleiner bin als er. Er schaut zwar auf meine Hand an seinem Arm, macht aber keine Anstalten, diesen Kontakt zu unterbinden.   „Lass mich jetzt nicht einfach hier stehen, Noah! Hast du denn gar nichts dazu zu sagen?“   Ups, meine Stimme überschlägt sich ein bisschen. Mann, das läuft aber auch alles nicht so, wie ich das gerne hätte. Oder wie es in irgendwelchen Büchern so läuft. Ob ich Hannah zur Rede stellen sollte? Ich merke mir das für später mal vor.   „Du bist siebzehn und der kleine Bruder meines besten Freundes. Was muss ich dazu noch sagen?“   Ich wusste es! Es ist wegen Bastian. Das Alter kann man ja noch ignorieren, weil es legal wäre, schließlich würde er mich zu nichts zwingen und ich bin mir völlig im Klaren darüber, was zwischen und laufen wird. Also, hoffentlich laufen wird.   Allerdings weiß ich auch nicht so wirklich, was ich von ihm hören will. Eine Liebeserklärung ist wohl etwas zu viel verlangt, oder?   „Wäre es anders, wäre ich achtzehn?“   Noah verdreht die Augen und schüttelt nun doch meine Hand ab.   „Diese Diskussion ist beendet. Wir gehen jetzt.“   Noah stiefelt von dannen, ich schnappe mir mein Handy und die Schlüssel und folge Noah hinaus auf den Flur. Wir schlüpfen in unsere Schuhe, Noah öffnet mir die Tür und lässt mich vorgehen. Als er abgeschlossen hat drückt er auf den Knopf für den Aufzug. Die Fahrt im Aufzug nach unten verbringen wir schweigend, wir würdigen uns keines Blickes. Vielleicht hätte ich einfach meine Klappe halten sollen. Vielleicht hätte ich meine Gefühle für Noah einfach ignorieren und lieber was mit Maxi anfangen sollen. Der ist immerhin nur zwei Jahre älter und nicht der beste Freund meines Bruders. Passt doch alles, oder?!   Draußen trifft mich fast der Schlag, als wir die Straße lang laufen und scheinbar nach Noahs Auto suchen. Mann, ist das heiß. Das ist mir oben in seiner Wohnung noch nicht aufgefallen. Da ist es nämlich verhältnismäßig kühl. Steigt Hitze nicht eigentlich nach oben? Muss Noah bei Gelegenheit mal fragen, ob der irgendeinen Geheimtrick hat. Aber so verkrampft wie das zwischen uns ist, werden wir die nächste Zeit wohl nicht miteinander reden.   Sein Auto steht etwas weiter weg von seiner Wohnung im Schatten eines Wohnhauses, wir steigen ein, schnallen uns an, Noah fährt los. Dieses Mal sitze ich ganz bewusst vorne, wirklich genießen kann ich es aber nicht. Wenn ich Hannah erzähle, dass ich Noah endlich meine Liebe gestanden habe, wird sie doch erwarten, dass nun alles total schön und toll und meine Geschichte damit vorbei ist, oder? Ich muss wohl arg geistig umnächtigt gewesen sein, wenn ich etwas ähnliches geglaubt habe. Meine Panik ist reiner Selbstschutz gewesen: ein Teil in mir hat wohl geahnt, dass es so ausgehen wird.   Denn sind wir doch mal ehrlich: Noah würde sich niemals mit mir einlassen. Der hat mich als Baby auf'm Arm gehalten. Er ist bei meiner Einschulung in der Grundschule dabei gewesen. Im Familienurlaub am Gardasee hat er mir einen Splitter aus dem Fuß gezogen, weil ich meinem Vater – trotz dessen er Arzt ist – nicht getraut habe. Bastian hat damals gesagt, man solle mir den Fuß direkt abhacken. Er war also auch nicht in Frage gekommen und meine Mama kann leider kein Blut sehen.   Vielleicht sind Noah und ich ja auch einfach nicht füreinander bestimmt? Nicht, dass ich an so einen Krams glaube, aber wenn es nach ihm geht, kann ich mir das mit uns ja wohl aus dem Kopf schlagen, oder?   Mies gelaunt starre ich aus dem Fenster und wünsche mir, dass der scheiß blaue Himmel grau und schwarz wird, sich die blöde Sonne verpisst und es Sturzbäche regnet. Aber wie immer läuft es ja nicht so, wie ich das gerne hätte, was ich sagenhaft unfair finde.   Genauso unfair wie die Tatsache, dass wir schließlich in der Einfahrt zu unserem Haus hinter dem Auto meiner Eltern halten. Noah schnallt sich ab und scheint schon aussteigen zu wollen, ich bleibe sitzen. Ich kann da jetzt nicht rein gehen. Erstens, was soll ich sagen, wieso ich bei Noah gewesen bin? Das Horizon ist nicht mal in seiner Nähe. Zweitens, was soll ich sagen, wieso ich jetzt nicht mehr normal mit Noah umgehen kann?   Ich muss mir die Augen reiben und sie einen Moment schließen. Mir ist das gerade alles zu viel. Neben mir höre ich Noah tief durchatmen, er bleibt ebenfalls sitzen. Sein Auto ist nicht unbedingt klein, aber auch nicht sehr groß, so ein gutes Mittelding, aber es kommt mir vor, als wären wir uns einerseits zu nah und andererseits zu weit voneinander entfernt. Das macht überhaupt keinen Sinn, wie mir im Nachhinein auffällt.   „Hör mal, Konstantin...“   Wenn der noch einmal heute meinen Namen sagt, raste ich aus!   „Ich habs verstanden, okay? Lass es einfach sein. Was sagen wir wieso ich bei dir war?“   „Hannah hat dich ins Spirit mitgeschleppt?“, schlägt Noah vor und ich schüttle mal schnell den Kopf.   „Hannah liegt flach. Aber Maxi war ja dabei, also hat Maxi mich ins Spirit geschleppt, ich habe ein bisschen über den Durst getrunken und konnte nicht mehr nach Hause, weshalb ich zu dir gegangen bin. Das heißt, ich kriege für die nächsten tausend Jahre Hausarrest und Bastian liegt mir in den Ohren, was ich bei dir zu suchen habe.“   Bilde ich es mir nur ein, oder sieht Noah bei Erwähnung von Maxi etwas angepisst aus? Muss wohl die Hitze sein, die vernebelt mir schon völlig das Hirn.   „Wenn du jemanden zum Reden brauchst...“   „... dann komme ich ganz bestimmt zu dem Mann, den ich liebe, der mich aber nicht liebt, weil ich der kleine Bruder seines besten Freundes bin, aber küssen ist okay? Klar. Jederzeit.“   Ich hab die Faxen dicke, schnalle mich ab, steige aus und ignoriere Noah, der mir folgt. Als ich die Haustür aufschließe, strecken alle die Köpfe aus der Küche in den Flur. In unserem Flur hängt übrigens eine Uhr – es ist fast zwölf am Mittag. Wie lange habe ich eigentlich gepennt? Und wie lange bin ich bei Noah gewesen?   Egal.   „Hallo.“, murre ich und renne auf mein Zimmer, ohne noch irgendwas zu sagen. Kann Noah mal zusehen, wie er das jetzt glatt bügelt, der Arsch!   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Ich finde die Schule zwar nicht scheiße, aber ich bin zum ersten Mal richtig froh im Matheunterricht zu sitzen anstatt daheim in meinem Zimmer.   Als Noah mich am Sonntag nach Hause gebracht hat, hat er wohl noch kurz mit meinen Eltern und Bastian gesprochen, dann habe ich ihn wegfahren sehen. Mein Vater hat keine zwei Sekunden später mein Zimmer gestürmt und ziemlich böse mit mir geschimpft. Was mir denn einfallen würde, mich so voll laufen zu lassen und dann auch noch bei Noah aufzutauchen. Ich habe mich ja noch bemüht, mich zu entschuldigen und alles, aber davon wollte Paps nichts hören. Der ist völlig ausgetickt und hat mir einen Vortrag über mein mangelndes Verantwortungsbewusstsein mir selbst und anderen gegenüber gehalten. Vielleicht gibt es ja auch irgendwas anderes, was ihn gestört hat, denn er wollte gar nicht mehr aufhören und hat plötzlich tausend Gründe gefunden, wieso er mich zur Schnecke machen kann. Mein Zimmer sei ein Saustall – naja, ich bin nicht mega ordentlich, aber wenigstens verschimmelt kein Pausenbrot irgendwo hinter meinem Schreibtisch – ständig würde ich weg gehen, immer irgendwo anders pennen, die Schule vernachlässigen und hoffen, dass mich mein Klaviergeklimper (ja, das hat er so gesagt) schon irgendwie retten wird.   Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern, sie sind nicht übertrieben streng, ich habe eigentlich durchaus viele Freiheiten. Trotzdem setzen sie mir Grenzen und Konsequenzen, wenn es nötig ist. Und vermutlich ist das am Sonntag nötig gewesen. Jedenfalls habe ich jetzt einen Monat Hausarrest und bevor nicht alle Hausaufgaben und eine Stunde lernen am Tag erledigt sind, darf ich nicht auf meinem Flügel spielen. Ich finde ja, dass ist ganz schön übertrieben für eine Sache, die ja so gar nicht passiert ist... und selbst wenn es so wäre, es ist ja nichts dramatisches gewesen. Naja, sagen wir mal... Paps hat ausgesehen, als würde er mich am liebsten erdrosseln, als auch nur ein einziges Wort von mir zu hören.   Nachdem er dann mit seiner Standpauke fertig war, kam wenig später Bastian in ein Zimmer gepoltert und stellte mich zur Rede. Was diese Aktion denn sollte und ob ich nicht ganz bei Trost gewesen wäre, einfach so bei Noah aufzutauchen. Kurz war ich versucht gewesen zu fragen, ob er eifersüchtig sei, habe aber klugerweise meinen Mund gehalten. Bastian, der mir auch noch einen rein würgt, hatte mir gerade noch gefehlt. So eine scheiß Aktion solle ich mich nicht nochmal wagen, Noah hätte genug um die Ohren und kann einen kleinen Teenager, der ihm die Wohnung vollkotzt, nicht gebrauchen. Dann ist er gegangen und hat die Tür zugeknallt. Mich hat das ja in eine kleine Lebenskrise gestürzt, denn... hat Noah genug um die Ohren? Ich meine, seine Arbeit in dieser Jugendwohngruppe ist sicherlich nicht gerade ein Ponyhof, oder? Da geht es um Jugendliche, die mal abgehauen sind, Drogen genommen haben, psychische Probleme haben und so was und jetzt wieder langsam an ein eigenständiges, eingegliedertes Leben herangeführt werden. Manchmal hat er auch vierundzwanzig Stunden Schichten und das ist bestimmt mega anstrengend. Aber eigentlich wirkt er trotzdem immer recht entspannt? Andererseits... wir reden ja auch nie über seine Arbeit. Das er mir so was nicht erzählt ist ja irgendwie logisch. Das sind immerhin Kids in meinem Alter. Ein bisschen befremdlich ist das schon, wenn ich ehrlich bin.   Auch wenn ein einmonatiger Hausarrest etwas übertrieben ist, bin ich doch eigentlich ganz froh, wenn ich in der Schule bin. Da denke ich nämlich nicht so viel über Noah nach, weil ich aufpassen muss, dass ich nichts Wichtiges verpasse. Mir fällt es ein bisschen schwer, mich zu konzentrieren. Das geht jetzt schon seit einer Woche so und ich muss mir wirklich jeden verdammten Mist aufschreiben, weil ich dem Unterricht sonst nicht folgen kann. Hannah kann mir leider auch nicht helfen – die hat nämlich eine richtig fiese Sommergrippe entwickelt und ist zum Bazillenmutterschiff mutiert. Naja, wenigstens laufe ich nicht Gefahr, mich bei ihr anzustecken. Jetzt auch noch Stoff in der Schule zu verpassen kann ich mir echt nicht leisten.   Im Übrigen habe ich mit Maxi geredet.   Das war direkt am Montag nach dem Wochenende, an dem wir uns geküsst haben. Habe mich bei ihm entschuldigt und die Sache erklärt. Und ihm alles erzählt. Das ich unglücklich verliebt bin, dass es eine komplizierte Situation ist... naja, dann habe ich ihm auch das erzählt. Maxi weiß jetzt über Noah und Bastian Bescheid. Er hat ganz in Ruhe zugehört und mich dann in den Arm genommen. Das ist mir, zugegeben, etwas unangenehm gewesen, aber irgendwie hat es auch gut getan? Und weil ich mich ihm ja nun schon geöffnet hatte, habe ich ihm auch gesagt, dass ich ihm keine Hoffnungen machen wollte und alles und ich deswegen nicht so begeistert gewesen bin, dass Hannah ihn auch ins Horizon eingeladen hatte.   „Du dachtest, ich sei in dich verknallt?“, hat er mich amüsiert gefragt und ich bin mir ziemlich dämlich vorgekommen, wenn ich ehrlich bin.   „Konstantin, du bist echt süß und ich sage nicht nein, wenn du mich das nächste Mal küssen solltest, aber... mit Liebe hat das nichts zu tun.“   Tja... was soll man dazu noch sagen?! Jedenfalls ist zwischen uns alles cool und weil Hannah ja mit Abwesenheit glänzt, hängen wir viel miteinander in der Schule rum. Maxi ist wahnsinnig witzig, total locker und auch, wenn wir nicht viele Gemeinsamkeiten haben, genieße ich doch ein bisschen die Zeit mit ihm. Dann denke ich nämlich nicht so viel an Noah, was ja ohnehin noch früh genug kommt.   Der hat sich seitdem nicht mehr bei uns blicken lassen. Also, soll heißen: er und Bastian haben sich entweder bei ihm oder irgendwo in der Stadt zum Abendessen oder weiß der Teufel was getroffen. Ich weiß immer noch nicht, was ich jetzt tun soll. Noah hat mir ja sehr unmissverständlich klar gemacht, dass... ja, was eigentlich? Er hat ja nicht gesagt, dass das mit uns nichts wird, oder? Gut, er hat gesagt, dass ich ja auch einsehen muss, dass das zwischen uns nicht geht. Und er hat natürlich auf unsere Beziehung zueinander und mein Alter angespielt, was mir ja ohnehin klar gewesen ist. Aber er hat nicht gesagt, dass da niemals nie was zwischen uns laufen wird. Und, das müssen wir nochmal festhalten: er hat mir seine Zunge ja wohl zuerst in den Hals gesteckt. Nachdem ich ihn geküsst habe, ja. Zwar hat er am nächsten Morgen direkt gesagt, dass es ein Fehler war, aber... aus manchen Fehlern, finde ich, muss man ja nicht unbedingt lernen. Sondern sie einfach nur wiederholen.   Naja, in Mathe besser nicht...   Als die Schule aus ist, latsche ich mit Maxi gemütlich durch den Haupteingang nach draußen. Es ist immer noch kochend heiß und eine Abkühlung nicht in Sicht. Hitzewelle in Deutschland. Ich hasse jeden, der dieses Wetter genießen kann.   „Darfst du eigentlich auch keinen Besuch empfangen während du Hausarrest hast?“, fragt Maxi plötzlich und tippt auf seinem Handy rum. Irgendwann latscht der noch gegen einen Laternenmast.   „Nein. Keine Ahnung. Schließt das eine das andere nicht sowieso aus?“   „Und wenn ich dir Mathe erkläre?“   Maxi wippt mit den Augenbrauen und leckt sich die Lippen, als er sein Handy endlich weg steckt. Mir wird etwas unwohl, auch wenn ich sein freundschaftliches flirten nicht so schlimm finde. Damit hat er nämlich kurz nach unserem klärenden Gespräch angefangen und... naja, mich stört es nicht und irgendwann hab ich angefangen, mitzuspielen. Vielleicht nicht unbedingt das Richtige, aber es tut irgendwie gut, so völlig ausgelassen mit einem anderen Jungen umzugehen. So was habe ich ja sonst nur mit Hannah, aber wir flirten nicht mal aus Spaß miteinander.   „Da würde mein Dad sicherlich dabei stehen und Beifall klatschen.“   „Wenn du mal Abwechslung brauchst, komme ich gerne.“   Maxi grinst so ekelhaft dreckig, dass ich ein kleines bisschen rot werde. Während wir uns nämlich in der vergangenen Woche ausgesprochen und besser kennen gelernt haben ist mir klar geworden: Maxi hatte schon Sex. Mit anderen Jungs. In zwei Beziehungen ist er schon gewesen, auch wenn die längere von beiden nur etwas über ein Jahr gehalten hat. Jetzt ist er seit fast zwei Jahren Single, was mich zugegeben ein bisschen geschockt hat weil... puh, der hat ja ganz schön früh... ich meine, der ist jünger als ich gewesen!   Jedenfalls macht es mich irgendwie wahnsinnig nervös zu wissen, dass Maxi schon Sex hatte. Das wird ja auch irgendwann auf mich zukommen, oder? Also, jedenfalls hoffe ich das. Hoffentlich mit Noah.   „Du hast nicht zufällig einen guten Rat, wie ich Noah für mich gewinnen kann?“, lenke ich schnell vom Thema ab und schreibe die tägliche Nachricht in die Whats App Familiengruppe, dass die Schule aus ist und ich auf dem Heimweg bin. Noch so eine Sache, die Paps angeordnet hat – damit ich ja auch ja nicht auf den Gedanken komme, irgendwohin zu verschwinden. Drei Kreuze, wenn dieser blöde Monat endlich rum ist...   „Hm... also ich würde ihn wohl eifersüchtig machen.“   „Na, aber er empfindet ja angeblich nichts für mich. Beziehungsweise, er sieht mich noch nicht so, wie er soll. Ich weiß nicht, wie ich ihn dazu kriege.“   „Zeig ihm halt, was ihm entgeht. Er ist doch oft bei euch, oder?“   „Ja, schon, aber die letzte Woche war er nicht da.“   „Irgendwann taucht er schon wieder auf. Und dann legst du dich nackt in den Garten und sonnst dich.“   „Ich leg mich doch nicht nackt in den Garten, wo meine Eltern und Bastian rum turnen!“   Ein bisschen entsetzt schaue ich ihn ja schon an, als wir an der Straße stehen bleiben. Maxi muss wie Hannah auch mit dem Bus fahren, ich muss über die Straße und durch die Wohnviertel zu unserem Haus laufen. Maxi lacht leise.   „Na, dann halt in Badehose. Also, klassische Form. Die sind gar nicht so scheiße, wie alle immer denken.“   Meine Birne glüht und das nicht vor Hitze!   „Äh... mal sehen. Danke für deinen... Vorschlag.“   „Jederzeit, Konstantin, jederzeit. Also, wir sehen uns morgen?“   „Klar. Bis morgen.“   „Und wenn du wegen Mathe Hilfe brauchst... sag Bescheid, okay?“   „Mach ich. Danke.“   Maxi umarmt mich kurz, dann geht er zur Bushaltestelle und ich mache mich auf den Heimweg. Dabei muss ich über das, was Maxi gesagt hat, gründlich nachdenken. So ganz Unrecht hat er ja nicht. Wenn Noah mich eben noch nicht im rechten Licht sieht, sollte ich vielleicht dafür sorgen, dass er es tut?! Andererseits fühle ich mich schon ein bisschen schlecht, wenn ich mich so zwanghaft präsentieren muss... das bin schließlich nicht ich, aber ein bisschen für Appetit sorgen ist ja nicht so schlimm, oder?   Na, ich muss das ja nicht sofort in die Tat umsetzen. Kann mir ja auch erstmal Gedanken darüber machen, wie ich auf normalem Weg Noahs Interesse wecken kann. Irgendwas muss schließlich da sein, wenn er mich von sich aus küsst. Und seine kurzen, heimlichen Blicke sind mir ja auch aufgefallen.   Daheim geht es zu, wie die ganze letzte Woche auch schon: ich zeige Papa meine gesamten Hausaufgaben. Das der daheim ist, ist eh die Krönung. Er arbeitet nämlich diesen Hausarrest-Monat kürzer, damit er auch ja alles kontrollieren kann. Ich habe es aufgegeben, zu meckern. Als ich nämlich letzte Woche nur mal ganz kurz angemerkt habe, dass es schon ein bisschen übertrieben ist was er da tut, kam er mir direkt mit dem Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst Spruch an, was ich nicht nur sagenhaft peinlich, sondern auch völlig überzogen fand. Immer noch finde. Ich glaube, Paps ist echt böse auf mich. Von Mama kriege ich kein Mitleid, die ist nämlich auch nicht gut auf mich zu sprechen und scheinbar wahnsinnig enttäuscht. Naja und von Bastian muss ich ja nicht erst anfangen, oder?!   Ich verbringe also die nächsten zwei Stunden mit Geschichte, Mathe und Englisch, zeige anschließend meine Hausaufgaben vor, darf Mathe zweimal korrigieren, kriege ein paar Aufgaben von Papa, löse diese immerhin ganz gut und dann darf ich endlich zu Abend essen. Es ist fast sechs, als es an der Tür klingelt. Von oben brüllt Bastian, dass mal jemand die Tür aufmachen soll. Ich ahne schreckliches, aber meine Beine tragen mich schneller zur Tür als ich denken kann.   Natürlich weiß ich längst, dass es Noah ist, noch bevor ich die Tür geöffnet habe.   Trotzdem setzt mein Herz aus, als er wirklich vor mir steht und... Mann, der sieht so unverschämt gut aus... ich will ihm augenblicklich um den Hals fallen. Mir wird ganz schwächlich, wenn ich seine langen, trainierten Beine sehe.   „Hi Konstantin.“, lächelt er mich an, als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen und lässt sich einfach selbst rein. Er wuschelt mir nicht durchs Haar. Ich kann nur völlig blöde die Tür schließen und ihn beobachten, wie er ganz entspannt die Schuhe auszieht und Dad in der Küche begrüßt. Bastian poltert die Treppen runter und begrüßt Noah mit einer für die beiden völlig normalen, typischen Umarmung. Ich möchte schreien. Ich möchte Bastian sein. Erst jetzt fällt mir auf, dass Noah einen Rucksack dabei hat. Den hat er immer dabei wenn er... oh Gott, der wird doch wohl nicht hier pennen?! Es ist mitten in der Woche! Muss der nicht arbeiten? Bastian muss morgen auf jeden Fall arbeiten und kann sich ja wohl auch kaum erlauben, einen langen Abend oder gar eine lange Nacht mit Noah zu verbringen.   Leider bin ich zu doof um nachzufragen was Sache ist. Es macht mich fertig, die beiden zu sehen. Bastian erzählt Noah gerade irgendwas Witziges weshalb Noah herzlich lacht und Bastian einen amüsierten Blick schenkt. Der klopft ihm nun selber lachend auf die Schulter, schiebt seine Hand in seinen Rücken und führt ihn ins Wohnzimmer. Mir wird schlecht. Die benehmen sich, als...   … okay, Konstantin, jetzt nur nicht völlig bescheuert werden. Ja, Bastian und Noah stehen sich nah, aber Bastian ist so hetero, der würde niemals nie was mit einem anderen Mann anfangen. Und Noah würde ja niemals nie was mit Bastian anfangen.   Oder?   Oh Gott, was, wenn Noah sich in Bastian verknallt hat?! Mein Hirn schustert sich gerade wohl alles zusammen, weshalb ich mal lieber auf mein Zimmer renne und das fröhlich-ausgelassene Geplauder der beiden versuche auszublenden. Weil ich es nicht mehr aushalte, rufe ich Hannah an.   „Ja?“, röchelt es heiser und es tut mir augenblicklich leid, dass ich sie angerufen habe. Die Arme.   „Hannah, ich bins.“   „Das ist mir auch klar. Was gibt’s denn?“   „Glaubst du, Noah ist in Bastian verliebt?“   „Ach du scheiße, wie kommst du denn darauf?“   Hannah hat mich wohl auf Lautsprecher, weil ich meine eigene Stimme seltsam schallend höre. Außerdem putzt Hannah sich scheinbar gerade die Nase, denn ich höre sie trompeten wie einen verdammten Elefant.   „Die sind so ekelhaft vertraut miteinander und Noah strahlt ihn an wie die scheiß Sonne.“   „Naja, dass die beiden so vertraut miteinander sind liegt sicherlich daran, dass sie sich kennen, seit sie drei sind“, mutmaßt Hannah und hustet zwischendrin wirklich nicht sehr schön, „und sie haben seither mehr Zeit miteinander als ohne einander verbracht. Bastian war der erste, der erfuhr, dass Noah schwul ist und der erste, der erfuhr, dass Frank fremdgevögelt hat. Die beiden kennen sich in und auswendig und haben viele gemeinsame Themen. Klar, dass die zusammen Witze machen, lachen und die Zeit mit dem anderen genießen. Aber Liebe ist das nicht.“   Ich komme mir plötzlich völlig bescheuert vor.   „Wie geht es dir denn inzwischen?“   „Minimal besser. Diese Woche bleibe ich aber noch daheim. Montag komme ich dann wieder.“   Heute ist Dienstag. Mann, das ist noch so lange, bis ich Hannah endlich wiedersehe. Ich vermisse sie schmerzlich.   „Ich vermisse dich.“   „Ich dich auch, Konsti. Ist bei dir alles in Ordnung?“   „Ja... irgendwie halt.“   „Das wird schon. Du musst einfach nur geduldig sein. Du, mein Bad ist fertig. Wir schreiben uns, ja?“   Die geht baden? Ich fange sofort das schwitzen an.   „Okay. Sorry für meinen Schwachsinn.“   „Ich liebe deinen Schwachsinn.“   „Na, wenigstens eine...“   „Bis dann!“   Wir legen auf und ich raufe mir die Haare. Manchmal bin ich echt ein Idiot. Andererseits, so ganz abwegig ist das ja nicht, oder? Ich weiß nicht wann Noah Bastian erzählt hat das er schwul ist, aber das er es schon vor Frank wusste liegt ja auf der Hand. Ob Noah wohl jemals in Bastian verliebt gewesen ist? Wenn man sich so nah steht... und Bastian ist, also abgesehen davon, dass er mein Bruder ist, ein echt toller Typ. Vielleicht ein bisschen impulsiv, aber so im Großen und Ganzen...   Vermutlich habe ich aber auch einfach nur den totalen Schwachsinn. Wäre ja nichts Neues.   Ich schnappe mir eine frische Shorts und mein Schlafshirt, dann gehe ich duschen und denke darüber nach, was ich jetzt machen soll. Während ich meine Zähne putze denke ich über Maxis Worte nach und überlege, ob ich das Tshirt nicht ausziehen soll während ich mir ganz scheinheilig eine Flasche Wasser aus der Küche holen und Noah dabei ganz zufällig über den Weg laufen werde. Besser nicht, wenn Bastian und Paps hier rum springen...   Nach unten gehe ich trotzdem, weil ich zumindest mal gucken kann, was die so machen. Und gute Nacht sagen kann ich ja auch, bevor ich mich auf mein Zimmer verkrieche und... keine Ahnung was mache. Vorher zupfe ich aber noch ein bisschen an der Shorts rum und schiebe meine Hand unter mein Tshirt, während ich betont lässig ins Wohnzimmer latsche und herzhaft gähne. Das mein Tshirt etwas hoch rutscht und meinen flachen Bauch preisgibt, geschieht natürlich auch rein zufällig.   Noah und Bastian sitzen auf'm Sofa und haben zwischen sich ein paar Fotos und Papiere ausgelegt. Beide schauen auf, als ich rein gelatscht komme. Wo Noah hinguckt, kann ich nicht sagen, weil ich es vermeide, ihn anzuschauen.   „Ist was?“, fragt Bastian und sieht aus, als hätte er die Tür am liebsten abschließen wollen. Ich störe, das ist mir sofort klar.   „Nee, wollte nur schauen, was ihr macht. Störe ich?“   „Wir arbeiten und ja, du störst.“   Mensch, kann Noah vielleicht auch mal was sagen? Der schweigt jedoch, aber ich spüre seinen Blick auf mir.   „Okay... ähm, ich wollte ein bisschen spielen. Wird euch das auch stören?“   Das ist zwar gelogen, aber immerhin kann ich so auf demselben Stockwerk sein...   „Auf keinen Fall.“, schaltet sich plötzlich Noah ein und als ich es wage, ihn anzusehen, lächelt er mich an, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen. Mir wird warm ums Herz und ich lasse sofort meine Hand wieder zum Vorschein kommen.   „Aber bloß kein Bach“, stöhnt Bastian genervt und verdreht die Augen, „oder Beethoven.“   Weil mir darauf auch nichts mehr einfällt und ja alles gesagt ist... verschwinde ich, lasse die Wohnzimmertür auf und verziehe mich ins Musikzimmer. Die Tür schließe ich zwar, mein Spiel wird man aber trotzdem hören. Würde man auch durch zwei geschlossene Türen, aber... vielleicht möchte ich Noah ja ein klitzekleines bisschen mit meinem hervorragenden Spiel ablenken.   Als ich mich setze weiß ich nur leider nicht, was ich spielen soll. Ich denke noch darüber nach, ob ich ein bisschen an diesem Stück für Noah herum probieren soll, aber da habe ich ja nicht mal eine einzige Note und wenn er auch noch anwesend ist, möchte ich da lieber nicht dran herum experimentieren. Also fange ich erstmal mit ein paar leichten Übungen für meine Finger an, spiele von tief nach hoch und umgekehrt, lasse meine Finger über das weiß und schwarz gleiten, bis ich irgendwann ein bisschen Mozart, Bellini, Brahms und Chopin einfließen lasse. Dann gehe ich ein paar Künstler durch, mit denen mich Hannah belagert hat... HIM, London after Midnight, The Cure, Muse, Depeche Mode. Ein paar Stücke aus Filme setze ich auch noch hinterher, dann starre ich einfach nur auf die Tasten und weiß nicht wohin mit mir.   Wie haben es eigentlich die großen Künstler geschafft, so wunderbare Stücke zu schreiben? Und wieso fühle ich mich, als würde da in mir ein riesiges Loch klaffen, das ich niemals füllen kann? Lustlos klimper ich ein wenig vor mich hin, ohne wirklich irgendwas zu spielen. Seit der Sache mit Noah habe ich das Gefühl, dass mir irgendwas abhanden gekommen ist. Meine Leidenschaft? Nein, nicht wirklich. Ich liebe es zu spielen und wenn ich mich nicht täglich hinsetze habe ich das Gefühl, dass mir irgendwas fehlt. Dann kribbeln meine Hände und ich werde unruhig.   Als es draußen schließlich dunkler wird und ich Schwierigkeiten habe mich zu konzentrieren, lösche ich das Licht und verlasse das Musikzimmer Richtung Küche, wo ich mir noch ein Glas Wasser gönne. Aus dem Wohnzimmer höre ich noch immer die leisen Stimmen meines Bruders und meines Schwarms. Ich versuche ein wenig zu lauschen, kann aber keine Einzelheiten heraushören. Dafür kriege ich eine Eins-A-Herzattacke, als meine Mutter plötzlich in die Küche geschneit kommt und ebenso erschrocken ist wie ich. Sie lacht und wedelt sich mit der Hand etwas Luft zu.   „Herrje, hast du mich erschreckt.“, lächelt sie und hat wohl die gleiche Idee wie ich, noch etwas Wasser zu trinken.   „Sorry.“   „Ist bei dir alles gut?“   „Wieso?“   „Dein Spiel klingt so verkrampft.“   Ich senke den Blick. Mir ist das gar nicht aufgefallen. Aber vielleicht ist es ja auch das, was mich beim Spielen so unglücklich macht und einfach nicht erfüllt?   „Mir geht gerade viel durch den Kopf.“, gestehe ich leise und überlege, ob ich mit ihr reden soll. Ich könnte ihr sagen, dass ich verliebt bin – in einen Jungen. Wäre ja erstmal völlig egal, wer es ist. Dann hätte ich zumindest schon mal die halbe Katze aus dem Sack gelassen.   „Möchtest du darüber reden?“   Einen Moment bin ich hin und her gerissen, dann schüttle ich meinen Kopf.   „Nein. Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht.“   Bevor ich gehe, hält meine Mama mich fest und sieht mich einfach nur an. Dann zieht sie mich in ihre Arme und hält mich einfach nur ganz fest während sie mir einen Kuss auf die Stirn drückt.   „Du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst wenn dich etwas bedrückt, ja?“   „Klar. Danke.“   Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange, dann laufe ich die Treppen nach oben in mein Zimmer. Ich checke nochmal meine Nachrichten am Handy, dann knipse ich das große Licht aus und das kleine auf meinem Nachtschrank an als ich mich aufs Bett schmeiße. Ich hätte Noah eine gute Nacht wünschen sollen, aber alleine der Gedanke daran, dass er da unten mit Bastian sitzt, macht mich halb wahnsinnig. Ich will bei ihm sitzen. Ich will vertraut mit ihm die Köpfe zusammen stecken, über Insider-Witze mit ihm lachen, ihn zwischendurch ganz selbstverständlich berühren. Bastian boxt Noah manchmal kumpelhaft gegen die Schultern oder piekst ihn in die Seite.   Das ist alles so unfair. Und ein bisschen bin ich wütend auf Noah, weil der ja wohl irgendwas an mir finden muss, weil er mich andernfalls nicht geküsst hätte, oder? Ich meine, ich kann ja verstehen, dass es für ihn keine optimale Situation wäre, aber mir würde es doch nicht viel anders ergehen? Und es ist ja auch nicht so, als würden wir es direkt allen unter die Nase reiben müssen. Ein Versteckspiel ist natürlich auch nicht die optimale Lösung.   Seufzend knipse ich das Licht aus und drehe mich auf den Bauch, mein Kissen umklammernd. Und während ich hier so liege, nehme ich mir ganz fest vor, Noahs fester Freund zu werden.   Hoffentlich noch in diesem Leben.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Hannah ist wieder da!!   Ich glaube, ich habe mich noch nie so sehr gefreut meine beste Freundin zu sehen wie heute. Noch vor der Schule sind wir uns in die Arme gefallen und viel hätte nicht gefehlt und wir hätten uns ewige Liebe geschworen. Hat jedenfalls Maxi gemeint, der wenig später dazu stieß und sich fast tot gelacht hat. In der ersten Pause habe ich sie erstmal über alles ausführlich aufklären und ihr jedes Detail erzählen müssen. Mir ist das, zugegeben, ein bisschen peinlich gewesen. Vor allem die Aktion mit Maxi, die sie doch etwas entsetzt aufgenommen hat. Ich bin dann aber auch direkt zu dem Teil mit Noah gekommen, musste alles weitere aber auf die nächste Pause verschieben, in der dann auch Maxi dazu stieß... das war auch ziemlich peinlich.   Hannah ist glaube ich ein wenig skeptisch, weil Maxi nun alles weiß und sich auch an mehr oder weniger klugen Ratschlägen versucht. Leider ist Maxi weniger der Typ, der vorsichtig an bestimmte Dinge heran geht, sondern findet, dass ich jetzt einfach in die Offensive gehen muss. Noah schwach machen muss, in Verlegenheit bringen und alles andere ergibt sich dann schon. Hannah teilt seine Meinung nicht so sehr, stimmt aber dahingehend zu, dass ich ihm quasi kleine Krümel hier und da hin streuen soll. Wie Hänsel und Gretel, die dann aber ins Pfefferkuchenhaus finden. Mein Pfefferkuchenhaus wird Noah sein, der dann am Ende den ganzen Keks anstatt nur Krümel kriegt.   Peinlich wird es in der großen Mittagspause, als Hannah vom perfekten ersten Mal anfängt. Das ich keine Lust habe, mein – noch – nicht vorhandenes Liebesleben so ausführlich zu besprechen, hat sie gekonnt ignoriert. Maxi auch, der mir direkt jegliche Illusionen über das erste Mal genommen hat. Das ist nämlich nie perfekt und bei Jungs oder Männern sowieso nochmal eine ganz andere Geschichte. Hannah stimmt dem mehr oder weniger zu, weil ein paar ihrer Freundinnen auch fleißig berichtet haben, dass sie den Jungs meistens zeigen und erklären mussten, was sie wo und wie zu tun hatten. Das sind Informationen gewesen, die ich nun wirklich nicht haben muss. Mit halbwegs trockenem Humor kann ich wenigstens noch feststellen, dass Noah ja schließlich weiß, was er macht, denn der hat immerhin mit Frank geschlafen. Maxi findet, dass ich mich nicht darauf ausruhen soll, dass Noah das Ruder in die Hand nimmt – immerhin will ich ihm ja auch was Gutes tun.   Das Gerede über Sex und alles, was dazu gehört, macht mich so im Nachhinein wahnsinnig nervös. Und das leider nicht sehr positiv. Mir ist bewusst, dass es sicherlich weh tun wird, ich meine... ein Schwanz hat im Arsch eines anderen ja nun mal nichts zu suchen. Und ich bin ja auch noch völlig unerfahren und weiß überhaupt nicht, wie und ob ich mich überhaupt genug entspannen kann, damit es auch für Noah schön wird. Der soll immerhin nicht das Gefühl haben, ein Brett zu vögeln. Hat Maxi gesagt.   Hannah ist sich auch sicher, dass Noah irgendwas für mich empfinden muss, wenn er mich schon küsst. Soll heißen: irgendwas muss ja wohl da sein. Keiner von uns schätzt Noah so ein, dass er in dem Moment... äh, geil gewesen ist. Und ausgenutzt hat er ja auch nichts. Er ist einfach nur wahnsinnig lieb und zärtlich gewesen und das kurze nicht-Gespräch am nächsten Morgen... naja, im Grunde hat er nicht gesagt, dass er nicht gerne etwas mit mir am laufen hätte, oder? Er hat nur betont, dass es nicht geht, aber nicht, dass er es nicht will. Vielleicht braucht er also nur einen aufmunternden Schubser in die richtige Richtung.   Leider habe ich ja noch ein paar Wochen Hausarrest und keine Ahnung, wie ich Noah dazu kriegen soll, Zeit mit mir alleine zu verbringen. Der muss immerhin unter der Woche arbeiten und wenn er bei uns ist, hängt er mit Bastian rum. Und am Wochenende kann ich ja nicht raus. Wenn ich zu lange warte, hat er unseren Kuss bestimmt schon vergessen. Maxi hat vorgeschlagen, einfach einen Tag zu schwänzen und bei ihm aufzukreuzen, aber das kann ich halt nicht. Schließlich arbeitet er ja und ich weiß leider nicht wo. Und selbst wenn – auf keinen Fall würde ich bei ihm auf der Arbeit auftauchen. Das kann ich nicht bringen, immerhin könnte das für ihn ganz schnell problematisch werden. Glaube ich. Ich meine, wieso sollte ein Teenager dort auftauchen und nach Noah verlangen, hm?!   Im Sportunterricht denke ich noch, dass ich ja einen Spaziergang mit Oskar machen könnte – dafür darf ich nämlich raus, wenn auch nur bis in den Park und nicht weiter weg. Wie lange ich letztlich bleibe ist mehr oder weniger egal, aber wenn ich auffällig lange weg bleibe... auf noch mehr Hausarrest habe ich halt auch keinen Bock. Eine Dreiviertelstunde ist ok, aber in einer Dreiviertelstunde bin ich nicht bei Noah gewesen und wieder zurück daheim.   Wenigstens ist Sport in den letzten beiden Stunden, denn wenn ich mich nach meinem Geschwitze noch in einen sticken Klassenraum setzen müsste, würde ich wohl komplett dem Wahnsinn anheim fallen.   Während ich also mit Hannah und Maxi zur Bushaltestelle latsche und gerade die Schule-ist-aus-Nachricht schreibe, packt Hannah mich plötzlich am Arm und stiert mich mit großen Augen an. Ich lasse vor Schreck beinahe mein Handy fallen und gebe ein peinliches Quietschen von mir. Maxi lacht schallend.   „Na klar“, ruft Hannah aus und schlägt sich mit der anderen Hand gegen die Stirn, „du rufst ihn einfach an! Dann könnt ihr euch nach der Schule verabreden.“   Maxi schaut von der anderen Seite – ich laufe in der Mitte – zu Hannah rüber und nickt heftig.   „Das wir da nicht eher drauf gekommen sind!“   „Der wird sich niemals mit mir treffen...“, versuche ich den beiden diesen Gedanken ganz schnell wieder auszutreiben... und mir nicht genug Zeit zu geben, zu intensiv darüber nachzudenken.   „Ach papperlapapp. Sag ihm halt einfach, dass du noch Klärungsbedarf hast.“   Maxi nickt zustimmend: „Ihm wird es ja auch wichtig sein, diese Sache mit dir zu klären. Und selbst wenn er dich ablehnt, immerhin steht diese ganze Sache dann nicht mehr zwischen euch.“   Tja, so einfach ist das wohl. Ich mag aber gar nicht darüber nachdenken was passiert, wenn er mir wirklich klipp und klar signalisiert, dass er nichts mit mir anfangen wird. Ich habe mir nie Gedanken über andere Jungs gemacht. Meine Gefühle für Noah gehören irgendwie zu mir, sind Teil von mir. Kann mir gar nicht vorstellen, jemand anderen zu lieben. Noah nicht mehr zu lieben.   An der Bushaltestelle drückt Hannah mich ganz fest.   „Das wird schon, Konsti. In ein paar Wochen wirst du uns in den Ohren liegen, dass du gar nicht genug von Noah bekommst.“   Das wäre schön, leider kann ich nicht so recht dran glauben.   „Falls du dich nicht traust, Kondome und Gleitmittel zu kaufen, ich hab genug da.“, bietet Maxi so lapidar und locker an, dass ich große Mühe habe, nicht vor lauter Schreck rot zu werden. So was kann der mir doch nicht sagen!!   „Danke euch beiden...“   „Jederzeit.“, nicken meine beiden Freunde einstimmig, dann verschwinden sie in denselben Bus, als dieser endlich angerollt kommt und ich mich schnell nach Hause verziehen kann um zu duschen. Das darf ich wenigstens noch machen, bevor der übliche Schulkramdrill wieder los geht... Abendessen darf ich dann auch, aber mehr als einen Salat mit Putenbruststreifen kriege ich nicht runter. Es ist einfach viel zu heiß.   Bastian ist noch nicht da, als ich mit Zähne putzen fertig bin und mir Noahs Nummer vom Haustelefon in mein Handy einspeichere. Hätte ja gerne seine Handynummer, aber die muss ich mal irgendwann von ihm kriegen. So im Nachhinein ist die Idee nämlich doch nicht so schlecht gewesen. Wenn ich nicht zu ihm kann, dann muss er eben zu mir kommen!   Trotzdem muss ich mich auf mein Bett setzen, als ich dann endlich Noahs Nummer wähle, weil mir andernfalls sonst die Beine wegsacken würden. Der Salat in meinem Magen tanzt gerade Polka.   Irgendwann meldet sich die schönste Stimme im ganzen Universum.   „Faber?“   Oh Mann... ich will durch die Telefonleitung direkt in seine Arme klettern.   „Noah, ich bins... Konstantin.“   Bilde ich es mir nur ein, oder atmet der gerade wirklich ein bisschen angestrengt?   „Was gibt’s denn?“, fragt er einen Moment später und ich weiß nicht so recht, wie ich seine Stimme deuten soll. Er klingt freundlich wie immer, aber... ich weiß nicht, irgendwas ist anders. Und ich nehme allen Mut zusammen.   „Können wir uns treffen? Im Park bei uns? Ich... Noah, ich muss mit dir reden, bitte.“   Am anderem Ende der Leitung höre ich Noah seufzen. Ich kann mir vorstellen, wie er sich gerade die Schläfen massiert, das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, die Augen geschlossen...   „Konstantin...“   Was auch immer er sagen will, ich grätsche ihm mal lieber dazwischen!   „Bitte. Ich muss noch mit Oskar raus und... ich fand unser Gespräch neulich nicht sehr befriedigend.“   Eine Weile ist es still und ich denke schon, er hat aufgelegt?! Dann höre ich seine Stimme.   „Okay. Ich bin in etwa zwanzig Minuten da.“   „Danke! Ähm... wir treffen uns an der Eiche, okay?“   „Ich werde dich nicht unter einem Baum in der Abendsonne küssen, falls du darauf hinaus willst.“   „Also auf den Gedanken bist jetzt aber du gekommen!“   Ehrlich, daran habe ich wirklich nicht gedacht!   Noah lacht – und ich mag dahin schmelzen.   „Bis gleich, Konstantin.“   Tut, tut, tut... der hat einfach aufgelegt. Oh Mann, ich muss mein Handy erstmal ganz fest an meine Brust drücken und kann mein Glück kaum fassen. Noah kommt wirklich! Also, in den Park. Noah ist mit mir verabredet! Ich schreibe Hannah und Maxi, dann krame ich in meinem Schrank rum. Wenn schon, denn schon!   Auch wenn es mir total widerstrebt, krame ich eine lange schwarze Jeans hervor, die Hannah für mich ausgesucht hat, als wir vor Monaten mal shoppen waren. Die sitzt verboten tief und eng und während ich ein bisschen rum hüpfe, um den Knopf zu schließen, denke ich noch, dass ich doch lebensmüde sein muss. Noah soll ja was zum Gucken haben geht es mir durch den Kopf während ich mir ein schlichtes Tshirt raussuche. Danach flitze ich mit Handy und Schlüssel die Treppen runter, pfeife nach Oskar, schlüpfe in meine Sandalen, rufe Paps zu, dass wir Gassi gehen und klinke die Leine ein. Dann sehe ich zu, dass ich mich auf zum Park mache, zu dem ich ja schließlich auch erstmal hinlaufen muss.   Auf dem Weg dahin überlege ich, was ich Noah denn nun sagen soll. Von meiner Liebe weiß er ja jetzt. Ob ich ihm einfach alles erzähle? Das ich kaputt gehe, wenn er da ist und trotzdem so weit weg? Das ich abends im Bett an ihn denke? In der Schule, beim Einkaufen, beim Spazieren gehen mit Oskar... jede verdammte Sekunde? Das ich ein verdammtes Klavierstück für ihn schreibe? Naja, versuche zu schreiben. Das mir sein Kuss so wahnsinnig, wahnsinnig viel bedeutet hat? Das es mir jetzt noch viel schlechter geht als vorher?   Vielleicht sollte ich ja aber auch versuchen herauszufinden, wie er das ganze sieht. Ihm versichern, dass es okay ist, sollte er tatsächlich Gefühle für mich haben? Vielleicht fühlt er sich ja auch schlecht, wenn er... naja, Zuneigung zu mir verspürt? In Hinsicht auf Bastian kann ich das ja auch irgendwie verstehen, aber sind wir doch mal ehrlich: gegen Liebe kann man nichts machen. Auch wenn es eine ungünstige Konstellation ist.   Und dann ist da ja immer noch die Sache mit dem Kuss. Das war keine zwei-Sekunden Sache. Also, keine Ahnung wie lange wir uns geküsst haben, aber das hat er ja wohl ganz bewusst gemacht. Ich spüre noch immer seine Hand in meinem Nacken, seine Arme um mich, seine Zunge in meinem Mund... ich sollte besser nicht darüber nachdenken, die scheiß Jeans eignet sich nicht sonderlich gut für peinliche Zwischenfälle.   Im Park ist es zwar nicht leer, aber es hängen auch nicht mehr so viele Leute rum. Oskar liebt die Welt und die Wiese im speziellen, andernfalls würde der sich da nicht rum wälzen wie ein Schweinchen im Matsch. Dabei verheddert der Depp sich natürlich in der Leine, was bei ihm ein jaulen auslöst und bei mir leises meckern. Der stand ja auch nicht gerade ganz vorne, als der Herr die Intelligenz verteilte.   Die Eiche ist der Dreh- und Angelpunkt des Parks, weil sie in der Mitte der Anlage steht. Ich glaube sie ist so alt wie die Welt: groß, verdreht, stämmig, tausend Äste und jetzt im Sommer natürlich in aller Pracht am blühen. Um Noah ein bisschen zu ärgern, stelle ich mich direkt unter den Baum an den Stamm – Oskar setzt sich ganz brav neben mich und schaut abwechselnd zu mir hoch oder in der Gegend herum. Ich stehe bestimmt da, als würde ich auf mein Date warten – oder als hätte man mich im Regen stehen gelassen. Ein bisschen muss ich grinsen: das wird Noah bestimmt gefallen. Vielleicht sollte ich ihn einfach etwas necken. Das wird aber sicher nicht lange anhalten, so nervös wie ich bei ihm immer werde.   Das Noah sich nähert merke ich auch erst, als Oskar wie doof aufspringt und an der Leine zerrt und mir dabei fast den Arm ausreißt. Fröhlich vor sich hin kläffen tut er auch, bis Noah vor uns stehen bleibt und der Nervensäge das Köpfchen krault. Mein Größenwahn von zuvor ist wie weg geblasen. Warum sieht Noah so verdammt gut aus? Weiß nicht, ob er etwas ähnliches wie ich gedacht hat, aber seine Jeans ist auch nicht gerade weit geschnitten. Generell, wie mir so im Nachhinein auffällt, ist seine Kleidung figurbetont. Klar, der kann es sich ja auch leisten, trainiert und athletisch wie er ist. Und wieso nicht zeigen, was man hat? Auf seinem Kopf sitzt eine schwarze Ray-Ban mit extra großen Gläsern. Ich muss an Puk die Stubenfliege denken.   „Hey Konstantin.“, begrüßt er mich und ich kriege eine Gänsehaut, als er meinen Namen sagt. Keine Ahnung, irgendwie mag ich es, meinen Namen aus seinem Mund zu hören – obwohl es mich neulich noch gestört hat, weil ich mir vorkam wie ein kleines Kind.   Als ich mich endlich traue, ihn richtig anzusehen, fällt mir sein warmes Lächeln auf und seine Augen blicken so gutmütig drein das ich schon denke, dass er mich gleich küssen wird.   „Hi Noah,“ krächze ich mit trockener Kehle und muss mich räuspern, was mir wahnsinnig peinlich ist, „danke, dass du gekommen bist.“   Also, hierher gekommen. Oh Gott... ich bin so dämlich. Diesen Schwachsinn hält man ja im Kopf nicht aus! Und wieso muss Noah so nah bei mir stehen? Naja, ich glaube, es ist ein ganz normaler Abstand, aber... mir kommt es so nah vor.   „Sollen wir ein Stück laufen?“   „Nee, ich kann nicht laufen.“, gebe ich ein bisschen beschämt zu und spiele mit Oskars Leine, der neugierig auf meine Hände starrt. Könnte ja ein Leckerchen für ihn drin sein. Ernsthaft, meine Beine haben sich in Pudding verwandelt.   „Dann setzen wir uns doch.“   Noah setzt sich auf die Wiese und ich... ich tue es ihm gleich, ihm gegenüber, Oskars Leine locker in meiner rechten Hand haltend während ich mir mit der anderen durchs Haar streiche. Ein paar mal, weil ich nicht weiß, was ich sonst mit ihr anstellen soll.   Verdammt, wo ist mein Vorhaben, mit Noah zu reden, denn plötzlich hin?! Warum macht der mich so nervös, warum ist mein Kopf wie leer gefegt, warum kann ich nicht mit ihm reden wie mit einem normalen Menschen, waruuum!! Argh, mich macht das so rasend. Bin doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Mann, wie peinlich das ist. Vielleicht hat Noah recht, wenn er mich als den kleinen Bruder abstempelt... immerhin bin ich das ja auch. Zwischen uns liegen halt einfach mal fast zehn Jahre Altersunterschied. Das lässt sich nicht so einfach wegzaubern. Vor allem wohl nicht in Momenten wie diesen.   Ich atme tief durch, dann schaue ich Noah in die Augen und weiß, was ich will.   „Ich liebe dich.“   Da. Es ist raus. Und es fühlt sich richtig an. Auch wenn mein Herz einen Marathon rast, es tut so verdammt gut, es endlich sagen zu können. Kein schlechtes Gewissen zu haben, weil der Schwarm eigentlich in einer glücklichen Beziehung und es falsch ist, so für jemanden zu empfinden, der vergeben ist. Aber das ist er ja jetzt nicht mehr.   Noah schweigt eine ganze Weile und sieht mich einfach nur an... ich kann leider nicht sagen, wie?! Er ist aufmerksam und sein Gesicht wirkt sehr entspannt, aber was er gerade denkt? Keine Ahnung. Dann seufzt er leise.   „Manchmal verwechselt man eine Schwärmerei schon mal mit Liebe...“, fängt er an, doch das will ich mir jetzt überhaupt nicht geben.   „Ich bin in dich verknallt seit ich dreizehn bin“, fahre ich ihm über den Mund und ernte tatsächlich einen überraschten Blick, „und ein halbes Jahr später brichst du Idiot mir das Herz.“   „Konstantin...“   Ich halte meine freie Hand hoch und... keine Ahnung, irgendwie bin ich sauer?! All der Frust der letzten vier Jahre kommt in mir hoch.   „Es war so verdammt schwer, dich mit Frank zu sehen. Weil er dich einerseits glücklich gemacht hat und das alles war, was ich wollte, andererseits, weil er dich glücklich gemacht hat und nicht ich. Und dann geht der Vollidiot hin und vögelt mit irgendwem anders, obwohl er den besten Freund hat, den man sich nur wünschen kann aber eigentlich war ich auch froh, weil ich dich ja nun von mir überzeugen kann und dann küsst du mich auch noch und...“   „Wow, Konstantin, halt sofort den Mund. Ich hab schon bei Frank aufgehört zuzuhören.“   Ist das dem sein scheiß Ernst?! Ich schütte ihm hier mein Herz aus, teile ihm meine Gefühle für ihn mit und er hört mir nicht einmal richtig zu?! Fassungslos starre ich ihn an und überlege, ob Oskar ihn wohl anfallen würde, wenn ich ihm einen entsprechenden Befehl gäbe? Vermutlich würde er ihm aber nur das hübsche Gesicht abschlecken anstatt zu zerbeißen. Zu nichts zu gebrauchen, dieser Hund.   „Du nimmst mich nicht ernst.“, stelle ich nüchtern und... ja, doch, enttäuscht fest. Ich meine, so kenne ich Noah nicht?! Was ist denn plötzlich mit dem los? Wo ist mein perfekter, wunderbarer Noah hin, der mir durchs Haar wuschelt, der mich lieb anlächelt, in den ich mich verknallt habe?!   „Das tue ich sehr wohl. Sieh mal, deine Gefühle für mich sind echt... lieb und ich fühle mich geschmeichelt. Aber dir muss doch klar sein, dass zwischen uns nichts laufen kann.“   Meine Gefühle für ihn sind lieb? Langsam werde ich echt sauer. Irgendwie habe ich mir das alles anders vorgestellt. Allerdings... weiß ich nicht genau, wie?   „Warum hast du mich dann geküsst?! Mann, Noah, das war kein Bussi auf die Wange, du hast mir die Zunge in den Mund gesteckt. Du hast das gewollt, genauso wie ich!“, herrsche ich ihn vielleicht eine Spur zu heftig an, denn neben uns zuckt Oskar zusammen und legt die Ohren nach hinten.   Darauf sagen tut Noah nichts.   Seine Lippen sind eine einzige gerade, schmale Linie und die dunklen Augenbrauen hat er vielleicht ein bisschen verärgert zusammen gezogen. Dabei hat er gar keinen Grund verärgert zu sein! Wir starren uns beide einfach nur an, er vielleicht etwas wütend, ich trotzig und enttäuscht. Eigentlich wäre es doch, wenn wir in einem Buch leben würden, der Moment, in dem er mir sagt, dass er auch Gefühle für mich hat. Oder mich zumindest... interessant findet. Oder er würde alles leugnen, aber ich würde trotzdem merken, dass da irgendetwas ist, was er mir nicht sagt und... ist da irgendwas, was er mir nicht sagt? Ich meine, er schweigt sich ja wirklich einen dran lang... oh Gott, ist es das?!   „Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.“, zuckt er schließlich die Schultern und ich überlege, wenn Oskar schon keine Hilfe ist, ob ich ihm das Gesicht zerbeißen soll. Naja, eigentlich will ich es zerknutschen. Mann... ich will Noah küssen, dass es weh tut.   „Irgendwas sinnvolles?“, schlage ich vor und schiebe Oskars Kopf weg, der meinem Gesicht zu nahe kommt. Hundeatem kann ich jetzt nicht gebrauchen, herzlichen Dank!   „Hör zu. Ich habe keine Gefühle für dich“, bricht Noah mir das Herz und obwohl ich am liebsten sofort reißaus nehmen würde, muss ich ihm trotzdem zuhören, „und zwischen uns beiden wird nichts laufen. Der Kuss war... süß und in dem Moment richtig, aber nichtsdestotrotz ein Fehler. Konstantin, ich könnte Bastian nie wieder in die Augen sehen.“   Irgendwie... erzählt er mir da ja nichts Neues. Und wenn ich ehrlich bin habe ich genau damit gerechnet, wie ich nüchtern feststellen muss. Wieso habe ich mir auch eingebildet, dass trotz allem irgendwas zwischen uns laufen könnte? Im Endeffekt bin ich der Dumme und Noah hat die scheiß Aufgabe, mich abzuweisen. Kann ihn ja schließlich nicht zwingen, mich zu lieben. Das ist mir klar, aber... kampflos aufgeben will ich auch nicht. Und wenn er den Kuss trotzdem als richtig – zumindest für den Moment – bezeichnet, heißt das ja nicht, dass es später nicht noch richtiger werden kann. Oh Mann, ich bin mir schon selbst peinlich. Dass ich so hinter jemanden her renne, der mir einen derart deutlichen Korb gibt...   Ich stehe ohne was zu sagen auf, klopfe mir ein bisschen die Jeans ab und will gerade los gehen, als Noah ebenfalls aufsteht und mich am Arm packt.   „Hey...“, fängt er an, doch ich reiße mich los. Dieses Mal merke ich, dass die Tränen kommen und es ist mir egal, als ich Noah, diesen blöden Idioten, böse anschaue.   „Fass mich nicht an! Fass mich nie wieder an, du Arsch!“, schreie ich wütend und zerre einen ziemlich geschockten und leise winselnden Oskar hinter mir her. Ich denke noch, dass es jetzt die Chance für Noah wäre, alles richtig zu machen, mir nach zu laufen und zuzugeben, dass er Gefühle für mich hat oder was auch immer, doch nichts dergleichen passiert. Stattdessen liege ich eine halbe Stunde später heulend im Bett, Oskar sitzt ratlos vor meinem Bett und hat den Kopf schief gelegt.   Na, das lief ja blendend. Kapitel 5: ----------- September!   Soll heißen, mein Hausarrest ist endlich rum. Und der Sommer auch. Also, warme Tage gibt es immer noch gelegentlich, aber immerhin kann man jetzt auch wieder den ganzen Tag lange Jeans tragen ohne einen Hitzetod zu sterben, oder für völlig verrückt erklärt zu werden. Neulich hat es nur so aus Eimern gekübelt, dass man sogar eine Jacke anziehen konnte. Musste, weil man sonst von oben bis unten klitschnass gewesen wäre.   Das erste Wochenende habe ich natürlich sehr sinnvoll genutzt: bei Hannah übernachtet, von Freitag bis Sonntag. Freitag und Samstagabend Horizon. Ich glaube, ich hatte noch nie soviel Spaß wie an diesem ersten Septemberwochenende. Die Musik war hervorragend, wie immer, das ein oder andere Bier mit Hannah genießen, tanzen bis die Beine schmerzten. Das Maxi, der auch mit dabei war, gelegentlich etwas zu nah an mir herum getanzt hat, hat mich auch nicht gestört.   Was aber viel wichtiger ist: ich bin nicht mehr verliebt. Kein nervliches Wrack mehr. Heule mir nicht mehr jeden Abend die Augen aus dem Kopf, denke nicht mehr ununterbrochen an meinen Schwarm, der nicht mehr mein Schwarm ist, interessiere mich nen Scheiß für den Besuch den Bastian empfängt und konzentriere mich voll und ganz auf die Schule. Mathe verstehe ich auch so langsam, glaube ich. Die Klausur von neulich ist immerhin eine gute drei geworden – da kann man doch nicht meckern, oder? Maxi hat mir ein bisschen unter die Arme gegriffen und lustigerweise verstehe ich den Kram viel besser, wenn er es mir erklärt. Liegt wahrscheinlich daran, dass es mit ihm einfach lustiger ist als mit dem blöden, alten Mathelehrer, der jeden, der nicht alles sofort kapiert, am liebsten auf den Scheiterhaufen verbrennen oder für unfähig erklären würde. Naja, oder beides. Keine Ahnung, in welcher Reihenfolge.   Jedenfalls kann ich mein Leben wieder so richtig genießen, was sicherlich auch an den erträglichen Temperaturen liegt. Nachdem mein Hausarrest vorbei war, haben Mama und Papa sich nochmal mit mir zusammen gesetzt und wir haben besprochen, dass so eine Aktion mit hemmungslos saufen und bei anderen Leuten auftauchen nicht nochmal vorkommen und ich mich etwas mehr auf die Schule konzentrieren soll. Damit habe ich mich gut arrangieren können und irgendwie ist dieser eine Monat so Routine für mich geworden, dass ich nach der Schule nach Hause gehe, Hausaufgaben mache, lerne, mit Oskar raus gehe und dann zeitig ins Bett. Abends telefoniere ich oft noch mit Hannah oder Maxi.   Es ist Donnerstagabend, ich räume gerade die Spülmaschine aus und die Küche auf, was nicht nur Bastian, sondern auch meine Eltern seltsam finden, als es an der Tür klingelt. Ich weiß längst wer das ist, weil Bastian seinen Besuch schon am Morgen angekündigt hatte. Spieleabend. Mitten in der Woche. Oder DVD Abend, keine Ahnung.   Ich schmeiße den Wischlappen ins Spülbecken, trockne mir halbwegs die Hände ab und latsche zur Haustür, die ich ohne jedweden Schwung und ohne ein typisches Lächeln in Situationen wie dieser öffne und Oskar am Halsband zurückhalte, als der den Besuch am liebsten anspringen würde.   „N'abend Konstantin.“   „Hi Noah.“   Ich lasse ihn rein, schließe die Tür, lasse Oskar gehen und Noah stehen als ich zurück in die Küche gehe um den Rest aufzuräumen und sauber zu machen. Die Stimmen der beiden besten Freunde auf der Welt dringen nur zur Hälfte an meine Ohren.   Nachdem die Küche fertig ist, gehe ich noch eine Runde mit Oskar raus, der sich tierisch freut, ein bisschen Qualitytime mit mir zu verbringen. Im Park werfe ich ein bisschen den Stock für ihn und weil es irgendwie süß ist, ihm dabei zuzusehen, wie er sich total dumm und dämlich freut, wird mein Arm auch nicht zu schnell müde. Trotzdem gehen wir irgendwann wieder nach Hause, weil ich früh ins Bett muss. Sonst bin ich morgens nämlich nicht ausgeschlafen und das kann ich mir für die Schule nicht erlauben.   Meine Schuhe räume ich brav und ordentlich in den Schuhschrank, nehme mir eine Flasche Wasser mit aufs Zimmer und mache mich bettfertig. Ich liebe dieses Wort. Bettfertig. Ist viel einfacher und schneller als zu sagen: aufs Klo gehen, Hände waschen, Gesicht waschen, Zähne putzen, umziehen, ins Bett legen.   Ich glaube, heute ist kein guter Abend. Es ist schön dunkel in meinem Zimmer und trotzdem habe ich das Gefühl, dass es noch viel zu hell und früh ist um zu schlafen. Ich drehe mich eine Weile von einer Seite auf die andere, auf den Bauch, auf den Rücken, von Seite auf Seite, Bauch, Rücken, hin und her... irgendwann gucke ich auf die Uhr. Es ist nach elf. Ich glaube um neun bin ich ins Bett gegangen. Ich reibe mir die Augen, atme tief ein und aus, konzentriere mich auf meine Atmung. Das ticken meiner Uhr an der Wand über meiner Tür klingt so monoton, dass ich es leider nicht als Einschlafhilfe nutzen kann. Irgendwie macht es mich sogar wahnsinnig.   Ich stehe auf, kletter auf meinen Stuhl, den ich an die Tür stelle, hole die blöde Uhr runter und nehme die Batterien heraus. Dann gehe ich wieder ins Bett und drehe mich auf den Bauch, schließe meine Augen und muss dann wohl doch irgendwann eingeschlafen sein.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Im Klassenraum ist es so still, dass man eine Stecknadel würde fallen hören.   Ich klopfe mir den Kreidestaub von den Händen, gehe zurück zu meinem Platz und bin wirklich sehr stolz auf mich.   „Ich gestehe, dass ich nicht damit gerechnet habe... aber Sie verblüffen mich, Herr Wagner.“, murmelt mein Mathelehrer widerwillig anerkennend und bestaunt meine perfekte Rechnung an der Tafel. Hannah sieht mich ein bisschen entsetzt von der Seite her an als ich mich wieder neben sie setze.   „Wer bist du und was hast du mit meinem Konsti gemacht?!“, zischt sie leise und rammt mir gefühlvoll ihren Ellbogen in die Seite. Ich zucke die Schultern und bin sehr zufrieden mit mir. Soll nochmal einer sagen, bei mir wären Hopfen und Malz verloren, sobald es um Mathe geht!   In den letzten Wochen haben mich meine Lehrer viel gelobt. Meine mündliche Mitarbeit habe sich deutlich verbessert und in den Tests und Klausuren überrasche ich jedes Mal aufs Neue. Tja, manche Dinge können sich eben ändern. Und ich muss mich nun mal um einen guten Abschluss bemühen, immerhin möchte ich später studieren gehen. Weiß zwar immer noch nicht was, aber den Entschluss habe ich auch über die letzten Wochen gefasst.   In Musik langweile ich mich zu Tode und mache beim Vorspielen am Keyboard einen Fehler nach dem anderen. Meine Musiklehrerin stiert mich mindestens so entsetzt an wie die Mitschüler, als würde mir plötzlich ein zweiter Kopf wachsen. Ehrlich, Mathe geht schneller rum und mir viel einfacher von der Hand, als in Musik auf dem Keyboard herum zu klimpern und über die Musik des siebzehnten Jahrhunderts zu diskutieren. Wen interessiert der Scheiß eigentlich?!   Biologie ist viel witziger, da sitze ich nämlich inzwischen neben Maxi und wenn wir nicht ständig quatschen würden, würden wir auch vielleicht weniger ermahnt werden... kann halt nichts dafür, dass Maxi wahnsinnig witzig ist, okay?!   Nach Bio reicht Maxi mir den Kugelschreiber, den er sich bei mir geliehen hat.   „Hast du heute schon was vor?“, fragt er mich, während er seine Hefter in seinen schwarzen Rucksack stopft. Er nimmt einen Schluck von seinem Wasser, obwohl trinken in den Bioräumen eigentlich total untersagt ist. Vom Lehrerpult vernehme ich ein warnendes räuspern.   „Nee, wieso?“   Maxi strahlt mich an wie die Sonne.   „Ich wollte heute mal ne ruhige Kugel schieben – Filme gucken, Pizza essen. Hast du Lust bei mir zu pennen?“   Okay, ich gebe zu... ein bisschen überrascht bin ich schon. Und ja, ich glaube das ist mein Herz, das plötzlich verwirrt durch die Gegend stolpert.   „Klar. Wann soll ich denn da sein?“   „Mhh... so um sechs, halb sieben?“   „Alles klar. Soll ich irgendwas mitbringen?“   „Ich denke nicht, nein.“   Wir latschen zusammen zum Haupteingang, wo Hannah bereits auf uns wartet. Die streicht sich ihre Locken aus dem Gesicht und wedelt anschließend mit einem knallbunten Flyer vor unseren Nasen herum.   „Im Horizon ist heute Color Party. Kommt ihr mit?“   „Nee, wir machen Männerabend.“, entgegnet Maxi so lässig, dass ich es fast schon wieder cool finde. Hannah sieht ehrlich überrascht aus. Vielleicht ein bisschen geschockt. Sie guckt mich an, als würde sie in meinem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen von Größenwahn suchen.   „Männerabend?“, hakt sie skeptisch nach und zieht mal wieder nur eine ihrer hübschen, perfekt gezupften Augenbrauen hoch. Ich beneide sie immer noch drum. Habe neulich mal wieder vor dem Spiegel gestanden und geübt... naja, sagen wir, ich habe ausgesehen, als hätte ich irgendwelche schlimmen Krämpfe im Gesicht. Habs also sein gelassen.   „Genau. Ich glaube, Konstantin braucht mal ein bisschen Testosteron.“, behauptet Maxi und lacht, während ich mir nicht sicher bin, was ich darauf sagen soll. Hannah scheinbar auch nicht, denn die guckt mich nun fast ein bisschen böse an.   „Na, da bin ich mir nicht so sicher. Aber was solls, dann werde ich mich eben alleine mit Farbe beschmeißen. Wir sehen uns.“   Hannah küsst mich auf die Wange, umarmt Maxi und hüpft dann elegant die Treppen runter um zum Bus zu gehen. Ihre Lockenpracht wippt hin und her, ihre Gürtel mit den tausend Silberkettchen klimpern, während sie sich vom Acker macht. Ich bin ein bisschen verwirrt. Maxi klopft mir auf die Schulter.   „Morgen rufst du sie besser an und lädst sie zu Kaffee und Kuchen bei dir ein.“   Jau, das ist ne gute Idee!   „Okay, also dann später bei dir. Schreibst du mir deine Adresse?“   Maxi lächelt.   „Klar. Bis später.“   Er umarmt mich kurz, dann macht er sich auf dem Weg zum Bus. Ich latsche nach Hause und muss erst noch realisieren, dass ich heute Abend bei Maxi übernachten werde. Habe zwar schon mal bei anderen Jungs gepennt – Geburtstagsfeiern und solche Sachen – aber da ist es halt nie... um irgendwas gegangen. Also nicht, dass es bei Maxi und mir um irgendwas geht, aber ein bisschen seltsam fühle ich mich schon. Trotz dessen zwischen uns alles geklärt ist, fühle ich ein nervöses kribbeln irgendwo im Bauch. Hoffentlich hat sich das bis heute Abend wieder erledigt.   Während ich wenig später daheim meine Sachen packe, überlege ich, was ich für die Nacht mitnehme. Kann ja nicht nur in Shorts bei ihm pennen, oder? Das ist dann doch etwas zu gewagt. Und irgendwie macht es mich im Nachhinein tierisch nervös. Am Ende greife ich wahllos in meinen Kleiderschrank, hole ein älteres Tshirt heraus und stopfe es in meinen Rucksack. Zahnbürste, Zahnpasta... ob ich mein eigenes Duschzeug mitnehmen soll? Packe das lieber auch mal ein. Ein Tuch werde ich ja wohl bei Maxi kriegen, oder? Klamotten für den nächsten Tag packe ich auch direkt ein.   Nachdem ich alles gepackt, mich vorher nochmal geduscht und in frische Klamotten geworfen habe, zupfe ich an meinen Haaren rum, bis sie halbwegs ordentlich sitzen und spaziere munter die Treppe runter. Aus dem Wohnzimmer höre ich mal wieder bekannte Stimmen, allerdings auch die von meinen Eltern. Möglichst lässig bleibe ich an der Tür stehen und ernte überraschte Blicke von meinen Eltern und Bastian und Noah, die gemütlich Kuchen essen. Was der Idiot schon wieder hier macht, ist mir ja ein Rätsel.   „Gehst du weg? Hier ist extra ein Stück Kuchen für dich.“, meint Mama und deutet mit ihrer Kuchengabel auf... ich glaube, es ist Bienenstich.   „Esse ich morgen. Ich penne bei Maxi.“   Einen Blick auf Noah kann ich mir nicht verkneifen. Wie ich seinen Blick deuten soll... keine Ahnung. Ich glaube, er sieht ein bisschen skeptisch aus? Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, immerhin gucke ich nicht so genau hin.   „Hast du Hausaufgaben auf?“, schaltet sich mein Paps direkt ein und der strenge Ausdruck in seinen Augen entgeht mir nicht. Ich seufze leise. Das ich mich hier gerade in Grund und Boden schäme, scheint wohl keinen zu interessieren.   „Nur Englisch, aber das ist bis Mittwoch und werde ich morgen zusammen mit Hannah machen.“   Die weiß von ihrem Glück zwar noch nichts und wird es vermutlich auch nicht erfahren, aber wenn ich Hannah mit ins Spiel bringe, sind meine Eltern – mein Dad – eigentlich immer recht milde gestimmt.   „Wer ist eigentlich Maxi und wo wohnt der?“, will Mama weiter wissen und ich am liebsten durchdrehen. Das gibt’s doch nicht! Ich krame mein Handy hervor, weil mir einfällt, dass er mir ja schreiben wollte, wo er wohnt. Dabei wird mir nur leider etwas schlecht...   „Maxi ist ein Schulfreund und wohnt in der Eichenallee.“   Ich sehe Noah aus dem Augenwinkel, wie er den Kopf schief legt.   „Das ist die Villenkolonie bei mir in der Nähe.“   Seine Stimme löst dieses unangenehme Gefühl in mir aus... nein, es löst nichts dergleichen in mir raus. Ich zucke die Schultern.   „Also, ich bin dann weg. Bis morgen!“   Ich sehe zu, dass ich mich vom Acker mache und checke die Zeit. Viertel vor sechs. Wenn alles glatt läuft, bin ich um halb sieben bei Maxi. Punktlandung. Mal sehen, ob mir das gelingt! Ich schreibe ihm schnell eine Nachricht, mache mich auf dem Weg zum Bahnhof und schreibe parallel Hannah. Habe ein klein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil sie nun ganz alleine ins Horizon geht... aber Maxi war nun mal zuerst da und ich muss ja auch nicht jeden Freitagabend raus und Party machen gehen. Außerdem sollte ich vielleicht mal mein Geld im Blick behalten.   Auf dem Weg zu Maxi, den ich teilweise mit Navigation laufen muss, weil ich mich sonst hoffnungslos verlaufen würde, denke ich über viele verschiedene Dinge nach. Belanglose Dinge. Schule, was Maxi und ich wohl an Filmen gucken werden, was für Pizza er bestellen wird... oder macht er das selber? Also, wir? Muss gestehen, dass ich da ja nun nicht so Bock drauf hätte. Ich möchte nur entspannen und meine Gedanken abstellen können. Denn wenn ich zur Ruhe komme, schleichen sich da immer diese nervtötenden Gedanken und vor allem ganz fiese Gefühle ein, die ich einfach überhaupt nicht gebrauchen kann oder will. Das macht mich wahnsinnig. Vielleicht habe ich deshalb auch das erste Wochenende nach meinem Hausarrest komplett durch gefeiert und nutze jede freie Minute, um mich mit irgendwas zu beschäftigen – Hauptsache nicht mit meinen wirren Gedanken.   Mit dem Zug fahre ich eine Station weiter als ich aussteigen würde um zum besten Freund meines Bruders zu fahren. Dann muss ich meine Navigations-App fragen, ob sie mich lotsen kann, weil ich mich in diesem Teil der Stadt null auskenne. An Maxi schicke ich direkt mal eine weitere Nachricht, dass ich bald bei ihm sein müsste. Mensch, ganz schön hübsche Gegend hier. Die Rasenstücke sind bestimmt mit Lineal und Nagelschere getrimmt worden. Es reiht sich eine Jugendstilvilla an die nächste, manche mit kleinem Türmchen oder im Fachwerkhausstil verkleidet. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Maxi in so einem Teil wohnen soll. Das... passt nicht zu ihm? Naja, andererseits kenne ich Maxi ja auch praktisch gar nicht.   Eichenallee siebzehn... aha! Die Villa hat ein rötliches Dach und ist babyblau und weiß gestrichen, mit tausend Ornamenten und Schnörkeln, zwei Erkern rechts und links, einer großen Auffahrt und Vorgarten. Der kommt direkt aus einem Schöner-Garten-Magazin und wird vermutlich auch im Winter gehegt und gepflegt. Mit einem Tannenbaum, der tausend Meter hoch ist oder so.   Etwas unwohl ist mir ja schon, als ich zur Tür schleiche und den Goldknopf der Klingel mag ich auch nicht so recht drücken... van der Linden. Mann, das ist sicherlich ein allerwelts Familienname, trotzdem fühle ich mich, als würde ich bei irgendeinem Popstar klingeln wollen. Bevor ich das jedoch tun kann, wird plötzlich die Haustür aufgerissen und ich beinahe von jemanden mit ampelrotem Haar umgerannt.   Moment.   Ampelrotes Haar?!   Vor mir steht... das ist doch dieser Jules, oder? Den ich letzten Monat im Horizon gesehen habe. Was macht der denn hier? Wir gucken uns wohl beide ziemlich verwirrt an, dann trommelt er wie ein Irrer auf die vermutlich sau teure Eingangstür ein.   „Maximilian van der Linden, du Schwerenöter! Geben sich deine Häschen hier immer die Klinke in die Hand?!“, bollert er amüsiert los und wenig später taucht besagter Schwerenöter hinter Jules auf. Der grinst noch immer bis über beide Ohren und lacht sich gerade völlig kaputt, dass jeglicher Silberkrams an und vermutlich auch in seinem Körper klimpert wie ein Sack voller Gold. Hallelujah.   „Konstantin! Hi, sorry für diesen Schwachsinn, der ist sofort weg...“, murmelt Maxi vielleicht ein klein wenig verlegen und deutet hilflos auf Jules.   Ich weiß leider immer noch nicht was ich sagen soll und ziehe etwas unschlüssig die Schultern hoch.   Jules ist wohl nicht so sehr auf den Mund gefallen.   „Jaja, der Schwachsinn nimmt ja schon seine Beine in die Hände. Äh-Konstantin, schön, dich zu sehen. Klein ist die Welt, was? Maximilian, danke für deine offenen Ohren. Wir sehen uns.“   Jules schmatzt Maxi einen Kuss auf den Mund, was der mit einem leicht aufgebrachten grummeln quittiert. Mir... strubbelt Jules durchs Haar?!   „Du hast nur noch zwei Kondome, also treibst nicht zu heftig!“, ruft Jules uns zu, als er gerade hinaus auf offener Straße tritt und dann zwischen Jugendstilvillen und Eichen verschwindet. Ich weiß nicht ob ich lachen oder weinen soll. Was war das denn bitte?!   Ratlos gucke ich Maxi an, der immerhin versucht, schuldbewusst aus der Wäsche zu glotzen.   „Kann ich dir das bei einem heißen Kakao erklären?!“   Na, da sage ich nicht nein!   Eine halbe Stunde später sitzen wir im... also, Maxi nennt es Wohnzimmer, ich würde es eher Salon nennen, weil hier eine ganze Abendgesellschaft Platz hätte, und trinken heißen Kakao mit Zimt. Es ist zwar noch überhaupt kein bisschen herbstlich, aber es muss ja auch nicht Weihnachten sein um Völlerei mit Zimtsternen zu begehen, oder?! Jedenfalls erklärt Maxi mir tatsächlich die Sache mit Jules, dessen richtiger Name er mir aber nicht nennen will. Das macht entweder nur Jules oder niemand. Der wird an Weihnachten schon achtzehn, geht aufs Gymnasium und ist offenbar schwer verliebt, was ihm wohl nicht gut bekommt, weil er sich seit frühester Jugend eigentlich durch die Weltgeschichte... ähm... vögelt. Ja, so hat Maxi das ausgedrückt. Woher die beiden sich kennen habe ich da eigentlich nicht wissen wollen, aber eins und eins kriege selbst ich hin. Die beiden hängen auch nur noch miteinander rum, weil sie festgestellt haben, dass sie neben Sex eigentlich auch so ganz gut miteinander auskommen. Und weil Jules einen schwulen Mann braucht, dem er sein Liebeskummer-Leid klagen kann. Seine Flamme lebt aber wohl noch im Schrank. Und zwar in der hintersten Ecke.   Danach habe ich erstmal genug von Jules, weil ich kotzen muss, wenn ich noch ein Wort über diesen Typen höre. Mann, der ist mir viel zu omnipräsent. Außerdem will ich nicht über irgendeinen Typen reden, den ich nicht kenne. Also, eigentlich will ich über gar keinen Typen reden.   Stattdessen gibt Maxi mir nach unserem Kakao eine Hausführung... Villaführung. Zumindest die wichtigsten Räume, wie zum Beispiel das Badezimmer im Erdgeschoss, Küche, Wohnzimmer (das ich ja schon kenne), sein Zimmer (dazu komme ich später), sein Badezimmer (dazu auch) und die Räumlichkeiten seiner Schwester – naja, jedenfalls die Tür zu ihrem Zimmer, damit ich nicht versehentlich nachts im falschen Zimmer lande. Ich habe zwar nicht vor des nachts hier spazieren zu gehen, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, richtig?!   Wir bestellen jedenfalls Pizza, was sehr witzig ist, weil Maxis Familie gefühlt hunderttausend Lieferservice-Flyer hat. Vom Pizzajungen ums Eck bis zu erstklassigen Catering-Firmen. Maxi eröffnet mir, dass die Küche bisher nur einmal genutzt worden ist – und zwar zur Einweihung. Also, zumindest von ihnen selbst, denn um die Mahlzeiten kümmert sich deren Haushälterin. Mir ist das alles sagenhaft unangenehm, weil ich mir reichlich fehlplatziert vorkomme. Gleichzeitig bin ich super froh, dass Maxi so entspannt ist und kein versnobter Bengel. Allerdings... was weiß ich schon groß von Maxi?!   Mit der Pizza verziehen wir uns in Maxis Zimmer, das ungefähr so groß ist wie der Salon. Oder noch größer? Keine Ahnung, ich glaube, ich habe jedwede Einschätzung dafür verloren. Hohe Wände hat er, die in so einem... ich weiß nicht, türkis-blau-grau-grün Ton gestrichen sind. Oben an der Decke hat er Stuck. Sieht aus wie in einer verdammten Kirche, fehlen nur noch die nackten Trompetenengel. Seine Möbel sind grau-weiß, was scheinbar hervorragend zu der Wandfarbe passt. Ich würde mal auf Tine Wittler oder Schöner Wohnen tippen. Oder beides. Ein Doppelbett hat er, Schreibtisch, PC, Kleiderschrank, Bücherregal, Fernseher an der Wand gegenüber vom Bett (schluck!), in einer Ecke liegen zwei Fußbälle, an den Wänden tummeln sich... keine Ahnung, ich glaube, das ist abstrakte Kunst? Scheint irgendwie nicht zum Rest seines jung wirkenden Zimmers zu passen. Er hat grauen Teppichboden und ums Bett herum liegen schwarze Flokati-Teppiche. Also das passt ja irgendwie nicht so recht hier rein, sieht aber dennoch lustig aus. Seine Bettwäsche ist... Ahoj-Brause Waldmeister auf der einen und Zitrone auf der anderen Seite. Also, irgendwie finde ich das ja zum Niederknien niedlich!   Von seinem Zimmer geht im Übrigen en-Suite mäßig sein Badezimmer ab. Das besteht aus einer riesigen Badewanne mitten im Raum, einem bodentiefen Fenster, Doppelwaschbecken und einer... sehr großen, barrierefreien Dusche mit Regenduschkopf. Ich glaube der Boden ist schwarzer Marmor, sicher bin ich mir nicht. Ah ja und eine Toilette gibt’s natürlich auch. Mir ist das alles ja ein wenig unangenehm – keine zehn Pferde werden mich da aufs Klo kriegen, lieber gehe ich auf den Flur. Also, über den Flur in das andere Bad oder nach unten. Was ich eigentlich meine: ich fühle mich nach wie vor etwas unwohl, weil ich Panik habe, irgendwas versehentlich kaputt zu machen oder zu beschmutzen. Maxis Zimmer ist zwar ganz offensichtlich bewohnt, trotzdem sieht alles aus wie geleckt. Ich wette, sogar hinter seinen Möbeln wird staubgewischt. Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt hinter meinen Schreibtisch geguckt habe, nehme mir aber fest vor, das eines lieben Tages mal zu tun.   Die Pizza essen wir übrigens auf'm Boden, weil Maxi es überhaupt nicht leiden kann, Krümel im Bett zu haben. Auch Kekse werden da nicht gegessen. Ich finds süß, auch wenn ich ja der Meinung bin, dass Pizza im Bett genauso gut ist wie Pizza vom Vortag zum Frühstück. Das behalte ich aber mal lieber für mich. Während wir Pizza essen – er irgendeinen Chili-Kram der mir alleine vom Geruch schon die Tränen in die Augen treibt, ich Pesto und Mozzarella um auf der sicheren Seite zu bleiben – erzählt er mir dann auch ein bisschen mehr von sich und seiner Familie, wohl weil er bemerkt hat, dass ich zwischenzeitlich... äh, staunend umher schaue. Maxis Papa ist Schönheitschirurg mit eigener Praxis und, ach du heiliger Klischeefilm!, hat Maxis Mama als Patientin kennen gelernt, nach dem die einen ganz fiesen Nasenbruch hatte und danach nichts mehr so war, wie es vor dem Unfall. Seine Mama ist Chefredakteurin eines sehr erfolgreichen Frauenmagazins. Maxis Schwester Nina ist dreizehn, liebt Pferde und ist in jeden männlichen Popstar verliebt den es gibt. Ein ganz normales Mädchen, denke ich... oder eines, wie sie wohl im Buche steht? Keine Ahnung, ich kenne mich damit nicht so aus. Jedenfalls klebt sie, sofern sie es kann, sehr an Maxi was diesen zwar nicht direkt stört, aber.. wer hat schon gerne seine jüngeren Geschwister um sich schwirren?! Hahaha, ich kann da halt nicht mitreden!!   Maxis Familie weiß auch, dass er schwul ist. Sein Papa ist am Anfang wohl nicht gerade aus dem Häuschen gewesen, seiner Mama hat es nichts ausgemacht. Nina findet das wohl super, weil alle ihre Freundinnen Maxi wahnsinnig süß finden und sie wohl ein wenig beneiden, weil sie halt einen so coolen Bruder hat. Mir ist es ja immer noch ein Rätsel, wieso manche Leute so darauf abgehen, wenn jemand demselben Geschlecht zugetan ist. Jedenfalls ist es in der van der Linden Familie sehr harmonisch, auch wenn Mama und Papa van der Linden viel arbeiten und Maxi sich oft um Nina und ihre Hausaufgaben kümmern muss. Maxi macht das aber wohl gerne und scheint generell eher der Familienmensch zu sein, was ich irgendwie sehr süß finde.   „Also“, schmatzt Maxi zwischen zwei Pizzastücken und leckt sich die Finger, was leider schon ziemlich heiß aussieht, „schon eine Idee, was für Filme du gucken magst?“   Oh nein... wenn ich ihm jetzt sage, dass ich selbst bei Disneyfilmen schlimm Herzrasen und Angstzustände kriege...   „Nee. Irgendwas, bei dem man nicht so viel selber denken muss?“, schlage ich entschuldigend grinsend vor und... mhh, lecke mir auch einmal kurz einen Finger ab. Was Maxi nicht sieht. Auch gut.   „Wozu sind Freitagabende auch sonst da?“   Maxi lacht, wischt seine Hände an einer der mitgelieferten Servietten ab und krabbelt zu seinem Bücherregal, in dem sich ganz unten ein paar DVDs tummeln. Die guckt er sich eine nach der anderen an, schüttelt den Kopf, stellt sie wieder zurück, schaut zu mir...   „Zombieland?“   Ich weiß nicht, was das ist, nicke aber tapfer und fühle mich schon jetzt wie ein Zombie. Eilig schlinge ich das letzte Stück meiner Pizza herunter und wische mir die Finger sauber. Ich bin nicht so der große Filme-Fan... also, soll heißen, ich gucke zu wenig, um da irgendwie mitreden zu können und wie gesagt: die kleinsten Dinge machen mich total nervös und ich werde unruhig und die Spannung macht mich wahnsinnig.   „Wenn du magst, kannst du ins Bad, dann mache ich schon mal alles fertig für den Film.“   Moment... der meint doch nicht? Vermutlich gucke ich genauso entsetzt wie ich denke, dass ich gucke! Maxi lacht und tätschelt mir aufmunternd die Schulter, während er die Pizzakartons zusammen faltet.   „Wir haben leider kein Heimkino, daher müssen wir hier gucken. Außerdem finde ich im Bett liegen und Filme gucken mega entspannend. Ach ja, wenn du irgendwas brauchst, bedien dich ruhig.“   Na, was mache ich mir also Sorgen, hm?! Trotzdem schaffe ich es nur tonlos zu nicken und verziehe mich samt Rucksack ins Badezimmer... und schließe ab. Tut mir leid, aber ich kann in kein fremdes Badezimmer gehen und nicht nicht abschließen. Das geht nicht. Außerdem sind Badezimmertüren dazu da, abgeschlossen zu werden!   Im ersten Moment fühle ich mich doch etwas verloren in diesem riesigen Bad, gleichzeitig finde ich es super cool, dass Maxi sein eigenes hat. Meins muss ich mir mit Bastian teilen, was immerhin unter der Woche kein Problem ist da wir zu unterschiedlichen Zeiten aufstehen und das Haus verlassen müssen. Nun ja. Fangen wir erstmal mit was leichtem an. Ich wasche mir das Gesicht und die Hände, putze mir die Zähne und schäle mich aus meiner Kleidung. Aus meinem Rucksack krame ich das Schlaf-Tshirt das ich mir fix überziehe. Meine Shorts sieht man trotzdem noch, was mir zugegeben irgendwie ein klein wenig unangenehm ist. Außerdem wird mir erst jetzt wirklich bewusst, dass ich neben Maxi in seinem Bett liegen werde. Und so wie ich das sehe, dort auch schlafe. Zwar habe ich bereits bei männlichen Freunden übernachtet, mit Maxi ist das jedoch irgendwie anders. Ich meine, ich will ja nichts von ihm und er unternimmt auch keinerlei Annäherungsversuche, wieso mache ich mir also so einen Kopf? Vermutlich, weil ich vorher noch nie neben einem anderen schwulen Jungen eingeschlafen bin.   Okay, nochmal schnell so leise wie möglich aufs Klo, Hände waschen, die getragene Kleidung in den Rucksack stopfen und dann... tief durchatmen und wieder zu Maxi rüber gehen. Der hat bereits den Fernseher an und eine Wasserflasche aufs Bett geschmissen.   „Machs dir ruhig schon mal bequem. Ich bin dann auch gleich da. Ach und Waldmeister-Boy gehört mir!“, lacht er und boxt mir kameradschaftlich gegen die Schulter, als er ins Bad stiefelt. Ich stelle meinen Rucksack neben meine Seite des Bettes und habe doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil ich eigentlich in N... nein, ich bin bei Maxi zu Besuch, er ist auf dem besten Weg ein guter Freund für mich zu werden und es macht mir überhaupt nichts aus. Ist doch egal, in wessen Bett ich schlafe. Bei Hannah penne ich ja auch mit in ihrem Bett.   Ich krieche also unter den Zitronen-Ahoj-Brause-Boy und muss direkt an der Bettwäsche riechen weil... welches Waschmittel auch immer die nutzen, es riecht verdammt gut. Andererseits... ich habe ja ohnehin eine furchtbare Schwäche für Waschmittel. Jedenfalls ist es ein frischer, blumiger und absolut nicht maskuliner Geruch.   Leider kann ich nicht so lange über Waschmittelduft nachdenken, weil ein halb nackter Maxi sehr zeitnah wieder kommt... und er trägt nur seine Shorts, die seine Schneewittchenbeine so gekonnt in Szene setzt, dass mir etwas flau im Magen wird. Er hatte zwar mal gesagt, dass er nicht so viel Fußball spielt, ansehen tut man ihm das aber nicht. Im Gegenteil, seine Muskeln sind wohldefiniert und kommen trotz seiner blassen Haut leider viel zu gut zur Geltung. Ich ziehe vorsichtshalber den Zitrone-Boy etwas weiter hoch... bis fast über meine Nase. Entweder bemerkt Maxi es nicht, oder er kommentiert es höflicherweise nicht.   Wenig später hat er sich samt Fernbedienung neben mir ins Bett gewurschtelt und drückt ein, zwei Knöpfe bevor der Film los geht. Ich kriege jetzt schon mal Herzrasen. Zombieland... da geht’s bestimmt um Zombies, oder? Es wird also spannend!   Ich gebe mir wirklich Mühe, aber bereits eine halbe Stunde später bin ich ein nervliches Wrack und habe Krämpfe in meinen Händen, weil ich mich wie ein Irrer an der Bettdecke festkralle. Oh weia, wie peinlich ist das bitte! Als Maxi das bemerkt, lacht er sich fast kaputt, der Arsch und... strubbelt mir durch die Haare. Mir wird kurz etwas anders und ein aufkeimender Gedanke wird sofort mit allem, was ich aufbringen kann, niedergeschlagen.   „Du bist zum Niederknien süß, Konstantin.“, lacht Maxi immer noch und kringelt sich noch etwas mehr, weil Tallahassee gerade wegen den Twinkies völlig frei dreht. Zugegeben, darüber kann auch ich lachen und das macht den Film gleich viel erträglicher für mich.   Allerdings bin ich danach dann doch so erledigt, dass ich den Kopf schütteln muss, als Maxi fragt, ob wir uns noch einen Film anschauen wollen. Ich glaube, dass ich ein totaler Langweiler bin, aber... keine Ahnung, irgendwie überfordert mich die ganze Situation. Deshalb dauert es auch nicht sehr lange, bis der Fernseher aus und die Lichter gelöscht sind.   „Tut mir leid.“, maule ich leise in die Dunkelheit und drehe mich auf die Seite, damit ich Maxi ansehen kann, todesmutig wie ich bin. Ich kann ihn nur schemenhaft erkennen, aber es ist ja bekanntlich der Gedanke, der zählt.   „Mach dir keinen Kopf. Beim nächsten Mal suche ich mir wen anderes fürs Filme gucken.“   „Haha, sehr witzig.“   Maxi boxt mir mal wieder leicht gegen die Schulter, dann höre ich seine Bettdecke rascheln und kann halbwegs erkennen, dass er auf dem Rücken liegt.   „Schlaf gut Konstantin. Sollte ich im Schlaf reden oder dir den Platz wegnehmen, hau mich einfach.“   „Mit dem größten Vergnügen!“   Er schnaubt leise, sagt aber nichts mehr. Dann ist es ruhig im Zimmer und ich... ich habe schlimm Herzrasen. In meinem Kopf laufen meine Gedanken Amok. Ich meine: ich liege hier neben einem attraktiven jungen Mann, der mir vor einigen Wochen zu verstehen gegeben hat, dass er... äh, ein gewisses Interesse an mir hat. Das beruht zwar nicht auf Gegenseitigkeit, aber jetzt, wo ich völlig gefühlsneutral bin und glaube, dass ein bisschen Erfahrung sammeln ja nicht so verkehrt sein könnte... denke ich daran, dass ich neben einem attraktiven, halbnackten Typ liege, der verdammt noch mal ein gewisses Interesse an mir hat!   Wieso nutzt er diese Chance also nicht? Und wieso mache ich mir darüber überhaupt Gedanken? Bin ja nicht mit irgendeinem blöden Vorhaben hierher gekommen, sondern einfach, weil mich ein Freund gefragt hat, ob wir einen DVD Abend machen, der an meiner Peinlichkeit allerdings gescheitert ist. Naja, aber einen entspannten Abend haben wir ja auch so gehabt und jetzt liegen wir hier und...   Vielleicht muss ich mir ja was beweisen?   Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass alles besser ist, als dieses schleichende Gefühl irgendwo in meinem Herzen, das oft nachts, wenn ich alleine bin, in mir hoch krabbelt und mir das einschlafen schwer macht. Dieses Mal ersticke ich es jedoch direkt im Keim.   Todesmutig lehne ich mich etwas mehr zu Maxi – danke, liebes Bett, dass du entweder nigelnagelneu bist oder generell nicht zum Quietschen neigst – und halte dann doch kurz inne. Wenn er irgendwas bemerkt hat, so lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken.   Einen Moment später finden meine Lippen seine. Naja, mehr oder weniger. Ich treffe seinen Mundwinkel, was Maxi offensichtlich genug schockt um zusammen zu zucken als hätte man ihn schlimm verprügelt. So aus der Nähe kann ich nun erkennen, dass seine Augen offen sind.   „Konstantin...“   Nee, jetzt bitte bloß nichts sagen!   Ich küsse ihn nochmal, dieses Mal treffe ich seinen Mund und lege eine Hand an sein Gesicht. Es dauert nicht lange bis er den Kuss erwidert und wir wenig später... äh, heftig miteinander knutschen. Von wegen, wenn man noch nie jemanden geküsst hat oder es die ersten Küsse überhaupt sind ist man ganz vorsichtig und zart. Maxi und ich knutschen, als gäbe es kein morgen mehr. Keine Ahnung, wer von uns beiden zuerst damit anfängt, aber ich spüre seine Hände durch mein Haar gleiten, über meine Schultern, Seiten, meinen Rücken. Meine Hände erkunden Maxis nackten Oberkörper und finden Gefallen an den harten Muskeln, die sie ertasten können. Irgendeiner von uns schafft die Bettdecken aus dem Weg und ich werfe ein Bein über Maxi bis ich über ihm knie. Maxi seufzt in den Kuss, was irgendwie wahnsinnig aufregend ist, seine Hände schieben sich unter mein Tshirt, streichen verdammt nah am Bund meiner Shorts herum und wandern wieder höher. Wir schaffen es, mein Tshirt los zu werden, ohne den Kuss zu lange unterbrechen zu müssen. Meine Brustwarzen verhärten sich augenblicklich, als Maxi sie mit den Fingern anstupst.   Die sind allerdings auch das einzige, das an meinem Körper hart wird, wie ich irgendwie zwischen staunen und entsetzen feststellen muss. Alleine scheine ich damit aber nicht zu sein, denn so, wie ich über Maxi hocke, müsste ich eigentlich... äh, spüren können, wenn ihn unser kleines... Intermezzo anmacht. Scheint es aber nicht zu tun.   Seine Hände legen sich an meine Wangen, er beendet den Kuss. Seine Augen sind geschlossen, wie ich aus nächster Nähe feststelle.   „Wir müssen damit aufhören.“, wispert er so leise, dass ich ihn trotz der Nähe fast nicht höre. Erst glaube ich, mich verhört zu haben, aber als er seine Hände gegen meine Brust stemmt und eindeutig weg zu schieben versucht ist mir klar: das ist kein Scherz.   Trotzdem ist ein kleiner Teil von mir erleichtert, als ich von ihm runter kletter und etwas verwirrt neben ihm knien bleiben. Maxi begibt sich in eine sitzende Position und greift nach meiner rechten Hand. Ich lasse ihn.   „Konstantin, ich würde das hier jederzeit gerne vertiefen, das weißt du. Aber es wäre nicht richtig.“   Jetzt bin ich aber neugierig. Wieso? Ich weiß doch, dass er... mhh, scharf auf mich ist. Und er hat ja gerade selber zugegeben, dass er mit mir... ja, was eigentlich? Peinlicherweise wird mir erst jetzt bewusst, was wir da gerade getan haben. Also, es ist ja nichts passiert, aber wenn ich darüber nachdenke, was wir gerade eben noch getan haben, dann... ach du Schande, wo hätte das geendet?!   „Wieso?“, frage ich reichlich blöde und vielleicht eine Spur verärgert. Eigentlich möchte ich seine Antwort gar nicht hören, weil ich sie schon längst weiß. Sie spukt in meinem Kopf herum, jeden Tag, aber ich bin sehr erfolgreich darin, sie niederzuringen wie in einem Boxkampf.   „Weil du Noah liebst und es nur bereuen wirst.“   Sein Name jagt mir eine Gänsehaut über den Körper. Mein Herz schlägt schneller, meine Kehle ist trocken, ich spüre einen ganz unangenehmen Knoten im Hals.   „Er will mich nicht. Ich liebe ihn nicht mehr.“, höre ich mich sagen, aber Maxi glaubt mir genauso wenig wie ich mir selber glaube.   „Du liebst ihn seit du dreizehn bist und hast nie damit aufgehört. Ich bin nicht so unsensibel, dass ich nicht merke, dass du den letzten Monat krampfhaft versuchst, dir deine Gefühle auszureden.“   Er hat recht. Und es tut verdammt weh, es aus seinem Mund zu hören.   Nach dem Gespräch mit Noah habe ich mir die Augen aus den Kopf geheult. Die Nacht danach auch. Und die nächste. Und die ganze Woche hindurch. Ich bin ihm aus dem Weg gegangen, so gut es möglich war. Einmal habe ich versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Habe Maxis Ratschlag angenommen, mir eine schwarze, klassisch geschnittene Badehose übergezogen und bei tausend Grad im Schatten im Garten gelegen und mich gesonnt. Habe extra eine kleine Runde durch den Pool gedreht und mich nur halbherzig abgetrocknet bevor ich mich auf die Sonnenliege geschmissen und der Dinge geharrt habe, die da kommen würden. Eine Stunde später kam Noah zu Besuch, weil er mit Bastian für die Familie grillen wollte. Irgendwas hat mir gesagt, dass er hingeguckt hat, als ich mich auf den Bauch gedreht habe. Das er das dunkle Muttermal knapp über meinem Hintern gesehen und sich vielleicht doch die Lippen geleckt hat. Er hat mich nur begrüßt und Bastian geholfen, den Grill anzuschmeißen. Ich bin wenig später zu Hannah gefahren und habe mir mal wieder die Augen aus den Kopf geheult.   Da biete ich ihm praktisch an, mich zu bespringen, zeige ihm, was ich zu bieten habe und er lässt mich links liegen. Okay, Bastian ist da gewesen, das sehe selbst ich ein. Aber, verdammt, er hätte anrufen und nach mir fragen können. Er hätte die Gelegenheit, mich alleine daheim zu erwischen, nutzen können. Stattdessen ist er mir entweder aus dem Weg gegangen oder ich ihm. Und dann habe ich alles daran gesetzt, nicht mehr an ihn zu denken, mir die Gefühle für ihn auszureden, zu begraben und irgendwann einen anderen Jungen zu finden, den ich süß finde und für den ich Gefühle entwickeln kann.   Es hat nicht geklappt. Immer, wenn ich nicht einschlafen konnte, wenn Noah zu Besuch war, spukte er in meinem Kopf herum. Dann hörte ich seine Stimme, die mich freundlich, aber bestimmt ablehnte. Dann spürte ich seine Lippen auf meinen, seine Zunge in meinem Mund, seine Arme um mich, die mich festhielten.   Ich habe alles an Noah unterdrückt, begraben, doch er schaufelt sich andauernd an die Oberfläche. Ich habe mir eingeredet, dass ich ihn nicht mehr liebe, dass da keine Gefühle für ihn sind. Hannah und Maxi haben wohl ohne mich fragen zu müssen verstanden, dass sie dieses Thema nicht ansprechen sollten. Sie haben mich behandelt wie immer.   „Es ist doch eh hoffnungslos“, bringe ich hervor und will eigentlich nicht weinen, aber ich spüre meine Augen feucht werden, „ich habe keine Chance bei ihm, weil ich der kleine Bruder seines besten Freundes bin. Es ist besser, wenn ich mir ihn aus den Kopf schlage.“   „Aber nicht mit mir, Konstantin. Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich kein Ersatz sein möchte. Wenn da was zwischen uns laufen sollte, was rein sexuell bleiben würde, dann weil wir beide es wollen. Nicht, weil du dich in etwas stürzen willst, um dir auszureden, dass du Noah liebst.“   Es ist peinlich, aber ich fange furchtbar an zu heulen. Maxi zieht mich in seine Arme und hält mich ganz fest. Irgendwann finden wir uns in einer liegenden Position ein, eng umschlungen, während ich mich an seiner Brust ausheulen darf. Er zieht die Ahoj-Brause-Jungs über uns und streichelt mich, bis ich irgendwann wohl eingeschlafen sein muss. Nicht sexuell, sondern lieb, behütend und tröstend.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Der Morgen nach der Übernachtungsaktion ist seltsam entspannt gewesen. Also, soll heißen, ich bin etwas verwirrt gewesen in den Armen eines anderen Jungen aufzuwachen, aber gestört hat es mich nicht. Eigentlich ist es recht angenehm gewesen, wenn ich ganz ehrlich bin. Maxi hat mich ganz normal behandelt und wir haben ein wenig rum gealbert... naja, einen Guten-Morgen-Kuss hat er mir aufdrücken müssen, dann ist Schluss gewesen.   Wir haben dann mit seinen Eltern gefrühstückt, die wirklich sehr nett gewesen sind. Und mich scheinbar mästen wollten, so viel, wie die aufgetischt haben. Ich glaube, seine Mama hat angenommen, dass wir... äh, zusammen sind oder so. Die hat mich alles mögliche gefragt, auch über Beziehungen und seit wann ich denn auf Jungs stehe und all so was. Mir ist das ja sagenhaft peinlich gewesen, aber Maxi hat das schließlich unterbunden. Mein Retter in der Not!   Gegen Mittag habe ich mich dann auf den Heimweg gemacht, wo Bastian gerade dabei gewesen ist, das Wohnzimmer von Bierflaschen, Gläsern und Snacks zu befreien. Meine Eltern haben derweil die Küche aufgeräumt. Wir haben nicht miteinander gesprochen und das Wochenende verlief so ruhig und unspektakulär wie noch nie. Mit Hannah habe ich schlussendlich nur telefoniert und mich entschuldigt, dass sie alleine feiern gehen musste. Im Nachhinein ist das auch okay gewesen und... naja, ich erzähle ihr alles, also habe ich ihr von dem Abend mit Maxi erzählt. Sagen wir: sie ist wenig begeistert gewesen und hat sich so was wohl schon gedacht gehabt.   Wo wir also wieder zum Anfang meiner Misere kommen.   Ich bin immer noch in Noah verliebt und obwohl er mir einen sehr deutlichen Korb gegeben hat, kriege ich ihn nicht aus meinen Kopf. Sobald ich an ihn denke, rast mein Herz und in meinem Kopf spielen sich süße, aber auch nicht sehr jugendfreie Szenen ab. Es ist zum Heulen. Ich frage mich, nicht zum ersten Mal, was es denn braucht, damit ich Noah vergessen kann. Also, meine Gefühle für ihn. Gleichzeitig hoffe ich immer noch auf ein Happy End.   Das einzige, was mir bleibt, ist Noah einfach zu überrumpeln. Ich meine, er hat mich ja geküsst, oder etwa nicht?! Und zu dem Zeitpunkt bin ich auch schon Bastians kleiner Bruder gewesen, also ist dieses Argument inzwischen etwas veraltet. Und irgendwie geht mir dieser eine Satz nicht aus dem Kopf... das er Bastian nicht mehr in die Augen sehen könnte. Natürlich impliziert das ja für mich, dass er schon gerne was mit mir anfangen wollen würde, wegen Bastian aber zu viel Schiss hat. Möglicherweise sollte ich aufhören, mir alles so zurecht zu legen wie ich das gerne hätte, aber... wenigstens hilft mir das durch den Tag.   Und vor allem durch die Schule, die mir plötzlich wieder so furchtbar anstrengend vorkommt, als es nach dem Wochenende, das ansonsten recht ereignislos vorüber ging, wieder mit lernen und lernen und nochmals lernen weiter geht. Mathe fällt mir plötzlich auch wieder schwer. Alles ist so viel einfacher gewesen, als ich Noah aus meinem Kopf verbannt habe, aber jetzt, wo er dort wieder Dauergast ist, kann ich mich einfach auf nichts konzentrieren.   Das muss endlich ein Ende haben. Und das schaffe ich nur, wenn ich Noah davon überzeugen kann... naja, eine Beziehung mit mir anzufangen. Ich glaube nämlich immer noch, dass da irgendwas ist. Vielleicht rede ich es mir auch so erfolgreich ein, dass ich selber daran glaube und fest davon überzeugt bin, aber... alles andere möchte ich mir halt einfach nicht ausmalen, okay?!   Im Übrigen ist Hannah ganz schwer auf Maxi zu sprechen. Die geht ihm schon die ganzen letzten Tage aus dem Weg und weicht jedem Gespräch über ihn aus. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sauer ist, weil Maxi und ich am Wochenende... naja, geknutscht und ein klein wenig gefummelt haben. Auch wenn ja gar nichts passiert ist! Warum sie sich mir gegenüber aber normal verhält, verstehe ich nicht? Habe sie natürlich gefragt, aber darauf antworten tut sie nicht. Überhaupt verhält Hannah sich ein klein wenig seltsam, wenn ich das mal so in den Raum werfen darf. Wenn wir miteinander quatschen, hat sie ihr Handy in der Hand und guckt immer mal wieder drauf. Normalerweise tut sie das nie. Es gibt ja viele Menschen, die es super unhöflich finden, wenn man aufs Handy schaut während man mit Freunden oder Familie oder wem auch immer zusammen ist, mich persönlich stört das aber eher nicht. Gut, wenn ich gerade etwas wirklich sehr wichtiges berichte und dabei volle Aufmerksamkeit von meiner besten Freundin benötige, wäre ich vielleicht etwas verärgert. Aber generell finde ich es völlig legitim, wenn man mal zwischendurch kurz aufs Handy schaut – es könnte ja ein wichtiger Anruf drauf sein, den man verpasst hat.   Hannah wirkt nicht so, als wäre es super wichtig, wenn sie auf ihr Handy schaut, aber... naja, interessiert ist sie wohl schon, oder? Aus irgendeinem Grund traue ich mich aber auch nicht sie zu fragen. Das ist eine ganz seltsame Erfahrung, weil Hannah und ich eigentlich über alles reden. Da sie aber nicht von sich aus etwas sagt, möchte ich sie auch nicht drängen. Gleichzeitig stellt sich mir die Frage: wieso sagt sie mir nicht, warum sie gefühlt alle zwei Minuten auf ihr Handy guckt? Man möchte meinen, dass mir die Freundschaft mit Hannah viel über die weibliche Denkweise verraten hat, aber... sind wir mal ehrlich: weibliche Geschöpfe zu verstehen ist wie das Ende des Universums zu finden. Unmöglich.   Ich befinde, dass Hannah schon mit mir reden wird, wenn ihr irgendwas auf der Seele liegt. Vielleicht ist es ja auch nur vorübergehend. Muss ja auch nichts Wichtiges oder so sein.   Mit diesen Gedanken kann ich mich dann auch wieder auf die Geschichtsklausur konzentrieren, die wir seit einer halben Stunde schreiben. Naja, ich sollte mal besser mit schreiben anfangen.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Fast so sehr wie Noah beschäftigt mich Hannah in den folgenden Wochen immer mehr. Gott, das klingt so fies, aber Hannah verhält sich wirklich seltsam. Wirklich, wirklich seltsam. Sie hat mir inzwischen vier Verabredungen absagen müssen, aber keine Gründe dafür genannt. Wäre ich ihr fester Freund, würde ich sofort den Braten riechen. Ich bin aber nur ihr bester Freund und frage mich, ob ich irgendwas verpasst habe? Ich meine, Hannah und ich kennen uns in und auswendig, wir vertrauen uns intimste Geheimnisse und Gedanken an und plötzlich findet meine beste Freundin irgendwelche Gründe, wieso sie mich viermal in Folge doch nicht treffen kann?   Letzte Woche bin ich so verzweifelt gewesen, dass ich Maxi angerufen habe. Wenn Hannah schon nicht mit mir redet, brauche ich einen guten Männerrat. Habe ich jedenfalls gedacht. Aber Maxi anzurufen ist keine gute Idee gewesen – zumindest nicht in dem Moment. Denn während wir miteinander gesprochen haben, ist mir irgendwann ein seltsames rascheln und noch seltsamere Geräusche aufgefallen. Maxi hat irgendwann ein lachen unterdrücken müssen und ich bin mir sicher, ein Hör auf gehört zu haben. Schließlich habe ich dann gefragt, ob ich vielleicht störe und Maxi der Penner hat mir unverblümt eröffnet, dass er gerade Besuch hat. Dabei hat er das Wort Besuch auf eine Art und Weise betont, dass ich sofort gewusst habe, was er meinte. Und dann ist mir bewusst geworden, dass ich die beiden wohl bei irgendwas gestört haben muss was unsagbar peinlich war.   Wir haben dann sehr schnell aufgelegt und ich mich furchtbar geschämt – warum auch immer. Im Übrigen hat er mir nicht sagen können, was mit Hannah los ist weil die beiden ohnehin nicht so viel miteinander reden. Dabei sind sie am Anfang doch noch so gut miteinander ausgekommen. Maxi findet aber, ich soll Hannah einfach ansprechen. Ich finde, Maxi hat keine Ahnung von Mädchen und seinen Ratschlag mal besser nicht befolgt.   Mein Leben ist gerade überaus kompliziert, wie ich finde. Der Elefant Noah steht immer noch im Raum und Hannah scheint sich inzwischen dazu gesellen zu wollen. Haben andere Jungs in meinem Alter eigentlich genau dieselben Probleme? Naja, vielleicht nicht genau dieselben, aber ähnliche? Wenn es nach mir ginge, könnte sich das alles mal beruhigen. Vor allem die Sache mit Noah. Hannah und Maxi geben mir keine neuen Ratschläge und Oskar zu fragen ist genauso sinnlos.   Immer bleibt alles an mir hängen, was ich wahnsinnig unfair und unangebracht finde. Aber wenn Noah keinen Schritt auf mich zumacht und ich immer noch der festen Überzeugung bin, dass er mich vielleicht doch ein kleines bisschen toll findet, muss ich halt das Ruder in die Hand nehmen. Das kostet mich alles an Selbstbewusstsein, das ich aufbringen kann, aber länger davor davonlaufen kann und will ich nicht.   Wie heißt es so schön: irgendwann muss man ja mal Nägel mit Köpfen machen. Und ich finde, dass irgendwann jetzt ist.   Ich sage meinen Eltern, dass ich mal wieder bei Maxi übernachte. Der ist eingeweiht und keiner wird sich wundern, wieso ich weiter weg bin und eventuell länger nach Hause brauchen werde, als wenn ich bei Hannah übernachten würde. Und meinen Samstag kann ich sinnvoller verbringen, als daheim rum zu hocken – Hannah hat nämlich eh keine Zeit und Maxi daheim zu besuchen ist gerade nicht unbedingt das, was ich in naher Zukunft wiederholen möchte.   Es ist später Nachmittag als ich in der Bahn sitze und Noahs Festnetznummer wähle. Mein Herz schlägt mir mal wieder bis zum Hals, ich atme tief durch und sage mir, dass alles okay sein wird. Am Ende des Tages werden Noah und ich zusammen sein – ganz bestimmt. Ich hab lange genug auf ihn gewartet. Und er hat sich lange genug zurückgehalten, wie ich finde. Es wird Zeit, dass er mich wieder küsst.   Nach zweimal klingeln wird endlich abgenommen und bilde ich es mir nur ein, oder klingt Noahs Stimme tatsächlich etwas glücklich?   „Hi Konstantin.“   Also, irgendwie bin ich ja etwas überrascht. Wieso weiß der, dass ich ihn anrufe? Ich habe ihn doch erst einmal angerufen und... oh, wow, hat er meine Handynummer etwas direkt ins Telefonbuch seines Festnetzanschlusses eingespeichert?! Ich will durch die Leitung kriechen und ihm um den Hals fallen.   „Hi Noah... wie geht es dir?“   Das ist immer ein ganz guter Einstieg und völlig unverfänglich.   „Ganz gut. Etwas gestresst, weil ich diesen Bericht für die Arbeit fertig schreiben muss. Ich hasse es, wenn ich Arbeit mit nach Hause nehmen muss, aber sonst wird der Kram ja nie fertig. Und dir?“   „Oh weh, ich kann mir Besseres vorstellen, was man an einem Samstagnachmittag machen möchte. Ich hoffe es ist nicht all zu schlimm. Mir geht es gut, denke ich.“   Grr, irgendwie ist das ganz furchtbarer Smalltalk, aber was solls. Intimer können wir ja nachher noch werden.   „Wenn ich Glück habe, bin ich in zwei, drei Stunden fertig. Weswegen rufst du denn eigentlich an?“   Seine Stimme klingt nun überrascht. Nicht negativ überrascht, sondern eher positiv. Vielleicht ist es zu viel gesagt, aber ich glaube, ihm scheint ein Stein vom Herzen zu fallen – jedenfalls hört sich seine Stimme ein bisschen so an. Kann aber auch sein, dass ich mir das alles nur einrede.   „Äh... ich bin gerade in der Nähe und... naja, dachte, ich könnte dir einen kleinen Besuch abstatten.“   Da, es ist raus!   Noah schweigt eine kleine Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Weiß nicht, wie ich das deuten soll? Das ich ihn mehr oder weniger anlüge und eher auf dem Weg zu ihm bin anstatt in der Nähe, muss er ja nicht wissen. Ich werde mich nicht abwimmeln lassen, auch wenn ich ein klitzekleines schlechtes Gewissen habe, ihn bei seiner Arbeit zu stören.   „Ich muss diesen Bericht auf jeden Fall fertig kriegen.“, gibt er nachdenklich zur Antwort und ich hasse sein Verantwortungsbewusstsein. Jedenfalls in dieser Hinsicht!   „Keine Sorge, ich werde dich nicht ablenken! Hab eh ein Buch dabei und will auch gar nicht lange stören...“, lüge ich und hoffe, dass er einlenkt. Ein Buch habe ich tatsächlich dabei – bin eben gut vorbereitet für alle Eventualitäten!   Meine Hoffnungen werden erhört.   „Okay, ein Karamell-Cappuccino wird wohl drin sein.“   „Zwei?“   Noah lacht und ich lache mit. Es tut unheimlich gut.   „Wir sehen uns dann gleich?“   „Ja. Gib mir etwa... äh... zwanzig Minuten.“   Ich glaube, Noah zieht gerade verwirrt seine Augenbrauen hoch. In der Nähe heißt wohl nicht gerade zwanzig Minuten entfernt...   „Alles klar. Bis nachher, Konstantin.“   „Bis dann, Noah.“   Wir legen zeitgleich auf und ich finde, das sagt ja wohl alles?! Muss mein Handy mal wieder an meine Brust drücken und bin unglaublich erleichtert, dass alles so easy geklappt hat. Und stolz bin ich, weil ich mit Noah reden konnte, ohne völlig nervös zu sein. Zwar klopft mein Herz ein paar Takte schneller, aber das ist ja wohl normal. Vor ein paar Wochen hat es mich noch gestört, als er meinen Namen gesagt hat weil ich mir vorgekommen bin wie ein kleines Kind. Jetzt ist mir ganz warm und mein Bauch kribbelt angenehm. Ich liebe es, wenn Noah meinen Namen sagt. Ich liebe es, seinen Namen zu sagen. Noah.   Überrascht bin ich allerdings. Unser letztes Gespräch ist ja nicht gerade positiv verlaufen und mein Gesicht wird etwas warm als ich mich erinnere, dass ich ihn zuletzt als Arsch bezeichnet habe... hey, ich bin emotional aufgewühlt und danach ein völliges Wrack gewesen, okay?! Da rutscht einem schon mal etwas raus, das man eigentlich gar nicht so meint... und so, wie Noah gerade mit mir gesprochen hat, scheint er nicht sauer zu sein.   Damit kann ich ganz gut leben und alles andere wird sich schon ergeben. Daran muss ich jedenfalls ganz fest glauben, bevor die Unsicherheit wieder in mich kriecht und ich in Noahs Gegenwart furchtbar nervös werde.   Ich schreibe Hannah eine Nachricht, dass ich auf dem Weg zu Noah bin und heute mit ihm zusammen kommen werde. Das habe ich mir fest vorgenommen. Es ist Ende September, ich habe ihm ja wohl genug Zeit gegeben, um über Frank hinweg zu kommen. Und ich bin lange genug um ihn herum geschlichen. Jetzt ist es an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen!   Trotzdem schlottern mir etwas die Beine, als ich dann seine Klingel betätige und er mir aufdrückt, ohne die Gegensprechanlage zu nutzen. Das ist ein Zeichen!! Der Aufzug braucht heute Ewigkeiten, jedenfalls kommt es mir so vor, aber als ich endlich das Stockwerk in dem Noah wohnt erreiche, kann ich gar nicht schnell genug zu seiner Tür rennen. Noah trägt ein zuhause-entspannen-Outfit. Tshirt und Jogginghose. Er ist barfuß und... ich muss nicht erwähnen, dass er unglaublich gut aussieht, oder?!   Was mir sofort auffällt, ist sein Lächeln: warm, ein bisschen überrascht aber... erleichtert?! Scheinbar merkt er, dass ich ihn etwas zu genau mustere, denn seine Gesichtszüge entspannen sich sofort. Ich gehe auf ihn zu, schaue zu ihm hoch und... umarme ihn zur Begrüßung.   „Hey.“, nuschele ich gegen seine Schultern und muss ihn ein klein wenig drücken. Noah scheint etwas unsicher zu sein, erwidert die Umarmung aber – wenn auch viel zu kurz und viel zu kameradschaftlich. Er lässt mich rein, schließt die Tür hinter mir und ich schlüpfe aus meinen Schuhen und meinem Hoodie, den ich ordentlich aufhänge. Meinen Rucksack stelle ich neben die Sitzbank in den Flur und folge Noah in die Küche. Er füllt den Wasserkocher mit frischem Wasser und stellt ihn zum Kochen an während er eine große Tasse für mich vorbereitet. Ich schaue auf seine Hände und wünsche mir, er würde mich berühren.   „Nimmst du oft Arbeit mit nach Hause?“, starte ich das Gespräch und lehne mich neben den Wasserkocher an die Küchenzeile – nah genug an Noah, um Vertrautheit auszudrücken ohne aufdringlich zu sein.   Noah verdreht seine hübschen Augen.   „Ich versuche es zu vermeiden, aber... manchmal geht es nicht anders. Einer der anderen Vollzeit-Kollegen ist krank und unsere Teilzeit-Kollegin ist schwanger.“   Soziale Berufe... was erwartet man?! Noah bleibt mir schräg gegenüber stehen, die Arme vor der Brust verschränkt während wir beide auf das fertig gekochte Wasser warten.   „Klingt stressig... sind die Kids denn wenigstens... brav?“   „Wie brav man halt als Teenager sein kann.“, grinst er mich an und ich muss schnauben und ihm mutig gegen den Arm boxen.   „Sehr witzig!“   Trotzdem lachen wir beide und als das Wasserkocher fertig ist... also, ich will zur Seite gehen, leider bewegt Noah sich in dieselbe Richtung und wir stoßen leicht gegeneinander. Es wundert mich ein bisschen, dass auch ich peinlich berührt eine Entschuldigung nuschele und schnell aus dem Weg gehe. Noah weicht meinem Blick aus. Oh Mann, hoffentlich wird das jetzt keine seltsame Wendung hier nehmen! Ich will doch endlich mein verdammtes Happy End, das ich mir nach vier Jahren wohl redlich verdient habe.   Mit dem Cappuccino gehen wir schließlich ins Wohnzimmer, das einem klitzekleinen Schlachtfeld ähnelt. Auf dem Couchtisch liegen zwei fette Ordner, dicke Wälzer, die sicherlich irgendwas mit Pädagogik und Psychologie zu tun haben, eine Flasche Wasser, eine große Tasse und eine Zupf-Box mit Taschentücher. Auf der Couch liegt aufgeklappt ein ultradünnes Notebook. Daneben irgendein Paragraphen-Rechts-Buch. Ein klein wenig Mitleid habe ich ja schon während ich mich neben Noah setze – dieses Mal mit ein klein wenig mehr Sicherheitsabstand.   „Wenn du später noch einen Cappuccino möchtest, kannst du dir ruhig einen machen. Du weißt wo alles ist?“   Ist sehr verwerflich, dass ich erst verstehe, ich solle es mir ruhig machen? Okay, Konstantin, reiß dich zusammen. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, auch wenn Noah mich so furchtbar aufmerksam ansieht, dass ich fürchte, er könnte meine Gedanken lesen.   „Ja, danke. Hoffentlich hast du das da bald geschafft.“   Ich deute vage mit meiner Hand auf den ganzen Arbeitskram, den Noah seufzend mustert. Dann zieht er sein Notebook auf seine Knie und fängt an zu tippen.   Damit ist er die nächste Stunde beschäftigt, ich habe nach einer Viertelstunde schweigend Cappuccino trinken mein Buch geholt und mich aufs Sofa gelegt. Glücklicherweise ist die Sofalandschaft so groß, dass ich mich neben Noah auf den Bauch legen und bequem mein Buch lesen kann. Und wenn er heimlich nach mir schielen sollte, hat er einen perfekten Blick auf meinen Hintern, der in der engen Jeans sicherlich gut zur Geltung kommt. Nicht, dass ich ein sonderlich knackiges Hinterteil hätte, aber sind wir ehrlich: enge Kleidung hilft fast immer.   Nach einer weiteren Stunde kann ich nicht mehr lesen, weil mich Noahs getippe wahnsinnig macht und ich mich auf kein einziges Wort mehr konzentrieren kann. Ich bringe mein Buch also wieder weg und mache mir lieber einen neuen Cappuccino. Ob ich gleich gehen muss, weil nur zwei ausgemacht waren? Ich bleibe lieber mal in der Küche und muss mir, aus welchen absurden Gründen auch immer, vorstellen, wie Noah mit Frank gelebt hat. Die beiden haben zwar nicht zusammen gewohnt, sich aber sicherlich oft untereinander besucht und einige Zeit beieinander übernachtet, oder? Ob sie sich hier in der Küche geküsst haben? Gemeinsam gekocht? Während ich mich hier umsehe und auch die Tasse in meiner Hand anschaue frage ich mich, ob Frank wohl daraus getrunken hat.   Ich bin furchtbar eifersüchtig, was nicht nur peinlich, sondern auch völlig unangebracht ist. Die Sache mit den beiden ist vorbei, trotzdem ertappe ich mich dabei darüber nachzudenken, wie es zwischen ihnen gewesen sein muss. Süß verliebt, wie die erste große Liebe, die zumindest Frank für Noah war? Andererseits... die beiden sind ja zwei erwachsene Männer, im Berufsleben (auch wenn Noah noch Student war, als sie zusammen kamen) und haben sicherlich ganz andere Themen gehabt als verliebte Teenies sie wohl haben.   Ob Noah noch Kontakt mit Frank hat? Nein, sicherlich nicht. Der hat ihn immerhin betrogen und ich glaube, Noah gut genug zu kennen um sagen zu können, dass er so etwas nicht verzeiht. Sonst hätte er ja auch nicht Schluss gemacht. Ob Frank versucht hat ihn zu kontaktieren? Hat Frank versucht, sich zu entschuldigen? Versucht, ihn zurück zu gewinnen? Soweit ich das beurteilen kann, habe ich ihre Beziehung immer als glücklich empfunden. Wieso ist Frank also fremdgegangen? Was, zur Hölle, hat ihn dazu verleitet, mit einem anderen Kerl als Noah zu schlafen?!   Naja gut, ich bin ihm fast dankbar, weil Noah deshalb wieder Single ist und mir das ja nur in die Hände spielt. Aber trotzdem.   Ein bisschen angewidert bin ich von meinen Gedanken dennoch, deshalb gehe ich mal lieber wieder ins Wohnzimmer zurück. Noah bemerkt mich gar nicht als ich mich wieder neben ihn setze und einfach nur anstarre.   Noah zu beobachten könnte ein neues Hobby von mir werden. Selbst wenn er so wie gerade die Augenbrauen streng zusammen gezogen hat, die Unterlippe etwas vorschiebt, weil er angestrengt nachzudenken scheint... dann tippt er weiter, blättert in dem dicken Buch herum, das neben ihm auf dem Sofa liegt, trinkt einen Schluck Cappuccino, tippt weiter.   Ich sollte ihn nicht umwerfend sexy finden, während er arbeitet. Ich sollte ihn nicht ablenken oder stören, obwohl ich genau das tue, indem ich neben ihm sitze und ihn anstarre als würde er andernfalls verschwinden. Ob er merkt, dass ich ihn die ganze Zeit beobachte? Bestimmt. Also ich würde das jedenfalls aus dem Augenwinkel sehen wäre ich an seiner Stelle.   Oh, er überschlägt ein Bein. Seine Jogginghose ist am Knöchel etwas hoch gerutscht. Ob es sehr peinlich ist, dass ich das super sexy finde? Naja gut, ich finde alles an Noah sexy. Und das er andauernd so unverschämt gut aussieht, ist super unfair und stört meine Konzentration. Ob er weiß, wie nervös er mich macht? Wie sehr er mich aufregt – positiv?   Ich schlürfe leise von meinem Cappuccino und überlege, ob ich einfach über Noah herfallen soll. Würde er mich abweisen? Jetzt erst recht, nachdem er mir ja sehr deutlich einen Korb gegeben hat? Oder ist da nicht trotzdem irgendwas, nur er zu ängstlich um es zuzulassen? Zu besorgt wegen Bastian?   Es ist Zeit, das herauszufinden.   Und ich kratze alles an Mut zusammen, den ich in mir finden kann.   Stelle meine Tasse weg, lecke mir die Lippen und fasse mir ein Herz. Jetzt oder nie. Und ewig lange will ich auch nicht warten, bis er mit diesem Bericht fertig ist. Den kann er immerhin auch noch später schreiben. Morgen zum Beispiel.   Deshalb strecke ich meine Hand aus, klappe sein Notebook zu und schiebe es weg und ernte einen sehr verwirrten Blick, der... naja, ich glaube, er sieht erschrocken aus, als ich mich rittlings auf seinen Schoß setze, sein Gesicht in meine Hände nehme und küsse. Mann, ich bin so unglaublich cool. Also, ich glaube, ich muss so wirken, aber eigentlich mache ich mir fast ins Hemd. Wenn ich eins an hätte. In diesen paar Sekunden denke ich bereits, dass Noah mich wegstoßen könnte, wenn es ihm wirklich zuwider läuft. Er hätte direkt los meckern können, was mir denn wegen seines Notebooks einfiele. Hat er aber alles nicht gemacht. Und der Kuss dauert mindestens schon ein paar Sekunden und insgesamt ist bestimmt schon eine Minute rum. Kann mir keiner erzählen, dass er das nicht möchte.   Ah, er regt sich... seine Hände greifen nach meinen Armen und üben einen gewissen Druck aus, als würde er mich nun doch wegschieben und die ganze Situation unterdrücken wollen. Ich rechne schon mit dem Schlimmsten, da schieben sich seine Hände über meine Arme in meinen Nacken, eine greift in mein Haar an meinem Hinterkopf, die andere wandert an meinen Rücken und dann explodiert alles und er küsst mich und ich schwebe im Himmel und will nie mehr woanders sein.   NOAH KÜSST MICH UND ER WILL DAS.   Mir entfährt dieser seltsame seufz-stöhn-wimmer-Laut der sich zwischen unseren Lippen verliert, unsere Zungen finden zueinander als er mir die seine mal wieder in den Mund schiebt und ich glaube, Sternchen zu sehen. Mann, das hier ist noch viel besser als der erste Kuss weil... damals ist Noah vielleicht überrumpelt gewesen. Gut, jetzt vielleicht auch, die Situation ist aber eine gänzlich andere. Ich versuche, mich so nah an ihn zu schmiegen wir nur möglich, genieße das Gefühl seines Oberkörpers an meinem, seine Hand an meinem Rücken... und die in meinem Haar, oh Mann, das macht mich total fertig. Ich muss mir vorstellen, wie er meinen Kopf zurückzieht und meinen Hals küsst und... oh weia!   Weil ich langsam knapp bei Atem bin, muss ich den Kuss einstweilen beenden und meine Stirn gegen die seine lehnen. Noah sieht mich an. Ich sehe ihn an. Und irgendwas in seinem Blick sagt mir, dass sich etwas verändert hat. Trotzdem muss ich es wissen. Um Gewissheit zu haben.   „Noah“, wispere ich ganz leise, weil wir uns ohnehin so nah sind, „ist das jetzt wieder ein Fehler?“   Er schweigt einen Moment, der mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Meine Hände sinken mutlos auf seine Schultern und ich bin darauf vorbereitet, meine Schuhe anzuziehen und nach Hause zu fahren. Dann ist es an Noah, mein Gesicht in seine Hände zu nehmen und so, wie er mich ansieht, bin ich froh, dass ich ohnehin gerade sitze. Naja, knie. Denn so weich wie meine Beine inzwischen sind und spätestens durch die Art und Weise, wie er mich ansieht geworden sind, wäre ich schon dreimal umgekippt.   „Das war es nie.“   Okay, ich kann dann jetzt glücklich sterben bitte!!   Noah unterbindet jedwedes Wort, das ich hätte vorbringen können, indem er mich ziemlich heftig küsst. Also, wow, das eben ist zärtlich und süß gewesen aber jetzt... hallelujah! Gott, geht mir gerade einer ab. Ich gebe mein bestes, um den Kuss genauso leidenschaftlich zu erwidern aber... naja, ich hab ja nun noch nicht so viel Erfahrung was das angeht. Noah hingegen weiß genau was er tut und tun muss um mich um den Verstand zu bringen. Seine Hände wandern von meinem Gesicht in meinen Nacken, an meinen Rücken bis hinab zum Saum, schieben sich unter mein Tshirt und... äh, ich bin schon so kurz davor.   Peinlich berührt und weil es in meiner Jeans langsam unbequem wird, versuche ich irgendwie heimlich herum zu rutschen, mein Gewicht zu verlagern, damit es etwas erträglicher wird aber... heimlich geht nicht so gut, wenn man auf jemand anderes Schoß sitzt. Und Noah scheint wohl geübter beziehungsweise einfach viel erfahrener in solchen Situation zu sein denn... au weia, ich spüre, wie er sein überschlagenes Bein normal aufstellt und seine Hände... ach du Schande! Das nesteln am Knopf meiner Jeans ist eine Sache, das öffnen des Reißverschlusses vernehme ich so laut, als würde neben mir ein Düsenjet starten, mein Herz bollert wie eine verdammte Stampede in meiner Brust, meine Haut kribbelt, ich habe Gänsehaut, mir ist heiß und als ich Noahs Hand in meinem Schritt spüre gehen mir sämtliche Lichter aus.   Also dafür, dass er mich vor ein paar Wochen noch abgelehnt und gesagt hat, dass nie etwas zwischen uns laufen wird, geht er jetzt aber ganz schön ran. Andererseits... ich befinde mich halt in einer sehr misslichen Lage und angenehm ist das nicht. Seine Hand, die über den gespannten Stoff meiner Shorts streicht, allerdings schon. Gott, ich will das er mich richtig anfasst! Deshalb richte ich mich ein bisschen mehr auf und versuche mein Gewicht auf meinen Wackelpudding-Knien zu halten während ich Shorts und Jeans etwas runter schiebe, bis mir beides irgendwo unterm Po hängt. Zugegeben, es ist mir ein wenig peinlich, so entblößt auf Noah zu hocken... vielleicht liegt es am Altersunterschied, ein bisschen zieren tue ich mich schon. Falsche Scheu wird jedoch in dem Moment über Bord geworfen, als ich Noahs Hand wieder spüre und ach du guter Gott, das wird nicht lange dauern, wie ich peinlich feststellen muss!!   Mir fällt es ein wenig schwer, unser rumgeknutsche aufrecht zu erhalten, deshalb lehne ich irgendwann meinen Kopf an seine Schulter und schlinge meine Arme um ihn. Noah küsst meinen Hals, saugt ein wenig daran herum, seine andere Hand, die nicht gerade mit meinem Schwanz beschäftigt ist, hält mich sanft und doch sicher am Rücken fest. Ich atme bereits nach ein, zwei Minuten schwer und finde, dass Noah mir viel besser einen runter holen kann als ich mir selber. Das hier ist tausendmal besser.   Leider habe ich nicht bedacht, dass das ja auch alles in etwas bestimmtem endet... also, natürlich ist mir das klar, trotzdem möchte ich vor Scham im Erdboden versinken als mein Unterleib beim Höhepunkt entzückt nach vorne, oben, in Noahs Hand stößt und... äh... ich glaube, nein, ich bin mir sicher, dass mein Sperma nicht nur auf meinem Tshirt landet. Ich glaube, diese ganze Aktion hat nicht einmal fünf Minuten gedauert was mindestens genauso peinlich ist.   Überwältigt von meiner Scham will ich nichts anderes, als weglaufen. Deshalb rutsche ich nervös etwas hin und her und versuche Distanz zwischen uns zu bringen – Noah lässt mich aber nicht. Seine eine Hand... äh, streichelt mich noch immer zwischen meinen Schenkeln was wirklich sehr angenehm und irgendwie entspannend ist, der andere Arm ist um mich geschlungen, seine Hand an meinem Rücken drückt mich fest an ihn.   „Ich... Noah, dein Tshirt, ich...“, stammele ich ultra-verlegen vor mich hin und bin froh, dass er mein Gesicht nicht sehen kann, bis er... au je, er dreht den Kopf zu mir, seine Hand, die nicht in südlicheren Gefilden beschäftigt ist umfasst mein Kinn und ihn anzusehen ist... Gott, mir ist das so furchtbar peinlich!! Wo ist das Loch im Boden, in dem ich jetzt gerne verschwinden möchte?!   „Ich werte das als Kompliment. Außerdem habe ich eine Waschmaschine.“, zwinkert er mich an, was ich irgendwie wahnsinnig lieb von ihm finde, andererseits... ich habe gerade sein Tshirt voll gewichst und er ist so locker und es stört ihn nicht und... also, so entspannt würde ich auch gerne sein!   Trotzdem ist es an der Zeit, mich von ihm zu befreien und als er von mir ablässt, stehe ich mit zitternden Beinen auf, will meine Blöße bedecken, da hält Noah mich an den Handgelenken fest und somit davon ab, meine Shorts und Jeans wieder ordentlich anzuziehen. Sein Mund findet sich an meinem Bauch ein, knapp unter meinem Tshirt, knapp oberhalb gar zu intimen Bereichen. Du Heiliger, ich will am liebsten schon wieder...!   Etwas verwirrt, hauptsächlich aber entzückt, streichele ich ihm über den Kopf. Gleichzeitig mache ich mir sofort Gedanken, weil... erwartet er von mir, dass ich ihm den Gefallen erwidere? Ist er überhaupt erregt?! So wie er da seinen Kopf im Weg hat, kann ich das leider nicht sehen und als ich auf seinem Schoß hockte, habe ich auch nichts dergleichen gespürt. Ob ich ihn vielleicht doch nicht scharf mache? Außerdem, was ist das jetzt gewesen? Ich meine, er hat den Kuss zugelassen, mir einen runtergeholt, er knutscht gerade sehr aufreizend an meinem Bauch herum und seine Hände schieben sich über meine Schenkel zur Shorts und Jeans und... er will mich ausziehen?!   Etwas unbeholfen versuche ich mich wegzudrehen.   „Wir... äh, wir sollten vielleicht darüber reden...“, entfährt es mir blöde und ich muss beinahe selbst den Kopf über meine eigene Blödheit schütteln. Ich sollte die Klappe halten und genießen. Noah scheint wohl ähnlich zu denken als er den Kopf hebt und mich mit skeptisch hochgezogener Augenbraue ansieht.   „Du willst immer reden, Konstantin. Können wir das hinterher machen?“   Hinterher?! Was...   Vermutlich gucke ich ihn genauso entsetzt an wie ich mich fühle, denn er lacht leise und tätschelt mir liebevoll den Po, was mich kaum mehr erröten lassen kann. Mein Schädel glüht wie ein kleiner Ofen vor sich hin.   „Entspann dich. Ich bin genauso nervös wie du.“   Haha, das glaube ich nicht! Ehrlich, Noah ist so souverän und jedenfalls äußerlich entspannt, der hat wirklich die Ruhe weg.   Scheinbar merkt er, dass ich nicht weiß wohin mit mir, deshalb nimmt er mir diese Entscheidung und alles andere auch ab. Ich verliere Shorts und Jeans, dann steht er auf was wegen des Couchtisches direkt hinter mir etwas eng ist und zieht mir auch das Tshirt aus. So entblößt vor Noah zu stehen ist... peinlich, ungewohnt, vielleicht etwas beschämend, aber ebenso aufregend. Mir wird ganz anders. Dann zieht er sein Tshirt aus, auf dem ich sehr eindeutige Flecken entdecke und nimmt meine Hände, um sie an seine Hüften zu legen. Direkt auf den Bund seiner Hose. Ich kann seinem Blick kaum begegnen während er mich unentwegt ansieht. Was denkt er wohl gerade?   Mann, mein Kopf ist so leer. Nein, eigentlich ist er voll von Gedanken an Noah, während ich meinen Blick bewundernd über seinen Oberkörper wandern lasse. Seine wohldefinierte, feste Brust... au je, seine Brustwarzen sind hart. Gott, ist das schön. Äh... heiß. Sein Sixpack, das mich tierisch anmacht. Seine Hände üben nur leichten Druck auf die meine aus, helfen mir, als ich todesmutig einatme, seine Hose und Shorts nach unten zu schieben. Ich kann nicht anders, ich muss hingucken und... wow. Der schmale, ich glaube perfekt getrimmter Streifen dunklen Haares der sich unterhalb seines Nabels in südlichere Regionen verliert macht mich... nee, ich glaube, noch nervöser kann ich nicht werden.   Der Anblick seiner Erektion hingegen... okay, ich scheine ihn wohl doch anzumachen. Das ist wahnsinnig schön, aufregend und vielleicht bin ich ein kleines bisschen stolz. Trotzdem ist das erste, das ich denke als er aus seiner Hose und Shorts schlüpft und beides mit dem Fuß etwas wegschiebt, dass er wahnsinnig gut bestückt ist und er niemals in meinen Hintern passen wird. Und er ist beschnitten.   „Ich will nicht mit dir schlafen.“, rutscht es mir peinlich berührt raus während ich so gebannt von diesem Anblick bin, dass ich nicht weggucken kann. Noah lacht leise und nimmt mir das ab, als er mit einer Hand erneut mein Kinn umfasst und mich liebevoll zwingt ihn anzusehen.   „Das habe ich auch nicht vor.“, beruhigt er mich, setzt sich aufs Sofa und zieht mich neben sich. Er rutscht etwas weiter nach hinten – ich erwähnte, dass seine Sofalandschaft wahnsinnig riesig ist?! - und legt sich auf den Rücken, mich halb auf sich. Wow! Seine warme Haut nun direkt auf meiner zu spüren... mutig lege ich mein rechtes Bein über sein näheres während ich halb neben, halb auf ihm liege. Noah schließt die Augen als er mich super süß und zärtlich küsst was mich unglaublich beruhigt.   Wir küssen uns eine ganze Weile. Kein wildes knutschen, sondern viel mehr liebevolles, neugieriges kennen lernen. Seine Zunge zeichnet meine Lippen nach, er saugt ganz leicht an ihnen, ich werde nach und nach mutiger, tue es ihm gleich und genieße das Gefühl seiner etwas raueren Lippen. Mhh, er kann so gut küssen. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre nur Watte darin. Ich glaube, ich habe die berühmt-berüchtigte rosarote Brille auf.   Jedenfalls solange, bis er meine rechte Hand nimmt und sie zwischen seine Beine führt, was ihm ein tiefes seufzen entlockt und mir derweil der Arsch auf Grundeis geht. Er will doch sicher, dass ich ihm... Gott, er ist so groß... also, keine Ahnung, ich kenne mich damit nicht so aus, vielleicht ist das ja auch normal, aber größer als meiner ist er alle Male. Naja, ich bin ja auch erst siebzehn...   „Noah, ich weiß nicht... mh, wie...“   Ich brings nicht fertig! Würde er meine Hand nicht an Ort und Stelle halten, ich hätte sie schon dreimal zurückgezogen. Noah öffnet die Augen, sieht mich an und hallelujah, diesen Schlafzimmerblick hat er doch sicherlich Jahre lang vorm Spiegel geübt!!   „Mach es mir, wie du es dir selber machst.“, raunt er mir zu und schnappt verspielt nach meinen Lippen, knabbert ein wenig an der Unterlippe und zieht schließlich seine Hand weg um sie an meine Wange zu legen. Sein anderer Arm liegt um meinen Schultern, seine Finger streicheln zärtlich meinen Nacken.   Zugegeben, ich fühle mich ein bisschen verloren wie auf weiter Flur und es kostet mich doch etwas Überwindung, weil ich verdammt nochmal nie einem anderen Jungen... Mann... so nah gekommen bin und jetzt soll ich Noah... er fühlt sich ganz heiß und hart an. Also, das ist ja irgendwie logisch, aber scheinbar muss sich mein Hirn mit solchen offensichtlichen Dingen beschäftigen, weil ich andernfalls durchdrehen würde.   Trotzdem dauert es dann immer noch einen Moment bis ich mich wirklich traue, seine Erektion zu umfassen und erst einmal ein Gefühl dafür zu bekommen, mit jemanden so intim zu sein. Mit Noah intim zu sein. Der hat längst wieder die Augen geschlossen und seinen Kopf entspannt zurück gelehnt, seine Lippen sind leicht geöffnet und seine Atmung tief und gleichmäßig. Ich versuche, mich mit dem Gefühl in meiner Hand vertraut zu machen und wage mich schließlich, sie langsam auf und ab zu bewegen. Noah seufzt leise, beißt sich auf die Unterlippe. Der hat keine Ahnung, wie sehr er mich anmacht. Deshalb lehne ich mich etwas vor und küsse ihn, was er sehr zu begrüßen scheint. Während ich allmählich etwas Sicherheit und einen Rhythmus mit meiner Hand finde, der ihm zu gefallen scheint, dränge ich mich so nah wie möglich an seinen Körper, genieße das Gefühl meines Unterleibs an seiner Hüfte, seinem Schenkel und Grundgütiger, ich... äh, muss mich ein wenig an ihm reiben, weil ich es sonst nicht aushalte.   Noah stöhnt leise und ich traue mich seine Schulter zu küssen, seinen Hals, an dem ich leicht sauge und seine Brust zu beobachten, der ich auch ein paar Küsse aufdrücke.   Ich weiß nicht, ob ich etwas falsch mache oder ob es Noah nicht gefällt und beides ist mir furchtbar unangenehm und ich zweifle etwas an mir selbst, denn es dauert deutlich länger als bei mir, bis er an einem Punkt ist, wo seine Atmung ein wenig stoßweise kommt. Als sich dann seine Bauchmuskeln anspannen und ich ein zittern in seinen Beinen bemerke, bin ich beinahe erleichtert, als er endlich kommt. Vielleicht sollte ich es nicht tun, aber ich muss hingucken und, wow, ist das viel, was sich da auf seinem Bauch ergießt. Ich meine, ich glaube, es ist normal, aber es bei jemand anderen zu sehen... ich bemühe mich, ihn noch ein wenig weiter zu streicheln, aber das alles hier überfordert mich vielleicht doch ein kleines bisschen und ich muss meine Hand schließlich zurückziehen und halb unter mir, zwischen uns, einklemmen.   Es dauert ein paar Augenblicke, bis Noah sich entspannt und mit geschlossenen Augen vor sich hin lächelt. Er ist so wahnsinnig schön. Eine Weile, keine Ahnung wie lange, bleiben wir einfach so beieinander liegen, bis wir ohne ein Wort aufstehen, er ein Taschentuch aus der Box auf seinem Couchtisch zupft und sich den Bauch abwischt, was mir glaube ich peinlicher ist als ihm. Noah nimmt meine Hand – die, die ihm eben noch zum Orgasmus verholfen hat – und führt mich ins Badezimmer. Wir duschen, ohne miteinander zu reden. Wir trocknen uns ab, ohne miteinander zu reden. Scheinbar ist es eine stille Vereinbarung zwischen uns, denn er verschwindet in seinem Schlafzimmer nehme ich an, während ich aus meinem Rucksack eine neue Shorts hole. Kurzzeitig denke ich an Maxi, bei dem ich ja alibihalber übernachten würde...   Als ich zurück ins Wohnzimmer gehe, taucht Noah kurz danach hinter mir ebenfalls auf – er trägt auch nur eine Shorts was mich gleich wieder nervös macht und dafür sorgt, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Noah hingegen schon. Er nimmt mich wieder mit zum Sofa – auf die andere Seite, nicht dort, wo wir eben noch... Dinge getan haben – zieht mich zwischen seine Beine, so das ich mit dem Rücken an seiner Brust lehne. Sein Kopf legt sich auf meine rechte Schulter, seine Arme umschlingen mich. Ich berühre sie ganz vorsichtig mit meinen Händen, fürchte ich doch, dass dieser Moment schneller vorbei geht als mir lieb ist.   Unser Schweigen zieht sich in die Länge, ich empfinde es allmählich als unangenehm. Will er denn nichts sagen? Oder redet man danach nicht miteinander? Zwischen Noah und Bastian würde es so ein peinliches schweigen doch nicht geben, oder?   Der Gedanke an Bastian trifft mich wie ein verdammter Hammerschlag.   Ich habe seinem besten Freund gerade einen runter geholt. Und er mir und ich habe sein Tshirt befleckt und wir haben geknutscht und zusammen geduscht...   „Können wir jetzt bitte miteinander reden?“, fordere ich vielleicht etwas zu schrill, denn hinter mir zuckt Noah leicht zusammen. Dann lacht er leise und küsst meine Schulter.   „Na klar.“, flüstert er in mein Ohr und irgendwie finde ich das ja fast schon etwas frech. Immerhin hat er vor Wochen nicht reden wollen und vor ein paar Minuten was anderes für wichtiger befunden. (Okay, da kann ich ihm nun wirklich nichts vorhalten...)   „Vor einem Monat hast du mir noch einen Korb gegeben. Zwischen uns wird nichts laufen, hast du gesagt. Den Kuss hast du als Fehler abgetan. Und eben, da... was soll ich denn davon halten?“   Meine Stimme zittert vermutlich wie Espenlaub, aber wenigstens habe ich alles sagen können, ohne peinliches stottern oder riesige Pausen. Noah schweigt noch für eine Weile, dann antwortet er mir. Und ich sauge seine Worte auf wie ein Schwamm.   Nachdem mit Frank Schluss war hat er sich fest vorgenommen, erstmal keine Beziehung zu führen. Und er wollte sich auch auf kein Abenteuer einlassen, weil ja irgendwo noch Gefühle für Frank da waren, die sich aufgrund dessen Fremdgehens aber schnell erledigt hatten. Bastian hatte ihm dann irgendwann erzählt, ich würde mich seltsam verhalten was Noah wohl zum Anlass genommen hat, mich das erste Mal richtig wahrzunehmen. Also, das hat er ja natürlich immer, aber... nicht auf diese Weise. Es hat ihn ziemlich geschockt, dass sein seichtes Interesse, das eigentlich nur aus Sorge entstanden war, sich in eine Richtung entwickelte, die für ihn nicht tragbar war.   Ich muss rot wie eine Tomate sein, während er mir erzählt, dass er sich mehr als er sollte gefreut hat, wenn ich ihm die Türe öffnete. Scheinbar muss es meine unbeschwerte, fröhliche und neugierige Art gewesen sein, die ihm... äh... Herzklopfen bereitet hat. Als ich bei ihm übernachtet und wir uns geküsst und ich ihm meine Liebe gestanden habe, ist sein Interesse in eine zu eindeutige Richtung gerutscht. Das schlechte Gewissen kam aber sofort und er hat sich fest vorgenommen, alles dahingehend zu unterbinden. Zum einem wegen dem Altersunterschied – der trotz aller Legalität nicht zu leugnen ist – hauptsächlich aber wegen unsere Beziehung zueinander beziehungsweise wegen Bastian. Den jüngeren Bruder seines besten Freundes ein bisschen zu attraktiv zu finden, ist nun mal ein absolutes No-Go.   Noah entschuldigt sich für die Worte, die er mir an der alten Eiche im Park an den Kopf geschmissen hat. Es hat ihm schon da leid getan, auch wenn er der Meinung gewesen ist, dass es so besser war. Richtig bewusst, dass es mir ernst und nicht bloß eine Schwärmerei ist, wurde es ihm, als er mich hat weinen sehen und ich ihn als Arsch bezeichnet habe. Dafür entschuldige ich mich nun ganz kleinlaut wofür Noah mich nur ein bisschen mehr an sich drückt. Scheinbar bedarf es in dieser Hinsicht keine Worte zwischen uns.   Das er nicht aufgehört hat, dennoch an mich zu denken und sein Interesse als vorübergehenden Schwachsinn abzutun, ist ihm klar geworden, als ich mich nur in Badehose im Garten präsentiert habe. Mir ist es ein wenig peinlich, weil ich glaube, dass er weiß, dass ich ihn damit aus der Reserve locken wollte. Ihm einen eindeutigen Grund geben wollte, sich auf mich einzulassen. Er küsst meine Schulter, was mich wohlig erschaudern lässt.   Etwas fehlt mir jedoch.   „Bist du... liebst du mich?“, frage ich so leise wie möglich und hoffe beinahe, dass Noah die Frage nicht hört. Aus seinen Worten ist dahingehend jedenfalls nichts zu hören, ich bin mir jedoch sicher, dass ich nicht nur ein... mhh, sexuelles Abenteuer sein möchte?   „Sei mir nicht böse, aber... das weiß ich noch nicht. Vielleicht sitzt mir die Sache mit Frank noch im Nacken. Ich weiß aber, dass ich dich bei mir haben möchte und die verkrampften Wochen ohne dich der Horror waren.“   Naja, das ist nicht unbedingt das, was ich hören möchte, andererseits ist es besser als gar nichts. Vielleicht ist es ja auch zu viel verlangt, eine Liebeserklärung von ihm zu hören, oder? Und wenn man bedenkt, dass er ziemlich fies betrogen worden ist... unsere Situation ist ja auch nicht gerade die einfachste. Ich kann ihn verstehen, irgendwo, weh tut es trotzdem.   „Was machen wir denn jetzt?“   Noah streichelt zart über meine Brust. Nicht reizend, sondern lieb und wärmend wie er wohl meinen Rücken streicheln würde.   „Du wirst bald nach Hause müssen. Und alles andere... wird sich schon ergeben.“   Vielleicht sollte ich jetzt mit der Wahrheit raus rücken...   „... also eigentlich habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich bei Maxi übernachte...“   Noah lacht leise.   „Was natürlich völlig gelogen war, genauso wie dein zufälliges in der Gegend sein, richtig?“   Mein Gesicht wird so ampelrot wie das Haar von Jules!   „Ich brauchte halt eine Ausrede, um... wusste ja nicht, ob du mich rein lassen würdest...“, versuche ich mich halbherzig zu verteidigen.   „Du brauchst keine Ausrede, um mich zu besuchen, Konstantin. Meine Tür steht dir jederzeit offen.“   Ahh, ich mag dahinschmelzen! Und muss Noah dringend küssen. Küssen und nie wieder damit aufhören, das ist doch mal ein Plan fürs Leben! Deshalb wurschtel ich mich aus seiner Umarmung, drehe mich um und knie zwischen seinen Beinen während ich sein Gesicht in meine Hände nehme und ihn küsse. Ich erwähnte, dass Noah wahnsinnig gut küssen kann? Hänge an seinen Lippen wie ein Süchtiger an... was auch immer. Seine Arme schlingen sich um mich, seine Hände wandern in meinen Nacken, in mein Haar und ich muss ganz dringend etwas los werden.   Noah murrt leise, als ich den Kuss beende, was irgendwie wahnsinnig süß ist.   „Wuschelst du mir jetzt wieder durchs Haar?“   Mein Schwarm guckt mich ziemlich verwirrt an, dann lachen wir beide und... er wuschelt mir durchs Haar!! In meinem Herz explodiert ein Feuerwerk, in meinem Kopf wird Party gefeiert und ich muss Noah ganz fest umarmen. Seinen Körper an meinen spüren, seinen warmen Atem an meinem Hals. Die Unterschiede zwischen uns spüren. Seine breiten Schultern und seine Muskeln. Ich hingegen bin deutlich schmächtiger gebaut – Hannah hat mehr Ecken und Kanten und vor allem Kurven als ich. Naja, letzteres ist ja auch nicht für mich bestimmt, aber... ich glaube, ich weiß, wieso Noah sich dagegen gewehrt hat. Mein Körper entwickelt sich halt irgendwo immer noch, trotz Endphase der Pubertät. Bastian und meine Eltern denken sicherlich, dass ich immer noch mitten drin stecke, aber das lassen wir jetzt mal außen vor.   „Das habe ich vermisst“, gesteht Noah mir leise und sucht meinen Blick auf, „weil ich es später so gerne als Entschuldigung genutzt habe, dich zu berühren.“   Ich liebe Noah!!   „Wenns nach mir ginge, hättest du mich schon vor vier Jahren berühren können.“   Noah schnippt mir mit dem Finger gegen die Stirn und schaut mich zum ersten Mal ziemlich ernst und vielleicht ein wenig warnend an.   „Das will ich besser nicht gehört haben. Und so gerne ich auch hier sitzen bleiben wollen würde... der Bericht wartet.“   Ich verdrehe die Augen, lasse aber von Noah ab und mache es mir ohne ihn bequem. Als ich zu der Seite rüber schiele, auf der wir zuvor noch... ähm... Dinge getan haben, kann ich immerhin keine Flecken vorfinden. Puh, das wäre extrem peinlich gewesen, wenn ich sein Sofa auch noch befleckt hätte...   Noah setzt sich wieder an seinen vorherigen Platz und widmet sich seinem Notebook. Bevor er jedoch anfängt zu tippen, grätsche ich ihm mal lieber dazwischen.   „Kann ich hier schlafen?“   Er grinst mich an.   „Hattest du das nicht ohnehin geplant?“   Okay, happy end! Schön, dass du da bist! Ich bin so überwältigt und gleichzeitig aufgeregt weil... Noah ist doch jetzt so was wie mein Freund, oder? Also, Freund-Freund! Wir haben zwar nicht über Beziehung gesprochen und er hat mir auch keine Liebeserklärung gemacht, aber Gefühle sind definitiv da. Welcher Art? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es richtig ist. Und Noah ist verantwortungsbewusst genug, um diese Sache zwischen uns nicht leichtfertig anzugehen. Ich weiß, dass er sich Gedanken macht und ich glaube wirklich, dass er an dieser Situation doch auch irgendwo zu knabbern hat. Aber ich bin so unendlich dankbar, dass er mir all das gesagt hat und ich jetzt wenigstens weiß, woran ich bin.   Und alles weitere... wird sich schon ergeben, nicht wahr?! Kapitel 6: ----------- Meinen Freund habe ich seit zweieinhalb Wochen nicht mehr gesehen.   Soll heißen, nachdem wir uns gegenseitig mit Händen befriedigt haben, ist nichts weiter zwischen uns gelaufen. Er hat sich nicht bei mir gemeldet, obwohl ich ihm meine Handynummer gegeben habe. Gut, ich habe mich auch nicht gemeldet, trotz dessen ich die seine nun auch habe. Aber irgendwie... keine Ahnung, ich finde, er müsste sich melden? Renne ihm ja schließlich schon lange genug hinterher. Ein bisschen ausruhen darf ich mich da doch, oder?   Davon abgesehen sage auch nur ich mein Freund in Bezug auf Noah, weil ich an alles andere gar nicht denken mag. Vielleicht ist es ein bisschen viel, weil man ja noch lange nicht zusammen ist, nur weil man Sex hatte, aber... das Gespräch mit Noah ist doch sehr eindeutig gewesen, oder etwa nicht? Ich muss einfach daran glauben, dass das etwas festes zwischen uns ist, weil ich andernfalls sonst durchdrehen würde. Trotzdem bin ich mir einfach super unsicher, ob wir jetzt zusammen sind oder nicht. Ich muss das hören, am besten aus seinem Mund. Oder in seinem facebook Profil... ja, da sind wir befreundet, aber sein Beziehungsstatus ist weg, seit mit Frank Schluss ist.   Jeder Tag seit diesem Ereignis ist... ich kann es gar nicht beschreiben. Als würde ich erst auf Wolken schweben, über Zuckerwatte laufen und dann über Glas und in die Lavagrube fallen. In der einen Minute bin ich voller Glücksgefühle, möchte mich an einem Laternenmast festhalten und daran herum schwingen. In der nächsten Minuten hängen graue, bedrohliche Wolken in meinem Kopf herum.   Warum meldet sich Noah nicht?   Er ist auch nicht zu Besuch gewesen. Soweit ich weiß haben er und Bastian sich auch nicht getroffen oder viel miteinander gesprochen. Ob es Noah vielleicht doch mehr ausmacht als erwartet? Vielleicht macht er sich noch mehr Sorgen als zuvor. Es ist ja nichts schlimmes passiert... es war nur Petting. Und die Küsse, die wir miteinander geteilt haben, sind süß und lieb und ehrlich gewesen. Als er mit dem blöden Bericht dann endlich mal fertig war und wir uns bettfertig gemacht haben, habe ich zum ersten Mal sein Schlafzimmer gesehen... es ist blau-grau eingerichtet und er hat ein riesiges Bett in das ich mich sehr gerne mit ihn gekuschelt habe. Mehr ist dann aber auch nicht passiert.   Verdammt, es ist Oktober, draußen liegt überall buntes Laub rum, es ist kalt geworden, windig und ich finde, da muss man mit einem heißen Tee auf dem Sofa sitzen und mit dem Liebsten kuscheln, Küsse tauschen und sich ganz verliebt in die Augen schauen.   Okay, okay, das ist furchtbar kitschig, aber ich glaube, das ist normal, wenn man den Freund vermisst, oder? Und es hilft auch nicht, dass es Montag ist und ich mich in Mathe heute total blamiert habe und Hannah sich immer seltsamer verhält. Ich finde, ich muss sie endlich zur Rede stellen, was ich nach der Schule dann auch tue.   „Hast du heute Zeit?“, frage ich sie ganz spontan, als wir die Schule verlassen und die Treppen runter gehen. Hannah sieht mich an, als hätte ich sie gefragt, ob sie mit mir schlafen will: entsetzt, ungläubig und... angewidert?   „Ich bin mit Lars verabredet.“   Äh, Moment mal. Who the fuck is Lars?!   „Lars?“, frage ich völlig belämmert und habe Mühe, Hannah anzugucken. Die guckt nämlich so wütend, dass ich Angst habe, sie zückt eine Axt und schlägt mir den Kopf ab. Dieses Gefühl wird umso stärker, als sie mir plötzlich ihren Zeigefinger nachdrücklich in die Brust jagt.   „Ja genau, Lars. Einen super süßen Jungen, den ich jetzt schon seit einigen Wochen date und in den ich mich vielleicht ein bisschen verguckt habe. Das hast du mit deinem Noah-Schwachsinn natürlich überhaupt nicht mitgekriegt und kein einziges Mal gefragt, wie es mir geht, was bei mir los ist, worüber ich mir Gedanken mache!“   Hannah ist mit jedem Wort lauter geworden, ihr Finger hat jedes Wort mit einem heftigen bohren gegen meine Brust unterstrichen. Ein paar Schüler, die auch gerade die Schule verlassen, gucken uns ziemlich entgeistert an. Einigen aus unserem Jahrgang ist bekannt, dass wir ein Herz und eine Seele sind – das wir uns streiten, muss sie genauso schocken wie uns. Also, wir streiten uns nicht, aber Hannah kriegt sich gar nicht mehr ein und schneidet mir sofort das Wort ab, als ich den Mund aufmache. Den klappe ich direkt wieder zu.   „Halt bloß deine Klappe, Konstantin, ernsthaft! Ich hab dich gebraucht, okay? Weil ich keine Ahnung vom verliebt sein habe, weil ich eigentlich möchte, dass das mit Lars und mir klappt und er das glaube ich auch möchte und ich mir wie jedes andere Mädchen Gedanken mache, ob meine Brüste vielleicht zu groß oder zu klein sind! Ob er damit klar kommen wird, dass mein bester Freund zwar schwul ist, aber trotzdem immer an erster Stelle für mich stehen wird, weil er alles über mich weiß und ich über alles mit ihm rede.“, keift sie herum, dass alle es mitkriegen. Ich bin mir sicher, dass die umstehenden Jungs Hannah perfekt finden, Brüste hin oder her. Aber das ist vielleicht nicht unbedingt die beste Situation ihr das zu sagen, oder?   „Hannah, ich...“   „Vergiss es, ich will von dir nichts hören. Vier Jahre lang habe ich mir jeden beschissenen Tag dein Liebesdrama geben müssen. Und du bringst es nicht mal fertig, in einer Woche zu merken, dass ich jemanden kennen gelernt habe!“   Ich weiß nicht was ich sagen soll, so überrumpelt bin ich. Hannah schaut mich so unglaublich böse und enttäuscht an, dass es mir das Herz bricht. Wir haben uns noch nie gestritten. Höchstens um den letzten Schokokuss.   Als dann auch noch Maxi dazu kommt, ist das Chaos perfekt.   „Was ist denn los?“, fragt er ähnlich verwirrt-geschockt wie ich bin, Hannah hingegen scheint die einzige zu sein, die die ganze Situation voll unter Kontrolle hat. Und scheinbar noch nicht genug.   „Und du“, faucht sie und will ihren Zeigefinger scheinbar auch durch Maxis Brust jagen, „bist ja wohl das allerletzte! Du weißt genau, dass Konstantin Noah liebt und trotzdem bringst du ihn in verfängliche Situationen! Du bist so ein Arsch, ernsthaft. Ihr seid beides Ärsche und ich will euch echt nicht mehr sehen müssen!“   Hannah stampft davon wie ein wütendes Nashorn. Tut mir leid, aber das ist leider das einzige, was mir dazu gerade in den Sinn kommt. Maxi schaut genauso verwirrt wie ich, während Hannah immer kleiner wird, bis sie aus unserem Sichtfeld verschwindet. Ich bin immer noch sprachlos, weil... ist das hier gerade wirklich passiert? Hannah hat mich noch nie angeschrien. Höchstens, weil ich sie mit Wasserfarbe angemalt und sie mädchenhaft gekreischt und wir uns gerangelt haben, aber nicht, weil sie sauer auf mich war.   Und jetzt ist sie sauer und das nicht zu knapp. Ein bisschen eingeschüchtert bin ich schon und... also so cool wie Hannah wäre ich im Leben nicht. Die hat mich ja quasi vor versammelter Mannschaft zusammengefaltet wie ein Blatt Papier und sich nicht darum geschert, dass jeder Hans und Kranz das mitkriegt. Ich sollte das nicht denken, aber... Hannah ist ganz schön cool.   Schön, also ich weiß nicht, was mit meinem ist-er-nun-mein-fester-Freund-Freund ist, habe Krach mit meiner besten Freundin und der einzige, mit dem ich über das eine und das andere reden kann ist Maxi, der immerhin ähnlich sprachlos ist wie ich. Maxi sucht meinen Blick als erster auf.   „Vielleicht solltest du ihr nachgehen?“, schlägt er kleinlaut vor und ich sehe ihm an, dass er auch etwas verunsichert ist. Keine Ahnung, ob Hannahs Ansprache ihn irgendwie getroffen hat, ich jedenfalls fand das völlig unnötig. Maxi hat nie irgendwas ausgenutzt und mich auch nie in verfängliche Situationen gebracht. Das wir uns geküsst haben, ging ja jedes Mal von mir aus und bei ihm zu übernachten und einen Filmeabend zu machen, ist ja wohl noch erlaubt. Ich finde, Hannah hat sich in dieser Hinsicht ein bisschen zu sehr aufgeregt, glaube aber, dass ich ihr das besser nicht sagen sollte. Falls sie jemals wieder mit mir redet.   Ich schüttele lieber den Kopf.   „Sie will mich nicht sehen.“, jaule ich peinlicherweise und fürchte, dass ich gleich in Tränen ausbreche. Maxi legt mir sofort einen Arm um die Schulter. Für andere sieht es sicherlich kumpelhaft aus, aber ich spüre den beinahe liebevollen, warmen Druck seiner Hand an meiner Schulter und das er mich ganz behutsam etwas an seine Seite drückt.   „Sollen wir nen Kakao trinken gehen?“   „Nein, ich mag nach Hause.“, schniefe ich und reibe mir mit einer Hand kurz übers Gesicht.   „Möchtest du alleine sein?“   Also, das ist eine interessante Frage. Meint Hannah damit verfängliche Situationen? Ich muss schwer gestört sein, wenn ich Maxi jetzt auch noch irgendwas unterstelle, obwohl er sich eigentlich ja nur lieb kümmert. So was machen Freunde eben. Gut, ich kenne Maxi gerade mal ein paar Monate, aber mit ihm habe ich mehr zu tun als mit meinen anderen Freunden, mit denen ich nach dem Abi ohnehin keinen Kontakt mehr haben werde. Es sind halt Schulfreunde. Hannah und Maxi hingegen nicht.   „Nein.“   Während wir zu mir nach Hause gehen, reden wir kein Wort miteinander.   Maxi hält einen gewissen Sicherheitsabstand... nicht zu nah, nicht freundschaftlich nah, sondern eine Armlänge klafft zwischen uns wie der Grand Canyon. Ob er wegen Hannahs Worte verunsichert ist? Ich muss gestehen, ich hätte nie gedacht, dass Maxi so einknicken kann. Als ich ihn das erste Mal mit Hannah im Horizon gesehen habe, hat er mega schüchtern gewirkt. Danach, als wir uns schließlich kennen lernten, ist mir erst aufgefallen, dass er eine gesunde Portion Selbstbewusstsein hat. Aber wohl längst nicht so viel wie Hannah oder dieser Jules, der mir neulich über'n Weg gelaufen ist. Also, soll heißen, ich hab ihn vom Weiten gesehen und das hat mir gereicht. Keine Ahnung, der Typ macht mich irgendwie nervös.   Es ist ein bisschen seltsam, einen Jungen mit nach Hause zu bringen. Einen schwulen Jungen, der mit mir schlafen würde, gäbe es Noah nicht. Und daheim kennt ja auch noch niemand Maxi, außer vom Hören-Sagen. Ich frage mich, ob ich jemals mit Noah nach Hause kommen kann und alle sind happy, dass ich einen so wunderbaren Freund habe. Falls er mein Freund ist, was ja immer noch irgendwie in den Sternen steht.   Als ich die Tür aufschließe bin ich etwas überrascht, weil Mama und Papa noch nicht da sein können. Die arbeiten beide montags bis in die Puppen und kommen erst wieder, wenn es fast schon Bettzeit ist. Kann ja also nur bedeuten, dass Bastian daheim ist. Hat vermutlich einen kurzen Tag gehabt, trotzdem ungewöhnlich, dass er vor mir da ist. Naja gut, es ist ja auch schon halb fünf.   Ich zeige Maxi wo er seine Schuhe und Jacke hintun kann, nehme ihn mit in die Küche und bin abgeschrieben, als Oskar die Bildfläche betritt. Ehrlich, Maxi schmeißt sich ihm quasi um den Hals und Oskar, dieser Depp, findet das hundemäßig toll. Der reibt sich an Maxi wie ne läufige Hündin, hechelt ihn glücklich an und seine großen Knopfaugen blinkern, als wäre er bis in den Schwachsinn verliebt.   „Oh Mann ist der süß“, quietscht Maxi völlig entzückt und krault Oskar mit beiden Händen hinter den Ohren, „kann ich den mitnehmen?“   Also, ganz ehrlich, kurzzeitig denke ich darüber nach. Aber da Oskar quasi mir gehört...   „Nee. Ohne ihn wäre es langweilig hier. Planänderung, wir haben kein Kakaopulver mehr da... magst du Tee?“   Maxi nickt abwesend und krault Oskars Bauch, der sich willig auf den Rücken gedreht und die Pfötchen in die Luft gestreckt hat. Leute, ernsthaft, ich liebe diesen Hund. Auch wenn ich das jetzt natürlich nicht zugeben darf, weil Oskar das sonst merkt und so. Klassische Konditionierung. Ich schmeiße den Wasserkocher an, hole zwei Tassen hervor und stöbere in der Teekiste herum. Irgendwas herbstliches muss her... Sahne-Karamell! Weiß zwar nicht, ob Maxi Rooibos mag, aber er hätte mir ja schon irgendwas gesagt.   Während Maxi mit Oskar kuschelt, überlege ich, was ich jetzt tun soll. Es ist klar, dass ich mit Hannah reden muss und werde. Wann? Keine Ahnung. Ich bin wirklich nicht gut in so was. Vielleicht sollte ich ja warten, bis sich die Situation etwas entspannt hat? Oder wäre es besser gewesen, wäre ich ihr doch nach gerannt? Leider weiß ich nicht, wie Mädchen ticken, trotz dessen meine beste Freundin ein Mädchen ist und ich das ja eigentlich wissen sollte. Ob sie recht hat? Bin ich so voll von Noah gewesen, dass ich nicht mitgekriegt habe, wie es ihr geht? Das sie jemanden kennen gelernt hat?   Zugegeben, ein kleiner Teil von mir ist wahnsinnig eifersüchtig, weil... wenn Hannah einen Freund haben wird, dann wird sie doch sicherlich wahnsinnig viel Zeit mit ihm verbringen wollen und für zwei Jungs bei einem Mädchen ist ja doch kein Platz. Dieser Lars wird das sicherlich nicht geil finden, wenn ein anderer Junge bei Hannah pennt... auch wenn dieser Junge mit Brüsten nichts anfangen kann und vor allem niemals nie die beste Freundin anfassen würde.   Ich fülle die Tassen mit dem fertig gekochtem Wasser und stelle sie erstmal auf den Küchentisch. So wie Maxi aussieht, wird er ja nicht sehr bald von seiner neuen großen Liebe ablassen und auf mein Zimmer gehen wollen. Der Gedanke macht mich völlig unnötig nervös. Also hocke ich mich mit auf den kalten Fließenboden und spiele ein bisschen mit Oskars Ohr. Der schnappt verspielt nach seiner Hand, rollt sich herum und legt seinen Kopf auf meine Beine. Seine Knopfaugen blicken mich von unten herauf an, er wedelt mit dem Schwanz und gibt ein leises, klägliches wimmern von sich.   „Der arme verhungert bestimmt.“, meint Maxi und grinst mich an. Ich muss zurück grinsen.   „Du hast keine Ahnung von Hunden. Wäre Oskar bei dir, wäre er bestimmt fettleibig.“   „Auf jeden Fall.“, nickt Maxi und streichelt Oskar über den Rücken. Dann muss das schwarze Plüschvieh noch etwas mehr winseln, weil Maxi und ich uns an den Küchentisch setzen und unseren Tee trinken. Der scheint wenigstens gut anzukommen, Maxi seufzt genießerisch, als er einen kleinen Schluck nimmt.   „Hast du eigentlich Freundinnen?“, frage ich irgendwann und bin tatsächlich neugierig. Denn eigentlich weiß ich ja gar nicht viel über Maxi. Jedenfalls nichts über seine Freunde, da hat er nie was erwähnt. Ich habe allerdings auch nie nachgefragt, wenn ich ehrlich bin.   „Nicht wirklich Freundinnen, würde ich sagen. Wenn wir beim Fußball mal weg gehen oder so, kommen die Mädels der Jungs manchmal mit. Aber eine beste Hannah wie du habe ich nicht.“   „Und einen besten Freund?“   „Auch nicht“, schüttelt er den Kopf, überlegt kurz und fügt dann hinzu, „wobei ich mich gut mit Jules verstehe, aber das zählt glaube ich nicht so wirklich.“   Tja... weiß nicht, was ich dazu sagen soll? Irgendwie klingt es so, als hätte Maxi kaum oder gar keine Freunde, was mir ein wenig leid tut, weil... er ist doch ein wahnsinnig lieber Typ? Witzig, hilfsbereit, gutaussehend... nicht, dass letzteres ein ausschlaggebender Grund ist, aber ich wollte es mal erwähnt haben. Außerdem fällt mir wieder ein, dass er ja umgezogen war... wann das war und woher er eigentlich kommt, ob aus einem anderen Bundesland oder sonst wo her, weiß ich auch nicht. Da ich aber nicht weiß, ob dies ein willkommenes Thema ist, frage ich nicht weiter nach. Das scheint Maxi auch sehr zu begrüßen.   „Ich kann nicht fassen, dass ich es nicht mitgekriegt habe, dass Hannah scheinbar... verliebt ist.“, platzt es schließlich aus mir raus während ich niedergeschlagen auf den Tee in meinen Händen starre. Ein toller bester Freund bin ich.   „Nun ja... einerseits kann ich verstehen, dass du in letzter Zeit mit anderen Dingen beschäftigt gewesen bist, andererseits... ich kann Hannah keinen Vorwurf machen, auch wenn sie das sicherlich nicht vor der Schule hätte tun sollen.“   Na prima! Ich hätte erwartet, dass Maxi eher zu mir hält und tröstende Worte für mich findet, aber das sicherlich nicht. Okay, ich bin ehrlich: ich weiß, dass ich sehr wahrscheinlich Mist gebaut habe und es nicht gerade für mich spricht, wenn ich derart unaufmerksam meiner besten Freundin gegenüber bin. Ich kann weder ihr, noch Maxi einen Vorwurf machen, nur mir selber. Das ist wirklich kein schönes Gefühl.   Ich will gerade etwas sagen, als es eine Etage über uns schrecklich laut poltert. Oskar springt fast aus seinem Fell und bellt aufgebracht herum, lässt sich aber schnell wieder beruhigen. Von Maxi, der ihm lieb den Kopf tätschelt. Wenig später dringt ebenso lautes, aber durch und durch heiteres Lachen an unsere Ohren. Von mehr als einer Person.   Maxi sieht wohl, dass ich kreidebleich werde und blickt sich hektisch um.   „Soll ich lieber gehen?“, fragt er eilig und springt schon fast auf, doch ich schüttele schnell den Kopf und bedeute ihm, sich wieder zu setzen. Jemand kommt die Treppen runter, das lachen kommt näher und in meinem Bauch rumpelt es ganz unangenehm. Von meinem Sitzplatz aus habe ich den Eingang zur Küche im Blick, Maxi sitzt mit dem Rücken zur Tür.   Bastian kommt, lediglich in Hose und barfuß herein spaziert. Sowohl Hose als auch sein nackter Oberkörper und die Arme sind mit weißen Farbspritzern bekleckert, ein paar finden sich auch in seinem Gesicht wieder. Er sieht überrascht aus, als er uns sieht und Maxi... tja, den Blick kann ich nicht so recht deuten, als er sich halb umdreht um zu schauen, wer da rein spaziert kommt. Er sieht nämlich erstmal nur Bastian, der durchaus ein feuchter Traum für bestimmte Männer sein könnte. Durchtrainiert, breites Kreuz, Arme, die man gerne näher begutachten mag, vom Sommer gesund gebräunt und wer keine Körperbehaarung mag, wird sie spätestens an Bastian lieben. Also, er ist kein Bär, aber es passt zu ihm. Und hey, ich bin sein Bruder, ich darf das sagen.   „Ich hab dir gesagt, du sollst da nicht drauf klettern, aber du hörst ja nicht auf mich!“, lacht eine sehr amüsiert und furchtbar bekannt klingende Stimme. Hinter Bastian taucht Noah auf, der genauso leicht bekleidet ist und seinen linken Arm von hinten um Bastians Schulter schlingt. Als er uns sieht bin ich froh, dass sein geschockter Blick für Bastian nicht zu sehen ist.   „Äh... hi ihr zwei.“, bringe ich möglichst tapfer hervor und weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. In Noahs Gesicht sehe ich weiße Streifen, die ganz offensichtlich nicht unbeabsichtigt dort hingekommen sind. Er wird sich ja wohl nicht selber angemalt haben... was haben die bitte da oben gemacht?!   „Äh, hi, Grottenolm“, äfft Bastian mich nach und schaut zu Maxi, dessen Ohr ich sehen kann reichlich rot geworden ist, „hi. Ich bin Bastian.“   Mein Bruder befreit sich von Noah und reicht einem ziemlich verwirrten Maxi die Hand, der schüttelt die vielleicht ein bisschen zu enthusiastisch, was Bastian leise fluchend zusammenzucken lässt.   „Maxi... äh, alles okay?“   Es fällt mir schwer, die Situation nicht als verkrampft zu bezeichnen und noch schwerer fällt es mir, Noah anzuschauen. Ich traue mich fast nicht, als ich es aber wage... kann ich seinen Blick nicht deuten. Er schaut Maxi sehr skeptisch an, dann wandert sein Blick zu mir. Schließlich geht er zum Kühlschrank und holt aus dem Gefrierfach ein Kühlpack raus, das er an Bastian weiter reicht. Bastian drückt es sich direkt an den Ellbogen, der... au weia, das sieht schlimm aus. Er muss sich gerade erst verletzt haben, aber sein Ellbogen strahlt in allen Farben des Regenbogens. Mein Bruder nickt Noah dankend zu, antwortet aber nicht auf Maxis Frage.   „Was macht'n ihr da oben?“, frage ich und trete Maxi unter dem Tisch leicht gegen das Schienbein. Der soll aufhören, meinen Bruder so anzustarren!   Noah streicht sich ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht und gönnt sich ein Schluck Wasser. Wie selbstverständlich er hier in der Küche hantiert, sich ein Glas holt und den Wasserhahn anstellt, macht mich tierisch nervös.   „Streichen“, antwortet er an Bastians statt, fängt dann an zu lachen und hält sich mit der anderen Hand den Bauch, „und Basti führt Kunststücke vor. Sah sehr elegant aus.“   Basti tritt ihm, ähnlich wie ich es bei Maxi getan habe, gegen das Bein, grinst ihn aber amüsant an.   „Eigentlich ist Noah hier um zu helfen, aber er kleckert nur alles mit der Farbe voll.“   Ich sehe in Maxis Gesicht, auch wenn ich es nur zur Hälfte sehe, dass ihm alles aus dem Gesicht fällt. Er kennt Noah schließlich nicht, auch wenn ich ihm ja von ihm erzählt habe. Habe zwar nicht beschrieben, wie er aussieht und ihm auch kein Foto gezeigt, aber es gibt schließlich nur einen Noah, der so vertraut mit meinem Bruder umgeht.   „Wieso streicht ihr denn?“   Also das wundert mich ja jetzt schon... davon hat er ja nie was erzählt?   „Erfährst du noch früh genug. Komm, ich will den Mist jetzt endlich fertig kriegen.“   Noah stellt sein leeres Glas auf die Spüle, folgt Bastian... und riskiert einen letzten Blick auf mich, den ich nicht deuten kann. Möchte. Also... ist er sauer, weil ich Maxi hier habe? Dem muss ja klar sein, dass es der Maxi ist, von dem ich ihm erzählt habe... den ich geküsst habe. Alles andere habe ich natürlich mal schön für mich behalten, aber mit unserer neuen Situation ist das trotzdem nicht das gelbe vom Ei.   Als die beiden weg sind, muss ich mir auf die Hand beißen. Maxi sieht mich völlig entgeistert an und bewegt nur die Lippen. Der Noah? Ich nicke und habe nicht mehr das Bedürfnis zu schreien, muss aber mein Gesicht in meine Hände vergraben. Mann, wie peinlich und unangenehm und was denkt Noah denn jetzt von mir?! Nicht, dass die uns bei irgendwas erwischt hätten, aber... unangenehm ist mir das ganze ja schon. Die Sorge wegen Hannah ist fast vergessen angesichts der neuen Krise, die ja eigentlich gar keine ist. Das schlechte Gewissen kommt aber sofort, weil ich merke, dass ich mir lieber Gedanken darüber mache, als über meine beste Freundin. Hat sie recht damit, dass ich nur Augen für Noah habe? Ja, vielleicht.   Vermutlich.   Okay, sie hat recht.   „Komm mit.“, fordere ich ihn auf, nehme meine Tasse und führe Maxi ins Musikzimmer. Oskar trottet uns neugierig hinterher und obwohl ich ihn eigentlich nicht mit ins Musikzimmer nehme, darf er heute ausnahmsweise mal dabei sein. Maxi zuliebe.   Der schaut sich interessiert und vielleicht etwas staunend um, als ich ihm die Tür aufhalte und hinter uns dreien schließe, als er eingetreten ist. Klar, der Raum ist für Außenstehende immer erst einmal ein kleines Kunstwerk. Die Fensterfront lässt das späte, goldene Herbstlicht herein und den aufgeklappten Flügel in der Mitte des Raumes erstrahlen. Links an der Wand befindet sich ein kleines, sonnengelbes Sofa und ein zum gemütlichen verweilen einladender froschgrüner Ohrensessel. Ich fand das damals schon hübsch und ignoriere jeden Tine Wittler Ratschlag, den man mir andrehen möchte. An der Wand direkt neben der Tür ist eine Regalreihe mit abertausenden CDs, Schallplatten und Musikbüchern voll gestellt. An der Wand rechts von der Tür, in der Nähe vom Flügel, steht eine kleine Kommode, in der ich meine Notenhefte und Schreibsachen aufbewahre. Viel Dekoration gibt es hier nicht – das lenkt mich nur ab.   Maxi dreht sich immer noch staunend um, geht auf meinen Flügel zu und ich fürchte schon fast, dass er ihn berühren möchte, was mir wirklich schwer im Magen liegt. Er lässt es sein und ich kann erleichtert aufatmen. Es ist vielleicht übertrieben, aber ich mag es nicht, wenn man meinen Flügel berührt. Ich habe dann immer das Gefühl, dass man sich in etwas viel zu intimes einmischt. Vielleicht bin ich auch einfach nur ein furchtbar verkorkster Pianist.   Ich stelle meinen Tee auf die Kommode und setze mich auf den Hocker, als ich den Deckel der Klaviatur öffne. Maxi setzt sich auf den grünen Sessel, Oskar liegt ihm zu Füßen.   „Ich habe seit einer Weile nicht mehr gespielt“, gestehe ich leise, „bin also vermutlich etwas eingerostet.“   Tatsächlich habe ich seit dem fatalen Gespräch mit Noah kein einziges Mal mehr gespielt. Erst, weil ich wegen Schule und dem Hausarrest irgendwie keine Muse dazu hatte, dann, weil es mich irgendwie zu sehr an Noah erinnert hat. Jetzt, als ich hier sitze, schmerzt mein Herz, weil ich es so sehr vermisst habe. Gleichzeitig klopft es vor freudiger Erwartung und Nervosität, weil ich normalerweise immer alleine hier bin.   Wie immer lasse ich meine Finger erst einmal über die Tasten streichen, fühle das Ebenholz der schwarzen, den Kunststoff der weißen Tasten. Maxi sagt nichts, was mir sehr hilft. Trotzdem dauert es einen Moment, bis ich mich entschieden habe, was ich spielen möchte. Ein kleiner Teil hofft, dass es Maxi auch gefallen wird, aber eigentlich habe ich nur das dringende Bedürfnis, alle angestauten Emotionen, die mir gerade das Leben ein bisschen schwer machen, aus mir raus zu spielen als ich die ersten Töne von Oh Fortuna anstimme. Ich schließe meine Augen, lasse meine Finger mich führen, folge den Klängen mit meinem Körper, der ganz und gar von der Musik erfüllt wird. Der Flügel trägt das kleine Privatkonzert durchs Haus und ich hoffe, dass auch Noah ein wenig Freude an meinem Spiel finden wird.   Nach dem intensiven Stück bin ich ein klein bisschen geschwitzt und als ich mich zu Maxi umdrehe, starrt der mich mit offenem Mund an.   „Eingerostet nennst du das?“   Er schüttelt ungläubig den Kopf, steht auf und stellt seine Tasse zu meiner... und setzt sich neben mich. Wirklich, ich habe kein Problem damit, Maxi nah zu sein, das habe ich hinter mir. Und auch wenn der Hocker breit genug ist, dass wir bequem Platz darauf finden, berühren sich trotzdem unsere Beine und Schultern. Mir ist das etwas unangenehm, weil ich mich meiner Beziehung zu meinem Flügel beraubt fühle. Das ist Quatsch, das weiß ich, aber... das ist ganz sicher der verkorkste Pianist in mir. Ich möchte beinahe schreien, als Maxi einen Finger nach den Tasten ausstreckt und dann doch inne hält und mich fragen ansieht.   „Darf ich?“   Ich atme tief durch und nicke. Es geht ein wenig besser, weil ich mich nicht so überrumpelt fühle, trotzdem ist es seltsam, jemand anderen auf meinem Flügel spielen zu hören. Es ist das erste Mal und ich stelle ein klein wenig entsetzt fest, dass ich inzwischen zwei Dinge zum ersten Mal mit Maxi hatte: einen Kuss und nun ist er der erste, der auf meinem Flügel spielt. Mein erstes Mal werde ich garantiert nicht mit ihm haben, denke ich vorsichtshalber und lausche den Tönen, die Maxi spielt. Es ist ein wenig so, als würde man einem Kind zuschauen, wie es den Filzstift mit der ganzen Hand umklammert und auf einem Blatt Papier wild herumkritzelt – und viel zu fest aufdrückt. Maxi spielt nur mit seinem rechten Zeigefinger und ich unterdrücke den Zwang, ihm erklären zu müssen, wie er seine Finger ordentlich zum Spielen einsetzt.   „Ich habe keine Ahnung von Musik, aber du bist wahnsinnig gut.“   Okay, ein klein wenig rot werde ich schon.   „Danke... möchtest du vielleicht etwas bestimmtes hören?“   Maxi überlegt einen Moment und zuckt ein wenig die Schultern.   „Titanic?“   Wir lachen beide, ich scheuche seinen Finger weg und wackele mit meinen eigenen, bereit los zu legen. Maxi hält mich kurz am Arm fest und sieht mich überrascht an.   „Du kannst das wirklich spielen?“   Ich neige den Kopf etwas.   „Hannah kommt seit jeher mit allem an, was ich spielen soll, damit sie es aufnehmen kann. Und ich versuche immer, neue Stücke zu lernen.“   Maxi lässt mich los und nickt leicht, sagt aber nichts mehr. Das ist für mich das Startsignal und ich bemühe mich wirklich, mich nicht so viel zu bewegen, was angesichts des ruhigen Stückes auch ganz gut gelingt. Trotzdem ist es oft das Gefühl, das ich gerne mit einfließen lasse und mich entsprechend in die Töne lehne. Neben mir wiegt Maxi sich ganz leicht hin und her, aber das stört mich nicht. Bevor er mich am Ende loben kann, schmeiße ich noch das Maintheme von Fluch der Karibik hinterher, wo wir schon mal bei Filmklassiker sind. Maxi summt leise mit, was mich überhaupt nicht stört. Es macht sogar Spaß und während ich spiele und Maxi neben mir sitzt, kann ich die unschöne Situation mit Hannah nach der Schule ein wenig vergessen.   Irgendwann steht Maxi auf und legt sich aufs Sofa, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ich verstehe das als Einladung, einfach zu spielen, wonach mir der Sinn steht und bleibe erstmal der Filmmusik treu. Disneysongs, Stücke aus Gladiator, Star Trek, Star Wars, Man of Steel, P.S. Ich liebe dich, Dragonheart... ich spiele alles, was ich in und auswendig kenne, Hannah sei Dank. Oskar hat sich irgendwann ans Fenster gelegt und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, die inzwischen nur noch spärlich zwischen den Bäumen hindurch scheint.   Nicht nur ich erschrecke mich, als plötzlich die Tür aufgeht und mein Bruder herein schaut. Sein Haar ist nass, ich gehe mal davon aus, er hat geduscht. Das ich direkt an Noah in der Dusche denke ist ja wohl klar, oder?!   „Wir bestellen Pizza, wollt ihr auch? Mom und Dad kommen beide heute später.“, fügt er zuletzt an mich gewandt hinzu. Maxi setzt sich direkt auf.   „Ich sollte vielleicht langsam nach Hause...“   „Ach Quatsch, bleib ruhig noch.“   Bastian grinst Maxi an.   „Hör auf den Grottenolm, die Pizza ist wirklich gut. Was magst'n haben?“   „Chilli dann, bitte.“   „Ich mag dich, Kleiner. Und für den Giftzwerg das übliche?“   Grr, muss der mich vor Maxi mit diesen unglaublich gemeinen Namen ansprechen?! Wie peinlich ist das bitte! Ich nicke brummelig vor mich hin, Bastian verabschiedet sich und schließt die Tür. Maxi seufzt.   „Dein Bruder ist wirklich nicht schwul?“   Mir fällt alles aus dem Gesicht.   „Wie bitte?!“   „Entschuldige, das ist sicherlich nicht angebracht. Sorry, bin halt auch nur ein Kerl. Ziemlich heiß, dein Bruder.“   „Bastian steht auf Frauen und du solltest besser nicht so an meinen Bruder denken. Das ist ja abartig.“, finde ich und schüttele mich. Maxi zuckt die Schultern.   „Jetzt verstehe ich auch, wieso Noah sich nicht früher auf dich eingelassen hat. Ihr seht euch ziemlich ähnlich. Der denkt doch bestimmt, er vögelt seinen besten Freund.“, mutmaßt Maxi und ich will ihm am liebsten mit irgendwas den Mund stopfen. Außerdem stimmt das ja wohl mal überhaupt nicht!   „Wir vögeln nicht miteinander.“, erinnere ich ihn und finde es ein wenig unangebracht, das so zu bezeichnen. Schließlich liebe ich Noah und da schläft man miteinander... bin doch kein schneller Fick und will mich garantiert auch nicht so fühlen müssen.   Maxi steht schwungvoll auf und setzt sich wieder neben mich, schunkelt mich leicht an.   „Hey, tut mir leid. Ich verspreche, Bastian nicht anzuhimmeln.“   Na, das ist ja wohl das Mindeste!   „Schon okay. Jetzt habe ich aber wohl ungefähr eine Idee davon, wie Bastian sich fühlen wird, wenn das mit Noah und mir raus kommen sollte...“   „Mach dir nicht so viele Gedanken. Du solltest die Zeit, die ihr zusammen habt, nutzen.“   „Wir haben uns zwei Wochen nicht gesehen.“   „Und ich werde nach der Pizza nach Hause fahren, Oskar bestimmt noch mal raus müssen... also wenn Noah darauf nicht anspringt, zweifele ich an seinem guten Geschmack.“   Ein bisschen rot werde ich, nehme mir aber fest vor, dass das ein guter Plan ist.   Eine halbe Stunde später sitzen wir zu viert am Küchentisch und essen Pizza. Bastian sitzt neben Noah, ich neben Maxi aber immerhin meinem vermutlich-Freund gegenüber. Ich bin versucht, meinen Fuß nach seinen Beinen auszustrecken, lasse es aber lieber mal sein. Bastians Ellbogen ist ganz schön dick geworden und sieht reichlich ungesund aus... vielleicht sollte Paps da mal ein Auge drauf werfen, wenn er zurückkommt.   Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber die Stille macht mich wahnsinnig. Die Sache mit Hannah sitzt mir im Nacken, ich möchte mich Noah, den ich verfluchte zwei Wochen nicht gesehen habe in die Arme schmeißen, Maxi findet meinen Bruder heiß... wie kompliziert kann mein Leben eigentlich noch werden? Meine Margherita Pizza schmeckt mir nicht wirklich und ich knabbere nur lieblos an den einzelnen Stücken herum. Maxi hingegen ist hin und weg.   „Mann, die ist wirklich gut. Wie teuer war die? Ich kann dir das Geld gleich zurückgeben.“   Bastian winkt ab.   „Konstantin lädt dich ein.“   Davon weiß ich zwar nichts, nicke aber ergeben. Trotzdem muss ich Bastian unter'm Tisch treten – der tritt zurück und ich schwöre, ich habe morgen einen blauen Fleck. Noah kennt das alles ja schon und trinkt von seinem Wasser bevor er sich zurücklehnt und tief seufzt.   „Ich kann nicht mehr.“   Bastian sieht ihn überrascht an.   „Du hast kaum was gegessen.“   Tatsächlich hat Noah nicht mal die Hälfte seiner Pizza gegessen, wie mir auffällt. Ob er wohl krank wird? Nee, er sieht nicht so aus, als würde er irgendwas ausbrüten. Hab im Übrigen Recht behalten – auch er muss duschen gewesen sein, denn sein Haar ist nur handtuchtrocken und die Farbe in seinem Gesicht verschwunden.   „Bin viel zu erschöpft.“   „Vom streichen?“, frage ich skeptisch und bemühe mich, einen möglichst neutralen Tonfall aufzulegen. Noah sieht mich an und den herausfordernden Ausdruck in seinen Augen kann ich nicht wirklich deuten.   „Dein Bruder hat mich seinen ganzen Kram aus dem Zimmer tragen lassen, während er einfach nur die Leisten und den Boden abgeklebt hat.“   Maxi lacht sich fast kaputt und ich... naja, ich muss auch ein bisschen lachen. Bastian grinst von einem Ohr bis zum anderen.   „Ein wahrer Freund bist du. Ich bin dir so dankbar.“, lacht auch er sich schließlich kaputt und schunkelt Noah so ekelhaft vertraut an, dass ich ihn vom Stuhl schubsen möchte. Noah schnaubt beleidigt.   „Nochmal helfe ich dir nicht.“   „Jaja, das sagst du mir seit dem Kindergarten.“   „Dieses Mal meine ich es ernst.“   „Klar.“   Die beiden gucken sich an, Bastian mit einem frech-hochmütigen Ausdruck im Gesicht, Noah... ich glaube, er will böse sein, aber sein Gesicht wird schließlich doch weich und er schiebt Bastians Gesicht mit einer Hand in die andere Richtung.   „Halt die Klappe, Basti.“   Das tut mein Bruder dann auch und verschlingt seine Pizza... und Noahs gleich mit. Mir vergeht irgendwann auch der Hunger, weil es furchtbar weh tut, die beiden so vertraut miteinander zu sehen. Nicht nur, weil ich Noah nah sein möchte, sondern hauptsächlich weil ich wieder an Hannah denken muss. Sie ist diejenige, mit der ich so vertraut bin wie Bastian und Noah. Mit ihr habe ich Insider, wir lachen über dieselben Dinge, haben dieselben Interessen, sie boxt mir freundschaftlich ihren Ellbogen in die Seite, ich zupfe ihr manchmal an den schönen Locken.   Und ich Idiot bin zu doof um zu merken, dass sie Gefühle für einen Jungen hat, den ich nicht kenne. Ich muss dringend mit ihr reden und nehme mir fest vor, sie morgen anzusprechen. Aber erstmal räumen wir alle gemeinschaftlich die Küche auf, dann verabschiedet sich Maxi. Mein Herz fängt ganz automatisch an zu rasen weil das bedeutet, dass ich irgendwann bald mit Noah alleine sein werde. Auch mit ihm muss ich dringend reden. Vielleicht hat er ja auch einen guten Rat für mich?   An der Tür umarmt Maxi mich und drückt mich ganz fest.   „Wir sehen uns morgen, ja?“   „Okay. Schreib mir, wenn du daheim bist.“   „Klar“, strahlt er mich an und drückt leicht meine Hand, „und mach dir keine Sorgen. Es wird schon alles gut werden.“   Na, wenigstens einer von uns ist optimistisch. Maxi verschwindet mit seinen Sachen nach draußen in die Kälte und Dunkelheit und ich schließe ganz schnell die Tür. Puh, also da will ich gleich aber nicht raus...   Als ich gerade zurück in die Küche gehe, höre ich das Familienauto in der Auffahrt und wenig später gesellen sich meine Eltern zu uns in die Küche, die Noah fest umarmen. Bastian und ich kriegen einen Kuss von Mama, Papa berührt uns beide jeweils kurz am Rücken. Wir tauschen uns ein wenig über den Tag und die Geschehnisse aus, doch was auch immer Bastian und Noah oben getrieben haben, wird mit keinem Wort erwähnt. Ich dachte, ich erfahre das noch früh genug? Warum habe ich mal wieder das Gefühl, dass alle vor mir Bescheid wissen? Das ist wie damals, als es um Noahs sexuelle Orientierung ging.   Der gibt schließlich gegen halb zehn bekannt, dass er sich mal auf den Heimweg machen wird, weil er am nächsten Tag Frühschicht hat. Ich nutze die Gelegenheit und erkläre, dass ich dann noch kurz mit Oskar raus gehe und ihn begleite, wenn er nichts dagegen hat. Hat er nicht und weder meine Eltern, noch Bastian finden daran irgendwas Seltsames. Auch wenn es draußen inzwischen zappenduster ist und nur die Straßenlaternen einem den Weg weisen, haben Mama und Papa kein Problem damit, mich so spät abends noch raus zu lassen.   Vielleicht weil sie hoffen, dass Oskar schon zur Vernunft kommen wird, sollte mich jemand überfallen wollen. Oskar ist schließlich ein Schäferhund, auch wenn er das wohl vollkommen vergessen zu haben scheint.   Nachdem Noah sich von allen verabschiedet hat und zum Niederknien gut aussieht in seinem Mantel und dem blauen Schal, machen wir uns auf dem Weg zum Bahnhof, Oskar an meiner linken, Noah an meiner rechten Seite. Wir sind gerade außer Sichtweite des Hauses, da greife ich nach Noahs Hand. Ich glaube, er will die seine erst wegziehen, schließlich verschränken sich aber unsere Finger miteinander.   „Ich habe mich mit Hannah gestritten. Also, eigentlich hat sie mich nach der Schule zur Schnecke gemacht.“, erzähle ich ihm leise und spüre die Wärme seiner Hand durch meine wandern, meinen Arm hinauf in meine Brust und dann direkt in mein Herz. Er drückt meine Hand etwas fester.   „Was ist passiert?“, erkundigt Noah sich ebenso leise und sieht mich von der Seite her an. Er muss nicht auf den Weg achten, den geht er immerhin schon seit Jahren fast täglich.   „Sie hat jemanden kennen gelernt und ist scheinbar verliebt und... naja, ich habe das weder gemerkt, noch gewusst, noch sonst irgendwas. Ich wollte heute mit ihr reden, weil sie sich so seltsam verhält und mich viermal inzwischen versetzt hat. Habe sie gefragt, ob sie nach der Schule Zeit hat, da ist sie völlig ausgetickt.“   Muss ja nicht erwähnen, dass sie meine Liebe zu Noah als Schwachsinn abgetan hat...   „Oh... das tut mir leid. Ich hoffe, ihr könnt das schnell klären. Soweit ich das beurteilen kann, ist sie im Moment bestimmt ziemlich sauer, aber ich denke, dass ihr euch bald wieder vertragen habt.“   Ist es nicht erstaunlich, wie seine Worte mich direkt beruhigen und es mir gleich viel besser geht?   „Haben du und Bastian jemals Streit gehabt?“   Ich suche seinen Blick auf und das warme Lächeln auf seinen Lippen lässt meinen Bauch angenehm kribbeln.   „Nicht wirklich. Wir sind verschiedentlich mal anderer Meinung gewesen und er fand sicherlich nicht alles gut, was ich in meiner Jugend so getrieben habe, aber wirklich gestritten haben wir uns nie.“   Meine Wangen färben sich rot während ich mir vorstellen muss, was genau Noah wohl alles so getrieben hat. Das ich hoffe, dass er es künftig nur mit mir treiben wird, behalte ich vorläufig mal lieber für mich. Und sicherer ist es, dass ich nicht weiter darüber nachdenke. Es ist ohnehin viel zu kalt, um jetzt schlüpfrige Gedanken zu hegen.   Wir gehen schweigend weiter und ich denke noch, dass Oskar entweder keine Runde braucht, oder mir die Peinlichkeit ersparen will, in Noahs Anwesenheit seine Hinterlassenschaften weg zu räumen. Braver Hund! In der Unterführung zum Bahnhof bleibe ich schließlich stehen und halte Noah direkt mit zurück. Er sieht mich fragend an.   „Wieso hast du dich nicht bei mir gemeldet?“, frage ich und bemühe mich, seinem Blick stand zu halten. Keine Ahnung, ob ich es mir einbilde, aber... wirkt Noah etwa verlegen?   „Du dich ja auch nicht.“, kontert er und drückt meine Hand ganz sanft. Okay, diese Situation ist ganz schön awkward wie ich finde. So gibt das garantiert nichts!   „Wir müssen besser darin werden. Ich will nicht wieder zwei Wochen warten müssen, um dich küssen zu können.“   „Du hast mich doch noch gar nicht geküsst.“   Also, mal ganz unter uns: dafür, dass Noah eigentlich sehr vernünftig sein will, hat er es faustdick hinter den Ohren. Und sein grinsen... Mann, ich liebe diesen Kerl bis in den Schwachsinn! Mutig ziehe ich meine Hand aus seiner, greife nach seinem Schal und ziehe ihn etwas zu mir runter. Ich würde gerne meine Arme um ihn schlingen, würde Oskar dabei aber sicherlich strangulieren. Der hat sich längst brav neben uns gesetzt und harrt der Dinge, die da wohl kommen werden. Noah lacht leise und seine Augen... Mann, die funkeln wie die Sterne. Ich muss ihn schnell küssen, bevor ich ohnmächtig werde! Als sich unsere Lippen berühren, kann ich auch endlich meine Augen schließen. Noahs Lippen nach zwei Wochen zu spüren ist wie eine Oase zu finden, nachdem man tausend Jahre durch die Wüste geirrt ist. Sein Kuss ist warm und sanft, nicht schüchtern, nicht zurückhaltend, aber doch sehr lieb und langsam. Wir haben es beide nicht eilig. Ich dränge mich näher an Noah, bis dieser mit dem Rücken gegen die Wand stößt und sich seine Hände an mein Gesicht legen, während seine Zunge mit meiner spielt. Mhh, ich könnte ihn den ganzen Abend lang küssen. Über der Überführung fährt ein Zug vorbei... keine Ahnung ob es der ist, den Noah hätte nehmen müssen. Es scheint ihm genauso egal zu sein wie es mir egal ist.   Leider ist unsere ans Wetter angepasste Kleidung nicht unbedingt dafür gemacht, sich nah aneinander zu schmiegen und wirklich spüren kann ich Noah jedenfalls nicht – bis auf seine Hände, die meinen Nacken streichen, durch mein Haar gleiten und sich schließlich um mich schlingen und ganz fest halten, während wir wie bekloppte Teenager im Dunkeln unter einer Unterführung stehen und knutschen. Also, zumindest ich bin ein bekloppter Teenager.   Irgendwann müssen wir beide atmen und den Kuss beenden. Ich schnappe nach Luft, weil mir erst jetzt bewusst wird, dass ich das atmen während des küssens wohl vergessen habe. Noah lacht leise und küsst meine Stirn.   „Ich muss nach Hause.“, erinnert er mich an den Grund, weswegen wir hier draußen sind was mir natürlich keineswegs gefällt. Ich lehne meinen Kopf an seine Brust.   „Sehen wir uns diese Woche?“   „Klar. Ich kann am Donnerstag.“   „Das ist ja noch ewig lange weg.“, maule ich und schaue zu ihm hoch, meinen besten Schmollmund präsentieren.   „Tut mir leid. Die Arbeit.“, zuckt er hilflos die Schultern und gibt mir einen süßen Kuss auf den Mund.   Ich schüttele den Kopf.   „Nein, schon gut. Kann ich nach der Schule zu dir kommen? Ich habe um drei Schluss.“   „Okay. Wir sehen uns dann Donnerstag. Und viel Glück mit Hannah. Das wird schon.“   Danach küssen wir uns doch noch eine ganze kleine Weile bis Noah schließlich die Notbremse zieht und wir uns verabschieden. Ich bringe ihn nicht zum Gleis, sondern gehe mit Oskar zurück und zum Park, wo der sich auch endlich erleichtern kann. Vielleicht ist Oskar ja doch nicht so doof wie ich ihm oft genug unterstelle.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Es ist Dienstag und Hannah redet kein Wort mit mir. Weg gesetzt hat sie sich von mir und wann immer ich in ihre Nähe komme, macht sie sich vom Acker. Ich kann mich gar nicht konzentrieren – will ich auch nicht.   Okay, ich verstehe, dass sie wütend ist und dazu hat sie sicherlich auch alles recht der Welt, aber ein bisschen kindisch ist das ja schon. Mal völlig davon abgesehen sollte es doch auch in ihrem Interesse sein, diese Sache so schnell wie möglich zu klären? Oder geht es ihr etwa nicht schlecht? Ich jedenfalls habe fiese Bauchschmerzen und kann mich kein Stück auf die Schule konzentrieren. Ehrlich, die Nacht ist schon bescheiden gewesen mit andauernd aufwachen, spät einschlafen und dann war es auch schon Zeit aufzustehen, obwohl ich gefühlt gerade erst eingeschlafen war.   Wie sehr ich von Hannah abhängig bin, wird mir erst jetzt bewusst. Also, nicht abhängig in dem Sinne, aber... wenn ich Sorgen habe, mit wem rede ich? Mit Hannah. Wenn etwas lustiges passiert ist, mit wem rede ich? Mit Hannah. Wenn Oskar so ekelhaft doof-süß ist und ich mich eigentlich aufregen will, aber dann doch ein bisschen schwärme, mit wem rede ich? Mit Hannah. Wenn ich Bastian nicht glauben will, dass Grottenolme wirklich existieren, das dann im Internet recherchiere und entsetzt mein Handy zücke und kreische, dass die Viehcher ja direkt aus der Hölle kommen, mit wem rede ich? Mit Hannah.   Es fühlt sich an, als hätte mir jemand den Arm ausgerissen. Hannah ist ein Teil von mir und ohne sie bin ich einfach nicht mehr vollständig. Ich vermisse sie so sehr, dass ich hastig die Seite wechsele, als wir uns im Flur über den Weg laufen. Hannah scheint mir überhaupt keine Beachtung zu schenken. Von links höre ich irgendwen fragen, ob dunkle Wolken im Paradies aufgezogen sind. Ich will der unbekannten Stimme am liebsten einen auf die Nuss geben, neige aber nicht zu Gewaltausbrüchen und sehe zu, dass ich zu Deutsch nicht zu spät komme.   Nach der Schule habe ich keine Zeit für Hausaufgaben oder lernen, esse nicht zu Abend und muss wohl irgendwann eingeschlafen sein.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Mittwoch und Hannah ignoriert mich weiterhin. Ich habe Augenringe bis zu den Knien, mir ist schlecht, ich kann mich nicht konzentrieren. Heute Morgen hab ich kein Bissen Frühstück runter gekriegt und bin jetzt mega nervös, wippe ständig mit meinen Beinen, tippe mit meinen Fingern auf dem Tisch und kaue auf meiner Unterlippe herum.   In der Pause schiebt Maxi mir einen Schokoriegel regelrecht in den Mund.   „Ist ja echt nicht mit anzusehen. Du siehst aus wie ein Zombie.“   Ich finde ja, Maxi könnte etwas sensibler sein, habe aber nicht die Kraft, irgendwas zu erwidern.   Die Schule zieht an mir vorbei, auf dem Heimweg renne ich beinahe einem Lastwagen vor die Nase. Der Fahrer hupt wie verrückt und brüllt mir nicht sehr nette Worte entgegen. Ich kann mich damit nicht befassen und kicke daheim meine Schuhe in die Ecke, schmeiße meine Jacke über den Kleiderständer und schiebe Oskar mit dem Bein weg, als er kuscheln kommen will.   Als ich die Treppen hoch gehe, kommt mir Bastian mit einem Karton in den Armen entgegen.   „Wow, Halloween ist aber noch was hin. Wobei, dafür brauchst du dich noch nicht mal verkleiden.“, grinst er mich an und mir brennen plötzlich alle Sicherungen durch.   „Halt doch einfach mal deine verdammte Fresse okay?! Deine blöden Sprüche kannst du dir echt deinen noch blöderen Arsch hoch schieben!“, brülle ich einen ziemlich verwirrten Bastian an, der gewaltig ins straucheln gerät, als ich ihn heftig zur Seite schubse und an ihm vorbei auf mein Zimmer renne. Die Tür knalle ich demonstrativ lautstark zu. Und der Preis für den gemeinen Teenager wie er im Buche steht geht dann ja wohl an mich.   Heulend schmeiße ich mich auf mein Bett und hasse die ganze Welt und Hannah, die blöde Kuh, im Besonderen. Ich meine, was soll der Kack? Ich krieche doch schon am Boden. Schreibe ihr seit Montag fast stündlich ne Nachricht. Entschuldige mich, erkundige mich wie es ihr geht, was sie macht, bitte sie, mit mir zu reden... ich habe sie bestimmt schon hundert Mal angerufen, entweder drückt sie mich weg oder die Mailbox geht ran.   Vielleicht ist es übertrieben. Aber Hannah ist nun mal der einzige Mensch, dem ich alles, wirklich alles anvertraue. Ich kann mich immer auf sie verlassen. All die anderen Leute, die ich kenne, das sind keine wirklichen Freunde. Das sind Menschen, mit denen ich Zeit verbringe, wenn es sich ergibt. Die wissen nichts über mich. Die wissen nicht, dass ich zum Beispiel nur braune Eier esse, weil ich einen furchtbaren Ekel vor weißen habe. Das in meinem Bett ein babyblauer, flauschiger Plüsch-Oktopus namens Barney liegt, den ich habe, seit ich ein Baby bin und ich erst seit ich zwölf bin woanders übernachten kann, ohne Barney mitzunehmen. Ich könnte tausend andere Dinge aufzählen. Keiner kennt mich so gut wie Hannah. Und Hannah hat mich nie für irgendwas ausgelacht.   Keine Ahnung, wie lange ich auf meinem Bett liege und ins Kissen heule, irgendwann klingelt mein Handy. Ich bin so aufgeregt und hoffe, dass es Hannah ist und bin zum ersten Mal enttäuscht, als ich Noahs Namen auf dem Display lese. Toll, der erste Anruf meines vermutlichen Freundes und ich freue mich nicht. Und kann nicht mit ihm reden. Ich drücke ihn weg und drehe den Kopf zur Seite. Kurz darauf klingelt es wieder. Ich verbanne mein Handy aus dem Bett, nachdem ich es auf lautlos gestellt habe.   Ist das zu fassen? Noah ruft mich an – mich! Und ich drücke ihn weg. Aber das ist leider auch so eine Sache die mich gerade, irgendwo in meinem Hinterstübchen oder so, genauso fertig macht. Ich sehne mich nach Noah, aber neulich... okay, knutschen im Dunkeln in einer Unterführung ist schon irgendwie cool, aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, finde ich dieses Versteckspiel scheiße. Dabei haben wir noch nicht mal angefangen zu spielen und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass ich andauernd den ersten Schritt machen muss. Hätte er von sich aus meine Hand genommen? Keine Ahnung.   Ich habe allerdings auch keinen Nerv um da jetzt weiter drüber nachzudenken. Gehe mal wieder ohne Abendessen an diesem Tag ins Bett.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Eigentlich sollte ich mich freuen, denn es ist Donnerstag und Noah und ich sind in zwei Stunden verabredet. Leider freue ich mich nicht und überlege, ob ich ihm einfach absage. Ich sehe aus wie ausgekotzt und frage mich, wie ich den Vormittag eigentlich in der Schule überlebt habe. Immerhin habe ich eine kleine Schale Müsli zum Frühstück gegessen, dann ist mir schlecht gewesen und ich bin lieber mal in die Schule gegangen, bevor ich es mir anders überlegen konnte.   Hannah hat mich am Morgen ziemlich überrascht. Erst habe ich sie nämlich fast nicht erkannt, weil sie eine blaue Röhrenjeans, grüne Chucks und einen olivgrünen Pullover mit Carmen-Ausschnitt trägt. Ihr Haar hat sie ganz ordentlich zu einem Fischgrätenzopf über ihre linke Schulter geflochten, was bei ihrer Lockenpracht wahnsinnig hübsch aussieht. Okay, damit wir uns richtig verstehen: das ist ein ganz normales Outfit, für Hannah allerdings zu normal. Würden wir auf Schubladen stehen, würde Hannah wohl in die Kategorie Alternativ-Rockig-Scene-Girl passen. Hannah hat durchaus entsprechende Klamotten was man immer gut am Wochenende sehen kann. Ich bin zu faul, mir nur eine einzige Farbe oder maximal drei in den Schrank zu hängen und finde es sowieso schwachsinnig, mich derart festzulegen.   Das eigentlich Überraschende ist jedoch gewesen, dass Hannah mich im vorbeigehen begrüßt hat. Hab mich fast auf die Schnüss gelegt, so geschockt bin ich gewesen. Leider ist das auch alles gewesen, was sie gesagt hat.   Ich schaue auf mein Handy, weil es in meiner Hosentasche vibriert.   Wenn du magst, hole ich dich ab.   Die Nachricht ist von Noah und zu jeder anderen Zeit hätte ich mich tierisch darüber gefreut. Im Moment fühle ich mich jedoch, als würde ich es nicht fertig bringen ihn zu sehen. Außerdem... Hannah geht vor. Ich muss das erst mit ihr gerade biegen, andernfalls kann ich meine Zeit mit ihm ohnehin nicht genießen.   Sorry, ich kann nicht. Ich glaube, heute kann ich mit Hannah reden.   Ich lächele, als ich seine Nachricht keine zwei Minuten später lese.   Kein Grund sich zu entschuldigen. Das wird schon werden.   Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: ich liebe Noah. Und ich nehme mir ganz fest vor, dass ich ihn später anrufe und alles erkläre. Schließlich möchte ich ihn ja auch sehen, aber nicht mal ich bin so scheiße, dass ich meine beste Freundin dafür hängen lasse beziehungsweise an zweite Stelle parke. Denn, wie mir mit unglaublichen Schuldgefühlen bewusst wird, so muss sie sich wohl wirklich gefühlt haben. In den letzten vier Jahren. Und insbesondere in den letzten Monaten seit Noahs und Franks Trennung.   Trotzdem warte ich nach der Schule eine halbe Stunde, bis ich schließlich auch den Bus nehme und zu Hannah fahre. Auf dem Weg dorthin kriege ich Kopfschmerzen, weil ich in der Schule nichts gegessen und kaum etwas getrunken habe. Und Schweißausbrüche, was angesichts des herbstlichen Wetters eine Meisterleistung ist. Also, ich mag Winter ja echt gerne. Da ist es wenigstens nur bitterkalt. Im Herbst ist es kalt und der Wind ein Arschloch. Da hält kein Haarspray, egal, was es verspricht. Da ich mir für die Schule ohnehin nichts in die Haare schmiere oder sprühe, sehe ich wie eine Vogelscheuche aus, als ich bei Hannah klingele. Die hat zum Glück keine Sprechanlage und muss aufdrücken, weil sie sonst nicht weiß ob es der Postbote oder Lieferservice ist. Oder in diesem Fall ich.   Als ich die Treppen hoch marschiere und mir fest vornehme, meinen Fuß zwischen die Tür zu halten sollte sie diese zuknallen, bin ich fast erleichtert, dass Kristina, ihre Mama, mir die Tür aufmacht. Wenn man Kristina und Hannah sieht, möchte man nicht glauben, dass sie verwandt sind. Kristina hat nämlich einen platinblonden Pixie Haarschnitt, blaue Augen, keine Sommersprossen und ein sehr schmales, spitzes Gesicht. Sie sieht ein bisschen aus wie Maleficent. Und sie ist groß gewachsen, hat Beine wie ein Model und sieht mich ziemlich entgeistert an.   „Konsti“, brabbelt sie verwirrt, umarmt mich dann aber ganz schnell, „du siehst aus wie ausgekotzt, Schatz.“   So, wie Noah bei uns adoptiert ist, bin ich von Kristina adoptiert. Und falls sich noch irgendwer wundert, woher Hannah ihre coole, lässige und große Schnüss hat: der Apfel fällt halt nicht sehr weit vom Stamm. Bei Hannah ist er direkt unter'm Baum liegen geblieben.   Kristina lässt mich rein, wirkt allerdings etwas unsicher. Mutter und Tochter haben ein sehr inniges und gutes Verhältnis – zusammen feiern gehen sie aber trotzdem nicht. Ich bin mir sicher, dass sie über den Vorfall am Montag Bescheid weiß, weiß allerdings nicht, wie ihre Meinung zu dem Thema ist. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit möchte ich das auch nicht wissen.   Wir gehen in die Küche, wo ich einen Kamillentee gekocht und eine Mandarine vor die Nase gesetzt kriege. Die esse ich aus Höflichkeit, habe aber das Gefühl, dass ich tatsächlich brechen muss.   „Ist Hannah da?“   „Im Zimmer. Hat bestimmt gehört, dass du da bist.“   „Ist sie sehr böse?“   Kristina sieht mich an und ich glaube, sie will aufmunternd dreinblicken, klappen tut es aber nicht.   „Ich bin gleich verabredet... und das ist sicherlich besser so.“, lächelt sie mitleidig und drückt mir einen Kuss auf die Wange.   „Mach dir keine Sorgen. Die kleine Hexe ist sauer und kriegt sicherlich einen Tobsuchtsanfall, aber einen Tag länger hätte sie es ohne dich auch nicht ausgehalten.“   Kristina zwinkert mich an und nickt in Richtung Flur. Ich nehme meinen Tee mit, atme tief ein und aus und latsche ohne anzuklopfen in Hannahs Zimmer. Will ihr lieber nicht die Möglichkeit geben, mich abzuweisen.   Meine beste Freundin liegt auf'm Bett, in lässigen Couchpotato-Klamotten und ließt ein Buch. Ihr Zimmer ist wie immer: Augenkrebs erregend! Sie hat blaue Wände und einen orangefarbenen Teppich. Ihr Bett ist grün, ihr Schreibtisch lila, die Bücherregale in Neonfarben lackiert. Die ersten Male haben meine Augen hier ganz schlimm getränt. Mit der Zeit gewöhnt man sich dran.   „Wer hat dich denn rein gelassen?“, begrüßt sie mich nicht sehr charmant und blättert provokativ eine Seite in ihrem Buch um. Ich setze mich an ihren Schreibtisch – auf den Kuhfellstuhl – und stelle die Tasse mal lieber ab, damit ich sie nicht vor Panik fallen lasse.   „Deine Mama. Was liest'n da?“   Hannah klappt ihr Buch zu, setzt sich an die Bettkante und schaut mich so bitterböse an, dass ich mir vor Angst am liebsten in die Hose machen würde.   „Du hast echt Nerven, Konstantin. Lass dir besser eine verdammt gute Entschuldigung einfallen, bevor ich deinen Arsch nach Enugu trete.“   Mein lieber Schwan, jetzt weiß ich, wieso sich niemand mit Hannah anlegen mag. Die ist echt unheimlich, wenn sie böse ist. Ihr hübsches Aussehen steht dazu völlig im Kontrast, weil man sie eigentlich für voll das liebe Mädchen hält als für eine Schlägerbraut. Also, sie ist keine, aber ich bin mir sehr sicher, dass sie jemanden auf die Zwölf geben würde, wenn triftige Gründe vorliegen würden. Ich denke, bei mir liegen sie vor.   Während ich überlege, was und wo Enugu eigentlich ist, sprudelt alles aus mir raus, was mir so auf die Schnelle einfällt.   „Es tut mir leid, dass ich keinen einzigen Moment an dich gedacht habe. Das mein Kopf voll mit Noah ist, dass ich mich nur für meine Probleme interessiert und dich völlig ausgeblendet habe. Danke, dass du es trotzdem so lange mit mir ausgehalten hast. Ich bin echt kein guter Freund gewesen.“   Hannah schnaubt und verschränkt die Arme vor der Brust, sagt aber nichts. Oh Gott, Mädchen... äh, tut mir leid, aber ich habe mich noch nie mit Hannah gestritten und ich kenne sonst keine anderen Mädchen, denen ich jemals so nahe gekommen bin, dass man Diskussionen bis zum Erbrechen oder Konflikte lösen musste.   „Ich bin furchtbar egoistisch gewesen, weil... ich glaube, ich habe mir einfach nicht vorstellen können, dass du... äh, jemanden kennen lernst. Nicht, weil du so eine doofe Gans bist, sondern... keine Ahnung, für mich warst du immer nur Hannah und nicht Hannah plus kenne-ich-nicht-Lars. Ich wusste, dass irgendwas anders ist, aber... keine Ahnung, ich konnte dann doch irgendwie nur an Noah denken, weil ich angenommen habe, du würdest schon mit mir reden, wenn es wichtig wäre...“   „Es ist verdammt wichtig. Aber es dir einfach zu erzählen, wäre für dich viel zu bequem gewesen, du blöder Frosch.“   Meine Schultern würden in den Keller fallen, wenn es möglich wäre.   „Es tut mir leid, Hannah. Ich halte es nicht aus, wenn du böse auf mich bist.“   Sie lacht und sieht mich sehr mitleidig an.   „So siehst du auch aus. Zum Kotzen. Komm schon her, du Blödian.“   Sie breitet ihre Arme aus und ich schmeiße mich ihr zwar nicht an den Hals, bin aber im Bruchteil einer Sekunde neben ihr und umarme sie ganz, ganz fest. Hannah drückt mich fest an sich – oder sich an mich.   „Ich will nie, nie, nie wieder mit dir streiten.“, jammere ich leise und genieße Hannahs lieblichen Duft nach Beeren und Blumen.   „Dann sei beim nächsten Mal sensibler und denk auch mal daran, dass andere Menschen auch Gefühle haben.“   Wenn sie mir noch so einen fiesen Spruch drückt, heule ich. Andererseits... Hannah muss schwer enttäuscht und verletzt sein, sonst würde sie mich niemals so runter buttern. Ich kann es ihr nicht verübeln, weil mir bewusst wird, wie sehr sie das mitgenommen haben muss. Am liebsten würde ich mich selbst verkloppen.   „Erzählst du mir von Lars?“, wage ich mich vor als wir uns voneinander lösen, um uns bequem auf ihr Bett zu legen und ganz viel zu kuscheln. Ja, Männlein und Weiblein können so was tun, ohne das es irgendwelche Probleme gibt. Hannah kann mich genauso bekuscheln wie ich sie bekuscheln kann wenn einer von uns das braucht. Im Moment brauchen wir beide es. Hannah hat sich an meiner Seite ausgestreckt und ihren Kopf auf meine Schulter gebettet. Ihr rechter Arm liegt quer über meiner Brust.   „Erinnerst du dich an die Color Party? Da habe ich ihn im Horizon kennen gelernt. Dachte erst, dass er aus irgendeinen Schrank gekrochen ist, aber als er mich an der Bar ansprach...“, schwärmt sie ganz leise und ich bin so... überrascht, verwundert und neugierig, weil Hannah total schmusig und weich und süß ist, während sie mir von Lars erzählt. Der geht aufs örtliche Gymnasium – schluck, ich muss direkt an Jules denken - und ist so was wie hochintelligent. Ein sehr lieber, stiller, aufmerksamer Junge, der sooo wahnsinnig süß aussieht. Ich finde ja, einen Jungen als süß zu bezeichnen, ist generell kein Lob, schweige aber vorsichtshalber. Das mit Hannah ist gerade noch etwas zu frisch, um direkt in eine freche Neckerei zu springen als wäre nie was gewesen.   „Er möchte mir am Wochenende seinen besten Freund vorstellen. Wärst du heute nicht gekommen, hätte ich da alleine auftauchen müssen.“, schnaubt Hannah irgendwann und ich kriege ganz fiese Beklemmungen.   „Ähm... wie meinst du das?“   Hannah hebt den Kopf und guckt mich an, als hätte ich den Schwachsinn. Naja, ist ja irgendwie nichts Neues.   „Das wir uns am Samstag um vierzehn Uhr bei Lars treffen und wenn du ein Wort über Noah verlierst, schlage ich dir den Kopf ab.“   „Ist Lars homophob?“   „Nein, du Idiot, aber es soll da einfach nur um uns vier gehen.“   „Also ein Doppel-Date.“   Hannah lacht und schmatzt mir einen Kuss auf die Wange.   „Wenn du doch bloß mein Typ und nicht schwul wärst...“   Ich bin ja schon sehr gespannt auf diesen Lars. Mal sehen, was für ein Typ Junge Hannah schwach macht. Der muss ja wahnsinnig toll sein, wenn Hannah drei verdammte Tage vergisst, einen besten Freund zu haben. Auch das behalte ich aber aus Sicherheitsgründen für mich.   „Ach ja“, faselt sie direkt weiter und greift nach meiner Hand, die sie ganz lieb festhält, „wie war es denn so in letzter Zeit mit Noah? Irgendwelche Fortschritte?“   Endlich, mein Lieblingsthema! Ich dachte schon, die fragt nie. Au weia, das ist gemein...   „Wir hatten S-... Petting.“   Hannah lässt augenblicklich meine Hand los und stiert mich mit riesengroßen Augen an. Ob Augäpfel einfach so raus fallen können?   „Was?!“, kreischt sie mir ins Ohr, dass es unangenehm klingelt. Ich werde rot und überlege, ob es klug war, Hannah davon zu berichten, aber... wir erzählen uns halt eben alles. Ich werde ihr auch erzählen, wenn wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Zwischen Hannah und mir gibt es keine Geheimnisse.   „Und jetzt sind wir glaube ich zusammen... er hat gestanden, dass er... mhh, so an mich denkt. Ich glaube, er hat ein schlechtes Gewissen.“   „Logisch“, nickt Hannah wissend, „immerhin stellt er sich vor, Bastians kleinen Bruder zu ficken. Da hätte ich auch ein schlechtes Gewissen.“   „Hannah!“, ist es nun an mir zu kreischen, weil ich es irgendwie ganz schlimm finde, wenn man Sachen wie ficken und vögeln und poppen und bumsen sagt. Bin doch kein verdammtes Karnickel.   „Ist doch wahr. Ja, und? Wie wars? Und äh... sieht er gut aus?“   „Du weißt doch wie Noah aussieht. Klar sieht er gut aus.“   „Ich meine unten rum, du Fritte.“   Ich werde knallrot.   „Also das geht dich gar nichts an.“   „War es denn schön?“   Ich seufze und gerate ein klein wenig ins schwärmen.   „Wahnsinnig schön... und wahnsinnig peinlich. Ich hab sein Tshirt vollgewichst.“   Hannah sieht mich entsetzt an und bricht dann in schallendes Gelächter aus. Sie grabbelt wieder nach meiner Hand, drückt sie ganz fest und legt ihren Kopf wieder auf meiner Brust ab.   „Konstantin?“   „Ja?“   „Ich finde es schön, dass du und Noah einen Schritt weiter seid. Aber... ich brauche dich. Und ich weiß doch nicht, was Jungs so mögen und... du musst mir da ein bisschen helfen.“   Ich liebe Hannah. Also, als meine beste Freundin und rein platonisch versteht sich.   „Du bist also verliebt?“, wage ich mich schließlich zu fragen, weil... also, eigentlich ist es ja klar, aber ich glaube, ich muss es nochmal ohne wütendes Geschrei hören. Hannah wird etwas rot, lächelt selig und schmiegt ihre Wange an meinen Pulli.   „Schwer, ja. Lars ist so toll... du wirst ihn mögen.“   „Hannah?“   „Hm?“   „Bin ich immer noch dein Konsti?“   Ich hasse es nämlich, wenn Hannah mich Konstantin nennt. So nennen mich alle. Nur Hannah und Kristina nennen mich Konsti und das muss was ganz besonderes bleiben. Seit immer, für immer.   „Klar, Konsti.“   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Ich bin doch echt im falschen Film. Also, so sehr im Kino verlaufen kann man sich doch nicht, oder? Naja, wenn man Konstantin Wagner heißt scheinbar schon.   Um eins war ich bei Hannah, weil sie völlig verzweifelt anrief und mir mitteilte, sie wisse nicht, was sie anziehen solle. Ich also wie ein Irrer mit dem Fahrrad los, was bei dem herbstlichen Wetter und den tausend Blättern auf dem nassen Boden eine sehr gefährliche Aktion war, die Treppen zu Hannahs Wohnung hoch gerannt und eine halbe Stunde damit verbracht, ihr zu sagen, dass sie in allem wahnsinnig toll aussieht. Jedenfalls hat sie sich dann für eine schwarze, blickdichte Strumpfhose mit einem schwarzen kurzen Kordrock und eine senfgelbe-ockerfarbende Bluse entschieden. Ihre Haare hat sie hübsch hoch gesteckt. Ich laufe rum wie immer im Herbst: Jeans, Tshirt, Hoodie. Hannah hat ein ganz dezentes Make Up aufgelegt und sieht wahnsinnig schön aus. Also, sie sieht ja immer schön aus, aber mit diesem schüchternen Mädchenblick ist sie noch viel, viel schöner. Wäre ich nicht schwul, fände ich Mädchen wie Hannah bestimmt toll. Trotzdem wäre sie dann wohl immer noch meine beste Freundin und damit natürlich vollkommen Tabu.   Jedenfalls sind wir dann um kurz nach zwei bei Lars angekommen, der in einem hübschen Neubau mit Mehrfamilienwohnungen wohnt und der Hannah mit einer ganz zarten Umarmung begrüßt und dabei kurz sein Gesicht an ihr Haar drückt... das sie frisch gewaschen, mit Kur und allem Schnickschnack bearbeitet hat, damit ihre wundervollen Locken glänzen wie die Sonne. Im ersten Moment... äh, wollte ich ihm den Kopf abschlagen.   Lars... also, ich weiß echt nicht, was ich von dem halten soll. Der ist so normal und so unauffällig, dass ich mich frage, wie Hannah den überhaupt bemerkt hat. Er ist größer als ich – keine Kunst – aber eher hager gebaut, auch wenn er ein Kreuz wie ein Kleiderschrank hat. Eine chice Jeans trägt er, ein weißes Hemd und darüber so einen schwarz-weißen Hahnentritt Plunder. Seine schwarzen Haare sind ganz ordentlich gekämmt und er trägt eine große, ebenso schwarze Nerdbrille. Ozeanblaue Augen hat der und eine sehr tiefe Stimme, die ein klein wenig rauchig klingt. Ich glaube, als er mir die Hand geschüttelt hat, hat er mich genauso kritisch betrachtet wie ich ihn.   Dann hat er uns ins Wohnzimmer geführt und wer sitzt da auf dem Sofa?!   „Äh-Konstantin!“, ruft Jules fröhlich, springt auf und umarmt mich, als wären wir die besten Freunde. Hannah wird ebenfalls umarmt und kriegt einen dicken Kuss auf die Wange.   „Und du bist Hannah! Willkommen in der Familie. Magst du einen Tee?“   Ich muss mich erstmal setzen und tief durchatmen, weil ich das alles so wahnsinnig krank finde, dass ich verzweifelt nach den winzig kleinen Kameras Ausschau halte und nach dem Typen schiele, der hinter dem großen Blumenkübel in der Ecke hervorspringt und ruft „Willkommen bei versteckte Kamera!“ Leider springt auch zehn Minuten später kein solch ein Typ hervor und als Jules sich neben mir auf das Sofa fläzt, kriege ich ganz schlimme Beklemmungen. Jules sieht aus wie immer: knallrotes Ampelhaar, das wirr zu allen Seiten absteht, überall Piercings, Silberkettengedöns, schwarz-rote-Karo-Kleidung und er trägt Der-kleine-Eisbär-Socken. Also, niedlich ist das ja schon. Jules sieht so abartig gut aus, dass ich brechen möchte. Er hat im Übrigen graue Augen, was mich leider schwer an Noah erinnert. Und wenn Jules lacht, klingt er ein klein wenig wie Ville Valo, was ich leider sehr sexy finde.   Hannah ist wahnsinnig schüchtern und wahnsinnig nervös, was ich irgendwie sehr süß finde. Lars ist... mhh, ich würde auf aufgeregt tippen. Und wahnsinnig verschossen. Wie der Hannah anguckt... also, wenn er glaubt, dass keiner hinsieht. Aber ich bin schließlich Hannahs bester Freund und mutiere vermutlich noch zum Pitbull, weil ich ihm das Gesicht zerbeiße, wenn er Hannah wehtut oder zum Weinen bringt. Okay, das war unangebracht, Pitbulls sind wahnsinnig niedlich, aber... ihr wisst, was ich meine, oder?! Mir fällt jedenfalls noch nicht auf, dass er hochintelligent ist und bei dem Thema Politik habe ich eh abgeschaltet. Hallo, wir sind siebzehn (Lars ist letzten Monat schon achtzehn geworden), da redet man nicht über Politik und Rente und so was?! Naja, vielleicht schon. Keine Ahnung, ich meine, ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Also, über meine Rente nicht, falls ich die überhaupt jemals kriege. Über Politik natürlich schon. Gehört natürlich beides zusammen, aber ihr wisst, was ich meine.   Jules und Lars sind im Übrigen im selben Kindergarten gewesen (kommt mir bekannt vor...) und haben sich vom ersten Augenblick an geliebt. Weil Jules aber aus gutem Hause kommt, wollten seine Eltern nicht, dass er mit der Mittelschicht verkehrt und haben versucht, den Kontakt zu unterbinden. Jules war wohl schon als Baby Punk und hat so lange randaliert und demonstriert, bis seine Eltern die Zügel abgaben und Jules freie Hand ließen. War wohl keine so gute Idee, wenn ich das mal so anmerken darf... natürlich nicht laut.   „Du heißt doch aber nicht wirklich Jules.“, sage ich irgendwann und gucke besagten Punk lauernd an. Der streckt elegant seine langen, schlanken Beine und schlürft von seinem Tee.   „Natürlich nicht.“   „Er hat sich mit acht selbst getauft. Im Winter am See hat er sich Eiswasser über die Birne gekippt.“, erklärt Lars und lacht sich kaputt, weil er wohl dabei gewesen ist und noch sehr lebhafte Bilder davon im Kopf hat.   „Ja und wie heißt du eigentlich?“   Jules sieht mich an, lässt seine Hände mit der Tasse Tee in seinen Schoß sinken und stiert auf meine Lippen, während er sich die eigenen leckt.   „Dafür stehen wir uns nicht nahe genug, äh-Konstantin.“   „Konstantin reicht.“, murre ich und finde, dass der Witz langsam echt ausgelutscht ist.   Hannah kichert und schnappt sich einen Prinzenrolle-Doppelkeks.   „Konsti tut es auch.“   „Aber dafür stehen wir uns nicht nah genug.“, zitiere ich Jules, der mich herausfordernd anfunkelt.   So und ähnlich geht es dann den gesamten Nachmittag. Lars und Hannah sind sich relativ ähnlich: beide lesen so wahnsinnig viel, dass es niemals genug Bücher auf der Welt geben wird, die sie verschlingen können. Er möchte später aber lieber Meeresbiologie studieren und sich für den Naturschutz insbesondere der Meere einsetzen. Da hat er in Hannah die perfekte Freundin gefunden, die will nämlich später auch irgendwas mit Tierschutz machen. Ich enthalte mich dem Thema mal lieber, weil ich nicht als einziger planloser Depp dastehen möchte. Wobei, Jules sagt auch nichts, aber ich glaube, der will später richtiger Punk werden.   Am Abend kochen wir alle zusammen... Pizza. Mit selbstgemachten Teig, weil Jules alles andere nicht anpackt. Und auch nur mit frischer Hefe, was ungefähr tausend Jahre dauert, weil der Teig ja dann erstmal ruhen muss. Währenddessen schnibbeln wir Gemüse im Akkord, trinken Rotwein und tanzen durch die Küche. Lars' Eltern sind übers Wochenende im Übrigen weg gefahren, deshalb hat der die fünf-Zimmer-Maisonette Wohnung für sich alleine. Hannah kümmert sich eine halbe Stunde später um den Teig, den sie dermaßen verkloppt und ausrollt und macht und tut, dass ich furchtbar Mitleid mit der armen Hefe habe. Und froh bin, dass sie nicht mehr böse auf mich ist. Jules schenkt mir Rotwein nach und reicht mir mein Glas, ich nicke dankend. So viel Anstand habe ich dann doch noch.   „Und, was machst du so?“, fragt er, während er die selbstgemachte Tomatensauce auf die erste Pizza klatscht. Er ist Linkshänder.   „Hoffen, dass ich das Abi schaffe.“   „Naja, neben der Schule?“   „Ich spiele Klavier.“   „Flügel.“, korrigiert Hannah und schreibt ihren Namen aus Mais auf die Pizza. Dann haut sie noch Zucchini und Brokkoli drauf. Und Mozzarella. Und eine Tonne Käse.   Jules schaut mich überrascht an.   „Echt? Cool. Kannst du mal was spielen?“   „Mein Flügel steht daheim.“, rolle ich mit den Augen und schmeiße ein paar Paprika auf meine Pizza.   „Na, dann machen wir nächsten Samstag Pizzaabend und Klavierkonzert bei dir.“   „Flügel“, antworten Lars, Hannah und ich gleichzeitig. Dann lachen wir alle und genießen etwas später unsere selbstgemachten Pizzen.   Gegen acht verabschieden Hannah und ich uns, Jules schließt sich an. Lars und meine beste Freundin umarmen sich und... ich werde rot und gucke gerade noch rechtzeitig weg, bevor die beiden sich ganz zart und nur ganz kurz küssen. Jules pfeift, während er gleichzeitig „Ihr seid so ekelhaft“ raushaut. Ich mag ihm eine reinhauen, so was sagt man doch nicht! Lars zeigt ihm sehr freundlich die Tür, vorher umarmen die beiden sich aber noch. Dann marschieren ein Punk, ein verliebtes Mädchen und ein verliebter Depp das Treppenhaus runter in die Kälte.   „Die Welt ist so verdammt klein, nicht wahr? Witzig, dass wir jetzt alle zur Familie gehören.“, merkt Jules an und friemelt einen losen Faden von seiner Jacke, die eigentlich nur aus Buttons und Aufnäher und Enamel-Pins besteht.   „Ich wusste gar nicht, dass ihr euch kennt?“   Hannah sieht mich mit sehr schmalen Augen an und ich fange mal wieder fleißig an zu schwitzen. Besser, ich checke nochmal, ob mein Rucksack auch gut auf meinem Rücken sitzt.   „Tun wir ja auch gar nicht.“   Jules boxt mir nicht sehr sanft gegen die Schulter und guckt mich empört an.   „Hallo? Wir haben beide mit Maximilian gefickt, also kennen wir uns ja wohl!“   Hannah sieht aus, als würde sie entweder einen Schreikrampf kriegen wollen, mir mit einer Kettensäge alle Gliedmaßen abtrennen oder... mich erschießen. Mit einem Maschinengewehr. Mein Gesicht ist sicherlich genauso rot wie Jules' Haar.   „Maxi und ich sind nur Freunde. Zwischen uns lief nichts und wird nie was laufen.“   Ich glaube, ich höre Hannah erleichtert aufatmen. Jules guckt mich an, als hätte ich den Verstand verloren.   „Und ich dachte, ihr trefft euch gelegentlich um... hey, er hat gesagt, er findet dich geil und würde dich gerne flachlegen“, zuckt er die Schultern und ich will gar nicht wissen, über was die sich sonst noch so unterhalten haben, „und als du da neulich mit Sack und Pack aufgekreuzt bist...“   „Konsti hat einen Freund.“, schaltet sich Hannah plötzlich ein und checkt die Uhrzeit auf ihrem Handy. „Und du musst jetzt los, sonst verpasst du die Bahn.“   Ich übernachte mal wieder bei Noah. Also, offiziell übernachte ich bei Hannah, tatsächlich gehe ich aber zu Noah, der mich erwarten wird. Mein Magen fängt direkt an zu rumpeln als ich daran denke, gleich bei ihm zu sein. Naja, in etwa einer halben Stunde.   Deshalb verabschiede ich mich von Hannah, die mir einen Kuss auf die Wange drückt und mit Daumen und kleinen Finger eine wir-telefonieren-Geste macht, Jules kriegt eine ganz liebe Umarmung und ich laufe mit diesem Punk schließlich zum Bahnhof, weil der ja dummer weise auch in diese Richtung muss... wohnt ja nicht weit von Maxi entfernt.   Was ich von Jules halten soll, weiß ich immer noch nicht. Er macht eigentlich einen sehr witzigen und angenehmen Eindruck, gleichzeitig... ist er so was von all-over-the-place was mich irgendwie nervös macht und gleichzeitig nervt. Naja, nicht nervt, aber... es macht mich unruhig. Vielleicht liegt das aber auch an der Art und Weise wie er redet. Er hat diese... mhh, Gossensprache? Aber leider wirkt es bei ihm nicht irgendwie billig, peinlich oder so, sondern... es passt zu ihm. Er kommt so richtig abgefuckt rüber und wo Lars ja schon ne rauchige Stimme hat, ist Jules' Stimme nochmal eine Steigerung von rauchig. Und schlecht sieht er ja nun auch nicht aus... also, für alle, die immer sagen, Aussehen würde ja keine Rolle spielen: mag stimmen, aber mit einem Quasimodo zusammen sein möchte ich dann doch nicht. Also, würde es mich anmachen, vielleicht, tut es aber nicht. Gott, das klingt so scheiße. Aber das Auge isst ja halt bekanntlich mit und ich will das Licht nicht ausmachen müssen, wenn Noah und ich...   „Achtung!“   Jules packt mich am Arm und zieht mich gerade noch zur Seite, bevor mein Schädel Bekanntschaft mit der Straßenlaterne macht. Peinlich berührt nuschele ich ein Danke und bemühe mich, etwas mehr auf den Weg zu achten. Ist so am Bahnhof vielleicht auch nicht verkehrt, bevor ich noch auf den Gleisen lande. Es macht mich ein bisschen fertig, dass ich so viel über andere – insbesondere Jungs – nachdenke. Hoffentlich ist das gleich, wenn ich bei Noah bin, wieder vorbei.   Ich kaufe mir ein Ticket, Jules hat eine Fahrkarte und die Bahn kommt in drei Minuten.   „Wusste gar nicht, dass du einen Freund hast. Seid ihr schon lange zusammen?“   Ich halte es für gefährlich, mit Jules über meine Beziehung zu Noah zu reden, aber... nun ja.   „Es ist kompliziert.“   Jules verdreht die Augen.   „Wann ist es das denn mal nicht, hm? Wie kompliziert ist es denn?“   „Er ist sechsundzwanzig und der beste Freund meines Bruders.“   Wenigstens hat Jules so viel Anstand, ein bisschen geschockt zu schauen. Dann zieht er scharf die Luft ein.   „Okay, das ist etwas fies. Aber ihr seid jetzt zusammen?“   „Ja. Nein. Keine Ahnung, wir küssen uns gelegentlich und... äh...“   „Fickt miteinander?“   „Nein!“   „Wie nein?“   „Wir sind noch nicht so weit.“   „Du bist noch nicht so weit, meinst du wohl?“   „Da kommt die Bahn.“   Ernsthaft, Jules kann reden... der Wahnsinn. Das beweist er mir nämlich während der Fahrt. Er ist da also in diesen Lex verknallt – der hat sicherlich auch einen richtigen Namen, den er mir aber nicht sagt – der aber die ersten und letzten siebzehn Jahre seines Lebens hetero war und nie so an Jungs gedacht hat und leider sehr viel Wert darauf legt, was seine falschen Freunde über ihn denken. Mit Jules hat er trotzdem geknutscht und das hat bei Jules leider schweren Herzschmerz verursacht, was der nicht kennt, weil er eigentlich lieber alles nagelt, was er kriegen kann. Ja, so drückt Jules das aus und ich bin ein bisschen entsetzt und angeekelt. Trotzdem will er in Lex Nähe sein und sie kommen sich glaube ich näher, weil Lex nämlich plötzlich Interesse zeigt... an Jungs, an Jules und irgendwie ans Horizon. Da fällt mir glatt wieder ein, dass er ihn ja bei unserem ersten Aufeinandertreffen gesucht hat... geht wohl also auch schon ne Weile. Ein bisschen tut Jules mir leid.   „Ich muss jetzt hier raus.“, sage ich schließlich und stehe auf. Jules auch, der sich durch seine Haare strubbelt und mir seine Hand hinhält. Er trägt übrigens schwarzen Nagellack, der stellenweise aber schon abblättert.   „Na, wir sehen uns jetzt ja sicherlich öfter. Und wenn wir am Ende beide nicht glücklich sind, können wir uns ja gegenseitig trösten.“   Er grinst so ekelhaft sexy, dass ich ganz schnell seine Flosse schüttele und dann zusehe, dass ich aus diesen verdammten Zug raus komme. Den Weg zu Noah renne ich, was angesichts dessen, dass ich Pianist bin, keine gute Idee ist. Als ich die Klingel betätige und kurz darauf im Aufzug stehe, habe ich Herzrasen, Seitenstechen, meine Lungen brennen und tun weh und ich kann nicht richtig atmen und bin geschwitzt wie doof.   Das alles wird noch dreimal schlimmer, als Noah mir die Tür öffnet. Ich kann gar nicht oft genug sagen, wie wahnsinnig heiß und gut und WOW er einfach nur aussieht. Auch wenn ich mich bemühe, nicht zu sehr auf die oberen drei geöffneten Knöpfe seines blütenweißen Hemdes zu achten... daran denken muss ich trotzdem.   „Hi Noah.“, stammele ich hilflos und schiebe mich an ihn vorbei nach drinnen. Ahh, hier ist es angenehm warm und ich glaube, ich kann Tee riechen. Noah wuschelt mir durchs Haar, als ich an ihm vorbei gehe und schließt die Tür hinter sich.   „Hey Konstantin. Wie geht es dir?“   Tja... wir führen ganz normale Gespräche. Ich erzähle ihm von der Schule, dass ich mich mit Hannah versöhnt habe (was ihn sehr freut und wofür ich ein sehr warmes Lächeln geschenkt kriege), ihren scheinbar Freund und dessen besten Freund kennen gelernt habe, von der Pizza und Wein Aktion und das ich ohne Hannah total aufgeschmissen wäre. Ehrlich, es sind gerade mal ein paar Tage gewesen, aber ich habs nicht ausgehalten, mich so mit ihr in die Haare zu kriegen. Wie soll es nur ohne Hannah sein? Nicht, dass ich das jemals möchte!   Während ich also so erzähle fällt mir auf, dass Noah ein klein wenig in sich gekehrt wirkt. Wir stehen im Übrigen in seiner Küche und trinken irgendeinen Früchtetee, der wahnsinnig lecker ist und mich ein bisschen an Kaffee und Kuchen Zeit an einen Sonntagnachmittag erinnert. Wie er da so an der Küchenzeile gelehnt steht, beide Hände an der Tasse, die Augen mal auf mich gerichtet, mal auf den Tee, von dem er nur sporadisch trinkt.   Bedrückt ihn etwas? Habe ich was falsches gesagt? Wahrscheinlich zum ersten Mal wird mir wirklich bewusst, dass ich Noah zwar wahnsinnig liebe und toll finde und unbedingt Zeit mit ihm verbringen möchte, aber eigentlich gar nichts wirklich über ihn weiß. Von ihm weiß. Wenn er da also steht und aussieht, als würde er sich Gedanken machen, dann wird er wohl mit Bastian reden und nicht mit mir, seinem... hoffentlich Freund, oder? Ein Teil von mir ist sagenhaft eifersüchtig und findet das komplett scheiße. Ein anderer, eher logischer Teil, findet das vollkommen angebracht weil... ich rede ja auch mit Hannah über Dinge, die ich mich nicht traue, Noah zu sagen. Oder halt über... sonst so alles. Ich weiß nämlich immer noch nicht, worüber ich mit Noah sonst groß reden soll.   „Wie... ähm, wie war denn dein Tag heute?“, wage ich mich ganz tapfer vor und trinke bemüht lässig von meinem Tee. Naja, das ähm hat eh schon alles ruiniert. Immerhin bringt meine Frage Noah zum Lächeln, was wahnsinnig schön aussieht.   „Anstrengend, aber gut. Eins der Kids ist gestern Nacht stiften gegangen, kam aber heute Nachmittag zurück.“   „Oh. Musst du jetzt wieder einen Bericht schreiben?“   Noah grinst auf eine Art und Weise, dass mir schon ganz schwächlich im Gebein wird.   „Nein, das übernimmt meine Kollegin.“   „Cool.“   Oh Gott, gar nichts ist cool!! Mann, als ich das letzte Mal hier war, habe wir uns gegenseitig... du großer Gott! Ich meine, ich werde hier übernachten und wir sind ja jetzt so was wie intim miteinander und...   „Geht es dir gut?“, fragt Noah besorgt, weil ich vermutlich tausend Schweißperlen auf der Stirn habe, mich aber fühle, als wäre ich kreidebleich.   „Ich... ja, ich... mhh, Noah, kann ich dich küssen?“   Das brauche ich jetzt nämlich ganz, ganz dringend.   Noah scheinbar auch, denn ich habe noch nicht mal zu Ende gesprochen, da knallen wir unsere halbleeren Tassen auf die Ablage und knutschen, was das Zeug hält. Oh, wow. Also entweder hat Noah das hier genauso vermisst wie ich... oder seine Lippen und Zunge sind alles, was es für mich gebraucht hat. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken, was ein bisschen schwer ist, weil ich mich dafür auf die Zehenspitzen stellen muss. Der arme Noah muss sich etwas runter beugen und hat darauf wohl keine Lust, denn seine Hände wandern über meinen Rücken, an meinen... du großer Gott, der grabscht mir an den Hintern! Und dann hebt er mich hoch, als würde ich nichts wiegen und ich schlinge meine Beine um ihn, damit er mich ja nicht fallen lässt.   Tut er aber. Also, eigentlich lässt er mich nicht fallen, aber irgendwann finde ich mich auf dem Rücken wieder – und zwar in seinem Bett, wie ich mit einem Lächeln auf den Lippen feststellen muss.   Mein Herz rast wahnsinnig laut und schnell und überhaupt. Noahs Zimmer hat ein großes Fenster, einen grau-braunen Kleiderschrank und Kommode, ein großes Doppelbett, auf dem wir gerade liegen, einen Standspiegel neben der Tür, in einer Ecke hängt seine Fußballkleidung an einem Haken in der Wand. Links und rechts vom Bett stehen zwei Nachttische, aber nur auf dem auf der linken Seite befindet sich ein digitaler Wecker, eine Flasche Wasser und eine Armbanduhr. An der Wand über dem Bett hängen viele, viele, viele kleine Sofortbild-Fotos und die meisten davon sind von Bastian und Noah. Zwischendrin finde ich immer wieder Lücken, wo Noah Fotos abgenommen hat. Und dann stehen da Bastian und Noah, die einem kleinen Kind eine Gießkanne über den Kopf schütten.   „Du hast ein Foto von uns in deinem Schlafzimmer.“, ist erstmal alles, was mir dazu einfällt. Das ist mir an dem einen Abend gar nicht aufgefallen. Noah schaut zu besagtem Foto, lacht leise und streicht mir ein paar wirre Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er liegt ganz entspannt neben mir, den rechten Arm aufgestützt, die linke Hand nun an meinem Gesicht. Ich kriege Gänsehaut.   „Da warst du aber wirklich noch zu jung.“   Au weia... ja, definitiv. Ich muss... vier gewesen sein. Noah also dreizehn. Ich erinnere mich, dass insbesondere Bastian immer Witze über meine Größe gemacht hat, weil ich schon als Kind eben immer recht klein gewesen bin. Manche Mädchen waren sogar größer als ich und heute ist das, wie gesagt, keine Kunst.   Noahs Kommentar dringt erst ein paar Augenblicke später richtig zu mir durch. Hat er gerade quasi gesagt, dass ich jetzt nicht mehr zu jung bin?! Ich setze mich verwirrt und überwältigt gleichzeitig auf. Auch Noah setzt sich hin, allerdings sieht er besorgt aus.   „Ist alles okay?“   Und wie! Weil ich mich für mit allen Wassern gewaschen halte, mache ich es wie vor zwei Wochen: ich setze mich auf Noahs Schoß und... fange an, sein Hemd aufzuknöpfen. Jedes kleine Fitzelchen Haut, das zum Vorschein kommt, weckt unbekannte Sehnsüchte in mir. Naja, nicht wirklich unbekannt, aber... Sehnsüchte halt. Noah lässt mich machen und hilft mir nur kurz, um sein Hemd auszuziehen und es aus dem Bett zu schmeißen. Dann hilft er mir ohne zu zögern aus meinen Hoodie und meinem Tshirt. Ich werde rot, als seine Hände über meine Brust streichen und sich meine Nippel mal direkt verhärten. Gänsehaut kriege ich auch. Noah lacht leise, wofür ich mich zugegeben ein wenig schäme, genieße aber den süßen Kuss, den er meinem Brustbein aufdrückt.   „Du, Noah?“   „Mhm?“, macht der, während er gerade... au je... er saugt an meinem Hals und... oh Gott... macht der mir...?!   „Sind wir... also, sind wir jetzt zusammen?“   Er lässt von meinem Hals ab, was ich einerseits sehr schade finde, weil es wirklich schön war, andererseits bin ich fast erleichtert, weil ich mich sonst nicht auf dieses Gespräch konzentrieren kann. Noah sieht mich verwirrt an.   „Wie kommst du denn jetzt darauf?“   Hat der den Schuss nicht mehr gehört oder was?!   „Na, weil ich nicht einfach so mit einem Kerl rummache?!“, schlage ich vor und verschränke meine Arme vor der Brust – aus Trotz, aber auch, weil ich mich bedecken möchte. Argumentieren und dabei halb nackt sein ist halt irgendwie nicht so cool. Jedenfalls kann ich nicht cool sein. Jules wäre bestimmt mega cool.   „Konstantin“, seufzt Noah und reibt sich mit beiden Händen das Gesicht bevor er meine Arme vor meiner Brust löst, meinen Händen jeweils einen Kuss aufdrückt und mich dann ganz fest an sich drückt, „ich gehe nicht einfach so mit Bastians kleinem Bruder ins Bett,okay?“   Das der immer Bastian erwähnen muss! Und dann auch noch im Bett, grr!! Aber... ach du Schreck, hat er also gerade gesagt, wir sind zusammen?! Ich weiß nicht, ob ich rot im Gesicht bin, aber jetzt bin ich es definitiv! Ganz egal, ich muss Noah jetzt erstmal weiter küssen, seine Berührungen genießen und wo wir schon mal dabei sind, meine Hände über seinen Körper wandern lassen. Irgendwann später, keine Ahnung wie lange oder kurz es dieses Mal dauert, liegen wir nackt, befriedigt und Arm in Arm unter seiner riesigen Bettdecke. Ich denke noch, wie schön es ist, einen Freund zu haben, wie wunderbar es ist, neben Noah zu liegen, seine Wärme zu spüren, zu wissen, dass der Knutschfleck an meinem Hals von ihm ist... und dann muss ich wohl irgendwann eingeschlafen sein. Kapitel 7: ----------- Mein lieber Schwan, ist das kalt! Also, nicht so hui-ein-Pullover-wäre-gut-kalt sondern mehr so nicht-mal-meine-Outdoorjacke-hält-mich-warm-kalt. Ohne Witz, ich friere mir den Arsch ab, meine Finger und Zehen sind andauernd taub und als vor zwei Tagen ein leichtes Kratzen in meinem Hals darauf aufmerksam machte, dass der Winter vor der Tür steht wusste ich: jetzt ist das Leben vorbei. Mir läuft die Suppe aus allen Löchern. Äh, das klingt jetzt nicht sehr vorteilhaft, was ich meine ist: meine Nase produziert Zeug, das direkt aus einem Horrorfilm stammt, meine Augen sind fürchterlich verquollen und triefen vor sich hin und weil meine Ohren auch irgendein Problem haben, habe ich so Zeug auf Wattebällchen träufeln und in meine Ohren packen müssen. Dauernd habe ich das Gefühl, mir läuft irgendwas am Hals runter. Und wenn ich Huste... okay, Butter bei die Fische: ich bin ein wandelnder Zombie!   Immerhin muss ich so nicht zur Schule, was einerseits gut, andererseits furchtbar schlecht ist. Denn vor Ende des Jahres kloppen die Lehrer natürlich nochmal so richtig rein und ich verpasse jeden Tag etwas Neues. Fühlt sich jedenfalls so an. Hannah bringt mir immer alles wichtige vorbei und Maxi schreibt in Bio alles doppelt und dreifach für mich ab. Das ist echt super lieb. Konzentrieren kann ich mich aber eh nicht, weil mein Schädel schmerzt wie ein Idiot.   Ich wünschte, es wären wieder Herbstferien. Die waren schön. Einen richtig tollen, goldenen, knallbunten Herbst haben wir gehabt. Den habe ich, soweit es mir möglich war, mit Noah verbracht. Puh, Noah und ich... verliebt sein ist wahnsinnig anstrengend! Für mich jedenfalls. Und ich glaube, ich bin für Noah zuweilen etwas anstrengend, weil ich nämlich in vielen Dingen einfach völlig ahnungslos bin. Vor allem im Bett. Wir sind nämlich inzwischen... äh... etwas weiter und beim Oralverkehr angekommen. Hab gedacht ich muss sterben vor Scham als Noah mir das erste Mal einen geblasen hat. Tatsächlich hat es sich sogar nach sterben im positiven Sinne angefühlt weil, halleluja, Noah bläst verdammt gut! Oh Gott, ich sollte so was nicht sagen. Mhh, aber ist doch wahr. Jedenfalls habe ich danach erst mal in anderen Sphären gelebt und dann hat es einige Tage und diverse Gespräche mit garantiert-nicht-Noah gedauert, bis ich mich getraut habe, ihm den Gefallen zu erwidern. Ich glaube, ich habe mich nicht besonders gut angestellt, aber es ist das erste Mal für mich gewesen, okay?! Gekommen ist Noah dann trotzdem, immerhin. Hab gedacht, der reißt mir direkt den ganzen Skalp ab als er seine Finger in mein Haar gekrallt hat. Naja, jedenfalls... bin ich inzwischen etwas besser geworden, würde ich sagen. Es ist aber auch verdammt nicht leicht und ich finde ich habe nicht gerade den größten Mund um... ihr wisst schon. Aber: es wird!   Sex haben wir aber immer noch nicht gehabt. Darüber gesprochen auch nie. Ich weiß, dass ich noch nicht so weit bin und Noah... keine Ahnung, ob er sich das denken kann oder ob er vielleicht ja gar nicht mit mir schlafen möchte? Er hat nie irgendwelche Andeutungen in diese Richtung gemacht, ich ihn aber auch nie darauf angesprochen. Insgeheim glaube ich ja, dass er sich damit noch ein kleines bisschen in Sicherheit wiegen möchte. Denn wenn er mit mir schläft, fickt er eben tatsächlich den kleinen Bruder seines besten Freundes. Wie Maxi und Jules es ausdrücken würden. Und tatsächlich auch ausdrücken. Noah hat mir auch noch kein einziges Mal gesagt, dass er mich liebt. Ich sage es ihm gelegentlich und habe es vorher ja auch schon getan. Manchmal bin ich darüber wütend, in erster Linie aber enttäuscht und nehme mir fest vor, ihn darauf anzusprechen. Dann verlässt mich der Mut, weil ich immer noch denke, dass es zwischen uns viel zu zerbrechlich ist und ich das nicht kaputt machen möchte. Also schätze ich mich mit dem glücklich, was ich habe und schweige über alles andere. Das ist nicht gesund und nicht gut, aber ich bin endlich mit dem Mann zusammen, den ich seit so langer Zeit liebe, da ist es doch normal, dass ich ihn nicht durch irgendeinen blöden Scheiß verlieren will, oder?!   Apropos verlieren.   Seit einer Woche sind wir nur noch zu viert im Haus. Bastian ist ausgezogen, in seine eigene Wohnung. Ich hab gedacht mich tritt ein Pferd, weil ich mal wieder als einziger nicht Bescheid wusste. Hallo? Gehts noch? Wieso erzählt mir eigentlich nie jemand was? Ich finde das langsam nicht mehr witzig, weiß jetzt aber wenigstens, warum er und Noah vor einigen Wochen hier gestrichen haben. Bastians Zimmer ist irgendwie immer noch sein Zimmer, sieht aber bei Leibe nicht mehr so bewohnt aus. Die Wände sind ganz schlicht in weiß gestrichen, seine Schränke soweit leer geräumt, sein Schreibtisch komplett verwaist. Eigentlich dient es ihm nur noch als Gästezimmer, wenn er zu Besuch ist, oder als Aufbewahrungslager für Zeugs, dass er noch braucht, aber nicht in seiner neuen Wohnung benötigt. Er wohnt jetzt auf halber Strecke zur Arbeit in einer hübschen drei Zimmer Wohnung. Zu Einweihungsfeier bin ich zwar eingeladen gewesen, konnte aus gesundheitlichen Gründen aber nicht teilnehmen. Es macht mich halb wahnsinnig, dass Noah bei ihm übernachtet hat. Die haben sich, nachdem alle Gäste weg gewesen sind, nämlich ordentlich die Kante gegeben und vermutlich gemeinschaftlich Lieder gegrölt. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Zumindest letzteres. Das sie getrunken haben weiß ich mit Sicherheit, weil Noah am Tag darauf sehr kurz angebunden am Telefon meinte, dass er schlafen muss weil er sich schrecklich fühlt. Idiot, was besäuft der sich auch mit meinem Bruder?!   In den letzten Wochen habe ich mich zu einer eifersüchtigen, gemeinen kleinen Bazille entwickelt. Ich hasse jeden, mit dem Noah so befreundet ist und wenn er mir absagt, weil er mit Bastian verabredet ist, möchte ich ganz laut schreien und meinen Bruder zerhackstückeln, erwürgen, ertränken, hängen... alles eben. Ist das nicht peinlich? Ich bin auf meinen Bruder eifersüchtig, der Noah halt einfach mal neun Jahre länger kennt. Fast zehn. Ich bin sogar auf Frank, diesen Pisser, eifersüchtig, weil der Noah... und Noah ihn... auch wenn ich noch nicht bereit bin macht es mich wahnsinnig, dass Frank etwas gehabt hatte, was ich nicht habe. Und die Kids in Noahs Wohngruppe sehen ihn teilweise vierundzwanzig Stunden, gehen mit ihm unter anderem in die Stadt oder zu sonst welchen Ausflügen, nehmen ihre Mahlzeiten mit ihm ein. Und mit seinen Kollegen ist er bald zur Weihnachtsfeier verabredet, also noch ein Samstag, an dem er keine Zeit für mich hat. Ich hasse seine Kollegen leidenschaftlich.   Bei Hannah und Lars läuft es hingegen wie am Schnürchen. Die sind jetzt fest zusammen und Hannah mega glücklich. Und das Schlimmste: sie ist keine Jungfrau mehr! Ich hab ihr fast meinen Tee ins Gesicht gespuckt als sie mir das erzählt hat. Bis ins Detail. Ich hab das gar nicht wissen wollen, aber tapfer zugehört. Klar erzählen wir uns alles, aber... naja, ein einfaches Konsti, Lars und ich haben miteinander geschlafen und es war super schön hätte gereicht. Stattdessen hat sie mir alles von Vorspiel über Hauptakt und Nachspiel erzählt und ich glaube, ich brauche Lars nicht nackt sehen um zu wissen, wie er aussieht. Hoffentlich erwartet Hannah so was nicht von mir... die weiß zwar, was Noah und ich so miteinander tun, aber das ist auch schon alles. Wie Noah untenrum bestückt ist geht sie halt nichts an. Ich kriege Gänsehaut und Herzrasen, wenn ich mir Noah nackt vorstelle... was leider sehr oft ist. Nämlich jeden Abend, den ich nicht bei Noah sein kann.   Oskar ist zu meinem persönlichen Krankenpfleger geworden. Inzwischen liege ich seit knapp eineinhalb Wochen jetzt im Bett, leide vor mich hin, habe Fieberwahnvorstellungen, Mandeln so groß wie Avocados, einen Husten wie ein Kettenraucher und Asthmakranker zusammen und von meinem Schnupfen will ich gar nicht erst anfangen. Nasennebenhöhlen und Stirnhöhlen? Dicht. Ich kann noch nicht mal auf dem Rücken liegen, weil ich das Gefühl habe, mir platzt das Gesicht. Oskar ist brav an meiner Seite, liegt neben dem Bett und schaut manchmal nach, ob ich noch atme. Das tue ich. Wie Darth Vader höchst persönlich. Weil Mom und Dad arbeiten müssen und Bastian ja nicht mehr daheim ist, muss ich mich dennoch jeden Tag raus schleppen und mit Oskar Gassi gehen. Das trägt zwar nicht unbedingt zu meiner Genesung bei, aber immerhin kann mir keiner vorwerfen, mir würde Frischluft fehlen.   Es ist ein Tag wie jeder andere auch. Ich habe meine Ration an Medikamenten bereits hinter mir, meine Brust mit Erkältungssalbe eingeschmiert, mir das Zeug auch direkt unter die Nase gerieben, Kamillentee inhaliert und sehe aus wie ein Eskimo, so dick eingepackt bin ich. In vier Tagen ist Halloween, was ich eigentlich mit Hannah, Maxi, Lars und Jules im Horizon verbringen möchte. Jules ist seiner Flamme Lex wohl auch etwas näher gekommen, aber von zusammen sein kann man da noch nicht so wirklich sprechen. Der würde jedenfalls auch mitkommen. Muss ja zugeben, dass es mich schon ein klein wenig interessiert, was das für ein Typ ist, der Jules den Kopf verdreht hat. Immerhin weiß ich von Maxi, dass Jules Sexleben sehr aktiv und relativ wahllos ist. Der Typ kennt nämlich tausend Leute im Horizon und weiß Gott wo noch. Ich habe überlegt, Noah zu fragen ob er mitkommen möchte. Wir sind immerhin noch nicht zusammen als... Paar weg gegangen. Noch nicht mal in ein Café oder so. Zum auswärts essen in einem netten Restaurant ist es auch noch nicht gekommen. Das ist ja auch so eine Sache, dir mir ein klein wenig zu schaffen macht. Wenn man zusammen ist, dann unternimmt man doch etwas gemeinsam, oder nicht? Das einzige, was mir unternehmen ist, uns bei Noah zu treffen und... naja. Also, wir sind nicht immer, äh, sexuell miteinander aktiv, manchmal schlafen wir auch nur Arm in Arm nebeneinander ein was wirklich wahnsinnig schön ist. Am Morgen macht Noah mir dann immer Frühstück wofür ich ihn umso mehr liebe. Aber zusammen weggehen? Keine Chance. Andererseits, ich habe ihn ja nicht gefragt, er aber auch nie irgendwelche Anstalten diesbezüglich gemacht. Jetzt, wo Bastian etwas weiter weg wohnt, würden wir ja auch nicht Gefahr laufen, ihm irgendwie über den Weg zu laufen, wenn das seine Sorge sein sollte. Und Mom und Dad arbeiten halt so lange, die würden nicht spontan um die Mittagszeit in der Stadt auftauchen.   Dann wiederum weiß ich auch nicht, was Noah wohl gerne machen würde. Er ist länger nicht mehr Fußball spielen gewesen, was ich schade finde, weil... naja, Fußballer gehen manchmal schon sehr zweideutig miteinander um. Und ständig tätscheln die sich gegenseitig ihre Bäuche und gehen zusammen duschen und... ich stöhne klagend in meinem Bett herum, ziehe mir die Decke über den Kopf und bin ein bisschen froh darüber, dass ich mich viel zu elend fühle, um bei diesen Gedanken... mhh, geil zu werden. Äh, zurück zum Thema! Ich habe Noah immerhin inzwischen gefragt, was er sonst noch gerne macht, wofür er sich interessiert. Da ist er ein klein wenig überrascht gewesen, weil er das wohl nicht erwartet hat. Jedenfalls geht er gerne in Museen, weil ihn Geschichte wahnsinnig interessiert – würg! – und Kunst genauso. Ich kann ja weder mit dem einem, noch mit dem anderem was anfangen, habe das aber nicht gesagt. Neben Fußball geht er auch gerne klettern, das hat er aber erst gemerkt, als er mit den Kids und Kollegen seiner Arbeit in einem Kletterpark war. Jetzt geht er regelmäßig Bouldern, was ich auch nicht wusste, sofort googeln musste und ein wenig eingeschüchtert bin. Das sieht schon ein wenig gefährlich aus und Noah nicht so krass durchtrainiert wie beispielsweise Bastian. Dem würde ich das eher zutrauen.   Ob ich mal mit Noah klettern gehen soll? Ich will mich ihm zwar nicht aufdrängen, finde es aber wichtig, auch außerhalb des Bettes Zeit mit meinem Freund zu verbringen. Was er wohl darüber denkt? Macht er sich überhaupt solche Gedanken? Leider schleicht sich bei diesen Überlegungen, wie bei vielen anderen, immer öfter der doofe Frank mit ein. Ich weiß, ich sollte uns nicht miteinander vergleichen, aber... bei ihm ist Noah bestimmt anders gewesen. Die sind auch zusammen in Urlaub gewesen, haben Dinge unternommen, Noah kennt Franks Eltern... wir haben alle gedacht, dass es was ganz Festes mit den beiden ist. Verstehe immer noch nicht, wieso Frank ihn betrogen hat. Hier muss ich dann auch immer an Sex mit Noah denken, weil... irgendwann wird es dazu kommen müssen, oder? Nicht, dass ich etwas vermisse, aber ich würde wahnsinnig gerne mit Noah schlafen. Ob er auch mit mir schlafen möchte? Denkt er über so was nach? Und wenn ja, also... mhh, möchte er auch, dass ich ihn...? Das geht doch nicht. Ich meine, ich bin erst siebzehn und fühle mich nicht so selbstbewusst, dass ich den aktiven Part übernehmen könnte. Bei ihm und Frank ist das sicherlich was anderes gewesen, weil sie alterstechnisch näher beisammen sind und Frank ja auch ein... Mann ist. Ich sehe halt eher wie Noahs kleiner Bruder aus. Leider ertappe ich mich dabei, furchtbar eifersüchtig auf Frank zu sein weil der etwas hatte, was ich nicht habe. Noch nicht, hoffe ich.   Ein Pling meines Handys reißt mich aus diesen Gedanken. Blind taste ich danach, weil es irgendwo in meinem Bett liegt... für den Fall, dass ich Hilfe brauche oder so, weil reden eher nicht so geil ist. Ich checke die neue Nachricht und falle fast aus meinem Bett.   Bin gerade in der Nähe – braucht du irgendwas?   Noah. Ja, ich brauche dich, will aber nicht so von dir gesehen werden!! Ach du Kacke... mhh, Noah ist so süß. Und es ist das erste Mal, dass er mir schreibt, um zu mir zu kommen. Auch wenn ich mich wahnsinnig darüber freue, es versetzt mir einen Stich ins Herz. Jetzt, wo Bastian nicht mehr hier rum turnt, traut er sich, mich zu besuchen anstatt ihn. Das ist die Hölle gewesen, weil er damit keine Probleme zu haben schien wenn er zu Besuch kam, während ich fast kaputt gegangen bin vor Sehnsucht. Ich habe so gerne seine Hände halten wollen. Mich neben ihn setzen wollen. Zeigen wollen, dass wir zusammen gehören. Und er ist einfach völlig normal, neutral und so wie immer gewesen.   Dich.   Schreibe ich tapfer zurück und ignoriere mein Herz, das mir bis zum wunden Hals schlägt und mein Blut so heftig durch meinen Körper pumpt, dass mir unerträglich heiß wird. Das ist bestimmt das Fieber, auch wenn ich heute Morgen immerhin nur erhöhte Temperatur hatte... dank der Medikamente.   Noah antwortet nicht, eine halbe Stunde später klingelt es jedoch an der Tür. Ich kann mir nicht helfen, aber... hat er genau dasselbe gemacht, wie ich bei ihm? Ein klein wenig grinsend muss ich die Treppe runter schleichen, betrachte mich vorher aber nochmal im Spiegel im Flur. Ich sehe aus wie ein kranker Penner. Jogginghose, dicke Wollsocken drüber, damit meine Füße und Knöchel nicht kalt werden und unter dem XXL-Pullover mit Kapuze habe ich ein Tshirt und ein Tanktop an. Und einen Wollschal trage ich auch. Meine Haare... au kacke, die habe ich seit vorgestern nicht gewaschen, sind zwar nicht fettig, aber so unordentlich, dass ich aussehe, als hätte ich in die Steckdose gepackt!   Peinlich berührt öffne ich die Tür und kriege sofort eine Gänsehaut, als mir die kalte fast-Winter-Luft um die Ohren schlägt. Und weil Noah vor mir steht, der einen Jutebeutel in der einen Hand trägt und eine hübsche Ledertasche um die Schultern. Er sieht mich mitleidig an.   „Hey.“, ist alles, was er sagt und ich gehe zur Seite, um ihn rein zu lassen. Das er mich nicht zur Begrüßung küsst kann ich verstehen, aber er könnte mich ja wenigstens umarmen. Naja, schätze, ich sehe nicht gerade so umarmungswürdig aus. Ich kann es Noah nicht verübeln und schließe schnell die Tür. Wir gehen in die Küche, also eigentlich folge ich Noah, weil der vorgegangen ist nachdem er Schuhe, Mantel, Schal und Mütze ausgezogen und ordentlich aufgehangen hat. Seine Haare sind ein wenig verstrubbelt und sehen genauso aus, wie ich sie durcheinander bringen würde, wenn wir... äh, au je. Ich sollte keine schlüpfrigen Gedanken haben.   Noah schmeißt den Wasserkocher an und packt den Beutel aus. Es kommen Zitronen, Mandarinen, Äpfel, Taschentücher und eine Flasche mit grünem Zeugs drin vor. Und Salbeibonbons. Ich will Noah küssen!!   „Wie geht es dir?“, fragt Noah, als er eine Tasse raus holt und die Zitrone halbiert und den Saft der einen Hälfte darüber ausquetscht. Ich kann nur wie blöde auf seine Hand starren und unschlüssig mit etwas Sicherheitsabstand von ihm entfernt stehen bleiben.   „Nicht gut.“, gebe ich knapp zur Antwort woraufhin Noah mich schwach anlächelt. Das ist eine blöde Frage gewesen, das muss ihm auch klar sein. Er kennt mich immerhin seit siebzehn Jahren und weiß, dass dies nicht meine einzige Erkältung Schrägstrich Grippe in dieser Saison sein wird.   Zehn Minuten später sitzen wir im Wohnzimmer, ich in einer Wolldecke an Noahs linker Seite eingewickelt, der seinen Arm lieb um mich liegen hat. Ich hoffe, ich stecke ihn nicht an. Der hat nämlich keine Berührungsängste und gibt mir gerade einen Kuss aufs Haar. Ich stehe in Flammen und muss mich etwas mehr gegen ihn sacken lassen während ich meine heiße Zitrone trinke, die ich normalerweise hasse, Noah sie aber mit etwas Honig verfeinert hat, so das ich sie genießen kann. Außerdem hat Noah sie gemacht!!   „Wie lange bist du noch krank geschrieben?“   „Bis Ende der Woche“, röchele ich und muss direkt husten, was mir die Tränen in die Augen treibt weil es so scheiße weh tut und ich nicht richtig atmen kann, „dabei ist Freitag Halloween Party im Horizon.“   Das ist zwar gerade mein geringstes Problem, aber ich habe mich so darauf gefreut! Kann ich ja jetzt wohl knicken. Noah streicht mir sanft durchs Haar.   „Wir kriegen dich schon rechtzeitig auf die Beine.“, verspricht er mir wofür ich ihn überrascht ansehen muss. Er schenkt mir ein warmes Lächeln und küsst meine heiße Stirn. Mhh, Noah ist so wahnsinnig süß...   „Pflegst du mich gesund?“   „Ich hab mir sagen lassen, dass ich darin sehr gut bin.“   Von wem will ich mal lieber nicht wissen. Ich drehe meinen Kopf etwas mehr und lehne ihn an seine Schulter, damit ich ihn besser ansehen kann.   „Danke, dass du hier bist.“   Wir schauen uns an. Lange. Noahs Hand, die eben noch durch mein Haar gestreichelt an, liegt nun ganz still an meiner Schulter und sein Kopf ist so nah... ich will ihn küssen, aber dann stecke ich ihn an und dann ist er krank und ich will nicht so lange ohne ihn sein. Die letzten Tage sind eh schon der Horror gewesen. Ich versuche ihn so oft wie möglich zu sehen, aber mit Schule, Arbeit und all dem ganzen Kram klappt das leider nicht immer so.   Noah küsst mich, bevor ich protestieren kann. Mein Hirn schaltet sich von ganz alleine ab und während mein Herz wie blöd herum bollert, halte ich die Tasse in meinen Händen mal lieber besser fest, bevor sie mir noch hinfällt. Noahs rechte Hand legt sich an sein Gesicht, hält es sanft fest, während er mich so süß und langsam und zart und lieb küsst, dass mir beinahe schwindelig wird. Leider kriege ich schlecht Luft und spüre, wie mein Hals sich für den nächsten Hustenanfall bereit macht... wie peinlich! Ich drehe meinen Kopf weg und huste wie doof in meinen linken Arm. Noah streichelt sanft über meinen Rücken.   „Ich stecke dich nur an...“, jammere ich und möchte etwas auf Distanz gehen, doch Noah hält mich fest, nimmt mir die Tasse ab und stellt sie auf den Couchtisch, setzt sich bequemer hin, so das ich halb in seinen Armen liegen kann.   „Ich werde nicht so schnell krank.“, beruhigt er mich und küsst wieder mal mein Haar. Ein bisschen bin ich noch benebelt, weil er den Kuss initiiert hat. Eigentlich bin ich derjenige, der den ersten Schritt macht, was auch so eine Sache ist, über die ich andauernd nachdenke. Von sich aus hat Noah mich nämlich noch nicht geküsst oder gar... mhh, intimer berührt. Das ist mir jetzt aber erstmal egal, weil ich mich mehr an meinen Freund kuscheln und wohlig die Augen schließen muss. Noah riecht so gut und ist so wunderbar warm... ich wünschte, er würde mich nie wieder los lassen...   Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffne, liege ich in meinem Bett, das frisch bezogen ist, Oskar auf dem Boden neben meinem Bett und Noah ist weg. Das weiß ich ganz sicher, weil neben meinem Nachttisch ein Zettel liegt. Noah hat eine sehr ordentliche Handschrift und teilt mir mit, dass er am Freitag auch plant ins Horizon zu gehen – mit mir. Deshalb solle ich ganz schnell auf die Beine kommen.   Ich sterbe!! Noah will mit mir ausgehen! Wenn das mal kein Grund ist, wieder gesund zu werden! Neben seiner Notiz liegt noch ein Zettel mit Anweisungen und die grüne Flasche, die ich als Erkältungsbad erkenne. Soll jeden Abend ein Bad kurz vor dem schlafen gehen nehmen. Und viel Obst essen, heiße Zitrone schlürfen, Tee und auch mal an die frische Luft – nicht zu lange. Ahh, Noah kümmert sich so lieb, da muss ich ja gesund werden! Erst recht wenn er plant, mit mir auszugehen...!   Aber, Moment mal... dann... dann lernt er ja quasi meine Freunde kennen. Also, er kennt natürlich Hannah und Maxi hat er immerhin einmal gesehen. Ich will jetzt nicht so weit gehen und Jules und Lars als meine Freunde betrachten, aber... wie sagte Jules so schön? Wir sind ja jetzt quasi Familie. Und zumindest mit Lars muss ich ja gut auskommen. Er ist ja auch ganz nett und angenehm, das muss man ihm zugestehen.   Jetzt sollte ich mich aber erstmal darauf konzentrieren, gesund zu werden!   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Naja, das mit dem gesund werden hat nur so halb geklappt.   Fieber habe ich seit Dienstag zwar keins mehr gehabt und ich fühle mich auch nicht mehr wie durch den Fleischwolf gedreht, aber Husten, Halsweh und Schnupfen habe ich immer noch. Bin noch etwas heiser, aber Hannah meint, meine Stimme klingt sehr sexy. Ich finde, ich klinge wie ein Frosch mit Mandelentzündung, aber wenn sie meint...   Auch wenn heute Halloween ist, schminken tu ich mich nicht. Dafür bin ich immerhin in schwarz gekleidet und finde, dass ich sehr heiß aussehe, würde ich nicht einen dicken, fetten Hoodie tragen, den ich im Horizon zwar sicherlich ausziehen werde, aber... naja, jetzt sehe ich immer noch aus wie eine kranke Bazille.   Meine Eltern sind nur mäßig begeistert und finden, ich sollte lieber daheim bleiben. Aber Halloween ist ja nur einmal im Jahr – auch wenn manche Leute rumlaufen, als wäre jeden Tag Halloween – und ich will es mir auf keinen Fall entgehen lassen, Noah zu treffen und nicht so tun zu müssen, als wäre er einfach nur der beste Freund meines Bruders.   Auf dem Weg zum Horizon hole ich Hannah ab, die natürlich das volle Programm fährt. Sie sieht aus wie ein waschechtes Gothic-Mädchen... oder wie eine Hexe, mit ihren roten Haaren. Einen Kuss schmatzt sie mir nicht auf, weil sie schwarzen Lippenstift trägt. Wie sie später Lars küssen will, ist mir ja auch ein Rätsel. Sie greift nach meiner Hand, als wir schließlich auf dem Weg zum Club sind und schwingt unsere Arme hin und her.   „Bist du aufgeregt?“, fragt sie mich und ich nicke heftig wie ein Wackeldackel auf der Autobahn.   „Das ist ganz sicher ein Statement. Das ihr zusammen gehört.“, schwärmt Hannah und kuschelt sich an meine Seite, während wir durch die Dunkelheit schlendern. Ich rede mir das natürlich auch ein, auch wenn es ja eigentlich sehr offensichtlich ist.   Lars, Maxi, Jules und einen anderen Jungen treffen wir vor dem Eingang. Jules ist der einzige, der wirklich Halloween-like unterwegs ist. Er hat sich eine schwarze Plastikspinne ins Haar gesteckt, das zu allen Seiten absteht. Scheinbar hat er auch frisch gefärbt, weil sein Haar so krass rot leuchtet, dass es mir in den Augen weh tut. Lars und Maxi sind genau wie ich schwarz-in-schwarz gekleidet, Maxi sieht aber aus, als würde er heute jemanden aufreißen wollen... er könnte ruhig ein bisschen mehr Stoff am Körper tragen, aber das ist nur meine bescheidene Meinung. Und der andere Junge... ich will nicht sagen, dass wir uns besonders ähnlich sehen, aber er wirkt ein wenig deplatziert zwischen all den bunten Gestalten, die sich hier so tummeln. Und er sieht auch nicht sehr glücklich aus, während er Jules' Hand hält. Naja, eher unwohl. Ein ganz kleines Lächeln ist auf seinen Lippen nämlich schon zu erkennen.   „Das ist Lex. Lex, das ist Konstantin.“, stellt uns der Punk einander vor und wir schütteln brav unsere Hände. Dann findet Maxi, wir sollen endlich rein gehen. Alle, bis auf Lars und Maxi, kriegen ein rotes Armband um und ich schäle mich direkt aus meinen Hoodie, weil es furchtbar heiß hier drin ist. Und voll bis unters Dach. Halloween – da geht immer, wortwörtlich, der Punk ab. Überall dunkle und knallbunte Gestalten, Hexen, Zombies, Mumien, Horror-Krankenschwestern und leicht bekleidete Jungs und Männer die irgendwo zwischen Alternativ, Punk und Goth anzusiedeln sind. Meinen Hoodie werde ich an der Garderobe los, wo ich dem Zombie hinter der Theke zwei Euro für gebe.   Wir latschen erstmal gemeinschaftlich zur Bar und bestellen Bier. Außer Lars, der bestellt Gin-Tonic und Maxi Jack-Cola. Wir stoßen alle zusammen an, dann stürzen wir uns ins Getümmel und tanzen. Als ich zwischendrin mein Handy checke hat Noah mir geschrieben, dass er in etwa einer Viertelstunde da ist. Das war vor fünf Minuten, wie ich feststellen muss als ich sehe, wann er sie geschickt hat. Es ist fast neun. Wir haben keine feste Zeit ausgemacht und er hat kein Problem damit gehabt, dass ich erstmal meine Freunde treffen und ein wenig Zeit mit ihnen verbringen wollte. Die sind sicherlich genauso aufgeregt wie ich, wenn sie Noah sehen werden. Jules jedenfalls will das unbedingt wissen, neugierig wie er ist. Lars ist nur interessiert an der etwas komplizierten Situation zwischen uns.   Nachdem mein erstes Bier leer ist und die anderen noch weiter durch die Gegend tanzen und hopsen, mache ich mich auf die Suche nach Noah, der ja wohl inzwischen irgendwo hier sein müsste. Ich drängle mich durch tausend Leute, fluche, als mir jemand auf den Fuß tritt und ich beinahe einen Ellbogen in die Visage kriege, niese, weil mir ein fürchterlicher Patschuli Geruch in die Nase steigt und bin froh, als ich endlich an der Bar ankomme, weil ich dringend noch ein Bier brauche. Da knalle ich fast mit Noah zusammen, der irgendeinen Cocktail in seiner Hand hält und verboten heiß aussieht.   Ich schwöre, seine schwarze Jeans hängt irgendwo auf halb acht. Vermutlich eher so halb sieben. Man kann den dezenten, dunklen Schatten an Haar unter seiner Hose verschwinden sehen, weil sein schwarzes, löchriges Tshirt nicht unbedingt sehr lang ist. Oder seine Hose hängt einfach viel zu tief. Er hat sich ein paar Silberkettchen an die Hose gehangen, schlichte schwarze Lederschnüre um das linke Handgelenk gewickelt und seine Haare sind aufregend gestylt. Oh Gott, ich mag sofort über ihn herfallen. Wusste gar nicht, dass er so... mhh, rauchig und verrucht aussehen kann.   „Noah“, brülle ich gegen die Musik an, knalle meine Bierflasche auf die Theke der Bar, „ich hab dich vermisst.“   Und muss meinen Freund erstmal küssen, der ein klein wenig überrumpelt wirkt, seinen freien Arm aber um mich legt und den Kuss äußerst sexy erwidert. Er knabbert leicht an meiner Unterlippe.   „Ich dachte, du verkleidest dich als Zombie.“, schmunzelt er mich an, wofür ich ihm sanft gegen den Bauch boxe.   „Weil ich mich dafür nicht groß hätte verkleiden müssen?“   „Ganz genau.“, nickt er und küsst mich direkt nochmal, dass mir Hören und Sehen vergeht. Wow!! Also, wenn das kein Statement ist... weiß ich auch nicht weiter!   Ich bestelle mir noch ein Bier, dann nehme ich seine Hand, wir lächeln uns an und ich ziehe ihn durch die Menge zu meinen Freunden. Hannah und Noah umarmen sich, alle anderen reichen sich untereinander brav die Hände. Noah sieht Jules ein wenig verwirrt an und blinzelt, als würde er seinen Augen nicht trauen. Dann schüttelt er nur ganz leicht den Kopf, was wohl mehr für ihn selbst ist als für alle anderen, wir stoßen gemeinsam an, trinken und tanzen.   Gott, Noah kann tanzen... da ist Maxi ja ein Witz gegen! Ich sehe, dass er bemüht heimlich zu meinem Freund rüber schielt und auch wenn ich es ihm nicht verübeln kann, muss ich direkt mal näher an Noah heran tanzen. Der legt seine freie Hand an meine Hüfte und zieht mich etwas näher. Ich bemühe mich wirklich, mindestens genauso aufreizend zu tanzen, weiß aber nicht, ob mir das gelingt. Noah trinkt von seinem Cocktail und ich muss wie hypnotisiert auf seine Lippen starren, die sich um den Strohhalm legen. Fuck... wo ist mein Noah hin, der sich niemals nie so vor mir präsentieren würde?! Was ist mit meinem Freund los, der nicht nur mir ganz klar signalisiert: dieser Junge hier gehört zu mir!   Damit wir uns richtig verstehen: ich will mich nicht beschweren, ganz im Gegenteil. Aber ein klein wenig wundert mich sein Sinneswandel ja schon und... mhh, es überfordert mich vielleicht doch ein klein wenig, weil Noah so selbstbewusst ist, dass mir ganz anders wird. Und heute bin nicht nur ich derjenige, der Küsse initiiert. Hin und wieder küsst Noah mich ganz von sich aus und das nicht gerade unschuldig. Und wie der mit mir tanzt! Ob ihm klar ist, was er da tut? Wenn er sein Becken so kreisen lässt, mich an sich drückt und seine Hand, dessen dazugehöriger Arm um mir liegt, ganz knapp über meinem Hosenbund am Steißbein liegt?! Ich kralle mich ganz leicht an den Stoff seines Tshirts an seiner Hüfte – mehr traue ich mich nicht, außerdem muss ich aufpassen, dass ich nicht versehentlich mein Bier fallen lasse.   Irgendwann packt mich jemand am Arm. Hannah zieht mich etwas weg und Noah gibt mich Protestlos frei, dieser Verräter!   „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich ein bisschen mit Konsti tanze?“, ruft sie Noah zu, der wohlwollend mit dem Kopf schüttelt und auf seinen fast leeren Cocktail deutet. Von dem hat er nämlich immer mal wieder getrunken, was bei mir Schweißausbrüche verursacht hat. Noah zwinkert mich an, dann verschwindet er zwischen den Tanzenden und aus meiner Sichtweite.   Ich grabsche nach Hannahs Hand und drücke sie so fest, dass sie leise jammert.   „Oh Gott, Noah ist...“   „Jaja, ist nicht zu übersehen, wie scharf er auf dich ist. Wenn er dich heute nicht flachlegt, weiß ich auch nicht mehr weiter!“   Also das will ich mal lieber nicht gehört haben und auch gar nicht weiter darüber nachdenken! Tanze lieber mit Hannah und habe ein bisschen Spaß mit ihr. Wir haben es inzwischen gut drauf, uns zwischendurch etwas anzuspringen ohne unser Bier zu verkippen. Dann lachen wir beide und wiederholen das mit unseren Freunden. Hannah und Lars küssen sich zwischendurch und Jules... naja, er bedrängt diesen Lex zwar nicht, aber dem ist anzusehen, dass er sich dieser ganzen Sache noch nicht so sicher ist wie wir anderen. Wobei, Jules ist da nicht wirklich ein Maßstab. Selbst Maxi ist nicht so gewagt und selbstbewusst wie der kleine Punk.   Wir tanzen eine ganze lange Weile zusammen und es stört mich nicht, dass wir dabei wechselnde Partner haben. Mit Maxi zu tanzen ist völlig ungefährlich, auch wenn wir uns einmal kurz ganz fest umarmen und ich sein Herz gegen meine Brust schlagen spüre. Lars und ich sind eine andere Geschichte, weil ich nicht unbedingt zu nah mit Hannahs Freund tanzen möchte und er wohl doch auch irgendwo unsicher ist, ob er mit Hannahs bestem Freund zu vertraut sein sollte. Mit Jules zu tanzen halte ich für sehr gefährlich, auch wenn er sich offensichtlich zurückhält weil seine Flamme direkt neben ihm steht. Der tut mir ein wenig leid, weshalb ich ihm bedeute, mir zu folgen. Alibihalber halte ich meine mal wieder leere Bierflasche hoch und deute auf die seine, die auch mal bessere Zeiten erlebt haben muss. Wir machen uns auf dem Weg zur Bar.   „Du siehst aus, als könntest du noch mindestens sechs Bier vertragen!“, rufe ich ihm zu als ich mich zu ihm lehne, was ihm ein klein wenig unangenehm zu sein scheint. Er geht etwas auf Distanz.   „Das hier ist nicht unbedingt meine Welt.“, gibt er zu und bestellt uns beiden jeweils noch ein Bier wofür ich mich überrascht bedanke, als wir gemeinsam anstoßen.   „Bist du in Jules verliebt?“, komme ich direkt zum Punkt und finde, dass die selbstbewusste Schiene mir doch ganz gut steht. Ich schaffe es nämlich, total ernst und lässig zu bleiben, während Lex vor mir wahnsinnig rot wird und den Blick senkt. Okay, ich kann Jules verstehen. Lex ist schon süß. Das darf ich ja wohl einfach mal feststellen, okay?!   „Nein! Ja... ich glaube schon.“   Ich lege ihm kameradschaftlich einen Arm um, was er immerhin zulässt.   „Ist nicht so einfach, mh?“   Er schüttelt den Kopf.   „Ich bin mit dem besten Freund meines Bruders zusammen, der fast zehn Jahre älter ist als ich.“   Lex sieht mich geschockt an, dann mitleidig.   „Wann sind Beziehungen schon mal einfach, was?“   Da können wir nur in tiefem Verständnis miteinander anstoßen, dann macht Lex sich wieder auf dem Weg und ich halte mal lieber nach Noah Ausschau, der jetzt schon eine ganze Weile verschwunden ist. Es wird mal wieder Zeit, nach ihm zu suchen. Mit klopfendem Herzen, einem verliebten Lächeln der Güteklasse A, kribbeln im Bauch... das volle Programm.   Das alles vergeht mir schlagartig, als ich Noah mit einem anderen Typen am Rande der Masse sehe, abseits von allen anderen, wo es ein wenig ruhiger ist. Die beiden küssen sich nicht oder dergleichen, sie tanzen nicht, sie reden miteinander. Das wäre mir ja theoretisch egal, es könnte ja ein Bekannter oder so von ihm sein.   Ist es aber nicht.   Es ist Frank.   Mein Herz setzt aus, in meinem Schädel dreht sich ein Karussell. Ich fühle mich, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Was macht der denn hier?! Und warum, zur Hölle, redet mein Freund mit ihm?!   So schnell mich meine Beine tragen können, eile ich zu den beiden rüber und bleibe neben Noah stehen – nah genug, um Zugehörigkeit auszudrücken, aber nicht, um ihm irgendwelche eindeutigen Hinweise zu liefern. Trotzdem sieht er mich überrascht an.   „Hey Konstantin“, grüßt er mich freundlich, aber ich höre die Unsicherheit in seiner Stimme, „happy Halloween.“   „Frank.“, grüße ich ihn lediglich und schaffe es, ihm zuzunicken. Noah neben mir scheint mit der Situation wohl genauso überfordert zu sein wie ich. Frank hat sich kein bisschen raus geputzt, er trägt eine einfache Jeans und Tshirt, Gürtel, eine fette Uhr am Handgelenk. Einzig seine Haare sind ordentlich gestylt. Und sein Bart, der ihn vielleicht ein klein wenig verwegen aussehen lässt. Er ist größer als Noah und scheint in den letzten Monaten wohl exzessiv das Fitnessstudio aufgesucht zu haben, sein Tshirt spannt an Brust und Oberarmen.   „Tja“, macht Noah irgendwann und dreht sich etwas zu mir, mir still zu verstehen gebend, dass wir jetzt besser hier weg kommen, „dann dir noch viel Spaß und einen schönen Abend.“   Wahnsinn, wie souverän der bleiben kann. Keine Ahnung, ob er seit der Trennung nochmal mit Frank gesprochen oder ihn gar gesehen hat oder es heute das erste Mal ist, dass er ihn wiedersieht. Aber irgendwas mit ihm machen muss diese Situation weil ich in Noahs Augen einen ziemlich harten Ausdruck erkennen kann. Bevor wir jedoch gehen können, höre ich plötzlich Jules' Stimme.   „Konstantin! Da bist du ja, Hannah sucht dich“, meint er als er sich dazu gesellt und einen Blick auf Frank wirft, den er überrascht, aber nicht... unwissend anschaut, „oh, hi Frank. Haben uns ja ewig nicht gesehen.“   Die Musik ist plötzlich ganz leise. In meinen Ohren rauscht das Blut. Jules sieht Frank an, als würde er ihn kennen. Viel zu gut kennen. Und ein Blick auf Frank... der sieht so geschockt und ertappt aus, das kein Zweifel mehr besteht, was damals vorgefallen ist.   Noah sieht gleichermaßen entsetzt aus... und wirbelt zu Frank herum.   „Das ist er, ja?! Der kleine Punk, mit dem es einfach so passiert ist?!“   Au scheiße, ich habe Noah noch nie wütend erlebt. Und so enttäuscht und verbittert, dass es mir das Herz bricht. Jules hat wenigstens so viel Anstand, um ernsthaft betroffen aus der Wäsche zu gucken. Frank hebt abwehrend die Hände, als Noah wütend die Fäuste ballt. Oh Gott, der wird Frank doch keine verpassen?   „Noah, es tut mir leid, das habe ich mehr als einmal gesagt. Du weißt, dass es mit uns...“   „Halt bloß deine verdammte Fresse, Arschloch! Der ist noch ein Kind, verdammte Scheiße! Was hast du dir dabei gedacht?!“   „Äh, ich werde bald achtzehn“, mischt Jules sich ungefragt ein und drängelt sich zwischen Frank und Noah, was ich ja für keine gute Idee halte, „und jetzt beruhigend wir uns mal alle wieder und... gehen getrennte Wege, okay?“   Noah sieht aus, als würde er Jules eine rein schlagen wollen. Ich stehe noch unter Schock und weiß gar nicht was ich sagen, geschweige denn tun soll.   „Das halte ich für eine gute Idee.“, stimmt Frank zu und nicht nur Noah sieht aus, als würde er Frank am liebsten vor die Füße brechen. Der Kerl spinnt doch!   „Du bist so ein verdammter Mistkerl!“, schnauzt Noah Frank ein letztes Mal an und stürmt davon. Frank sieht mich verwirrt an, Jules blickt unsicher zwischen uns hin und her, dann sehe ich zu, dass ich meinem Freund folge. Der macht sich auf Richtung Eingang Schrägstrich Ausgang, ich suche so schnell es geht Hannah und erzähle ihr ganz kurz, dass es ein Notfall ist, drücke ihr mein Bier in die Hand und verspreche, ihr später zu schreiben oder sie anzurufen, renne zur Garderobe und hole meinen Hoodie. Als ich nach draußen gehe, trifft mich fast der Schlag, so bitterkalt ist es hier im Vergleich zu drinnen. Ich friere mir direkt den Arsch ab und suche alle Seiten ab, bis ich Noah entdecke, der sich sehr zielstrebig aus dem Staub macht. Sofort eile ich ihm hinterher, rufe nach ihm was mit meiner Stimme nicht sehr schön klingt und hole ihn schließlich ein. Aber nicht, weil er stehen geblieben ist.   „Noah, jetzt warte doch mal!“, keuche ich erschöpft und greife nach seiner Hand, doch er schüttelt die meine rigoros ab. Er sieht mich nicht an, bleibt nicht stehen, sondern geht einfach weiter Richtung Bahnhof. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass wir wieder zurück gehen und Halloween gemeinsam genießen können.   „Noah!“   Ich greife erneut nach seiner Hand, auch dieses Mal will er den Kontakt abschütteln, doch ich lasse ihn nicht und halte seine Hand ganz fest. Er bleibt kein einziges Mal stehen, sieht mich nicht an, lässt aber irgendwann zu, dass ich seine Hand halte.   „Sei still.“, ist alles, was er sagt und sein Ton macht mir genug Angst, dass ich auf dem Weg zum Bahnhof, in der Bahn, zu seiner Wohnung, im Aufzug und schließlich drinnen im Flur keinen Ton von mir gebe. Mein Freund kickt seine Schuhe von sich, schmeißt seinen Mantel einfach auf den Boden, rauft sich die Haare und marschiert ins Wohnzimmer, wo er das Licht anknipst und irgendwas durchwühlt. Ich höre irgendwas klirren.   Ich sammle seinen Mantel auf und hänge ihn ordentlich an die Garderobe, finde einen freien Platz für seine Schuhe im Schuhregal und werde meinen Hoodie und Schuhe ebenfalls los. Handy, Schlüssel und Geldbörse lege ich oben auf dem Schuhschrank auf ehe ich Noah folge. Der steht nahe der Wohnwand an einem offenem Schrank, hält ein Whiskyglas in der einen Hand und die dazugehörige Whiskyflasche in der anderen. Er kippt das Glas in einem Zug runter ohne sich zu schütteln und füllt sein Glas erneut.   Es bricht mir das Herz, Noah so zu sehen. Und mir wird zum ersten Mal bewusst, dass er Frank wirklich geliebt hat. Und ein Teil von ihm das vielleicht auch immer noch tut, schließlich wirft man vier Jahre Beziehung nicht einfach so über Bord, oder? Ich erinnere mich, dass Noah mir gesagt hatte, dass es alles irgendwie einfacher macht, dass Frank fremdgegangen ist. So was verzeiht man nämlich nicht eben mal so. Die Wahrheit sieht doch so aus: betrogen zu werden ist nicht nur ein Schlag in die Fresse, sondern auch der ultimative Vertrauensbruch. Wie muss Noah sich gefühlt haben, als Frank wenigstens die Eier in der Hose hatte um ihm zu gestehen, dass er mit einem anderen Typen geschlafen hat? Mit Jules?! Mir kommt fast mein Bier hoch, doch als ich sehe, dass Noah sich ein drittes Glas kippen möchte, gehe ich dazwischen und halte seine Hand fest. Er sieht mich nicht sehr freundlich an, doch ich bin tapfer und weiche seinem Blick nicht aus.   „Was für eine Freakshow an Halloween, hm?“, versuche ich die Stimmung ein wenig zu entspannen und schaffe es, Noah das Glas und die Flasche abzunehmen. Ich stelle beides erstmal auf die Ablage seiner Wohnwand auf der auch der Fernseher steht. Noah sieht... ich weiß nicht. Wahnsinnig verwirrt, verlassen, traurig und wütend zugleich aus. Ich greife nach seinen Händen und verschränke unsere Finger miteinander.   „Es ist spät und du musst nach Hause.“   „Ich rufe Ma an und sage ihr, dass ich auswärts schlafe.“   „Brauchst du nicht.“   „Doch, brauche ich. Weil mein Freund mich braucht und ich bei ihm sein will.“   Es ist das erste Mal, dass ich unsere Zusammengehörigkeit so offen ausdrücke, vor allem vor Noah. Der sieht immer noch so aus, als... tja, keine Ahnung. Glücklich jedenfalls nicht. Ich kann es ihm nicht verübeln. Vorsichtig löse ich unsere Hände, trete etwas näher an ihn heran, was er immerhin zulässt. Er sieht mich einfach nur an, eine Gefühlsregung zeigt er nicht. Ich umarme ihn und lehne meinen Kopf an seine Brust, halte ihn so fest ich kann und hoffe, dass ich ihm... keine Ahnung, Halt geben kann. Die Sicherheit, dass ich da bin. Das ich ihn niemals verletzen werde und es mit uns das für immer ist.   Es dauert viel zu lange, bis Noah die Umarmung erwidert, aber als er es tut, hält er mich ganz fest und schmiegt sein Gesicht an mein Haar. Immerhin. Ich streichele ihm sanft den Rücken, lasse meine Hände dann aber an seinen Schulterblättern liegen. Eigentlich weiß ich nicht wirklich was ich tun soll. Ich möchte ihm irgendwie... naja, Trost spenden, ihm eine Hilfe sein, eine Stütze. Ob er mich so wahrnimmt? Ob es ihm besser geht, weil ich da bin? Wie gerne würde ich ihn fragen. Wie gerne wissen, was ich für ihn bin, aber dieser Moment ist sicherlich nicht der Richtige.   Keine Ahnung, wie lange wir hier einfach nur stehen, aber irgendwann nehme ich ihn an die Hand und ziehe ihn mit mir in den Flur. Mit der freien Hand greife ich mein Handy, wähle Moms Nummer und warte, bis sie abnimmt.   „Konstantin, ist alles in Ordnung? Wo bist du?“, kreischt sie panisch in den Hörer und mir klingeln unangenehm die Ohren. Es ist fast halb zwölf und ich hätte eigentlich spätestens jetzt auf dem Heimweg sein müssen.   „Ich... mhh, Hannah hat etwas Stress mit Lars und... ich bleibe die Nacht bei ihr, okay?“   „Oh nein, hoffentlich ist es nichts Schlimmes! Aber komm morgen nicht zu spät wieder, hörst du? Du solltest dich lieber schonen.“   „Ja Mama... gute Nacht!“   „Gute Nacht, Schatz!“   Als ich endlich auflegen kann, lege ich mein Handy wieder zurück und sehe Noah an, der mich ein klein wenig verwundert anguckt. Zugegeben, ich fühle mich etwas schlecht, meine Ma so angelogen zu haben und Hannah muss ich ja dann auch mal lieber aufklären, damit es beim Gespräch, wenn sie mal wieder zu Besuch kommt, nicht zur Verwirrung kommt.   Ich greife nach Noahs Hand.   „Wenn... wenn du reden möchtest... ich bin für dich da.“   Oh Mann, das klingt so furchtbar lahm, aber sicherlich ist es gut, ihm das auch mal so zu sagen. Noah lächelt mich ganz schwach an, hält meine Hand weiterhin, als er mich durch den Flur mit in sein Zimmer nimmt. Unterwegs knipst er das Licht im Wohnzimmer aus und das in seinem Zimmer an. Sein Bett ist ordentlich gemacht, wie immer. Wenn er jemals zu mir kommt, in mein Zimmer... ich sollte mir vielleicht ein Beispiel an seiner Ordnung nehmen. Noah schält sich aus seiner Kleidung, die er einfach an Ort und Stelle auf dem Boden liegen lässt. Ich tue es ihm einen Moment später gleich, behalte meine Shorts aber genauso wie Noah an, als wir ins Bett gehen und ich mich auf die Seite drehe um Noah anzuschauen, der auf dem Rücken liegt, die Arme hinter seinem Kopf verschränkt.   Wir schweigen eine ganze Weile. Viel zu lange. Ich empfinde es allmählich als unangenehm, da ergreift Noah schließlich das Wort.   „Frank und ich hatten schon Anfang des Jahres irgendwie... Probleme. Er arbeitete länger, ich nahm so viele Vierundzwanzig-Stunden-Dienste wie möglich. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber es fühlt sich jetzt im Nachhinein an wie das klassische Auseinanderleben.“   Ob ich Noah berühren soll? Meine Hand nach ihm ausstrecken und einfach auf seine Brust legen? Ihm signalisieren, dass ich da bin, ihm zuhöre, jedes Wort von ihm aufsauge wie ein trockener Schwamm? Ich traue mich allerdings nicht und behalte meine Hände mal lieber bei mir.   „Wir gingen nicht mehr sehr oft zusammen aus. Irgendwie waren wir aber dennoch zufrieden miteinander. Ein eingespieltes Team, das haben wir uns schließlich vier Jahre lang aufgebaut. Und geliebt haben wir uns ja doch irgendwo noch. Oder ich ihn, keine Ahnung wie er das selbst heute sieht. Das einzige, was ich ihm zu Gute halten muss ist, dass er es mir direkt gesagt hat.“   Wo wir bei einem fürchterlichen Dilemma wären. Okay, ich muss das jetzt ganz schnell irgendwie klären.   „Ich wusste nicht das Jules... wir haben uns nur einmal zufällig im Horizon getroffen weil er nach jemanden gesucht hat und dann bin ich ihm über den Weg gelaufen, weil er zu Besuch bei Maxi war, als ich zu ihm ging zwecks übernachten“, rattere ich runter und versuche mich an alles zu erinnern, „und er ist der beste Freund von Hannahs Freund, was ich auch erst kürzlich erfahren habe... wenn du möchtest, dass ich keinen Kontakt zu ihm habe, dann...“   „Um Gottes Willen, Konstantin, ich mache weder dir, noch diesem... Jules, einen Vorwurf. Frank hat uns das eingebrockt, aber... vielleicht haben wir nur einen triftigen Grund gebraucht, einen Schlussstrich zu ziehen.“   Keine Ahnung, ob Noah das wirklich so sieht oder nur zu meiner Beruhigung sagt, aber ich will es ihm mal glauben.   „Aber verletzt bist du trotzdem.“, wage ich mich ganz leise vor und rücke schließlich näher an ihn ran, lege meinen rechten Arm quer über seine Brust und stütze mein Kinn auf seinem Oberkörper ab. Er lächelt mich an und es sieht nicht gespielt oder gebrochen aus.   „Entschuldige wegen vorhin. Ich kann schon sagen, dass ich über Frank hinweg bin, aber... ja, weh tut es trotzdem. Betrogen zu werden ist halt keine schöne Erfahrung.“   Sein rechter Arm streichelt meine nackte Schulter als er seinen Arm hinter dem Kopf löst. Ich schließe einen Moment meine Augen und genieße einfach nur die warme Berührung. Unsere Nähe.   „Noah?“   „Hm?“   „Bin ich... siehst du mich als deinen Freund?“   Oh Mann, es ist sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt, so was zu fragen, aber... wann gibt es schon einen richtigen Zeitpunkt für so was? Außerdem nagt immer noch diese kleine Unsicherheit an mir, trotz dessen wir intim miteinander sind und Noah heute sehr deutlich gezeigt hat, dass... äh, zwischen uns etwas läuft.   Noah sieht mich einfach nur an, als ich es wage, meine Augen wieder zu öffnen und in seinem Gesicht liegt seichte Verwunderung. Ich will meine Frage schon zurückziehen und ihm einfach nur sagen, dass es nicht so wichtig ist und er das wieder vergessen soll, da legen sich seine Hände an mein Gesicht, er beugt sich etwas vor und küsst mich ganz süß und zärtlich. Mein Herz klopft so doll das Noah es an seiner Seite spüren muss. Meine Hand tastet nach seinem Herzschlag... keine Ahnung, ob seines genauso schnell schlägt, aber es ist ein wahnsinnig schönes Gefühl, es an meiner Hand zu spüren. Leider nicht sehr lange, denn Noah richtet sich etwas auf, seine Hände drücken mich sanft aber bestimmt aufs Bett zurück während er sich über mich beugt und der Kuss von Sekunde zu Sekunde wilder und leidenschaftlicher wird. Ich schlinge Arme und Beine um ihn, wispere zwischen einer kleinen Atempause und dem nächsten Kuss seinen Namen und ignoriere meinen Hals, der zwischendrin ganz fürchterlich kratzt. Hoffentlich steckt Noah sich nicht an... aber das hat er neulich ja scheinbar auch nicht. Daher vergesse ich diesen Gedanken ganz schnell wieder, nicht zuletzt weil Noahs Hände sehr aufregend über meinen Körper streicheln.   Während wir uns küssen, uns streicheln, aneinander schmiegen, Noah mir einen Knutschfleck in der Halsbeuge verpasst und ich ihm das liebevoll zurückzahle, merke ich, dass an diesem Abend etwas anders ist. Noah ist wahnsinnig sanft und vorsichtig, was er eigentlich immer ist. Wir sind nie wie die Tiere übereinander hergefallen und Noah hat auch nie etwas von mir verlangt oder erwartet. Und doch spüre ich diese kleine, feine Veränderung, die mir wohl nur so bewusst ist, weil wir... naja, eine gewisse Bindung zueinander haben.   Trotzdem spüre ich die Hitze in meinem Gesicht, als wir uns gegenseitig aus unseren Shorts helfen, die irgendwo auf dem Boden im Zimmer landen. Noah schlägt die Bettdecke weg während ich meine Beine etwas aufstelle, damit mein wunderbarer, wahnsinnig gut aussehender Freund genug Platz hat. Mir ist es nach wie vor peinlich, so entblößt vor ihm zu liegen und... äh, meine Erregung ist halt sehr deutlich sichtbar. Wenigstens bin ich damit nicht alleine, aber auch das ist mit süßer Scham verbunden. Das Noah wegen mir...   Ich schließe meine Augen, als er sich zu mir herabbeugt und meinen Hals und Oberkörper mit seinem Mund verwöhnt, ich seine Lippen, Zunge und Zähne spüre, die mich erschaudern lassen weil es sich so wunderschön anfühlt. Seine Hände, die über meine Seiten streichen, warm und beruhigend, als würde ich andernfalls in Panik ausbrechen. Tue ich aber nicht. Stattdessen überkommt mich eine Ruhe und Sicherheit, die mir so klare Gedanken und einen ganz freien Kopf verschafft, dass ich genau weiß, was ich will.   Behutsam schiebe ich Noah ein klein wenig weg, was ihn etwas zu überraschen scheint, ich ihn aber mit einem stillen Lächeln beruhigen kann. Den so entstandenen Freiraum zwischen uns nutze ich, um mich auf den Bauch zu drehen. Einmal da, trifft mich die Erkenntnis dann doch mit solch einer Wucht, dass ich meine Hände ins Kopfkissen krallen muss. Hoffentlich wappnet mich das für alles, was folgen wird.   Ich will schon nach Noah gucken, weil er weder etwas sagt, noch tut, da spüre ich seine Hände, die sich ganz sanft über meine legen und mir dabei helfen, sie wieder zu entspannen. Noah küsst meine Schultern, meinen Rücken, seine Hände sind überall. Er gibt mir jederzeit das Gefühl von Sicherheit, dass er da ist, dass ich ihm vertrauen kann.   Und das tue ich, als wir schließlich miteinander schlafen, was zugegeben doch etwas... gedauert hat. Immerhin ist es mein erstes Mal und ich weiß nur theoretisch, wie das abläuft. Noah ist wahnsinnig einfühlsam und vorsichtig, gibt mir so viel Zeit wie ich benötige, während er mich behutsam vorbereitet und ich mich auch irgendwie vorbereite indem ich versuche, ganz bewusst auf meine Atmung und meinen Körper zu achten. Das ist leichter gesagt als getan, weil ich einerseits trotzdem wahnsinnig nervös bin, vielleicht auch ein wenig ängstlich und ich gleichzeitig will, dass es auch Noah gefällt.   Ich habe das Gefühl, dass der Sex mit Noah nicht sehr lange dauern wird, ähnlich wie an dem Tag, als wir das erste Mal miteinander intim waren. Es ist wahnsinnig peinlich, irgendwie, als ich das Gleitgel spüre und auch wenn ich es nicht sehen kann, so höre ich doch das leise reißen der Verpackung des Kondoms. Noahs Hände an meinen Hüften lassen mich kurz zittern und als ich ihn schließlich in mir spüre, da dauert es trotzdem eine Weile, bis ich mich damit anfreunden kann. Es tut nämlich doch weh, nicht zu sehr, aber angenehm ist anders. Deshalb muss ich Noah bitten zu warten, was auch eine irgendwie interessante Erfahrung ist: wir schweigen nämlich nicht, sondern reden miteinander. Leise zwar, aber Noahs Stimme begleitet mich, beruhigt mich. Wer reden beim Sex stören findet, den kann ich nicht verstehen, zumindest im Moment nicht. Mir hilft es ungemein weil ich spüre und weiß, dass Noah da ist, an mich denkt, Rücksicht nimmt, möchte, dass es auch mir gefällt.   Das tut es dann auch irgendwann, als ich mich soweit entspannen kann, das es auch Noah zu gefallen scheint. Irgendwann kann ich auch meine Konzentration soweit abschweifen lassen um es wirklich einfach nur zu genießen, zu fühlen, was Noah in mir für Empfindungen auslöst. Was Sex mit einem Mann mit mir macht.   Während Noah so behutsam und liebevoll ist, denke ich noch, dass ich froh bin, nicht husten zu müssen, schnappe aber doch nach Luft, als sich eine seiner Hände nach vorne zwischen meine Schenkel wagt und, fuck, ich kann nicht mehr. Zwischen Liebe für Noah, Erregung, Ekstase und süßer Scham, weil es dieses Mal nicht sein Tshirt, sondern sein Bettlaken ist, genieße ich meinen Höhepunkt und schließe meine Augen.   Wow.   Noah und ich hatten gerade Sex. Ich muss selig vor mich hin lächeln und würde mich so gerne in Noahs Arme kuscheln, der gerade wohl auch seinen Orgasmus hat. Das ist ein sehr berauschendes Gefühl, das ich in mir wahrnehme. Seine Arme schlingen sich um mich, als er sich an meinen Rücken schmiegt und ich es irgendwie wahnsinnig schön finde, für einen Moment sein Gewicht zu tragen. Als er sich schließlich zurückzieht und vorsichtig über meinen Rücken streichelt, bleibe ich noch einen Moment liegen und drehe mich erst wieder um, als Noah aufsteht und kurz das Zimmer verlässt. Ich weiß, ich sollte nicht so viel nachdenken, aber ganz offensichtlich schmeißt er ja gerade das Kondom weg... du großer Gott. Ich rutsche etwas zur Seite, weil ich nicht gerade in meinem eigenen Sperma liegen möchte. Scheiße, der Zauber von vor ein paar Augenblicken ist plötzlich wie weg geblasen. Das ist irgendwie zu viel Realität.   Als Noah zurückkommt, setze ich mich vorsichtig auf, was ein seltsames Gefühl ist. Mein Freund ist sofort an meiner Seite und zieht mich in seine Arme, als er sich neben mir aufs Bett setzt. Ich schlinge meine Arme um ihn wie ein Tintenfisch und drücke ihn so fest wie es meine Arme zulassen. Es stört mich nicht, dass er geschwitzt ist – genauso wenig, wie es ihn bei mir nicht zu stören scheint. Sein Körper ist ganz heiß was ich aufregend und spannend und schön und überhaupt alles finde.   „Geht es dir gut?“, fragt Noah mich irgendwann leise und streichelt durch mein Haar, über meinen Rücken, meine Arme. Ich nicke schweigend, weil ich fürchte, dass ich kein Wort raus bringe. Stattdessen küsse ich ihn lieber, weil ich das jetzt schon so lange nicht mehr gemacht habe. Und danach kriege ich eine peinliche Hustenattacke, die uns kurz darauf aber immerhin zum Lachen bringt, was die ganze Situation nicht nur entspannt, sondern auch zu einem süßen, gemeinschaftlichen Abschluss bringt.   Als wir später, nachdem wir das Laken gewechselt und unsere Zähne geputzt haben (hab eine neue Zahnbürste von Noah bekommen, die jetzt in einem extra Zahnbecher neben dem seinen im Bad steht) im Bett liegen, kuschele ich mich gemütlich in Noahs Arme und lasse meine Hände träge über seinen Körper wandern – genau wie Noahs Hände über meinen Körper streicheln.   „Noah?“   „Hm?“   Ich schmiege meinen Kopf zärtlich unter sein Kinn, wie eine Katze und hauche ihm einen Kuss auf den Kiefer.   „Das war wunderschön... danke.“, flüstere ich ganz leise und genieße den stillen Kuss auf mein Haar und das leise Danke von Noah an mich. Mein Herz mag vor Freude platzen, aber zumindest nicht in dieser Nacht.   Würde ich Tagebuch schreiben, würde ich wohl schreiben, dass ich meine Jungfräulichkeit in der Nacht zum ersten November verloren habe.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Okay, also auch, wenn ich vorher noch über meine Erkältung gemeckert habe: wieder zur Schule zu gehen, nachdem man elendig dahin gelitten hat, ist auch nicht viel besser. Ich habe das Gefühl, die Lehrer reden über Dinge, die ich noch nie in meinem Leben gehört habe. Auch wenn Hannah und Maxi mich immer auf dem Laufenden gehalten und mir Unterlagen vorbei gebracht haben – im Endeffekt muss man einfach vor Ort sein, um wirklich alles mitzukriegen und zu verstehen.   Bei Hannah bin ich direkt am ersten Schultag vor Ort daheim gewesen und habe ihr von meinem ersten Mal berichtet. Nicht so ausführlich, wie sie es umgekehrt bei mir getan hat, aber die Sache mit Frank und Jules habe ich ihr auch nochmal erklärt. Das hat sie zwar schon gewusst, als ich ihr tags darauf sehr abgerissen alles berichtet habe, aber nochmal in Ruhe mit ihr darüber zu reden ist definitiv besser gewesen. Sie ist ähnlich betroffen gewesen wie ich und ich zumindest möchte eigentlich noch mit Jules reden, der wohl doch so was wie ein schlechtes Gewissen hat, wie Hannah mir mitteilt. Es ist wohl das erste Mal, dass Jules sich nicht traut, sich bei jemanden – mir – zu melden und die Sache zu klären, auch wenn das ja gar nicht nötig ist. Ich bin ja auch nicht böse oder so, immerhin sollte ich Jules dafür danken, dass er es mir ermöglicht hat, mit Noah zusammen zu kommen. Das ist nach wie vor ein wahnsinnig gemeiner Gedanke, aber irgendwo muss man ja schauen, wo man bleibt.   Die ganze Sache gibt mir aber auch immer mehr zu denken. Ich habe nie bemerkt, dass Noah und Frank wohl nicht mehr ganz so glücklich miteinander waren. Wenn die beiden zu Besuch gewesen sind, habe ich zwar immer versucht ihnen aus dem Weg zu gehen, aber manchmal ist das auch nicht möglich gewesen. Da haben sie eigentlich immer sehr zufrieden miteinander gewirkt. Ich frage mich, ob Bastian Bescheid wusste. Ob Noah mit ihm gesprochen, ihm seine Gedanken und Sorgen und Gefühle bezüglich Frank anvertraut hat. Der Tag, an dem Noah völlig aufgelöst hier aufgetaucht ist, ist mir noch so präsent im Kopf, dass ich ihn am liebsten direkt in meine Arme schließen wollen würde.   Das ist leider nicht möglich, weil Noah sowohl das letzte, als auch dieses Wochenende bei Bastian verbringt, da sie sich durch den Umzug nicht mehr so oft sehen wie davor. Ja, ich bin ein wenig eifersüchtig, was völliger Quatsch ist, weil die beiden ja nichts tun werden, das mich irgendwie beunruhigen sollte. Außer in irgendwelche Clubs gehen, trinken, Spaß haben, Sachen für Bastians Wohnung kaufen und dergleichen. Trotzdem sind es Tage, die ich Noah nicht sehen kann und das macht mir vielleicht ein klein wenig zu schaffen. Zwar haben wir uns nach... mhh, unserem ersten Mal miteinander wiedergesehen, sind aber nicht miteinander intim gewesen. Außer kleine, süße Küsse, die wir geteilt haben. Ich gebe zu, dass mich Noahs Nähe wieder so nervös macht wie in den vier Jahren zuvor. Manchmal kann ich ihm gar nicht in die Augen sehen, weil mir bewusst wird, was wir getan haben. Leider weiß ich nicht was Noah darüber denkt und ob es ihn wohl auch nervös macht, mich zu sehen? Immerhin hat er mit dem kleinen Bruder seines besten Freundes geschlafen.   Vielleicht sollte ich mal mit Noah reden. Mir wird nämlich mal wieder bewusst, dass er auf die Frage, ob ich sein Freund bin, nicht geantwortet hat. Gut, jetzt könnte man sagen, dass die Art und Weise wie er mit mir umgeht und das wir es miteinander tun ja wohl alles sagt, aber ich muss es wissen. Muss es aus seinem Mund hören. Muss seinen verdammten Beziehungsstatus bei Facebook sehen, der immer noch nicht auftaucht. Habe überlegt, meinen auf verliebt oder so zu setzen, allerdings ist Bastian der erste, der in meinem Zimmer stehen und alles aus mir raus quetschen wollen würde. Außerdem möchte ich Noah nicht in Bedrängnis bringen.   Verliebt sein ist eben kein Zuckerschlecken. Eine Beziehung führen genauso wenig. Die wird nämlich verdammt auf die Probe gestellt, wenn wir am Wochenende Bastians Geburtstag feiern. Den zelebrieren wir nämlich hier daheim, mit gemeinschaftlich kochen und backen und allem drum und dran. Das wird eine verdammt harte Prüfung für mich, weil ich Noah eigentlich nur küssen und berühren und... vielleicht mit auf mein Zimmer nehmen möchte.   Und je länger ich über diese und ähnliche Dinge nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass ich mich auf Dauer nicht mehr verstecken möchte. Kapitel 8: ----------- Ich bin das erste Mal bei Jules zuhause und fühle mich, ähnlich wie bei Maxi, völlig fehl am Platz. Der wohnt ebenfalls in einer Jugendstilvilla, allerdings ist die größer und pompöser als die, in der Maxi wohnt. Designermöbel, Designer Skulpturen die keinen Sinn ergeben, alles glänzt und funkelt.   Nur Jules' Zimmer nicht, das fällt derart aus dem Rahmen, dass ich fast erleichtert bin, in dieses wundervolle Chaos Fuß zu setzen. Seine Wände sind von einem dunklen Weinrot und tapeziert mit allerhand Postern diverser Bands, die ich größtenteils gar nicht kenne. Der Rest seiner Einrichtung ist schwarz, hier und da liegen Klamotten rum, Bücher, CDs, DVDs, Schulzeug, ich entdecke einen schwarzen Bass in einer Ecke, sein Schreibtisch sieht aus, als hätte ein wütendes Nashorn einen Tobsuchtsanfall bekommen, ein paar Pfandflaschen liegen nah bei seinem Bett und eine leere Bierflasche auf seinem Nachttisch.   Jules selbst ist heute ganz leger gekleidet. Schwarze Jeans, schwarzes Sex Pistols Tshirt und er trägt neon orangefarbene Socken. Sein Haar ist zwar nicht gestylt, steht aber trotzdem zu allen Seiten ab. Vielleicht liegt das einfach an seiner Haarstruktur oder daran, dass er sie so viel färbt.   Er hat Der kleine Eisbär Bettwäsche was ich ja zum Niederknien niedlich finde. Ich glaube inzwischen, dass das eine Anspielung auf Lars ist, will mich da aber nicht so weit aus dem Fenster lehnen.   „Magst was trinken?“   Er wedelt mit einer Cola Flasche herum, die nur noch zur Hälfte voll ist. Ich schüttele mal lieber den Kopf. Jules zuckt die Schultern, nimmt selber einen üppigen Schluck und zieht aus einer Ecke einen schwarzen Sitzsack hervor. Wahnsinn, die Teile gibt es noch? Dachte, die sind irgendwann in den neunzigern ausgestorben. Jules bedeutet mir, mich zu setzen und ich lasse mich wie ein nasser Sack fallen. Jules selbst fläzt sich auf sein Bett und streicht sich mit einer Hand durchs Haar, kratzt sich am Hinterkopf und schafft es nicht, mich anzusehen.   Immer bleibt alles an mir hängen.   „Du wolltest mit mir reden?“   Er hat Hannah nämlich nach meiner Handynummer gefragt und mir vor zwei Tagen geschrieben, ob wir uns treffen können. Weil ich früher Schulschluss hatte als er, habe ich vor dem Gymnasium auf ihn gewartet. Dabei ist mir aufgefallen, dass die meisten anderen Schüler einen gewissen Abstand zu ihm halten und der Rest mit Herzchenaugen jedem seiner Schritte folgt. Mädchen und Jungen gleichermaßen. Ich gebe zu, er hat schon wahnsinnig cool ausgesehen wie er aus der Tür gestiefelt kam, völlig lässig zu mir rüber geschlendert ist und mich kurz umarmt hat. Wir sind ja quasi Familie, nicht wahr?! Lex ist nicht da gewesen, obwohl die beiden auf dieselbe Schule gehen. Ich glaube, in die Parallelklasse, bin mir nicht mehr sicher. Nachgefragt habe ich aber auch nicht.   „Ja, äh...“, fängt Jules an und ich bin ein klein wenig geschockt, wie unsicher er wirkt, „das mit deinem Freund... du, das tut mir leid. Ich wusste echt nicht, wer Frank ist und das er damals noch in einer Beziehung war.“   Oh. Also, ich hab mir ja denken können, dass er deswegen mit mir reden wollte, überrascht bin ich trotzdem. Auch, weil Jules ein bisschen aussieht wie ein geprügelter Hund. Besser, ich befreie ihn mal aus dieser Situation.   „Du musst dich nicht entschuldigen. Findet Noah im Übrigen auch. Mir hast du damit jedenfalls nur einen Gefallen getan und den beiden einen Grund gegeben, ihre Beziehung zu beenden. Lief wohl nicht ganz so gut.“   Jules legt einen Finger an die Lippen und stiert nachdenklich an die Decke.   „Hab mich damals schon gewundert, wie der ran gegangen ist. Ehrlich, der hat mich gevögelt, ich hab gedacht ich könnt drei Wochen nicht mehr laufen.“   Ich verschlucke mich fast an meinem eigenen Speichel und werde vermutlich wahnsinnig rot. Oh Gott, das kann der mir doch nicht einfach so sagen! Leider hört er gar nicht mehr auf damit, was ich wahnsinnig schrecklich finde, auch wenn... mhh, naja, es gibt mir doch einen kleinen Einblick in die ehemalige Beziehung meines Freundes und seines Ex-Freundes.   „Wir haben uns beim Tanzen kennen gelernt“, faselt er und gestikuliert zwischendrin mit seinen Händen, „und als ich merkte, dass er scharf auf mich war und ich geil, sind wir halt zu ihm nach Hause. Das hat echt nicht lange gedauert, war aber verdammt geil. Hab erst gedacht, dass er ewig keinen Sex mehr hatte so wie der ran gegangen ist.“   „Okay, ich will keine Details wissen.“, bin ich mir dann doch sicher und halte Jules mal lieber wieder davon ab, weiter aus dem Nähkästchen zu plaudern. Ich bin ohnehin noch etwas geschockt das Frank mit Jules geschlafen hat, weil der doch deutlich jünger ist. Das sieht man zwar nicht so sehr, wenn er vollkommen gestylt unterwegs ist, aber im Vergleich zu Frank, der ja auch in zwei Jahren schon dreißig wird, ist es eben doch ein Unterschied. Ebenso wie man den Altersunterschied zwischen Noah und mir sehen kann.   „Ich aber! Wie läuft es denn bei dir und Noah?“   Der Punk springt vom Bett auf und quetscht sich neben mich auf den Sitzsack während er einen Arm um meine Schultern legt und mich sehr anzüglich angrinst. Mir ist das so wahnsinnig unangenehm, schaffe es aber nicht, auf Distanz zu gehen. Ich sitze gerade so gemütlich. Und völlig nebenbei registriert mein Hirn, dass Jules nach... Sommer duftet.   „Das geht dich gar nichts an.“   „Ahhhh“, kreischt Jules und knufft mir mit seiner anderen Hand gegen den Oberarm, „es ist also endlich passiert, ja?“   Mir ist dieser Typ unheimlich!!   „Ich bin mir sehr sicher, dass ich mein Liebesleben nicht mit dir besprechen möchte.“   „Spielverderber. Ist doch nichts dabei.“, zuckt Jules die Schultern, zieht aber endlich seinen Arm zurück.   „Machst du dir gar nichts aus Privatsphäre?“   „Naja, doch. Ich werde dir zum Beispiel nicht erzählen, wie genau Lex und ich miteinander geschlafen haben, aber das wir inzwischen auch beim Sex angekommen sind, kann ich sagen. Du redest mit Hannah doch auch über alles.“   „Hannah ist aber meine beste Freundin. Wir kennen uns nur sehr sporadisch und ich kriege es jetzt nicht mehr aus dem Kopf, dass du und Lex...“   „Du bist so wahnsinnig süß verklemmt Konstantin, wären die Bedingungen anders... ich würde dich sofort flachlegen.“   Daran habe ich keinen Zweifel und ich bin mir auch sicher, dass wenn die Bedingungen wirklich anders wären, ich sicherlich... äh, Erfahrung gesammelt hätte. Das muss ich Jules allerdings nicht auf die Nase binden, so voll wie der von sich selber ist, muss ich sein Selbstbewusstsein ja nicht noch weiter polieren.   Danach trinken wir noch Tee, essen ein paar Kekse und als es dämmert, mache ich mich auf dem Heimweg. Na, das lief doch blendend, oder? Auch wenn Jules gar nicht mit mir hätte reden brauchen, muss ich ihm seine Mühen doch anrechnen. Hinter dem lauten, all-over-the-place-Punk steckt wohl doch ein kleiner Kuschelrocker.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Hannah und ich reden in den Tagen nach meinem ersten Mal wahnsinnig viel übers verliebt sein. Was es mit einem im generellen und uns im speziellen macht. Sie ertappt sich beispielsweise immer wieder dabei, alles, worüber Lars so spricht, daheim dann zu googlen und sich zu informieren, worüber er eigentlich spricht. Das finde ich wahnsinnig süß, vor allem, Hannah so völlig mädchenhaft erröten zu sehen.   Ich kann dergleichen von mir nicht behaupten, da mein Freund und ich irgendwie immer noch... wenig miteinander reden. Also, außer die üblichen Dinge wie Schule, Arbeit, was man so vor hat, was einen gerade beschäftigt... Noah erzählt mir allerdings kaum etwas privates, intimes. Nichts, wodurch ich merke: das erzählt er nur mir, weil wir uns nahe sind. Vielleicht bin ich ja auch ein wenig speziell, jeder hat ja so seine Macken und Vorstellungen von Beziehung und Co. Andererseits möchte ich schon gerne wissen, dass ich etwas Besonderes für Noah bin. Irgendwo muss ich das ja auch sein, wenn er schon mit mir schläft, aber hören muss ich es trotzdem.   Vielleicht habe ich ja die Möglichkeit, am Wochenende mit ihm zu reden. Da feiern wir Bastians Geburtstag bei uns daheim – er will nämlich grillen und ja, das tun wir durchaus auch noch fast Ende November – und wenn ich Glück habe, kann ich mir Noah mal für ein, zwei Minuten alleine krallen. Jedenfalls hoffe ich das. Das sollte aber kein Problem sein, weil er nämlich hier übernachten wird, wenn auch leider in Bastians altem Zimmer und nicht bei mir. Naja, hab eh nicht so viel Platz in meinem Bett. Da passe ich rein und damit ist es auch schon voll besetzt. Vielleicht sollte ich das irgendwann mal ändern, wenn das mit Noah und mir offiziell wird.   Denn das will ich definitiv.   Das Noah da natürlich ein gewisses Mitspracherecht hat, ist mir klar. Trotzdem möchte ich meine Liebe zu ihm nicht bis in alle Ewigkeit verstecken. Und meinen Eltern sollte ich vielleicht auch mal sagen, dass sie von mir keine Enkelkinder zu erwarten brauchen. Das scheint zumindest die weniger gefährliche Aktion zu sein. Ich glaube schon, dass meine Eltern darauf überrascht, aber wenigstens nicht negativ reagieren würden. Bastian und ich haben unsere Streitereien – jetzt nicht mehr täglich – aber wir sind eigentlich eine sehr nette Bilderbuchfamilie. Wir halten zusammen. Und Mom und Dad sind wirklich tolle Eltern, abgesehen von meinem Hausarrest vor zwei Monaten, aber diesen Schwachsinn möchte ich ihnen mal großzügig verzeihen. Die werden mich ja nicht verstoßen, weil ich lieber mit Jungs ins Bett gehe als mit Mädchen.   Aber wie sie auf Noah reagieren werden? Wie Bastian darauf reagieren wird? Ich kann mir ausmalen, wie prickelnd er das finden wird. Sein kleiner Bruder schläft mit seinem besten Freund. Sind wir doch mal ehrlich: das wünscht sich keiner. Und ich fühle mich schlecht genug, Liebe zu Noah hin oder her. Schließlich möchte ich ihre Freundschaft ja nun wirklich nicht auf dem Gewissen haben, aber... das aus dieser Sache etwas Gutes bei rum kommt, wage ich doch zu bezweifeln.   Ich lasse meinen Kopf hängen, als ich mit Hannah und Maxi die Schule verlasse. Es ist bitterkalt, scheiße windig und wenigstens haben meine beiden Freunde genug Anstand, auch einigermaßen frierend auszusehen. Das ich einfach nur ein verdammtes Weichei bin, verschweigen wir hier mal lieber.   „Wollen wir am Freitag ins Horizon?“, fragt Hannah unsere Partymaus und zieht sich ihre schwarze Strickmütze über den Kopf. Das sie bei ihren Locken überhaupt noch eine Mütze braucht wundert mich jedes Jahr aufs Neue.   Ich schüttele den Kopf.   „Noah hilft mir, ein Geschenk für Bastian zu finden. Und Samstag ist ja auch schon der Geburtstag, wir werden also wohl ziemlich busy sein.“   Maxi guckt auf sein Handy.   „Und ich habe spontan ein Date.“   Hannah und ich gucken gleichermaßen entsetzt wie geschockt.   „Wie?“   „Wer?“   „Wo?“   Wir löchern den armen Maxi mit Fragen, der winkt aber nur ab.   „Hey, das ist keine Liebesgeschichte. Hab ihn im Horizon getroffen, wir haben Nummern ausgetauscht und ich denke, dass wir Freitagabend heißen, wilden Sex haben werden.“   Das will ich mir mal lieber nicht zu genau vorstellen und mache mich lieber auf dem Weg die Treppen runter, da boxt Hannah mir plötzlich in die Seite.   „Guck mal, du wirst jetzt sogar von deinem Prinzen abgeholt.“   Sie nickt in Richtung Straße und ich weiß erst nicht was sie meint, bis mir Noahs Auto auffällt. Und Noah, der super lässig an der Tür gelehnt da steht, umwerfend gut aussieht und bei mir sofort Herzrasen auslöst. Ach du Schande! Ich meine, oh, wow, er holt mich ab! Ist ja wohl klar, dass ich wie ein besoffener Idiot grinse, mich schnell von Hannah und Maxi verabschiede und dann gefühlt zu Noah schwebe, der mir ein sehr warmes, wunderschönes Lächeln schenkt. Ich bleibe dicht vor ihm stehen, was ihn nicht zu stören scheint.   „Hi Noah.“, bringe ich gerade so hervor und greife schüchtern nach seiner Hand. Er drückt die meine unglaublich sanft, sieht mich an... und beugt sich vor, um mir einen zuckersüßen Kuss auf die Lippen zu drücken. Von weiter weg höre ich Hannah kreischen und jubeln, was mir peinlicher ist als Noah.   „Auto?“, fragt er grinsend und ich nicke heftig, bevor das hier noch peinlicher wird. Hätte mir denken können, dass Hannah sich das nicht entgehen lässt. Woher Noah weiß, wann ich mittwochs Schule aus habe, möchte ich mir lieber nicht ausmalen. Hoffentlich hat er nicht mit Bastian oder meinen Eltern gesprochen... das wäre ja irgendwie ziemlich verfänglich, oder?   Ich kann erst wieder aufatmen, als wir im Auto sitzen, ich meinen Rucksack auf die Rückbank verfrachte und Noah erwartungsvoll anschaue. Wir haben uns seit mindestens eineinhalb Wochen nicht mehr gesehen.   „Seit wann holst du mich ab?“   „Seit wann brauche ich dafür einen Grund?“   „Du hast mich siebzehn Jahre lang nie irgendwo abgeholt.“   „Doch, einmal vom Kindergarten weil Bastian sich den Arm gebrochen hatte, Richard sich darum persönlich kümmern wollte und Lisa in diesem Meeting feststeckte.“   Oh Gott, ich werde knallrot und weiche mal lieber seinem Blick aus.   „Das zählt nicht.“, befinde ich und stiere angestrengt auf meine lila-blauen Fingernägel. Noahs Hand wuselt durch meine Haare, ich kriege eine Gänsehaut, begegne seinem Blick.   „Bist du dann fertig mit meckern?“   Ich hass-liebe Noah, beuge mich zu ihm und küsse ihn richtig was er sehr zu begrüßen scheint. Seine Hand wandert in meinen Nacken, auch wenn mein Schal ein wenig im Weg ist. Egal, ich genieße es und hänge an seinen Lippen bis er den Kuss beendet.   „Ich hoffe du magst Risotto?“   Noah startet den Motor, wir schnallen und an, fahren los und ich friere dank der Heizung sehr bald nicht mehr all zu doll. Mir wird erst ein wenig später klar, dass Noah scheinbar gekocht hat. Für mich! Jedenfalls möchte mein völlig vernebeltes Hirn das glauben.   „Ich esse alles.“   „Außer Rosenkohl, Bananen, Rhabarber, Auberginen, Kohl... da war noch was...“   Ach du kacke! Woher weiß er das alles?!   „Weiße Eier.“, helfe ich ihm auf die Sprünge und er schnippt mit den Fingern, anstatt auf dem Lenkrad herum zu tippern.   „Weiße Eier, genau. Du isst also gar nicht alles.“   „Woher weißt du das?“   Das ist doch eine völlig legitime Frage, oder?   „Konstantin, ich kenne dich seit siebzehn Jahren.“   „Ich finde es ja beachtlich, was du alles über mich weißt, aber so lange um mich herum geschlichen bist.“   „Das eine hat mit dem anderen doch nichts zu tun und um dich herum geschlichen bin ich ja wohl auch nicht.“   Nee, das ist er in der Tat nicht. Das bin ich. Oh Mann.   „Entschuldige... ich bin ein wenig schwachsinnig. Das ist deine Schuld, weil du mich einfach abholst, verboten heiß aussiehst, weißt, was ich nicht esse und dich erinnerst, mich vom Kindergarten abgeholt zu haben. Da habe ich bestimmt noch in die Windel gemacht, keinen geraden Zahn im Mund gehabt und war nervtötend bis zum Schwachsinn.“   „Du warst fünf und wahnsinnig süß.“   Mein Schädel explodiert gleich!!   „Noah...“, stöhne ich und versuche, mein knallrotes Gesicht hinter meinem Schal zu verstecken. Ich sehe, dass Noah mich von der Seite her anschaut, lacht, mir kurz durch die Haare wuschelt und sich dann wieder aufs fahren konzentriert. Mein Herz klopft wie wild in meiner Brust, so verliebt bin ich. Mir ist vorher gar nicht aufgefallen, wie aufmerksam Noah ist. Also, doch, vielleicht schon. Aber nicht in Bezug auf mich, was ich wahnsinnig schön finde und mich trotzdem so nervös macht.   Als wir bei ihm zuhause ankommen, hält er die ganze Zeit über meine Hand. Vom Parkplatz bis zu seinem Wohnhaus, im Aufzug, als er die Haustür aufschließt. Er nimmt mich wieder an die Hand, nachdem wir uns aus unseren Bergen an Winterkleidung geschält haben. In seiner Wohnung ist es angenehm warm, ich ziehe meinen Strickpulli aus und fühle mich so in Tshirt eigentlich ganz wohl. Noah trägt einen sehr hübschen Cardigan über sein Tshirt. Er führt mich in die Küche, der Tisch ist gedeckt, auf dem Herd steht ein Topf und eine Pfanne. In letzterer fängt er sehr schnell und mega professionell an, Riesengarnelen zu braten. Ich schaue ihm begeistert zu und muss doch lächeln wie der letzte Idiot.   Wow.   Noah hat für mich gekocht. Er hat mich von der Schule abgeholt. Er erinnert sich an Dinge aus meiner Kindheit, die ich scheinbar schon völlig verdrängt habe. Ich bin sicher, dass mein fünfjähriges ich wahnsinnig glücklich war, von Noah abgeholt zu werden anstatt von Bastian oder meinen Eltern. Hätte ich damals schon gewusst, dass ich ihn später lieben würde...   Etwa eine Viertelstunde später sitzen wir gemeinsam am Tisch und essen ein göttliches Zitronen-Risotto mit Riesengarnelen. Noah kann wahnsinnig gut kochen, wie ich begeistert feststellen muss. Ich könnte mich in den Topf rein legen. Es riecht so verdammt lecker wie es schmeckt.   Während wir essen, reden wir über die Schule, die Arbeit, dass der Winter dieses Jahr bitterlich kalt ist und Noah sich auf den Frühling freut. Den mag er nämlich am liebsten. Ich glaube, ich werde den Frühling zukünftig auch lieben. Ob wir dann noch zusammen sind? Oh Mann, natürlich werden wir dann auch noch zusammen sein! Schließlich sind wir füreinander bestimmt – bis an den Rest unseres Lebens! Mir ist bewusst, dass ich ein klein wenig spinne, aber wenn ich an etwas anderes denke oder gar glaube, könnten wir das hier ja auch direkt sein lassen, nicht wahr?   Mit Noah über meine Zukunft zu reden ist auch einfacher, als das mit meinen Eltern zu tun. Oder mit Hannah, wie ich feststellen muss. Noah scheint mich nicht zu verurteilen, weil ich noch nicht ganz sicher mit allem bin, auch wenn ich mir wirklich fest vornehme, ein Musikstudium anzufangen. Eine Uni dafür habe ich mir allerdings noch nicht raus gesucht und der Gedanke, von Noah getrennt zu sein, liegt mir sehr schwer im Magen. Deshalb lenke ich das Thema viel lieber auf Noah und erfahre, dass er schon immer gerne mit Menschen arbeiten wollte, damals aber noch viel zu sehr unter dem Druck und Zwang seiner Eltern stand. Sich von ihnen lösen konnte er erst, als er das Pädagogikstudium angefangen hatte. Das er da schon um die zwanzig gewesen sein musste, wundert mich nach wie vor.   „Wie... wie war das eigentlich damals bei dir? Also, als du wusstest, dass du... mhh, lieber mit Jungs... äh, Männern...“   Scheiße, irgendwie kann ich nicht so locker mit ihm darüber reden wie ich das gerne würde. Noah lächelt mich über die Gabel, die er sich gerade in den Mund schiebt, super süß an.   „Damals waren es auch bei mir noch Jungs.“, grinst er mich frech an und legt seine Gabel schließlich ab weil er fertig ist. Ich esse super langsam, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, während Noah mit mir spricht.   „Ich glaube ich war in deinem Alter“, überlegt er und verdreht seine hübschen Augen einen Moment lang Richtung Decke, „also so dreizehn, vierzehn, als ich merkte, dass ich gar nicht so viel oder überhaupt an Mädchen dachte wie die anderen Jungs.“   Mit meinem Alter meint er ja dann wohl die Tatsache, dass ich seitdem ich dreizehn war in ihn verliebt bin. Noah erzählt mir, dass er diesen aller ersten Gedanken direkt mit Bastian besprochen hatte, der damit so cool umgegangen war, als wäre es das normalste auf der Welt. Ich muss ein bisschen lachen als er mir berichtet, dass Bastian ihm damals allerhand Typen angeschleppt und vorgestellt hatte während sie durch die Clubs – jedenfalls bis Mitternacht – zogen und befunden hat, dass es endlich Zeit für sein erstes Mal wäre. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Noah jemals schüchtern gewesen ist, aber wenn man Sex mit einem anderen Jungen oder Mann hat, ist das sicherlich etwas, worüber man schon mal den Verstand verlieren kann. Sein erstes Mal hatte er jedenfalls mit einem anderen Jungen aus einem Club und das war seltsam, aber auch schön gewesen. Mit Liebe hatte das allerdings nichts zu tun und weil Noah nach und nach sicher war, dass er definitiv dem eigenen Geschlecht zugetan war, folgte eine sehr lange Phase des ausprobierens. Mir ist das ein wenig unangenehm, wenn ich ehrlich bin, weil er demnach ja wahnsinnig viel Sex gehabt haben muss... mit wahnsinnig vielen Jungs und Männern. Deshalb hat Bastian ihm auch oft genug gesagt, was er davon hält, wenn er sich so krankhaft an alles auf drei Beinen ran schmeißt – hat Bastian wohl wirklich damals so ausgedrückt – und das hat zwar durchaus zu hitzigen Diskussionen geführt, aber gestritten haben sie sich deswegen nie. Und irgendwann ist Noah ja auch älter geworden und hatte kein Interesse mehr an schnellen Sex, den er quasi überall kriegen konnte. Und den Rest der Geschichte kenne ich ja.   Trotzdem... eine Sache muss ich jetzt aber wissen.   „Hast du jemals... äh, warst du... mal in Bastian...?“   Ich brings nicht fertig und als ich Noahs geschockten Blick sehe, möchte ich mich am liebsten sofort erschlagen. Klar, so was würde er mir ja auch ausgerechnet sagen! Will meine Frage schon wieder zurückziehen, da bedeutet mir Noah mit einer kleinen Geste, still zu sein während er ein Schluck von seinem Wasser nimmt.   „Bastian war und ist seit jeher Sperrgebiet. Ich meine, klar hab ich vielleicht mal an ihn gedacht“, und er muss mir nicht sagen, in welchen Situationen denn das kann ich mir denken, „und ich liebe ihn bis in den Schwachsinn. Aber das ist rein platonisch.“   Mir fällt ein Stein vom Herzen!   „Bastian liebt dich, glaube ich, auch. Rein platonisch.“, grinse ich ihn frech an und helfe ihm, den Tisch abzuräumen, Topf und Pfanne zu waschen und die Küche aufzuräumen.   „Und deshalb werde ich ihm auch von uns erzählen.“   Ich kriege einen fürchterlichen Hustenanfall und verschütte fast meinen Cappuccino, als wir mit unseren Tassen auf dem Weg ins Wohnzimmer sind. Noah tätschelt mir besorgt den Rücken und ich muss meine Tasse direkt mal abstellen.   „Du willst es ihm sagen?!“, kreische ich nicht gerade leise und starre Noah an, als wäre ihm ein zweiter Kopf mit grüner Nase gewachsen. Noah sieht mich sehr gelassen an.   „Natürlich, das bin ich ihm schuldig. Und uns ja wohl auch.“   Uns. Mein Herz fängt mal wieder an zu bollern.   „Aber...“   „Er wird einen Anfall kriegen, das weiß ich. Und vermutlich wird es nicht schön werden. Aber ich kann ihn nicht länger anlügen.“   Okay, ich weiß, dass ich ja eigentlich sehr ähnliche Gedanken habe. Aber jetzt plötzlich so damit konfrontiert zu werden? Das geht mir doch zu schnell. Und es geht ja auch nicht darum, meine sexuelle Orientierung mit meinen Eltern zu besprechen, sondern Bastian zu sagen, dass Noah mit mir zusammen ist. Das hat er doch nämlich gerade gesagt, oder?   Ich muss einen kräftigen Schluck von meinem Cappuccino nehmen, der jetzt genauso gut eine Flasche Wein sein könnte, dann mache ich es wie immer: ich setze mich auf Noahs Schoß und nehme sein Gesicht in meine Hände.   „Dann ist es offiziell?“, flüstere ich leise und habe Mühe, ihm in die Augen zu schauen, weil ich das Gefühl habe, vor Glück ohnmächtig zu werden. Noahs Hände an meinem Rücken jagen eine Gänsehaut über meinen Körper.   „Nach seinem Geburtstag, ja.“   Mein Herz setzt kurzzeitig aus, dann fängt es sich wieder.   „Ich liebe dich, Noah.“   Und warte. Warte. Es wäre doch jetzt endlich an der Zeit, dass er es mir auch sagt, oder? Stattdessen sieht er mich einfach nur an, lächelt dieses umwerfende Lächeln in das alleine man sich ja schon verlieben muss, beugt sich zu meinem Ohr vor und... oh Gott!!   „Ich dich auch, Konstantin.“   Danach ist nichts mehr so, wie es war. Unsere Tassen mit dem Cappuccino werden kalt, während wir uns küssen, an unserer Kleidung zerren, durch die Wohnung in sein Schlafzimmer stolpern und... äh... okay, um es mal mit Maxis oder Jules' Worten auszudrücken: ich weiß jetzt, wie sich flachgelegt anfühlt. Und ich habe keinen Grund, mich in irgendeiner Weise zu beschweren, als wir nach dem Sex verschwitzt nebeneinander liegen, Noah auf dem Rücken, ich an seine Seite gekuschelt. Ich gebe zu, es... mhh, ist anders gewesen als das erste Mal. Soll nicht heißen, dass es weniger schön gewesen ist, aber, wow, ich habe, glaube ich, zum ersten Mal gespürt, dass Noah mich wirklich will. Und zwar nicht nur unschuldig durch meine Haare strubbeln wie er es seit jeher völlig ohne Hintergedanken tut oder mir freundlicherweise einen Splitter aus dem Fuß ziehen. Nein, er hat mich förmlich gepackt und aufs Bett geschmissen und wow, für mein zweites Mal habe ich mich glaube ich gar nicht so blöd angestellt. Und Noah sowieso nicht. Ich kam ziemlich heftig.   „Ich habe mir immer fest vorgenommen, mit dir zusammen zu sein.“, gestehe ich ihm nach einer langen Schweigeminute leise, streichele ihm träge über die Brust was er mit einem wohligen Seufzen sehr zu genießen scheint.   „Es ist immer gut, wenn man sich Ziele setzt.“   Noah lacht leise, wofür ich ihm frech in die Brust zwicke und er einen gespielt schmerzlichen Laut von sich gibt, tadelnd nach meiner Hand schlägt und dann doch die meine einfach nur hält und unsere Finger miteinander verschränkt. Ich könnte jetzt glücklich in seinen Armen sterben.   „Wann hast du gemerkt, dass du... mich liebst?“   Schließlich hat er mir das heute zum ersten Mal gesagt. Und ich habe es zum ersten Mal wirklich gespürt. Das er mich dafür hat aufs Bett schmeißen müssen gibt mir zwar kurz zu denken, wird aber einfach mal so angenommen.   Noah überlegt einen Moment während seine andere Hand durch mein Haar wuselt.   „Als du mich im Park Arsch genannt hast.“   „Wie bitte?“   Er lacht leise und dreht den Kopf, damit er mich ansehen kann.   „Aber das konnte ich dir nicht sagen, weil... ich vernünftig sein musste. Wollte. Dir zuliebe, Bastian zuliebe, mir zuliebe... hat nicht geklappt.“   „Zum Glück.“   Ich muss meinen endlich-offiziellen-Freund ein wenig küssen, streicheln und seine Hände auf meinem Körper genießen und... äh... naja, er macht mich schon ganz schön an. Ich räkele mich etwas unvorteilhaft und will eigentlich von Noah wegrutschen, doch er hält mich fest. Und grinst mich sehr anzüglich an, als er eine Hand zwischen meine Beine schiebt, wofür ich mich wahnsinnig schämen würde, wäre ich nicht schon wieder scharf auf den besten Freund meines Bruders.   „Au weia, Konstantin“, schnurrt er mir leise zu und küsst mich super süß auf den Mund, „hast du etwa noch nicht genug?“   Okay, ich muss jetzt dringend cool bleiben, mein Tomatengesicht ignorieren und lieber sehr selbstbewusst meine Hand zwischen Noahs Schenkel schieben.   „Du ja wohl auch nicht.“, antworte ich so trotzig und selbstsicher wie möglich. Ist er wirklich nicht, weil... wow! Wir knutschen heftig miteinander, als wir uns gegenseitig eine runterholen und ich liebe es, Noahs Stimme zu hören, seine Lippen auf meiner Haut zu spüren, seine Zunge in meinem Mund. Unfassbar, wie scharf Noah ist. Nicht nur generell, sondern auch auf mich, was ein wahrlich berauschendes Gefühl ist.   Danach gehen wir duschen, Noah fährt mich nach Hause und wir knutschen mindestens eine halbe Stunde im Auto eine Straße weiter bevor ich es schaffe, mich von ihm zu verabschieden. Ich kann mein Glück kaum fassen, weil es sich manchmal noch wie ein Traum anfühlt. Wenn ich aber an den Knutschfleck in meiner Halsbeuge und die süßen Bisse an meiner Brust denke... dann weiß ich, dass Noah und ich tatsächlich miteinander im Bett waren. Und da will ich immer wieder und wieder mit ihm hin.   Daheim bin ich zum Glück alleine, weil meine Eltern wie üblich lange arbeiten. Der arme Oskar muss quasi sofort raus, als ich eigentlich nur schnell ins warme schlüpfen möchte und es tut mir ein wenig leid, ihn so lange allein gelassen zu haben. Deshalb bemühe ich mich, extra lange mit ihm draußen zu bleiben und nehme es ihm auch nicht übel, als er mit seinen Schneepfoten einfach ins Haus rast und ich den ganzen Dreck erstmal wegwischen muss bevor Mom später einen Anfall kriegt. Danach spiele ich alle Love Songs, die mir so einfallen, auf meinem Flügel und gehe nach Zähne putzen und Co. glücklich ins Bett.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Es ist Bastians großer Tag, ich habe die Armbanduhr, die ich gestern mit Noah gekauft habe, feinsäuberlich eingepackt und bin sehr stolz auf mich. Gut, ich muss gestehen: Mom und Dad haben mir Geld für die Uhr dazugegeben und Noah hat mir sehr schnell gesagt, dass er sich scheinbar eine neue holen wollte. Von unseren Eltern wird er einen Luxus-Kaffee-Vollautomaten kriegen, der vermutlich noch Musik spielen und einem das Wetter vorhersagen kann. Damit Bastian auch in seiner eigenen Bude überleben kann. (Ich hoffe, dass ich später auch so coole Geschenke kriegen werde... naja, nen Thermomix werde ich wohl nicht brauchen... oder doch, keine Ahnung.)   Während meine Eltern unterwegs sind und Einkäufe für das Festessen besorgen, darf ich mich um das Haus kümmern und Oskar davon abhalten, über den frisch gewischten Boden zu latschen. Mann, den müsste man am besten irgendwo einsperren. Zwischendurch muss ich meinen Eltern schreiben, ob wir dies oder jenes noch da haben oder es noch besorgt werden muss. Das Geburtstagskind selbst wird erst am späten Nachmittag kommen – also dann, wenn das Essen schon mehr oder weniger in der Bearbeitung und fast fertig ist. Naja, einmal im Jahr darf man ja König sein... Bastian ist im Übrigen fast ein Jahr jünger als Noah, zwischen ihnen liegen zehn Monate.   Der Gedanke an Noah wärmt mein Herz. Ich freue mich wie ein kleines Kind darauf, ihn nachher zu sehen. Es hat viel an Bearbeitung gekostet, bis ich ihn dazu überreden konnte, früher zu kommen als Bastian und meine Eltern. Einen Kuss in meinem Zimmer muss ich ihm einfach stibitzen. Das weiß er natürlich nicht, aber... denken kann er es sicherlich. Und das er, irgendwo, doch ganz froh darüber ist, ist ja klar, sonst hätte er nicht eingewilligt ein bisschen Quality Time mit mir zu verbringen, nicht wahr?!   Mit Hannah habe ich gestern in der Schule fast pausenlos darüber gesprochen, dass Noah das mit mir offiziell machen möchte. Sie ist, um es nett auszudrücken, überrascht gewesen. Um es so auszudrücken, wie es abgelaufen ist: sie hat sich an ihrem Vollkornbrötchen verschluckt und ist blau angelaufen, bis der Sonnenblumenkern endlich raus kam, nachdem ich ihr wie ein Idiot auf den Rücken gehauen habe. Die arme Hannah. Hätte man nicht gesehen, dass sie sich sehr offensichtlich verschluckt hatte, hätte man meinen können, ich würde sie schlimm verprügeln wollen.   Ich bin dann nicht schlecht überrascht gewesen, als sie leisen Zweifel daran geäußert hatte, ob das denn so eine gute Idee sei. Muss wohl vorübergehender Schwachsinn ihrerseits gewesen sein, denn das ist es doch, worum es immer ging und geht, oder nicht? Dass man zusammen sein kann ohne sich verstecken, ohne ein Geheimnis daraus machen zu müssen. Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen, aber... meine Liebe zu Noah ist eben stärker. Und wenn er mit offenen Karten spielen möchte, dann ist es ihm ja auch ernst mit uns.   Also ich sehe darin jedenfalls kein Problem sondern bin super froh, dass Noah endlich zu mir stehen möchte. Zu uns. Ich habe lange genug darauf gewartet.   Nachdem alle wichtigen Räume – Wohnzimmer, Küche, Gästebadezimmer, Flur, mein Zimmer und das Badezimmer oben – wie gestriegelt und gebohnert aussehen, kümmere ich mich um mich selber. Duschen, Haare waschen, Gesichtspflege, die Nägel werden ganz ordentlich gefeilt, die Haare geföhnt und gestylt wie Hannah es tun würde. Als ich mich dann im Spiegel betrachte, würde ich mich glatt selber um ein Date bitten. Ich würde mich nicht als wahnsinnig gutaussehend bezeichnen, aber ein hässlicher Frosch bin ich auch nicht gerade. Wenn es ein Maßstab ist: Hannah würde mit mir ausgehen, wäre ich nicht schwul und ihr bester Freund. Da nehmen wir uns beide eben nichts. Hannah wäre glaube ich meine Traumfrau.   Nachdem ich mich lange genug im Spiegel betrachtet und mir frech die Zunge raus gestreckt habe, schnappe ich mir Oskar und gehe mit ihm nochmal eine Runde raus. Da kriegt er so viel Aufmerksamkeit wie er braucht und will, weil er später nämlich auf die Ersatzbank geschoben wird wenn sich alles nur noch um Bastian dreht. Wir feiern unsere Geburtstage schon seit immer erst in der Familie, zu der Noah ja quasi dazu gehört. Zu meinen ist er auch immer da gewesen, oder zumindest vorbeigekommen. Jetzt ist Hannah immer dabei. Und erst wenn wir innerhalb der Familie gefeiert haben, gehen wir nochmal mit unseren Freunden weg. Ich sag ja: wir sind eine kleine Bilderbuchfamilie die sehr eng beisammen ist. Das ist für andere sicherlich erdrückend, aber ich mag es eigentlich ganz gerne, weil ich dadurch immer einen sicheren Hafen habe. Das ist meinen Eltern nämlich auch sehr wichtig, nicht nur bei mir, sondern auch bei Bastian.   Vermutlich ist er deshalb auch erst so spät von daheim ausgezogen... worüber ich immer noch nicht hinwegkomme. Es ist doch seltsam leer und ruhig im Haus, seit er nicht mehr da ist. Vielleicht, ganz vielleicht, vermisse ich es doch ein klein wenig, abends mit einem fröhlich-frechen Grottenolm oder Giftzwerg begrüßt zu werden. Oder seine sonstigen blöden, neckenden Sprüche. Das sage ich Bastian aber lieber nicht.   Irgendwann wird es mir dann aber doch zu kalt weshalb Oskar und ich lieber wieder nach Hause gehen, ich seine Pfoten wie ein Irrer sauber mache, was das schwarze Plüschvieh nur semi-geil findet, ich aber finde, dass er da durch muss. Danach legt er sich zu Tode erschöpft und unter größer Qual in sein Riesenbett und schaut mich wahnsinnig wehleidig von unten herauf an. Schauspieler. Naja, süß sieht er ja schon aus, wie er da so liegt.   Ich bin kurz vorm einknicken, da klingelt es an der Tür und ich renne wie ein Idiot los, gefolgt von Oskar, der plötzlich überhaupt nicht mehr zutiefst verletzt über seine sauberen Pfötchen ist.   Noah wird förmlich angesprungen, als ich die Tür fast aus den Angeln reiße. Von mir und von Oskar, dem ich aber sofort signalisiere, dass er das zu unterlassen hat. Dann küsse ich meinen Freund, der mich jedoch sehr schnell von sich schiebt.   „Hey Konstantin, ich freue mich auch, dich zu sehen. Danke, mir geht’s gut. Darf ich rein kommen?“   Oh weia... wo sind meine Manieren hin!? Ich bemühe mich, nicht zu rot zu werden, lächle dümmlich und lasse meinen Freund erstmal rein kommen. Der stellt seinen Rucksack und eine Geschenketüte im Flur ab, hängt Mantel, Schal und Mütze auf und sieht zum Anbeißen aus. Ich will ihm sein Hemd direkt ausziehen und selber anziehen und darin schlafen. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal, wenn ich bei ihm übernachte, heimlich eins mitgehen lassen.   „Möchtest du etwas trinken?“, frage ich höflich und nehme ihn mit in die Küche, wo ich vorsichtshalber schon mal den Wasserkocher anstelle.   „Kaffee wäre lieb.“   Argh!! Trinke ich halt alleine eine Tasse Tee. Und widme mich der Kaffeemaschine, die ich eigentlich nie benutze und dementsprechend nicht weiß, was ich zu tun habe. Noah höre ich leise lachen, dann steht er hinter mir: nah genug, dass ich ihn spüren kann und doch irgendwie weit weg. Unsere Körper berühren sich nicht – nur seine Hände, die er an meine legt und mir zeigt, wie ich diese blöde Kaffeemaschine zu benutzen habe. Wow. Ich wusste gar nicht, wie wahnsinnig... süß Noah ist. Wie aufmerksam und... mhh, nah. Also, wie nah er mir ist. Wie anders er sich verhält. Weil wir zusammen sind? Weil er mein Freund ist? Er geht so anders mit mir um. Ich möchte mich wirklich nicht beschweren, aber puh, es überfordert mich auf eine sehr aufregende Art und Weise!   Anschließend sitzen wir jedoch erstmal am Küchentisch, Noah mit seinem Kaffee, ich mit meinem Blaubeer-Vanille Tee und Oskar, der uns beide abwechselnd erwartungsvoll anschaut. Manchmal ist dieser Hund ja einfach nur zum totkuscheln. Manchmal möchte ich ihn aber auch in seinen nicht vorhandenen drei mal drei Meter großen Zwinger im Garten in den Regen stellen. Noah und ich reden über nichts Besonderes, wie immer: Schule, Arbeit, Bastians Geburtstag. Einmal kurz kommt Weihnachten auf, immerhin ist es nur noch exakt einen Monat. Ich finde es ja sagenhaft unfair, dass Bastian direkt zwei mal hinter einander Geschenke bekommt... auch wenn ein Monat dazwischen liegt.   Ob wir Weihnachten wohl zusammen verbringen werden? Traditionell verbringen wir Heilig Abend nur mit der Familie – selbst die Großeltern sind ausgeladen. Am ersten Weihnachtstag dann die ganze Familie (oder das, was noch davon übrig ist) und am zweiten Resteessen. Und Noah.   Ich würde gerne Heilig Abend mit Noah verbringen, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Aber das sollten wir sicherlich nicht jetzt besprechen. Immerhin ist Bastian ja heute der Star des Tages... Idiot.   „Hast du nicht noch ein Konzert irgendwann jetzt im Winter?“, reißt Noah mich irgendwann aus meinen Gedanken, während er so wahnsinnig zum Anbeißen aussieht, als er seinen Kaffee trinkt. Ich muss auf seine Lippen starren, räuspere mich und bemühe mich, seinen Blick aufzusuchen.   „Ja... irgendwann. Ich weiß es gerade nicht.“   Das muss mir wohl wirklich entfallen sein. Vielleicht sollte ich zur Abwechslung mal meine Mails lesen und nachsehen, was da drin steht. Andererseits würden die Organisatoren mich ja auch anrufen. Ich glaube, es ist von der Musikschule aus. Das wird ja dann sicherlich etwas aus meinem Standardrepertoire, also muss ich eventuell gar nicht so viel üben. Mir wird bewusst, dass ich lange nicht mehr gespielt habe. Also, was heißt lange... aber so ein, zwei Tage zwischendrin spiele ich nicht, weil ich mit Noah beschäftigt bin oder... keine Ahnung. Plötzlich sind andere Dinge wichtiger. Nein, eigentlich ist nur Noah wichtiger.   Jetzt gerade kribbeln allerdings meine Finger wie verrückt.   „Mhh... magst du mitkommen?“   Ich stehe auf und warte seine Antwort gar nicht erst ab – er würde ja nicht alleine hier in der Küche sitzen bleiben wollen, oder?! Seine Tasse nimmt er jedenfalls nicht mit, als ich ihn ins Musikzimmer führe und mich plötzlich seltsam entblößt fühle. Alle sind schon hier drin gewesen, Noah ja auch, aber... jetzt fühlt es sich anders an. Ich habe Herzklopfen und spüre, dass meine Wangen warm sind und vor sich hinglühen wie Rudolphs Nase.   Noah setzt sich in den Ohrensessel während ich meinen Platz vor dem Flügel einnehme und überlege, was ich spielen soll. Ein Blick zu Noah lässt mich lächeln: er hat die Augen geschlossen, den Kopf etwas zur Seite geneigt, seine Arme ruhen entspannt auf den Armlehnen. Er ist wunderschön.   Und auch, wenn ich noch immer kein Stück für ihn geschrieben habe, so hoffe ich, dass er weiß, was ich für ihn empfinde und das ich dieses Stück für ihn spiele anstatt Für Elise. Wie immer fliegen meine Finger über die Tasten, erfüllt mich die Musik, lässt mich meinen Körper in jeden einzelnen Ton neigen. Ich lächele vor mich hin, während ich spiele und feststellen muss, dass dieser Moment irgendwo in meinem Unterbewusstsein geschlummert haben muss. Alleine mit Noah sein, während ich für ihn spiele. Es macht mich so wahnsinnig glücklich und ich genieße es mehr als jemals zu vor. Also, ich genieße es immer zu spielen, aber jetzt gerade, mit Noah irgendwo hinter mir... mein Herz klopft, mein Bauch kribbelt, ich habe eine ganz leichte Gänsehaut. Letztere wird stärker, als ich gegen Ende des Stücks Noahs Hände an meinen Schultern spüre. Seine Berührung sendet kleine Blitze durch meinen Körper, doch anstatt zu verkrampfen, wird mein Spiel noch flüssiger, noch... gefühlvoller. Wow. Was Noah alles in mir auslöst...   Die letzten paar Töne verklingen gerade, Noah steht immer noch hinter mir, seine Hände wandern an meinen Hals, an meinen Kiefer... ich lege meinen Kopf in den Nacken, blicke in Noahs sturmgraue Augen, die mich warm anlächeln. Die mir still sagen: das war wunderschön. Danke. Er beugt sich langsam, fast in Zeitlupe, vor, sein Kopf senkt sich zu mir herab, ich muss auf seine Lippen starren, die leicht geöffnet sind... Noah ist mir so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren kann. Seinen wunderbaren, nach Sommer, Sonne und Meer Duft riechen kann, der mir vollkommen die Sinne vernebelt. Warum riecht Noah nach Urlaub? Nach Urlaub, den man einfach nur genießen kann.   Ich recke meinen Kopf ein kleines bisschen, öffne meinen Mund ein klein wenig... und dann, endlich, berühren sich unsere Lippen. Ganz zart nur, wie eine Feder legt sich Noahs Mund auf meinen, seine Hände halten halb mein Gesicht, halb meinen Kiefer. Ich möchte dahinschmelzen, so wunderbar ist dieser Kuss. Genauso gefühlvoll wie Für Elise.   Jedenfalls für eine kleine, süße Weile. Dann muss ich Noah berühren, mit einer Hand nach oben greifen, in sein wunderbar weiches, honigblondes Haar, in seinen Nacken, wo seine Haut ganz weich und warm ist. Ich bin ehrlich: es ist ein klein wenig umständlich, ihn so zu küssen, aber... auf keinen Fall will ich jetzt damit aufhören! Deshalb schließe ich meine Augen, während Noahs Zunge meinen Mund erforscht, liebevoll die meine anstupst und dann umspielt und umgarnt, als würde er sie um ein Date bitten. Ich bin ihm jetzt schon mit Haut und Haaren verfallen.   Deshalb küsse ich meinen Freund noch eine süße Weile, stehe dann aber auf und greife nach einer seiner Hände. Unsere Augen begegnen sich nur für einen flüchtigen Moment, doch das reicht um ein stilles Einverständnis auszudrücken.   Meine Beine sind schwer wie Blei, auf eine positive Art und Weise, als ich Noah die Treppen hoch führe in mein Zimmer. Mir ist, wie immer, heiß und kalt zugleich und als Noah meine Zimmertür hinter sich schließt, bin ich ein nervliches Wrack. Der Gedanke daran, mit Noah Sex zu haben – hier, in meinem Zimmer, im Haus meiner Eltern und eine Tür weiter von Bastians ehemaligen Zimmer – macht mich wahnsinnig verlegen, aufgeregt und vorfreudig in einem.   Noah ist wahnsinnig zärtlich, als er mich auszieht und ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehme, darüber nachzudenken, wie... mhh, direkt er ist. Ich hätte ihm niemals zugetraut, das hier durchzuziehen. Für mich ist Noah immer der Vernünftige. Der, der mich bestimmt ablehnen würde, würde ich in meinem jugendlichen Schwachsinn versuchen, ihn auf Biegen und Brechen rum zu kriegen. Ich bin völlig berauscht von dem Gedanken, dass Noah sich nur mir gegenüber so anders zeigt. Das er vielleicht... naja, auf mich genauso scharf ist wie ich auf ihn.   Ich schaffe es irgendwann, ihn von seiner Kleidung zu befreien und ausnahmsweise nicht rot zu werden vor Scham – eher vor süßer Erregung, die Noah in mir auslöst. Bevor wir uns aufs Bett setzen, angele ich noch Kondom und Gleitmittel aus meinem Nachttisch... sicher versteckt unter Kleinkram, den ich dort so verstaue. Noah lacht leise, wofür ich ihm warnend in den Arm zwicke. Dennoch lasse ich mich nur zu gerne auf seinen Schoß ziehen, lege Kondom und Gleitmittel neben uns aufs Bett, das ja nun nicht gerade groß ist... muss halt so klappen. Küssen und anfassen geht jedenfalls wunderbar und Noahs Hände an meinem Gesäß machen mich wahnsinnig. In den Kuss seufzend muss ich ein klein wenig auf ihm herum rutschen und, wow, ich möchte sofort kommen.   Tue ich natürlich nicht, das wäre ja sonst peinlich.   Die Vorbereitung, die Noah mir zukommen lässt, macht mich dagegen fast wahnsinnig vor Lust und Sehnsucht und Herzklopfen und Ungeduld. Ich würde mich gerne an seinen Schultern festhalten, da reicht er mir plötzlich das Kondom und... äh, ich schwöre, für einen Moment bricht mir der Angstschweiß aus. Ich kann ihm doch nicht...! Peinlich berührt drehe ich die Packung unschlüssig in meinen Händen hin und her während Noah mich wahnsinnig lieb an Wange, Hals und Schulter küsst. Seine Hände streicheln beruhigend, ermutigend, meinen Rücken. Nachdem ich allen meinen Mut zusammen genommen habe, öffne ich die Verpackung und bemühe mich, nicht vor lauter Scham weg zu rennen, als ich Noah das Kondom überziehe. Also, seiner Erektion, an die ich mich eigentlich gewöhnt haben sollte, aber... nein. Ich bin halt einfach noch siebzehn! (Erscheint mir jetzt eine ganz gute Ausrede zu sein.)   Noah hilft mir, als ich mich auf seinen Schoß setze und mich an diese Position erstmal gewöhnen muss. Ganz so angenehm und leicht ist das nämlich nicht und es dauert etwas, bis ich mich mit diesem neuen Gefühl anfreunden kann. Auch damit, Noah so nah zu sein und sein Gesicht direkt vor meinem zu haben. Das ist in jeder anderen... Stellung irgendwie einfacher. So jedoch habe ich das Gefühl, als würde er mich die ganze Zeit ansehen. Was er sonst ja auch tut. Oh Mann, Sex kann so wahnsinnig anstrengend sein!   Aber vor allem wahnsinnig schön. Endlich kann ich meine Arme um Noahs Schultern schlingen, ihn küssen und mich ihm ganz und gar anvertrauen. Ich genieße die Hitze zwischen uns, seine Stimme, wenn er ganz leise mit mir spricht oder diese unglaublich schönen Laute von sich gibt, die mir sagen: es gefällt ihm. Es tut ihm gut. Er liebt mich. Ich kann ihm all das nur zurückgeben, während ich mich auf ihm bewege und meinen Kopf in den Nacken lege, als er anfängt, meinen Hals mit dem Mund zu liebkosen.   „Seid ihr beide eigentlich völlig bescheuert?!“   Tja.   Wenn man in flagranti erwischt wird hat man, glaube ich, ein paar verschiedene Möglichkeiten.   Auf das schwarze Loch warten, das sich hoffentlich bald auftut und in dem man bis zum Sankt Nimmerleinstag versinken kann. Einen coolen Spruch bringen. Ärgerlich anmerken, dass man ja wohl anklopfen könnte, bevor man in ein Zimmer rein platzt, das nicht das eigene ist.   Es gäbe so viele Möglichkeiten.   Leider ist mein Hirn zu so einer Leistung gerade nicht fähig.   Mein Freund scheinbar auch nicht, denn der schiebt mich ziemlich rabiat von sich. Er sieht wahnsinnig erschrocken aus. Seine Lippen öffnen und schließen sich, doch kein Ton kommt heraus. Ein bisschen scheiße finde ich das schon – er ist immerhin der Ältere, der Erwachsene. Müsste er nicht das Ruder in die Hand nehmen?   Immer muss ich alles machen.   „Bastian, jetzt krieg bloß keinen Anfall...“, versuche ich meine Stimme zu finden und bin fast ein bisschen froh, dass die Lust, die Noah und ich gerade eben noch füreinander empfunden haben, einer Explosion gleich wie verpufft ist. Alles andere wäre ja wohl auch noch peinlicher... falls es noch peinlicher geht, dessen ich mir allerdings nicht sicher bin.   Bastian sieht mindestens genauso erschrocken, entsetzt, aus wie wir. Sein Blick wandert ungläubig von mir zu Noah, zu mir, zu Noah... hin und her. Noah ist wahnsinnig gut darin, das Kondom los zu werden und sich innerhalb von Sekunden anzuziehen. Ein gehetzter Ausdruck liegt in seinen Augen, ich kann es ihm nicht verübeln. Ich schaffe es, meine Shorts und Jeans anzuziehen, dann packt Bastian Noah rabiat am Arm und zerrt ihn herum, als würde er ihn am liebsten aus dem Fenster schmeißen.   „Bist du eigentlich noch ganz beisammen?! Das ist mein kleiner Bruder, den du da fickst!“, herrscht mein großer Bruder seinen besten Freund an, der sich nicht einmal im Ansatz wehrt. Stattdessen versucht er so ruhig wie möglich zu bleiben, was bei mir ja schon an dem Punkt nicht mehr funktioniert, als Bastian das F-Wort benutzt.   „Ich ficke ihn nicht.“, benutzt auch Noah das F-Wort und auch wenn er es irgendwie klar stellt... ich will nicht, dass er dieses Wort in den Mund nimmt. Nicht in Bezug auf mich.   Deshalb gehe ich mal schnell zwischen die beiden und greife nach Bastians Arm, damit er meinen Freund los lässt.   „Okay, jetzt beruhigen wir uns mal alle wieder und-...“   Ich komme nicht weiter, denn Bastian schubst mich derart rabiat weg, dass ich rückwärts stolpere und gegen die Ecke meines Schreibtisches knalle. Ich schwöre, die Ecke steckt in meinem Rücken und ich weiß, dass ich morgen einen dunklen Fleck knapp über meinem Steißbein haben werde.   „Bastian!“, ruft Noah geschockt aus und reißt sich los, schafft es aber nicht zu mir, weil Bastian ihn am Kragen packt und auf einen Millimeter an sich heran zieht.   „Du verschwindest hier. Sofort. Wenn ich dich noch einmal hier sehe, dann prügele ich dich windelweich, du verdammter Dreckskerl!“   Es ist schwer zu sagen, was Noah gerade fühlt oder denkt oder was er gerne tun würde. Ich kann gerade nur seinen Rücken sehen und die Art und Weise, wie sein ganzer Körper vollkommen angespannt ist, während Bastian ihn immer noch so nah hält, als würde er ihn gleich selber küssen wollen. Dann schubst er ihn weg.   „Bitte, lass mich dir doch erklären...“, unternimmt er noch einen Versuch, doch mein Bruder schneidet ihm das Wort ab. Mit der Faust. Ins Gesicht.   Keine Ahnung, wer von uns darüber mehr erschrocken ist: ich, Noah, Bastian? Ich will mich nicht entscheiden, spüre den Schmerz aber beinahe selber. Das Geräusch klang nicht schön.   „Raus hier, du krankes Arsch!“, brüllt Bastian derart ungehalten, dass ich Angst kriege und am liebsten los heulen würde. Noah hält sich das Gesicht, das kann ich noch halbwegs sehen, dann stürmt er an Bastian vorbei, rennt die Treppen runter und wenig später fällt die Tür ins Schloss. Ich höre Noahs Auto und das er wegfährt.   Mein Bruder und ich gucken uns an. Er ungläubig, wütend, entsetzt... ich trotzig, geschockt, verletzt und schließlich auch wütend.   „Bist du wahnsinnig geworden?! Du hättest ihm die Nase brechen können!“   Oder den Kiefer oder das Jochbein oder wo immer er ihn getroffen hat. Ich hab es ja leider nicht sehen können. Wahnsinnig vor Wut stürme ich auf Bastian zu und will nach ihm prügeln, doch der hält einfach nur meine Handgelenke fest. Sehr schmerzhaft fest.   „Ich hoffe das habe ich auch“, gibt er so kalt zurück, dass ich fürchte, er wird als nächstes mich schlagen, „und du hältst jetzt am besten die Klappe, bevor mir nochmal die Hand ausrutscht.“   „Du spinnst doch“, gebe ich stur zurück und reiße an meinen Armen, die Bastian nicht freigibt, sein Griff ist schraubstockartig, „Noah ist dein bester Freund! Du kannst doch nicht...“   „Mein bester Freund würde nicht meinen kleinen Bruder ficken!“, donnert er und stößt mich erneut weg. Die rasende Wut in seinem Gesicht ist etwas, das ich noch nie gesehen habe. Klar, er ist mal wütend gewesen. Aber das hier? Er sieht aus, als würde er am liebsten jemanden ermorden wollen. Und zwar auf ganz brutale Art und Weise.   Viel schlimmer als das ist jedoch der verletzte, völlig enttäuschte Ausdruck in seinen Augen. Den kann er nämlich trotz allen Zorns nicht verbergen.   Und es bricht mir das Herz. Das schlechte Gewissen macht sich in mir breit, verdrängt die Liebe zu Noah.   „Es tut mir leid, Bastian“, bringe ich heiser hervor, „wir... ich liebe Noah und wir wollten... er wollte es dir...“   „Vergiss es, Konstantin. Ich will davon nichts hören. Und von diesem Verräter sowieso nicht.“   Er verlässt mein Zimmer und knallt die Tür zu.   Ich werfe mich aufs Bett und heule mir die Augen aus dem Kopf. Kapitel 9: ----------- Noah geht nicht an sein Handy, seine Mailbox schlägt mir immer wieder vor, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Das mache ich nicht, weil er sich ja wohl denken kann, dass er mich zurück rufen oder mir schreiben soll. Auf seinem Festnetz Telefon geht auch nur der Anrufbeantworter dran. Meine größte Sorge ist, dass er im Krankenhaus sitzt und irgendwas in seinem wunderbaren Gesicht gebrochen ist. Dann würde er ja wohl erzählen müssen, woher das kommt, oder? Allerdings würde Noah Bastian niemals verraten. Nicht einmal nach dieser Handgreiflichkeit.   Ich kann immer noch nicht glauben, dass Bastian ihm wirklich ins Gesicht geschlagen hat. Mit der Faust! Wut und Frust und Enttäuschung mal völlig außen vor... Noah ist sein bester Freund. Die beiden wissen alles voneinander, mit Ausnahme der Beziehung zwischen Noah und mir... ja, Bastian hat alles Recht, sauer zu sein. Aber das hätte er nicht auf diese Weise zum Ausdruck bringen müssen.   Wie es mir mit dieser Situation geht kann ich noch gar nicht sagen. Ich fühle mich gerade eigentlich ziemlich allein und im Stich gelassen, immerhin liegt es ja jetzt wohl an mir, irgendwo reinen Tisch zu machen? Mom und Dad werden bestimmt wissen wollen, wo Noah ist. Und wenn er gar nicht erst auftaucht, wird keine Ausrede gut genug sein um irgendwelchen Fragen aus dem Weg zu gehen. Bastian wird auf keinen Fall sagen, was vorgefallen ist. In dieser Hinsicht kann ich ihn nämlich ganz gut einschätzen. Er wird diese Sache totschweigen.   Nicht mit mir!   Jetzt, wo das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, bringt falsche Scham auch nichts mehr. Trotzdem bringe ich es nicht fertig, sofort nach unten zu gehen, als die Elternfront nach Hause kommt. Ich ziehe mal lieber noch ein Tshirt an, gebe mir damit aber auch keine wirklich große Mühe. Heute muss ich ja nicht mehr gut aussehen. Der Tag ist eh gelaufen und glücklich gemeinsam grillen, kochen und backen wird heute auch keiner mehr.   Langsam schleiche ich aus meinem Zimmer und lausche erstmal nach all den Geräuschen, die von unten an mein Ohr dringen. Mom treibt Dad dazu an, die tonnenschweren Tragetaschen ein bisschen schneller rein zu tragen weil es draußen arschkalt ist und sie nicht will, dass das Haus auskühlt. Mir macht der kalte Luftzug, den ich bereits an der Treppe spüre, gar nichts aus. Seltsam. Sonst fröstelt es mich direkt wie blöd wenn auch nur irgendwo ein kleiner Luftzug zur Winterzeit durchkommt.   Ich ignoriere das nervöse Bauchkribbeln und stakse reichlich steif die Treppen runter. Oskar wuselt mir direkt um die Beine, stupst mich an und sprintet dann zur Tür, wo Dad ihn mit dem Fuß zurückschieben muss, weil keiner will, dass er nach draußen in irgendwelche Pfützen oder sonstigen Dreck rennt. Besonders ich nicht!!   Die Geschenketüte, die Noah an der Garderobe abgestellt hatte, ist weg. Ob er sie mitgenommen oder Bastian in die Tonne gekloppt hat... keine Ahnung.   „Schatz, stell doch bitte die Getränke kalt!“, ruft Mama mir im vorbeigehen zu und verschwindet wieder nach draußen in die Kälte. Ich pfeife Oskar zu mir, der mich neugierig dabei beobachtet, wie ich in der Küche die Taschen nach Alkohol durchforste. Bastian ist gerade mit irgendwelchen Backzutaten beschäftigt, die er aussortiert und entweder draußen stehen lässt oder in die Schränke räumt. Er würdigt mich keines Blickes.   Tief durchatmend parke ich Gin, Tonic Wasser, Bier und Bacardi in den Kühlschrank, den mein Dad direkt weiter mit allerhand Gemüse, Obst und was weiß ich nicht alles auffüllt. Mom räumt die anderen Taschen leer, doch ich kann nicht richtig darauf achten, was genau sie da auspackt.   Oskar steckt überall seine Nase rein.   Bastian knallt eine der Schranktüren ein klein wenig zu geräuschvoll zu, weshalb er schräge Blicke von unseren Eltern kassiert.   Schlimmer kann es nicht mehr kommen, denke ich. Und oute mich.   „Ich bin schwul.“, stelle ich diese Tatsache mal klar, wo wir alle so schön in der Küche stehen und scheinbar sonst nichts zu bequatschen haben. Paps fällt gerade eine Packung Nudeln aus der Hand, die von Oskar direkt fleißig beschnüffelt, dann aber für uninteressant befunden wird. Mom hält sich an der Küchenzeile fest, Bastian sieht aus, als würde er am liebsten nach dem Messerblock greifen und mir alle davon in den Körper jagen wollen.   „Bitte?“, fragt Papa, der mich anstiert, als wäre mir eine hässliche, grüne Warze auf der Nase gewachsen. Oder was Schlimmeres, das weiß ich nicht so genau.   „Ich bin-...“, fange ich an, doch Bastian schneidet mir das Wort ab.   „Wir haben es gehört. Wenn du dann jetzt deine Klappe halten könntest, da stehen noch Sachen, die weg geräumt werden müssen.“   Er will nach der Packung Nudeln am Boden greifen, mich packt der Wahnsinn und ich kicke sie weg – und verteile Spirali Nudeln über den gesamten Küchenboden.   „Konstantin!“, donnert meine Mom, die mich erbost-erschrocken anschaut.   „Noah und ich sind zusammen“, sprudelt es aus mir raus, doch Erleichterung macht sich nicht breit, während ich rede, „und wir schlafen miteinander. Ich liebe ihn.“   Bastian packt mich am Arm und schiebt mich Richtung Küchentür.   „Du verpisst dich jetzt besser.“   Er guckt mich so bitterböse an und sein Griff quetscht mir das Blut ab. Ich jaule leise vor mich hin, Oskar springt Bastian an und bellt fröhlich herum, weil er denkt, das ist ein lustiges Spiel. So doof kann doch keiner sein!   Paps jedenfalls nicht, denn der packt nun Bastian an der Schulter und zieht ihn von mir zurück.   „Okay, Jungs, das war ein Witz unter der Gürtellinie, wir haben alle nicht gelacht... können wir dann mal mit dem Quatsch aufhören?“   Ich werde wahnsinnig!   „Das ist kein Quatsch“, brülle ich und schubse Bastian weg, oder will es, aber weil er so viel größer ist als ich, bewegt er sich nicht mal einen Zentimeter, „und vor allem kein Witz! Ich meine es ernst. Ich stehe nicht auf Mädchen.“   Mama guckt mich an, als wäre mir noch eine Warze gewachsen.   „Meinst du nicht, das ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um das zu bereden?“   Wollen die mich alle verarschen?!   „Bastian hat Noah und mich beim Sex erwischt. Einen schlechteren Zeitpunkt kann ich mir nicht vorstellen.“, gebe ich trocken zurück und vermutlich eine Spur zu aufmüpfig, denn dieses Mal bin ich derjenige, der eine Hand im Gesicht hat.   Aber nicht von Bastian, sondern von Paps. Das tut mehr weh, als ich in Worte fassen kann.   „Du gehst jetzt besser auf dein Zimmer!“   „Ist das euer Ernst? Ihr schickt mich aufs Zimmer?“   Heiße Tränen brennen in meinen Augen während ich meine rechte Wange reibe und hoffe, dass ich da keinen Abdruck von Paps' Hand haben werde. Werde ich in der Schule ja wohl schlecht erklären können.   „Vielleicht ist es ja besser, wenn wir alle mal eine Pause für uns nehmen...“, schlägt Mama beschwichtigend vor und sieht mich irgendwie... keine Ahnung, verwirrt, geschockt, überrascht, mitleidig, böse... was auch immer an. Dad kann ich nicht in die Augen schauen, der Ausdruck in seinem Gesicht... ich würde lieber Ekel dort sehen als die tiefe Enttäuschung, die mir von ihm entgegen schlägt.   „Ich brauche keine Pause! Ich brauche eine Familie, die zu mir steht und mir sagt, dass es egal ist ob ich Mädchen oder Jungs liebe, dass das nichts ändern wird und trotzdem alle stolz auf mich sind!“   „Das hättest du dir überlegen können, bevor du dich an meinen verdammten besten Freund ran gemacht hast!“, brüllt Bastian mich wieder an und will auf mich losgehen, unser Dad geht dazwischen.   „Jungs...!“   „Und du hättest deinem besten Freund vielleicht mal zuhören können, anstatt ihm verdammt nochmal ins Gesicht zu schlagen!“   Mama schnappt erschrocken nach Luft, Papa sieht Bastian fassungslos an. Gleichzeitig wird allen Beteiligten klar: das hier ist kein Scherz mehr. Das hier ist echt. Oskar hat inzwischen angefangen zu bellen, aber keiner beachtet ihn, was ihn wohl unheimlich frustriert.   „Während oder nachdem er damit fertig war, dich zu ficken?!“   Ich kotze!!   „Noah fickt mich nicht, verdammt nochmal, wir schlafen miteinander!“   „Am Ende steckt sein Schwanz in deinem Arsch, egal wie man es nennt.“   Paps sieht aus, als würde er gleich brechen müssen, Mama... keine Ahnung. Ich glaube, sie will den ganzen Alkohol aus dem Kühlschrank direkt intravenös haben. Ich kann es ihr nicht verübeln.   „Wir lieben uns“, jammere ich, peinlicherweise, vor mich hin und blicke zwischen meinen Eltern hin und her, nach Hilfe, Unterstützung, Rückhalt suchend, „und ich kann doch nichts für meine Gefühle! Es tut mir leid, dass es so raus gekommen ist, das haben wir nicht gewollt! Noah wollte es dir sagen und-...“   „Ich will davon nichts mehr hören. Dieser kranke Kerl ist für mich gestorben. Das kannst du ihm meinetwegen auch ruhig sagen.“   „Sag ihm das doch selber wenn es dir so wichtig ist! Du bist ein scheiß bester Freund! Mann, Noah braucht dich und du bist einfach nur ein Arsch!“   Unsere Eltern wollen etwas sagen, werden jedoch von Bastian übertönt, der... oh Gott, seine Augen werden feucht! Mein Herz wird von einer eisigen Hand fest umklammert und nicht sehr sanft zerdrückt.   „Ist das jetzt meine Schuld?! Wie lange geht das mit euch schon, hm? Wie lange hat Noah schon Zeit gehabt, mit mir zu reden und hat es nicht getan? Und dich dann auch noch hier...“, er lässt das F-Wort weg, „... an meinem verdammten Geburtstag!“   … hätte ja auch keiner mit rechnen können, dass er früher als angekündigt nach Hause kommt. Okay, das ist keine Entschuldigung und keine Schuldzuweisung, aber... naja.   „Es tut mir leid...“   „Das hilft auch nichts mehr. Ich fahre nach Hause.“   „Aber du bist doch hier Zuhause!“, schaltet Mom sich plötzlich ein und berührt ihren ältesten Sohn an der Schulter, der ihre Hand jedoch abschüttelt.   „Ich kann jetzt nicht hier bleiben. Tut mir leid.“   Und damit macht Bastian sich aus den Staub, ohne, dass irgendwer ihn zurückhält. Meine Eltern und ich bleiben mit einem verwirrten Oskar alleine in der Küche zurück. Betreten schaue ich auf meine Füße.   „Ich habe das nicht gewollt...“   Schweigen legt sich wie ein schwerer Mantel über die Küche. Oskar winselt leise und schnuppert nach den Nudeln, die immer noch auf dem Küchenboden verteilt sind. Vielleicht hofft er, dass irgendwer ihn bemerken, ihn von den Nudeln fernhalten wird, doch darauf kann er wohl lange hoffen.   „Konstantin, auf dein Zimmer. Sofort.“   „Dad...!“   „Sofort!“   Ich blicke zu Mom, doch die weicht meinem Blick aus. Dad sieht mich an, mit harten Augen, in denen Wut und Ungläubigkeit zu lesen ist. Wenigstens kein Ekel oder so. Als er nachdrücklich den Finger in Richtung Tür bewegt, renne ich nach oben, knalle die Tür zu und werfe mich, wieder einmal, heulend auf mein Bett.   Na, wenn das mal kein Happy End ist, was?!   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Seit drei Tagen rufe ich Noah fast im Minutentakt an. Gestern bin ich nach der Schule bei ihm gewesen, doch entweder ist er nicht da gewesen oder hat mir mit Absicht nicht die Tür aufgemacht. Meine Nachrichten liest er nicht und wie immer sind es Mailbox oder Anrufbeantworter, die mir antworten.   Mom und Dad reden auch nicht mit mir. Bastian hat sich auch nicht gemeldet, also zumindest nicht bei mir. Ich glaube, mit unseren Eltern hat er schon gesprochen, aber sicher bin ich mir nicht. Hannah habe ich gestern, also Montag, in der Schule über die Situation aufgeklärt. Sie hat nur den Kopf geschüttelt, als Maxi fragte, was los sei, weil sie mich ganz fest in ihre Arme geschlossen hat. Maxi kann sich denken, was los ist – aber das ist etwas, das ich nur mit Hannah besprechen kann. Nur mit ihr besprechen möchte.   Viel gesprochen haben wir aber nicht, denn in der Schule haben wir nicht genug Zeit und danach muss ich nach Hause – Auflage meiner Eltern, die mir das aber auch nur mit einem Zettel auf dem Küchentisch gestern Morgen bekannt gegeben haben. Dazu muss ich nichts mehr sagen, oder? Eigentlich könnte ich einfach weg bleiben, immerhin sind sie eh nicht da wenn ich nach Hause komme. Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich die Nerven und den guten Willen meiner Eltern nicht weiter überstrapazieren sollte und tue lieber, was mir gesagt wird. Vielleicht hilft das ja... hoffe ich zumindest.   Hat Noah versucht, mit Bastian zu reden? Ruft er ihn auch pausenlos an? Oder zumindest mehrmals am Tag? Hat er bei ihm vor verschlossener Türe gestanden, so wie ich? Heult Noah sich auch abends im Bett kaputt? Denkt er an mich? Ich denke in jeder verdammten Sekunde an ihn. Morgens früh, wenn ich aufwache und mich frage, ob er auch gerade aufgewacht ist. Ob er gut geschlafen, was schönes geträumt hat. Ob er neben sich ins Bett schaut und sich vorstellt, ich würde dort liegen. Beim Duschen denke ich daran, mit Noah zusammen zu duschen, seine Hände zu spüren, die mir sanft die Schultern massieren. Denkt er an mich, während er duscht? In der Schule kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Alles dreht sich nur um Noah, um Bastian, um mich, um uns drei.   Ich bin ehrlich: es tut mir wahnsinnig leid. Zum ersten Mal, seit ich in Noah verliebt bin, ist mir die Sache mit Bastian wirklich bewusst geworden. Das ist sie schon immer gewesen, irgendwie, irgendwo... aber als ich ihn am Samstag in der Küche gesehen habe, wie er die Tränen zurückgehalten hat... da ist mir das ganze Desaster erst wirklich um die Ohren geschlagen. Erst da habe ich gemerkt: du hast gerade eine Freundschaft zerstört, die ansonsten alle Zeiten überdauert hätte.   Wenn ich daran denke, was Noah mir über seine freundschaftliche Beziehung zu Bastian erzählt hat, schnürt es mir den Hals zu. Die beiden sind nicht einfach nur beste Freunde. Die beiden sind ein Herz und eine Seele. Zwei Seiten einer Medaille, wie es so schön heißt. Noah vertraut Bastian bedingungslos. Und Bastian vertraut Noah genauso sehr. Oder hat es.   Die Enttäuschung, die Bastian empfinden muss, wage ich mir kaum auszumalen. Er hat alles Recht der Welt, wütend zu sein. Er darf und soll toben und Noah beschimpfen wie er will. Immerhin hat Noah ihn auf sehr miese Art hintergangen. Das kann ich beim besten Willen nicht schön reden. Und es ist auch vollkommen legitim, dass Bastian so einen Aufstand macht.   Vielleicht braucht er ja einfach etwas Zeit, um mit der Situation zurecht zu kommen? Es ist ja alles ziemlich frisch und wenn der erste Schock vorbei ist, kann man vielleicht auch wieder klar denken. Aber meine Hand würde ich dafür trotzdem nicht ins Feuer legen.   Bastian redet im Übrigen auch nicht mit mir – logisch. Habe ihm zig Nachrichten geschrieben und auch mindestens genauso oft angerufen. Ich finde es ein bisschen kacke, dass scheinbar keiner mit mir reden will, immerhin ist es ja nicht so, als wäre ich in dieser ganzen Dreiecksgeschichte nicht auch betroffen. Es ist unfair, dass ich mit diesem Problem so völlig allein gelassen werde.   Und meine Eltern... die scheint es gar nicht zu interessieren, dass einer ihrer Söhne schwul ist und ganz offensichtlich ja schon auch Sex mit einem Mann hatte. Ich gebe zu, das ist ganz schön viel zu verdauen, aber... denken denn hier alle nur an sich? Was ist mit mir?   Wahrscheinlich zum ersten Mal seit gefühlt Ewigkeiten fühle ich mich einfach nur wie ein siebzehnjähriger Teenager, der immer noch völlig verwirrt und überfordert mit dem Leben im generellen und sich selbst im besonderen ist. Ich fühle mich an die Anfänge meiner Pubertät zurück katapultiert, als ich gerade gemerkt habe, dass Mädchen irgendwie nicht so sehr kicken wie Jungs. Beziehungsweise überhaupt nicht kicken. Darüber bin ich trotz allem ziemlich überrascht und verunsichert gewesen, aber weil es nie groß Thema war, hat es mich nicht so sehr in Anspruch genommen, schätze ich. Ich habe ja immer nur Noah geliebt und daher nie das Bedürfnis verspürt, küssen und Sex vorher mit anderen Jungs auszuprobieren. Mir wäre ja auch bis vor ein paar Monaten keiner eingefallen, weil ich nämlich bis auf Maxi (und Jules und Lex) keine anderen Jungs kenne, die auch auf Jungs stehen. Mir ist es nie besonders wichtig erschienen, mich mit... mhh, Gleichgesinnten zu umgeben. Hannah hat mir immer gereicht und reicht mir auch immer noch. Auch wenn ich über die neuen Kontakte froh bin, so ist es ja nicht. Es tut schon gut, über bestimmte Probleme mit anderen Jungs zu reden. Wobei ich ja mit niemanden außer mit Hannah über Noah, Bastian und mir rede. Jedenfalls nicht aktuell. Und Oskar zählt sowieso nicht.   Dem mache ich gerade mal wieder die Pfoten sauber, was er nur bedingt geil und ich zum Kotzen finde, weil er überhaupt nicht ruhig hält und sich einfach nur in sein Bett schmeißen will. Ja, Hund, ich will das auch! Deshalb beeile ich mich, damit wir beide endlich unsere Ruhe haben. In der Küche koche ich mir eine Tasse Tee, während ich mal wieder Noahs Nummer wähle. Es tutet, dann werde ich weg gedrückt. Ich will ihm meine Tasse an den Kopf werfen, dieser blöde Penner! Wütend knalle ich mein Handy auf den Küchentisch und verbrenne mir, wie irgendwie üblich, mal wieder Lippen und Zunge, als ich von meinem Tee trinke. Dann fällt mir die Tasse beinahe aus der Hand, als die Haustür aufgeht und Mom nach mir ruft.   „In der Küche!“, rufe ich zurück und habe furchtbares Herzrasen. Oh Mann. Hoffentlich will sie mir nur hallo sagen... andererseits, das hat weder sie, noch Dad in den letzten drei Tagen getan. Deshalb muss ich kräftig schlucken, als sie in die Küche gestiefelt kommt, ihren Schal mit einer Hand lösend, während sie ihre Handtasche auf einen der Küchenstühle parkt.   „Hast du schon zu Abend gegessen?“, fragt sie mich und kramt ihr Handy aus der Tasche, einen kurzen Blick zu mir werfend, ehe sie etwas in ihr Handy tippt. Ich frage mich, ob sie Dad schreibt und wenn ja, was. Oder guckt sie nur auf facebook? Ja, meine Eltern sind da auch... wir sind eine sehr medienaffine Familie.   „Nee... ich habe keinen Hunger.“   Der ist mir schon vor drei Tagen abhanden gekommen und dementsprechend sehe ich auch aus. Etwas zu blass, ein wenig erschöpft und die Augenringe unter meinen Augen sind garantiert nicht sexy.   Mom guckt zu mir rüber, legt ihr Handy weg. Unsere Blicke begegnen sich und... naja, es ist kein wirklich schöner Moment. Ich kann ihren Blick nicht deuten, sie scheint weder besonders glücklich, noch besonders unglücklich zu sein, aber wirklich sicher bin ich mir da nicht.   „Konstantin, ich denke, wir sollten über diese Sache mal reden.“   „Welche Sache? Darüber, dass ich schwul bin oder darüber, dass ich mit Noah zusammen bin?“   Mom wird rot, was eine sehr interessante Erfahrung ist und für einen Moment genieße ich es, dass sie sprachlos ist und mit der Situation überfordert. Allerdings auch nur für einen Moment, denn wenig später höre ich die Haustür und Dad, der aus dem Flur heraus eine allgemeine Begrüßung ruft. Scheiße, meine Coolness macht sich gerade aus dem Staub und lässt mich einfach stehen.   „In der Küche“, ruft Ma zurück und lässt mich nicht aus den Augen, „ich rede gerade mit Konstantin.“   Au scheiße, so wie sie das betont, scheint das wohl eine Art Codewort zwischen ihnen zu sein. Dad taucht wenig später in der Küche auf und lockert gerade seine Krawatte. Ich schlucke heftig, als hätte man meine zu eng geschnürt, würde ich eine tragen.   „Hi Paps.“, grüße ich ihn mit dünner Stimme und habe direkt wieder Schmerzen in meiner Wange, weil ich leider nur an diese blöde Ohrfeige denken kann. Meine Eltern neigen zu solchen Methoden nämlich überhaupt nicht, was umso schwieriger für mich ist.   „Konstantin.“   Er nickt mir zu und macht sich einen Kaffee... er sieht aus, als würde er eher einen Whisky oder dergleichen brauchen. Vorschlagen tu ich ihm das mal lieber nicht, wer weiß, was ich mir dafür einfange. Ein bisschen traurig ist das ja schon, so darüber zu denken.   „Wollen wir uns vielleicht setzen?“, schlägt Mom vor und... fünf Minuten später sitzen wir alle am Küchentisch. Meine Eltern nebeneinander, ich ihnen gegenüber. Mir ist kotzschlecht, ich habe nervöses Magenpoltern, Schweißausbrüche und das Bedürfnis, mich überall zu kratzen, weil ich mich so unwohl und unruhig und überhaupt alles fühle.   „Also, das ist ja eine ganz schöne Bombe, die du da am Samstag hast platzen lassen.“   Das ist typisch Papa: der kommt direkt zum Punkt und schafft es immer wieder, mich so klein zusammen zu falten, wie nur irgend möglich. Ich rutsche peinlich berührt und mit einem furchtbar schlechten Gewissen auf meinem Stuhl herum.   „Ich habe das nicht gewollt... nicht so.“, gestehe ich leise und weiß eigentlich nicht genau, was ich damit meine. Vermutlich die Sache mit Noah, denn das ich schwul bin ist ja nichts, was ich nicht gewollt habe. Das sucht man sich ja nicht aus wie Klamotten im Geschäft.   Mom schaut ein wenig mitleidig drein, als ich es wage, ihren Blick aufzusuchen. Wofür sie nun Mitleid empfindet, keine Ahnung?! Helfen tut es mir jedenfalls nicht.   „Seit wann geht das denn schon?“   „Was?“   „Das mit...“, fängt Mom an und wedelt vage mit einer Hand herum, weil es ihr wohl noch abstruser vorkommt als alles andere, „Noah.“   Tja, das mit Noah also. Ich könnte jetzt sagen, dass es erst ein paar Wochen so ist, dass wir erst dreimal miteinander geschlafen haben, wobei Bastian beim dritten Mal mittendrin reingeplatzt ist. Ich könnte sagen, dass ich mich wegen Bastian schlecht genug fühle.   Stattdessen schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe und erzähle meinen Eltern alles. Das ich seit gefühlt Ewigkeiten in Noah verliebt bin, dass ich irgendwann gemerkt habe, dass ich Jungs attraktiver finde, dass die einzige Person, mit der ich über all das reden konnte, Hannah war und ist. Ich gestehe, dass ich gelogen habe, als ich bei Hannah oder Maxi gepennt habe und stattdessen bei Noah gewesen bin. Das ich nicht wusste, wie ich es ihnen sagen sollte, geschweigedenn Bastian. Das das schlechte Gewissen nicht nur schwer auf meinen Schultern lastet. Das ich Noah auch nie in irgendwelche Komplikationen verwickeln wollte, weil er eben so viel älter ist als ich. Das er gerade nicht mit mir redet und ich ihn eigentlich dringend brauche, weil es mir nicht sehr viel besser geht.   Und irgendwo auf halber Strecke fange ich, wie so oft in letzter Zeit, das heulen an. Weil ich Angst davor habe, dass meine Eltern mich abstoßend finden oder enttäuscht von mir sind, weil es mir so leid tut, dass es auf diese Weise raus gekommen ist, weil ich doch nicht wollte, dass Bastian und Noah Krach miteinander haben. Mein Körper findet scheinbar, dass es endlich an der Zeit ist, all die verborgenen Gefühle, das jahrelange schweigen und das schlechte Gewissen endlich raus zu lassen und wird von heftigen Schluchzern geschüttelt. Trotz allem reibe ich mir peinlich berührt über die Augen, weil ich nicht wie das Opfer in dieser Sache dastehen will. Es bringt nichts, die Tränen kullern aus meinen Augen und es gibt nichts, was sie aufhalten kann.   Seltsamerweise ist es nicht Mama, die sich neben mich setzt und in die Arme nimmt, sondern Paps. Der hält mich ganz fest, drückt mich an sich und streichelt mir so lieb den Kopf, dass ich die stille Entschuldigung für die Ohrfeige neulich spüre. Ich weine direkt noch hemmungsloser weiter und lehne meinen Kopf an seine Schulter, die ich großzügig mit Tränen und vermutlich etwas Schnodder durchtränken darf. Irgendwann steht Mama auf und streicht mir beruhigend über die Schulter. In diesem Moment bedarf es keiner Worte, ich bringe aber sowieso keinen vernünftigen Ton über die Lippen.   Keine Ahnung, wie lange wir da alle so hocken und ich zumindest spüre, dass sie mich trotzdem – oder gerade deswegen – lieben und mich nicht verstoßen oder sonst was. Vielleicht bin ich ein wenig bescheuert gewesen, weil ich dergleichen zumindest für einen aberwitzigen Moment gefürchtet habe. Aber solche Sorgen hat man ja irgendwie trotzdem, oder?   Jedenfalls sitzen wir etwas später, der Gemütlichkeit halber, im Wohnzimmer auf dem Sofa, ich in der Mitte, meine Eltern links und rechts von mir. Mama hat einen Arm um meine Schultern gelegt und drückt mich ab und an.   „Habt ihr mit Bastian gesprochen?“, frage ich irgendwann und schniefe leicht, ein kleines Überbleibseil von meinem Heulanfall Minuten zuvor.   „Nicht wirklich. Er ist arbeiten.“, meint Dad und checkt sein Handy, ob nicht doch irgendwas darauf zu sehen ist. In unsere Familien Whats App Gruppe hat seit Samstag keiner mehr geschrieben. Naja. Gab ja auch keinen Grund dafür.   „Ich sollte vielleicht mit ihm reden...“, überlege ich, allerdings nur halbherzig, weil ich viel zu viel Schiss habe, Bastian unter die Augen zu treten. Mama schüttelt beschwichtigend den Kopf und tätschelt meine Schulter.   „Du kümmerst dich jetzt erstmal um dich und um die Schule. Bastian und Noah haben da scheinbar einiges zu bereden und das sollten die beiden selber aussortieren.“   „Seid ihr nicht... böse, dass Noah und ich...?“   Dad verpasst mir einen kleinen Schlag gegen den Hinterkopf – nicht böse oder gar schmerzhaft, eher, als würde er mir ohne Worte mitteilen, dass dieses Thema sehr pikant ist. Naja, das weiß ich ja auch so.   „Freudensprünge machen wir nicht gerade, wie du sehen kannst. Noah gehört zur Familie, was ihm vermutlich den Arsch rettet. Das ist halt ein ganz schönes Schlamassel.“   „Ihr seid doch hoffentlich vorsichtig?“, fragt Mama plötzlich und ich laufe rot an.   „Wenn du meinst, ob wir Kondome benutzen...“   „Ich will das nicht hören!“, ruft Paps und verpasst mir direkt noch einen Klaps auf den Hinterkopf.   „Ist es denn... okay? Also das Noah und ich...“   Ma lächelt mich lieb, aber auch ein klein wenig mitfühlend an. Als wüsste sie etwas, das ich nicht weiß. Vielleicht bilde ich mir das aber auch einfach nur ein.   „Konstantin, wenn man jemanden liebt, dann kann man meistens nichts dagegen tun. Dein Papa und ich sind ja auch immer noch verheiratet“, grinst sie ihren aufgebracht schnaubenden Ehemann an, „und das du Jungs magst, ist vollkommen in Ordnung. Das du was mit Noah hast... ich finde ja, er ist zu alt für dich und mir gruselt es ein bisschen, weil er dich kennt, seit du ein Baby warst. Aber wir wissen auch, dass Noah anständig ist und... naja.“   Naja. Wir reden dann noch ein kleines bisschen über verschiedene Dinge... die neuen Bekanntschaften, die ich geschlossen habe wobei ich Maxi schon als Freund bezeichne, Hannahs Freund Lars und das die beiden super glücklich sind, Jules erwähne ich auch... und die Sache mit ihm und Frank. Mom und Dad sind beide ziemlich geschockt und ich glaube, ihnen schwirrt ganz schön der Schädel. Das sind wohl alles zu viele Infos auf einmal.   Deshalb bin ich auch ziemlich froh, als ich abends endlich im Bett liege und aufatmen kann. Zumindest für einen Moment. Dann wähle ich Noahs Nummer und höre mir immer wieder an, dass ich ihm eine Nachricht hinterlassen soll. Seine Stimme hilft mir, irgendwann einzuschlafen.   Ich vermisse ihn.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   In drei Wochen ist Weihnachten, verdammte Scheiße und Noah, der Arsch, redet immer noch nicht mit mir. Langsam reicht es doch mal, oder? Und Bastian könnte sich auch mal wieder einkriegen. Die Situation ist nun mal, wie sie ist und ich finde, wir können das jetzt entweder klären, oder uns auf ewig anschweigen. Bastian redet inzwischen zwar mit meinen Eltern, ist aber kein einziges Mal zu Besuch gewesen. Mit mir redet er auch nicht, auch wenn er inzwischen meine tausend Nachrichten gelesen hat. Das macht mich total wütend, weil er mir ja dann bitte schön auch antworten könnte!   Hannah bemüht sich, mir so gut es geht zur Seite zu stehen. Am Wochenende habe ich bei ihr übernachtet und dafür hat sie Lars abgesagt, der das ohne Protest respektiert hat. Das hat mir schon ziemlich leid getan weil ich wusste, wie sehr Hannah sich darauf freute, bei ihm zu übernachten und ein paar Dinge in der Umgebung zu unternehmen. Aber für mich hat sie alles stehen und liegen gelassen und wir haben Tee getrunken, über Bücher gequatscht, über Musik... über Noah, Bastian, Jules und Frank. Hannah hat mich in die Arme genommen, als ich mal wieder habe weinen müssen und abends im Bett sind wir aneinander gekuschelt eingeschlafen.   Wirklich helfen kann sie mir auch nicht. Sie rät mir nur immer wieder, Noah zu kontaktieren und zu versuchen, mit ihm zu reden. Leider bringt mir das nichts, weil er einfach auf nichts reagiert. Ich bemühe mich wirklich, ihn zu verstehen. Der hat bestimmt völlig andere Sorgen, als sich jetzt mit mir auch noch auseinander setzen zu müssen. Und es ist ja nicht so, als würde ich das nicht verstehen können... viele denken ja, beste Freunde, das sind so coole Buddies, die immer alles zusammen machen. Die sich Geheimnisse anvertrauen und blablabla, den ganzen Kram halt.   Mir ist erst sehr viel später bewusst geworden, dass das zwischen Bastian und Noah eine sehr enge, seelenpartnerschaftliche Sache gewesen ist. Immer noch ist, keine Ahnung. Oft genug sehe ich einen völlig aufgelösten Noah an der Haustür stehen und höre Bastians Tür, die sich schließt und ihre gedämpften Stimmen und das Schweigen, das später geherrscht hat. Ich habe das ja nicht wirklich mitgekriegt. Noahs Lächeln am nächsten Morgen, als wäre nie etwas gewesen. Was hat er Bastian wohl erzählt? Wie hat Bastian auf die Trennung reagiert? Immerhin hat er ja schon vorher wissen müssen, dass es nicht so gut zwischen Noah und Frank läuft. Ob Bastian ihm Ratschläge gegeben hat, wie Hannah es bei mir seit jeher tut? Was hat er ihm geraten?   Jetzt, wo weder mein Bruder, noch mein Freund mit mir reden, wird mir ihre enge Beziehung zueinander wirklich bewusst. Wird mir bewusst, was Noah mit mir riskiert hat. Wäre es anders gekommen, hätte Bastian uns nicht erwischt sondern Noah mit ihm reden können? Hat er überhaupt mal irgendwelche Andeutungen gemacht? Gesagt, dass er zumindest... jemanden im Auge hat? Und wenn ja, was hat Bastian gesagt? Wie hat er reagiert?   Auf all die Fragen kriege ich momentan aber keine Antwort. Und meine Laune wechselt von am-Boden-zerstört-sein zu rasend-vor-Wut und scheiße-ich-hätte-mir-Noah-aus-den-Kopf-schlagen-sollen hin und her. Letzteres erscheint mir manchmal wie die einzig sinnvolle Alternative, die ich hätte treffen können und sollen. Wäre ich nicht so auf Noah eingeschossen gewesen, vielleicht hätte ich heute was mit Maxi anfangen können, auch wenn der ja eigentlich nur mit mir ins Bett will. Na, dann halt jemand anderes.   Jedenfalls ist es mal wieder einer der Tage, an denen ich nach der Schule zu Noah fahre, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass ich nach tausend Mal klingeln wieder nach Hause fahren werde. Es ist fast fünf, ich gehe mal davon aus, dass er daheim ist. Eigentlich weiß ich gar nicht, welche Schicht er auf der Arbeit hat oder ob er überhaupt arbeiten geht... ich weiß gar nichts. Nur, das er scheinbar noch lebt, Whats App sei Dank, da kann man immerhin sehen, wann jemand zuletzt online war. Bin ja froh, dass Noah das nicht ausgestellt hat.   Während ich vom Bahnhof zu seiner Wohnung laufe, überlege ich mal wieder, was ich sagen soll, wenn er mir dieses Mal die Tür öffnet. Falls er da ist. Ich sollte auf jeden Fall nicht fragen, wie es ihm geht, denn das kann ich mir ja wohl denken und ich möchte ihn auch nicht darauf hinweisen, dass die Situation gerade reichlich bescheiden ist. Genauso wie der Regen, der ja wohl mal langsam aufhören könnte. Es ist Dezember, wo ist der Schnee hin?! Dagegen habe ich nämlich nichts, der Schnee rieselt wenigstens nur leise dahin und sieht schön aus. Der Regen nervt, macht alles nass und trotz Outdoor-Regenjacke bleibt meine Jeans nicht lange trocken, weil die nämlich nicht wasserfest ist. Wenigstens habe ich keine nassen Füße, das wäre jetzt ja wohl der absolute Supergau.   Als ich gerade an Noahs Wohnung ankomme, fällt mir der Postbote auf, der geschäftig Briefe am einsortieren ist. Und ich habe plötzlich einen Geistesblitz!   Eilig renne ich zu dem Postboten rüber und grüße freundlich.   „Ist etwas für Faber dabei?“, erkundige ich mich und ernte verwirrte Blicke. Der arme Mann ist sicherlich so um die vierzig und wird wohl nicht oft von Teenies angesprochen. Er grüßt wenigstens zurück, schaut in seinem Stapel an Briefen nach, zieht einen langen Umschlag heraus. Und sieht mich an.   „Wenn Sie Noah Faber sind, müssen Sie mir Ihren Ausweis zeigen.“, meint er und wedelt mit dem Brief in seiner Hand herum.   „Nee, Noah ist ein Freund von mir. Der ist gerade aus dem Urlaub zurück und ich wollte einen Überraschungsbesuch starten, mich aber nicht verraten“, ich wedele in Richtung Gegensprechanlage, „würden Sie wohl kurz mitspielen?“   Scheinbar findet er das irgendwie witzig, denn er spielt mit, klingelt und... oh Gott, ich höre Noahs Stimme!   „Post, ich habe eine Lieferung für Herrn Faber.“, lügt der Postbote und ich kriege Herzklopfen.   Noah drückt auf, der Postbote und ich schleichen in den Aufzug.   „Danke, dass Sie mitspielen. Sie sind wunderbar. Falls wir uns nie wieder sehen sollten, hoffe ich, dass sie ein schönes Weihnachtsfest haben werden.“   Dafür ist es zwar drei Wochen zu früh, aber wir wollen ja immer schön höflich bleiben.   „Dankeschön, junger Mann. Viel Erfolg mit der Überraschung.“   Der Aufzug kommt mit einem leisen Pling zum Halt, der Postbote geht vor, ich habe inzwischen krankhaftes Herzrasen und warte, bis der Postbote mit Noah redet... es geht langsam zu Ende, da springe ich um die Ecke.   „Überraschung!“, rufe ich fröhlich, ignoriere, dass meine Stimme durchs Treppenhaus wiederhallt und Noahs geschockten Blick ebenso. Der Postbote dreht sich gerade um, grinst mich an und verschwindet dann im Aufzug. Ich gehe auf Noah zu, der den Brief in der einen Hand, die Tür in der anderen hält. Er sieht nicht so aus, als würde er mich rein lassen wollen, wenn ich ehrlich bin. Überhaupt sieht er ein bisschen... gehetzt aus. Und irgendwie... unordentlich. Sein Haar ist etwas zerzaust, als hätte man es ihm zerstrubbelt. Sein Tshirt hat einige Knitterfalten.   Kurz vor ihm bleibe ich stehen, schaue ihn von unten herauf an und muss schwer schlucken.   „Hey.“, wispere ich leise und lege meinen Kopf etwas schief. Der Flur liegt hell erleuchtet da und... bilde ich mir das ein, oder höre ich Wasser laufen?   „Konstantin, ich habe jetzt keine Zeit... danke für deinen Besuch.“   Er will die Tür schließen, ich stelle mal lieber meinen Fuß dazwischen.   „Hi Noah, ich freue mich auch, dich zu sehen. Danke, mir geht es soweit okay, denke ich. Oh, lieb von dir, dass du mich rein lässt.“   Das ich ihn nachmache, lässt ihn schwer schlucken. Trotzdem sieht er nicht so aus, als würde er mich rein lassen wollen. Hallo? Was ist denn bei dem kaputt?   „Ich meine es ernst...“   „Und ich auch.“, gebe ich stur zurück, drängele mich an Noah vorbei in die Wohnung, mit aller Kraft, die ich aufbringen kann. Glücklicherweise ist Noah zu perplex, um mir Einhalt zu gebieten. Ich bin ja sonst nicht so dreist. (Nicht immer, jedenfalls...)   Verwirrt fallen mir gleich mehrere Dinge auf. Da steht ein fremdes paar Schuhe, eine große Reisetasche und ein kleiner Karton auf dem Boden neben der Garderobe. Und ein Mantel, den ich nicht kenne, der aber sehr teuer aussieht. Und das Wasserrauschen, das ich eben noch gehört habe, hört jetzt magischerweise von ganz allein auf.   Dumpfe Geräusche dringen aus dem Badezimmer an meine Ohren.   Mein Freund packt mich am Arm und zieht mich in Richtung Tür.   „Du gehst jetzt besser. Ich habe echt viel zu tun und...“   Ich schlage seine Hand weg und begegne seinem Blick, der... er wirkt ertappt. Und ich sehe so was wie ein schlechtes Gewissen in seinem Gesicht. Was ist denn jetzt los?   „Wie lange wollen wir uns denn noch anschweigen, deiner Meinung nach? Können wir vielleicht mal endlich über diesen scheiß Elefanten zwischen uns reden?“, entgegne ich eine Spur zu aggressiv und drehe meinen Kopf dann in Richtung Badezimmertür, als diese gerade aufgeht und...   Das ist doch hoffentlich ein schlechter Witz. So was passiert doch nur in Büchern oder Filmen, aber nicht im realen Leben. Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf.   Ungläubig starre ich Frank an, der nur mit Handtuch um die Hüften aus dem Bad gestiefelt kommt, uns beide sieht und... verwirrt ausschaut. Und irgendwie ziemlich durch, drüber... keine Ahnung. Seine Lippen sind ganz rot, wie nach einer langen Knutschsession und, scheiße, ist das ein Knutschfleck an seinem Hals?!   „Oh, hi Konstantin. Was machst du denn hier?“   Ich blicke zu Noah, dessen Blick ich weder deuten kann, noch will.   „Noah besuchen.“, gebe ich eisig zurück und balle meine Hände zu Fäusten. Das meine Jacke den Boden volltropft und ich einen ziemlich elenden Eindruck machen muss, ist mir ziemlich egal. Ich will wissen, wieso Frank hier ist, wieso er quasi nackt aus Noahs Dusche kommt und wieso mein Freund so verflucht ertappt aussieht.   „Danke für deinen Besuch, nochmals, aber ich habe wirklich keine Zeit und...“   … und ich zähle eins und eins zusammen. Mein Herz krampft sich schrecklich zusammen. Es kostet mich einiges an Überwindung, Noah anzusehen, ohne gleich wieder in Tränen auszubrechen, wie ich es inzwischen so gerne tue.   „Weil du mit Frank schläfst, oder was?“   Ich höre Frank husten, als hätte er sich verschluckt. Noah presst die Lippen aufeinander. Besser so, bevor ihm auch nur ein falsches Wort über die Lippen kommt. Mir knallen derweil alle Sicherungen durch.   „Das ist nicht dein scheiß Ernst“, brülle ich los und versetze Noah einen kräftigen Schubser, zumindest so kräftig, wie ich kann, „sag mir, dass das hier ein verflucht blödes Missverständnis ist!“   Noah sagt aber nichts. Er sieht mich einfach nur an... schuldbewusst, traurig, müde, entsetzt... alles. Ich glaube, ich kotz ihm gleich vor die Füße.   „Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?“   Ich schlage Frank gleich den Kopf ab! Wütend drehe ich mich zu ihm um.   „Wieso erklärst du mir das nicht, hm?! Oder macht es dir Spaß, deinen Ex-Freund zu vögeln, nachdem du ihm das Herz gebrochen hast?“   Scheiß was auf gutes Benehmen, scheiß was auf angemessene Sprache. Gerade ist mir wirklich alles egal und dank Maxi und Jules weiß ich ja, wie das geht. Frank sieht mich an, als hätte ich den Schwachsinn. Nee, so nicht, mein Lieber!   „Entschuldige mal, aber ich glaube nicht, dass ich dergleichen mit dir besprechen müsste.“   Noah packt mich an der Schulter, doch ich schüttele sie ab.   „Ich denke schon. Oder hat Noah dir etwa nicht gesagt, dass er mit mir zusammen ist?“   Also, ohne Witz, aber Franks blödes Gesicht ist etwas, das ich niemals vergessen werde! Er sieht Noah an, ungläubig.   „Was?“   Noah stöhnt genervt, schiebt sich an mir vorbei, so das er zwischen uns steht. Denkt wohl, ich gehe Frank andernfalls an die Gurgel. Zugegeben, Lust dazu hätte ich. Mehr Lust jedoch habe ich, Noah links und rechts eine zu klatschen. Er könnte dieses Missverständnis jetzt endlich mal aufklären... tut es aber nicht. Immer noch nicht.   Das ist kein Missverständnis.   Ich drehe komplett durch.   „Du bist so armselig, Noah“, kreische ich entsetzt, verletzt, traurig, wütend, „knutschen und ficken ist okay, aber kaum wird es ungemütlich, rennst du zu deinem Ex?!“   „Konstantin!“, herrscht Noah mich an und sieht zum ersten Mal richtig wütend aus. Wütend wegen mir. Dazu hat er allerdings überhaupt keinen Grund, finde ich.   „Moment mal“, mischt Frank sich ungefragt ein, „verstehe ich das richtig? Du hast was mit... Bastians kleinem Bruder?“   Noah schweigt sich einen dranlang und lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Gut so. Denn so, wie er mir gerade weh getan hat, so werde ich ihm jetzt auch weh tun. Mit mir nicht mehr, denke ich mir. Ich bin viel zu lange der Depp in dieser Sache gewesen. Viel zu lange geblendet von meinen Gefühlen für Noah.   „Ich weiß, die Situation ist scheiße und es tut mir leid, dass es so raus gekommen ist. Aber ich habe dich die letzte Zeit gebraucht, weißt du?! Meine Eltern wissen über uns Bescheid – ich habe ihnen alles gesagt. Alles, Noah!“   Mein Freund wird kreidebleich und ein Blick zu Frank... er sieht aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Da ich aber noch lange nicht fertig bin, lege ich direkt noch einen nach.   „Hoffentlich hat Frank dich so richtig gut gevögelt. Genauso, wie er Jules gevögelt hat. Soll wohl verdammt geil gewesen sein.“   „Okay, jetzt hör mir mal zu, du-...“   Ich schneide Frank das Wort ab.   „Nein danke, kein Bedarf. Ich habe keinen Bock mehr, euch zuzuhören. Da kommt eh nur Mist raus. Und du“, wende ich mich an Noah und bin nun doch den Tränen nah, „du kannst mich mal. Ich bin fertig mit dir!“   Filmreif reiße ich die Haustür auf, knalle sie zu und renne alle Treppen aus dem sechsten Stock nach unten hinaus in den Regen, weine, renne zum Bahnhof, ignoriere die Seitenstiche nach zehn Metern, das brennen in meinen Lungen. Mein Haar klebt mir nass im Gesicht, weil ich keinen Nerv habe, meine Kapuze anzuziehen. Das hochspritzende Wasser aus den Pfützen, durch die ich renne, ignoriere ich. Die Blicke in der Bahn ignoriere ich. Im Bus.   Ich klingel bei Hannah, die mich überrascht ansieht, anhand meiner erbärmlichen Erscheinung aber sofort reagiert und mich in die Wohnung zieht, mir aus meinen nassen Klamotten hilft und unter die Dusche schickt. Alles zieht an mir vorbei wie ein schlechter Film. Ein Teil von mir hat das Erlebte schon längst realisiert. Ein anderer Teil nagt immer noch daran. Hat Noah wirklich mit Frank geschlafen? Während er, verdammt nochmal, mit mir zusammen ist?! Ich fass es einfach nicht. Er hat genau das getan, weshalb er sich von Frank getrennt hat und dann betrügt er mich mit seinem Ex? Was ist das bitte für eine scheiß abgefuckte Art?! Was hat er sich dabei gedacht?   Weil es in Hannahs Wohnung – naja, die Wohnung ihrer Mama – keine Männerkleidung gibt, muss ich mich in ein großes Badetuch hüllen und kriege zusätzlich noch eine warme Wolldecke umgelegt. Hannah hält mich ganz fest, als wir in ihrem Zimmer auf dem Bett sitzen und ich hemmungslos weine. Ich muss ihr nicht sagen, was passiert ist. Sie kann es sich denken.   Es ist aus mit Noah und mir.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Es ist irgendwie ein schöner Sommer und ein sehr schöner Herbst bis Winter gewesen. Naja, das letzte halbe Jahr ist sehr schön gewesen, auch wenn es nicht ein zusammenhängendes, wunderschönes Erlebnis gewesen ist. Mehr so Momentaufnahmen, die sich wohl auf ewig in mein Hirn gebrannt haben. Ich bin glücklich gewesen und bin es, glaube ich, immer noch. Naja, momentan bin ich eher down, habe ein gebrochenes Herz, aber soweit eigentlich aus dem Schlimmsten raus. Manchmal tut es noch schrecklich weh, betrogen worden zu sein, gleichzeitig ist es eine fast schon hilfreiche Sache: so was kann man nicht schön reden. Und deutlicher geht es ja wohl auch kaum, oder? Ich kann also gut verstehen, wie mein Ex es geschafft hat, seinen Ex so relativ schnell zu vergessen. Und ich kann verstehen, wieso die Gefühle doch noch irgendwo da sind, trotz dessen, was vorgefallen ist.   Noah hat sich, wie ja inzwischen bekannt, nicht bei mir gemeldet. Er hätte kaum tiefer in Ungnade bei mir fallen können. Es hätte die perfekte Versöhnungsszene sein können, er hätte alles richtig machen können, stattdessen schweigt er sich aus wie immer. Warum, um alles in der Welt, habe ich ihn so glorifiziert? Für mich ist Noah immer perfekt gewesen. Dieser wunderbare Mann mit diesem wundervollen Lächeln, diesen sturmgrauen, sanften Augen... ekelhaft. Jetzt, so im Nachhinein, ist er ein Kerl wie alle anderen auch. Er hat mich betrogen, dieses Arsch.   Hannah habe ich die Story natürlich erzählt und sie ist, als ich bei ihr aufgetaucht war, ähnlich geschockt und ungläubig gewesen. Am Anfang hat sie noch versucht, Noah zu verteidigen – das ich die Situation vielleicht falsch gedeutet habe. Habe ich aber nicht. Das ist doch so klar gewesen wie das Amen in der Kirche!   Das ist jetzt auch schon wieder eine Woche her, in zwei ist Weihnachten und ich bin mit meinen Weihnachtseinkäufen schon fertig. Es kriegen ja nur meine Familie und Hannah etwas. Unter anderem haufenweise Plätzchen, die ich gerade mal wieder backe und bete, dass Mom und Dad keinen Herzkasper kriegen, wenn sie plötzlich früher als erwartet auftauchen sollten. Aber es ist erst nach fünf und eigentlich sollte ich noch mindestens drei Stunden haben, bevor auch nur einer der beiden Heim kommt. Ich meine, die Küche ist kein totales Schlachtfeld, aber... wirklich ordentlich ist es hier auch nicht. Und ich habe Mehl im Gesicht, weil ich mir ständig über die Stirn wischen muss. Auch egal.   Ein Blech mit Sternen-Plätzchen ist bereits fertig und kühlt aus, das zweite im Ofen und ich fleißig dabei, ein drittes Sternchenarmee-Blech vorzubereiten. Als ich nach den Ausstechförmchen gesucht habe, habe ich die Herzen ganz schnell wieder zurück in die Dose geschmissen, in der ich sie gefunden habe. Außerdem sind Sterne doch was tolles, wie ich finde. Passen wenigstens zur Winterzeit.   Oskar hockt auf'm Flur, weil ich ihm verboten habe, in die Küche zu kommen. Der frisst mir hier sonst alles weg und ich habe keine Plätzchen für die nächsten Wochen. Geht mal überhaupt nicht, wie ich finde. Das er leise winselt versuche ich mal zu ignorieren. Zwischendurch sage ich ihm, dass er seine süße Schnüss halten soll. Dann hört er kurz auf mich und fängt drei Minuten später wieder das winseln an. Bloß nicht schwach werden, Konstantin, das ist das Anfang vom Ende!   Um Oskar auszublenden, stelle ich ein bisschen Musik an und klicke das schlimmste Weihnachtslied der Geschichte schnell weg, als es los läuft. Blöde Weihnachtsplaylist.   Während ich so am backen bin und den Ofen alle zwei Sekunden checke, überhöre ich scheinbar, dass irgendwer nach Hause gekommen ist. Erst als Oskar fröhlich herum bellt und ihn jemand zwar lieb, aber doch zurechtweisend begrüßt, rutscht mir mein Herz direkt in den Keller. Wenig später steht Bastian in der Tür, der seinen Blick durch die Küche schweifen lässt bevor seine Augen auf mir ruhen. Ich starre ihn wie belämmert an, während ich gerade einen weiteren Stern am ausstechen bin.   Mann, Bastian sieht ein bisschen... fertig aus. Er hat leichte Augenringe, ist etwas blass und in seinen Augen liegt eine Müdigkeit, die ich nicht kenne. Also, nicht müde im Sinne, ihm sei nach schlafen, sondern... mehr so eine Müdigkeit vom Leben.   Ich muss heftig schlucken.   „Äh... Mom und Dad sind noch nicht da.“, fasele ich schwachsinnig und lege den Stern auf das dritte Backblech. Ganz ruhig bleiben.   „Okay.“   Er macht sich einen Kaffee, kippt etwas Milch rein, guckt sich die ersten Plätzchen an und probiert einen, einfach so, ohne zu fragen. Fassungslos starre ich ihn an.   „Die sind nicht für dich.“   „Muss doch prüfen, ob die nicht giftig sind, wem auch immer du die geben willst.“   Vielleicht hätte ich ja etwas Rattengift rein mischen sollen... da ich Noah aber keine Plätzchen backe, musste das Rattengift im Schrank bleiben.   Bastian setzt sich mit seinen Kaffee an den Küchentisch und fummelt an seinem Handy herum, während ich backe. Die nächste Stunde reden wir kein Wort miteinander, was ich glaube ich unerträglicher finde als mein Bruder. Was macht der hier? Der weiß doch, dass unsere Eltern immer recht spät nach Hause kommen. Und mit mir will er ja wohl kaum noch reden, oder? Wir haben uns immerhin seit seinem Geburtstag nicht mehr gesehen... also seit fast einem Monat nicht mehr. Mom und Dad reden mit mir nicht über Bastian und eigentlich kann mir das auch bloß recht sein. Dann muss ich nämlich nicht an diese völlig beschissene Situation denken, die ja nicht mehr beschissen ist, weil eh alles vorbei ist.   Nachdem der Teig aufgebraucht und die letzten Plätzchen im Ofen sind, räume ich die Küche auf und wische die Arbeitsplatte ab. Die fertigen Plätzchen packe ich erstmal in eine Dose, damit ich sie morgen nach der Schule dann dekorieren kann. Das wird der wenige spaßige Teil, weil ich dabei nämlich super akribisch und genau bin und das länger dauert, als die blöden Plätzchen einfach nur zu backen.   Ich wische mir das Mehl aus meinem Gesicht, strubbele etwas davon aus meinen Haaren und fege den Boden, bevor Oskar durch läuft und überall Mehlpfoten hinterlässt. Dann mache ich mir einen Pfefferminztee und warte, bis das letzte Blech fertig ist, hole es raus um die Plätzchen abkühlen zu lassen und will eigentlich gerade auf mein Zimmer gehen, als mein Bruder mich aufhält.   „Den Tee kannst du auch hier trinken.“   Könnte ich schon, ob ich das will... ist eine andere Sache.   Ich gucke über meine Schulter und Bastian an, der sein Handy über den Küchentisch in meine Richtung schiebt. Verwirrt starre ich das Handy an, dann Bastian, dann das Handy.   „Dachte, das könnte dich vielleicht interessieren.“   Er reckt sein Kinn etwas in Richtung Handy. Ich bin mir nicht sicher, was er meint, habe aber so eine unangenehme Ahnung, die mir Bauchschmerzen bereitet. Leider nicht schlimm genug, weshalb ich zum Tisch gehe, meine Tasse abstelle und stattdessen Bastians Handy in die Hände.   Ich scrolle durch die Nachrichten, die mir dort entgegen lachen.   Bitte geh an dein Handy.   Bastian, es tut mir leid.   Das ist so furchtbar lahm, ich weiß, aber schreiben macht sich nicht so gut.   Ich hätte viel früher mit dir reden sollen.   Ich bin ein Feigling.   So und ähnlich geht es eine ganze lange Weile, immer wieder in unterschiedlichen Formen. Zwischendurch sind da richtig lange Nachrichtenblöcke, die ich nur überfliege. Interessanter sind da die letzten paar Nachrichten, die noch gar nicht so lange her sind.   Scheiße, ich habe Frank getroffen.   Keine Ahnung, wie das passieren konnte... ich hab es nur noch schlimmer gemacht.   Konstantin weiß es. Scheiße. Bastian, bitte, rede mit mir. Ich kann sehen, dass du meine Nachrichten liest.   Ich könnte gerade noch einen Schlag in meine Visage gebrauchen.   Mein Herz krampft schon wieder so unangenehm in meiner Brust... und meine Kehle wird trocken und schmerzt. Die letzte Nachricht ist von vor zwei Stunden, wieder eine Bitte, mit ihm zu reden. Bastian hat Noah kein einziges Mal auf seine zigtausend Nachrichten geantwortet. Mir tut es fast ein bisschen leid für meinen Ex, aber eben auch nur fast.   Ich reiche das Handy über den Tisch.   „Interessiert mich nicht.“, befinde ich und greife nach meinem Tee. Bastian schnaubt.   „Ja klar. Setz dich, Grottenolm, wir haben zu reden.“   Schwupps, ich sitze ihm gegenüber. Er nennt mich Grottenolm – es muss ernst sein. Ihm ernst sein. Und eigentlich finde ich es ja auch wichtig, dass wir miteinander reden... so kurz vor Weihnachten möchte ich innerhalb der Familie eigentlich kein großes Drama. Trotzdem ist mir ziemlich schlecht, ich nervös und es fällt mir schwer, Bastian anzusehen. Er sieht ziemlich ernst aus, so wie er mich anguckt. Nicht böse, aber doch... naja, Begeisterung sieht anders aus, würde ich behaupten.   „Bastian, es tut mir echt total leid, wie das... naja, raus gekommen ist. Aber das ist ja jetzt vorbei.“, zucke ich die Schultern und trinke von meinem Tee, damit ich meinen Bruder nicht ansehen muss. Seinen beinahe lauernden Blick kann ich dennoch auf mir spüren.   „Das war eine selten dämliche Aktion“, pflichtet er mir bei, aber seine Stimme klingt sehr neutral, „und ich kriege dieses Bild nie wieder aus meinen Kopf, besten Dank auch. Das nächste Mal, schließt wenigstens deine Tür ab. Oder geht zu ihm.“   Ich schnaube.   „Es wird kein nächstes Mal geben. Die Sache zwischen uns ist vorbei.“   Eine skeptische Augenbraue bewegt sich gen Norden. Ich schaffe es, Bastian so selbstbewusst und ernst anzusehen, wie es mir möglich ist. Sehr überzeugend muss ich wohl nicht aussehen, denn er lächelt mich fast ein bisschen mitleidig an.   „Noah“, er muss schlucken, „liebt dich. Du solltest mit ihm reden.“   Ich lach mich mal eben tot!   „Klar, deshalb vögelt er auch mit Frank anstatt mit mir. Vielleicht solltest du das erstmal mit ihm auf die Kette kriegen, bevor du hier Moralapostel spielst.“   Bastian schnaubt ungehalten.   „Ich dachte, ihr schlaft miteinander“, äfft er mich nach, bevor er normal weiter spricht, „und wenn er was zu sagen hat, dann weiß er wo ich wohne und kann seinen Arsch zu mir schwingen, anstatt mich anzurufen oder Nachrichten zu schreiben.“   Ich blicke ziemlich überrascht aus der Wäsche.   „Würdest du mit ihm reden?“   „Wieso denn nicht?“   „Na, weil... weil wir was miteinander hatten?“   „Mann, Konstantin, Noah ist mein bester Freund, da warst du noch nicht mal in der Bearbeitung. Geil finde ich das nicht, aber meine Güte... ich werde mich schon damit arrangieren.“   Äh... hätte er das vielleicht an seinem Geburtstag sagen können?! Dann wäre Noah nämlich nicht zu Frank gerannt – oder sie hätten sich nicht getroffen, wie auch immer, jedenfalls hätten sie dann nicht miteinander geschlafen – und wir hätten endlich ein Happy End haben können. Naja gut, die Situation war reichlich bescheiden, aber dennoch.   „Ich habe eure Freundschaft ruiniert.“   „Es dreht sich nicht immer alles um dich, Giftzwerg. Das hat Noah zu verantworten. Soweit ich im Bilde bin, hatte er ungefähr tausend Möglichkeiten, mir das mit dir zu sagen. Hat er aber nicht. Das kann ich ihm nicht verübeln, aber, verdammt nochmal, da hätten wir drüber stehen können. Es ist traurig, dass er scheinbar nicht so viel Vertrauen in unsere Freundschaft hat.“   Oh Mann. Oh Mann!!   „Er wollte es dir nach deinem Geburtstag sagen.“   „Tja, hätte er das mal früher getan.“   „Bist du arg sauer auf ihn?“   „Nee, nur wahnsinnig enttäuscht.“   Das ist schlimmer, wie ich finde. Wut ist eine Sache. Wütend kann man auf jeden sein. Aber von jemanden enttäuscht zu sein... das tut weh. Und zwar so richtig.   „Ich drück euch die Daumen, dass das wieder wird. Schließlich seid ihr wie Hanni und Nanni.“, grinse ich und trinke den Rest meines Tees. Bastian leert seinen Kaffee.   „Wenn er es nicht vor Ende des Jahres schafft, verpass ich ihm noch eine. Steht auf meiner Vorsätze-fürs-neue-Jahr-Liste. Was ist mit dir? Bist du glücklich so?“   „Entschuldigung, aber er ist mit seinem verdammten Ex fremdgegangen, während er mit mir zusammen war. Das hat er ihm nicht verziehen und ich hoffe, er erwartet das nicht von mir.“   „Nur das eure Situation ja ein bisschen anders ist... da kann man schon mal schwachsinnig werden.“   „Was soll das werden? Willst du Armor spielen oder was?“   „Du, mir ist das ganz gleich. Aber Noah war die letzten Monate über so glücklich und entspannt und jetzt weiß ich ja auch, wieso. Ich würde ihn eigentlich gerne wieder so sehen.“   Mein Herz klopft wie verrückt!   „Wäre es wirklich für dich in Ordnung, wenn... also, falls Noah und ich...?“   So einfach aussprechen kann ich das nicht, immerhin hat Noah mit Frank geschlafen und der Gedanke macht mich wahnsinnig. Der Knutschfleck stammte ja wohl sehr offensichtlich von Noah. Wie kann er es wagen, ihm einen Knutschfleck zu machen? Wäre es nur Sex gewesen... nein, das hätte es auch nicht entschuldigt. Wenn er aber wie ein Idiot an Franks Hals rum nuckelt, ja sorry, was soll ich denn dann denken?!   Bastian zuckt lässig die Schultern.   „Wenn es das ist, was Noah glücklich macht. Wird ja noch früh genug merken, dass er sich mit dir nur selber ins Knie geschossen hat.“, grinst er mich so ekelhaft überlegen an, dass ich Bastian unterm Tisch gegen sein Bein treten muss. Er tritt zurück und das besiegelt alles zwischen uns.   Fast alles. Als ich nämlich aufstehe und meine Tasse in die Spülmaschine einräumen möchte, steht Bastian plötzlich auch auf und hält mich am Arm fest. Ich bin so geschockt, dass ich zusammenzucke, weil... ja, was? Weil ich fürchte, er ruft gleich Verarscht! Und prügelt mich halb tot? Scheinbar sieht Bastian mir die stille Angst an, denn er lässt mich los und sieht zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, ziemlich zerknirscht aus. Sein Selbstbewusstsein, das einen sonst immer fast erblinden lässt, bröckelt. Ich bin etwas überfordert, meinen Bruder so zu sehen und lege meinen Kopf schief.   „Konstantin“, setzt er zögerlich an und seine Fingerspitzen zucken, dann zieht er mich sehr bestimmend in seine Arme und umarmt mich ganz fest, „es tut mir leid. Ich habe dir nicht wehtun wollen.“   Beinahe vergesse ich zu atmen, weil ich mich an keine Situation erinnere, in der Bastian mich umarmt hat. Also, anders umarmt als mich neckend in den Schwitzkasten zu nehmen oder als Kind in den Pool zu schmeißen. Der Moment ist für uns beide... awkward, wie man es so schön sagt. Weil Bastian zumindest nach Außen nicht so der Gefühlsmensch ist und wir uns eigentlich mehr zanken als alles andere. Trotzdem tut es unwahrscheinlich gut, nicht nur seine Arme zu spüren, sondern auch seine Entschuldigung, die mich schwer schlucken lässt.   Ich erwidere die Umarmung etwas unsicher, ungelenk, drücke Bastian aber dann ganz fest und spüre, wie mir etwas leichter ums Herz wird.   „Mir auch.“, flüstere ich ganz leise und schmiege meinen Kopf einen Moment an seine Brust. Es ist seltsam, diesen Moment brüderlicher Einigkeit zu teilen weil es etwas ist, das wir nie tun... Bastian zieht mich schon seit immer auf und das einzig nette, was er zu mir sagt besteht aus Sätzen, die nicht Giftzwerg oder Grottenolm beinhalten.   Er strubbelt mir lachend durch die Haare, was ich mit einem maulen kommentiere, dann lassen wir uns los und ich schmolle, weil dieser eigentlich schöne Moment schon wieder vorbei ist. Ich sags ja immer wieder: Bastian ist der fieseste Bruder überhaupt. Aber weil er mein einziger Bruder ist, muss er ja alle Rollen spielen. Die des gemeinsten Bruders überhaupt und die des besten auch. Letztere Rolle scheint ihm meistens nicht so ganz gut in den Kram zu passen wie erstere.   Ich glaube, für den Moment ist diese Aussprache mit Bastian okay und mehr kann und sollte ich nicht erwarten. Es wird schon wieder Berg auf gehen und ein klein wenig fühle ich auch wieder das geschwisterliche Band zwischen uns.   Naja, etwas holprig ist es schon noch und manchmal, glaube ich, wirkt mein Bruder etwas abwesend. Wenn ich so zwischen den Zeilen lese, dann... hat mir Bastian doch gerade seinen Segen gegeben, oder? Das verwirrt mich ziemlich, weil seine Reaktion in dem Moment ja doch sehr heftig und... eindeutig war? Vielleicht ist das ja auch nur der Schock gewesen.   Nicht, dass das jetzt noch irgendeinen Unterschied macht. Denn am Ende hat Noah halt mit Frank geschlafen und ich verstehe wirklich nicht wieso. Das will einfach nicht in meinen Kopf. Ich meine: er hat doch selbst am eigenen Leib erfahren, wie das ist, betrogen zu werden. So krank kann man doch nicht sein, dass man diesen Fehler auch noch nach macht, oder?   Leider habe ich keine Ahnung, was in Noahs Kopf vor sich geht. Vielleicht ist das aber auch ganz gut so. Ich will es, wenn ich ehrlich bin, auch gar nicht wissen. Jedenfalls nicht im Moment, weil es doch noch irgendwie weh tut. Das wird morgen zwar nicht besser sein, aber wenigstens habe ich dann mal eine Nacht über diese Info geschlafen.   Was mir das nun bringen soll, ist mir nicht so wirklich klar.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Eine Woche vor Weihnachten sind Hannah und ich im Horizon verabredet. Also, eigentlich sind wir alle verabredet: meine beste Freundin und ihr Freund, dessen bester Freund und Freund und Maxi. Wenn ich so darüber nachdenke, ist das wirklich eine lustige Kombination. Und jeder kennt jeden, so irgendwie. Klein ist die Welt. Ich glaube, ich habe irgendwo mal gelesen, dass sich alle Menschen auf dieser Welt über sieben weitere Personen kennen. Das kann ich aber nicht belegen oder dergleichen, aber in unserem Fall ist es schon amüsant, wenn ich das so sagen darf.   Jedenfalls, weil ich ja quasi frisch gebackener Single bin und damit auch soweit gut klar komme, habe ich mich extra in Schale geworfen. Körperbetonte, knappe Kleidung, die genau die richtige Menge an Haut zeigt. Haarstyling, das von Hannah hätte sein können und ich habe ein Lippen Peeling benutzt, weshalb ich jetzt eine einladende Knutschschnute habe. Rote Lippen wie Schneewittchen. Ich finde, ich sehe zum Anbeißen aus.   Wir treffen uns vor dem Eingang, wo meine lustige Crew an Freunden bereits auf mich wartet und lautstark begrüßt, was mir etwas peinlich ist. Allerdings auch nur mir. Hannah ist die einzige, die mich umarmt und küsst – auf die Wange, aber dennoch ist sie die einzige. Alle anderen drücken mich nur kurz, dann gehen wir rein, bringen unsere Mäntel und Jacken zur Garderobe und stürzen uns auf die Bar. Nachdem wir alle was zu trinken haben, mischen wir uns unter das Partyvolk und genießen den Abend. Ich tanze mal mit Hannah, mal mit Maxi, dann tanzen wir alle zusammen, bis Jules mir mit dem Ellbogen in die Seite boxt. Seine Lippen sind meinem Ohr viel zu nah, als er gegen die Laute Musik anspricht.   „Der Typ da vorne starrt dich die ganze Zeit an!“   Er deutet in die entsprechende Richtung, schräg links von uns und ich folge seinem Fingerzeig mit meinen Augen. Da steht tatsächlich ein Typ, ich tippe mal mein Alter, vielleicht auch ein bisschen älter. Schwarze, wild gestylte Haare mit türkisen Strähnen, wenn ich das richtig sehe. Gekleidet ist er in schwarz und löchrig und eng, ein paar Silberkettchen hier und da. Über die Menge hinweg schenkt er mir ein freundliches Lächeln und, wow, das steht ihm ganz ausgezeichnet. Er prostet mir mit einer Flasche Bier zu, während er davon trinkt und mich nicht aus den Augen lässt.   Jules boxt mir schon wieder in die Seite.   „Wenn du heute nicht alleine schlafen willst... der teilt sicher gerne das Bett mit dir!“   Der Punk trollt sich, was ich sehr willkommen heiße, allerdings dann überlegen muss, was ich jetzt tun soll. Kann den armen Jungen ja nicht einfach stehen lassen, nachdem wir schon Blickkontakt hatten, oder? Außerdem spricht ja nichts dagegen, sich nett zu unterhalten. Ich tanze dennoch erstmal filigran rüber zu Hannah und teile ihr mit, dass ich eventuell jemanden kennen lernen werde. Sie sieht mich entgeistert an und scheint im ersten Moment protestieren zu wollen, nickt mir dann aber aufmunternd zu.   „Erzähl mir später alles!“   Falls es überhaupt irgendwas zu erzählen geben wird. Ich nicke trotzdem ganz brav, besorge mir ein neues Bier und mache mich auf die Suche nach dem Unbekannten, den ich bald schon wiederfinde. Er schenkt mir ein strahlendes Lächeln, als er mich auf sich zukommen sieht. Etwas größer als ich ist er, aber mindestens genauso schlank. Er hat ein paar silberne Ohrringe im rechten Ohr, so aus der Nähe sehe ich auch das vertikale Labret Piercing. Er hat eine schöne, volle Unterlippe, die von dem Piercing hübsch in Szene gesetzt wird.   „Hi.“, begrüßt er mich und seine Stimme klingt angenehm tief, ruhig und völlig entspannt.   „Hey.“, grüße ich zurück und habe nervöses Magenkribbeln. Wieso bin ich hier? Wieso hat Jules mich auf diesen zugegeben hübschen Typen hin gewiesen? Wieso finde ich ihn hübsch, attraktiv, wieso will ich mich überhaupt mit ihm unterhalten?   „Ich bin Jonas. Und du bist...?“   „Konstantin.“   Wir reichen uns die Hände, wobei er meine etwas länger als nötig festhält.   „Und bist du alleine hier, Konstantin?“   Wie der mich anguckt...   Ich nicke.   Jonas lächelt, hebt seine freie Hand und streicht mir eine Haarsträhne aus den Augen. Seine Berührung, so klein und zart sie auch ist, sendet einen Stromschlag durch meinen Körper. Also, es fühlt sich so an. Ich spüre seine Berührung so deutlich, als hätte mir jemand Eiswasser über die Birne gekippt.   Einen Moment später küssen wir uns, was an sich eine schöne Sache ist, sich mit Jonas aber irgendwie falsch anfühlt. Der Kuss ist schön, zunächst sehr sanft und süß, dann etwas wilder, aber irgendwas stimmt nicht. Es kickt einfach nicht, ich habe kein Herzklopfen, in meinem Kopf drehen sich die Gedanken darum, ob ich noch Hausaufgaben für die nächste Woche aufhabe, oder ob wir in der letzten Woche vor den Weihnachtsferien nichts mehr machen. Keine Ahnung. Eigentlich sollte ich das wissen, schließlich bin ich heute erst noch in der Schule gewesen.   Oh Mann. Mir ist das alles zu viel.   „Sorry, ich kann nicht.“, entschuldige ich mich und lasse einen ziemlich verwirrten, ziemlich hübschen Jungen, der mich sehr wahrscheinlich abschleppen wollte, einfach stehen. Ein bisschen stolz bin ich schon, immerhin habe ich es geschafft, mich selber aus dieser Situation zu befreien. Warum ist mir allerdings ein Rätsel, denn jetzt kann ich ja eigentlich los ziehen und Spaß haben.   Ich genieße mein Bier, während ich mir die Tanzenden vom Rand aus angucke. Irgendwo in der Menge kann ich Hannahs rote Mähne ausfindig machen, einmal erkenne ich Lars. Die beiden sind so unfassbar süß zusammen. Und es ist irgendwie sehr spannend, den ungewöhnlich vernünftigen Lars hier im Horizon so abgehen zu sehen.   „Konstantin!“, zischt es plötzlich leise in mein Ohr und ich drehe mich um, blicke Maxi an, der gehetzt von einer Seite zur anderen schaut. Was hat der denn für ein Problem?   „Alles gut bei dir?“   „Jaja... hast du ihn gesehen?“   „Wen gesehen?“   Maxi stiert mich an.   „Hör mal, ich hab damit nichts zu tun und... Noah ist hier.“   Mir wird schwindelig. Und schlecht. In meinen Ohren rauscht es, meine Beine zittern, ich muss das Bier fest umklammern, bevor es mir noch aus der Hand fällt.   „Wo?“, frage ich blödsinnig und schaue mich um, kann ihn aber nicht sehen. Schade. Zum Glück. Verdammt, dieser blöde Penner soll endlich aus meinen Kopf verschwinden!   Maxi macht eine Kopfbewegung nach rechts. Ich folge seiner Deutung und scanne die Menschen nach Noah ab, kann ihn aber nicht sehen. Ist vielleicht auch besser so.   „Ich geh mal zu Hannah.“   Da angekommen, kläre ich sie kurz über die jüngsten Ereignisse auf. Sie sieht... sehr schuldbewusst aus. Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum, schaut zu Lars, dann zu mir...   „Konsti, es tut mir leid, ich... ich habe ihm geschrieben, dass wir heute hier sind.“   Mir fällt gleich mein Bier aus der Hand!   „Was?“   Noch so eine blöde Frage aus meinem Mund und ich schreie!!   „Ich habe Bastian nach seiner Nummer gefragt und... naja, ich dachte, so könnt ihr euch mal aussprechen?“   Meine beste Freundin hat den Schuss doch nicht mehr gehört! Hat sie vergessen, was dieser blöde Kerl mir angetan hat?! Ich krieg echt zu viel. Lars sieht mich mitfühlend an.   „Möchtest du lieber gehen?“, erkundigt er sich lieb und schaut auch zu Hannah, die mich kaum angucken kann. In jeder anderen Situation wäre ich ihr dafür dankbar gewesen, aber jetzt?   „Nein“, entscheide ich und fasse einen Entschluss, „ich gehe das jetzt mal eben klären, dann komme ich wieder. Bis gleich.“   Lieber ein Schrecken mit Ende als ein Schrecken ohne Ende, nicht wahr?! Mein Bier trinke ich schnell leer, vielleicht, weil ich mir auch ein klein wenig Mut antrinken muss, stelle es wahllos auf einen der Stehtische woran sich keiner der Gäste stört und suche den Club ab, gehe in die Richtung, in die Maxi gedeutet hatte. Es dauert nicht lange, bis ich Noah tatsächlich finde. Er steht etwas abseits, tanzt nicht und trinkt auch nichts. Seine Arme sind vor seiner Brust verschränkt, sein Styling ist vollkommen nichtssagend. Jeans, Tshirt, die Haare nur ein wenig zurecht gemacht. Das ist keins seiner sonst sehr modischen Outfits. Er sieht aus, als hätte er sich nur schnell irgendwas über gezogen.   Ich folge seinem Blick in die Menge und bin etwas entsetzt, als ich Jonas in direkter Blickrichtung ausfindig mache. Au scheiße. Ein Blick zu Noah... er sieht aus, als würde er Jonas den Kopf spalten wollen. Ob er uns gesehen hat? Ach und wenn schon. Was solls? Ist ja nicht mehr sein Bier.   Lässig schlendere ich zu ihm rüber, als er mich bemerkt, wandern seine Augen von oben nach unten und zurück über meinen Körper.   „Hi Noah.“, begrüße ich ihn ganz neutral und bleibe auf höflicher Distanz von ihm entfernt stehen. Wenn er es bemerkt, so lässt er es sich nicht anmerken. Er lächelt mich an – vielleicht etwas zurückhaltend, aber das kann ich mir auch einbilden.   „Hey“, grüßt er mich zurück, „wie geht es dir?“   Das weiß ich nicht, wie mir gerade bewusst wird. Ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich weiß nicht, ob ich Noah gerade küssen oder ihm meine nicht mehr vorhandene Bierflasche um die Ohren knallen möchte. Ich weiß nicht, ob ich ihm verzeihen kann oder ob es das mit uns gewesen ist. Er hat Frank nicht verziehen und sich von ihm getrennt. Wieso sollte ich in irgendeiner Form anders reagieren? Ungeschehen kann er es ja ohnehin nicht mehr machen und eine Entschuldigung gibt’s dafür ja sowieso nicht.   „Gut.“, lüge ich trotzdem und zucke nur leicht mit den Schultern. Was soll ich auch darauf antworten?   Noah lächelt gequält.   „Können wir reden?“   Ich glaube, ich lach mich gleich kaputt!   „Das tun wir doch gerade.“   Er seufzt... was ein wenig genervt klingt.   „Ohne hundert andere Menschen, ohne Discolicht und wummernder Musik.“   Warum ich mit ihm mit nach draußen gehe ist mir auch ein Rätsel. Es ist nämlich sau kalt und ich bin nicht passend gekleidet, um hier draußen ein ernstes Gespräch mit meinem Ex zu führen. Verschränke meine Arme vor der Brust, damit ich nicht so sehr frieren muss. Helfen tut es natürlich nicht.   „Also, was gibt’s?“, frage ich und wippe ein wenig mit den Füßen auf und ab, weil ich hoffe, dass mir dadurch wärmer wird. Wird es nicht.   „Konstantin, du weißt genau, was es gibt. Es tut mir leid, was vorgefallen ist. Es tut mir leid, dass ich dich ignoriert habe. Für die Sache mit Frank gibt es keine Entschuldigung.“   Wenigstens darin sind wir uns einig, das muss ich ihm zumindest schon mal anrechnen.   „Okay, habe ich zur Kenntnis genommen. Sonst noch was?“   Dieses Mal werde ich es ihm nicht so leicht machen. Also, was heißt hier leicht machen... es ist Schluss. Aus und vorbei. Ich will nicht mehr mit Noah zusammen sein. Und ich liebe ihn auch nicht mehr.   Jedenfalls versuche ich, mir das so glaubhaft wie möglich einzureden.   „Ich würde das gerne wieder in Ordnung bringen. Das mit uns.“   Ich muss jetzt standhaft bleiben. Es kann nicht sein, dass ich sofort einknicke, wenn es um Noah geht!   „Nenn mir nur einen guten Grund, wieso ich dem zustimmen sollte. Du hast Frank ja auch keine zweite Chance gegeben.“   „Die Sache mit Frank war ja auch eine andere.“   „Trotzdem hast du fremdgevögelt, Noah. Du hast genau das getan, was Frank getan hat, ganz gleich, wie es da um eure Beziehung gestanden hat. Kannst du dir auch nur im Ansatz vorstellen, was für ein Gefühl das ist? Jeden Tag habe ich versucht dich zu erreichen. Jeden Tag habe ich mir die Augen aus dem Kopf geheult, weil Bastian nicht mehr mit mir gesprochen hat, meine Eltern die ersten drei Tage kein Wort mit mir gesprochen haben und mein Freund mich vollkommen ausgesperrt hat. Als wäre ich ein kleines Kind, dass man auf sein Zimmer schickt, während die Erwachsenen weiter Party machen.“   Eins muss ich Noah lassen... er sieht wahnsinnig ehrlich aus. Er lügt mich nicht an, ich kann genau sehen, dass es ihm wirklich leid tut. Das ist ein kleiner Trost, trotzdem tut alles andere viel zu sehr weh. Und das tut auch mir weh, weil ich eigentlich sehr gerne eine Versöhnung hätte, wie mir gerade bewusst wird. Aber ich kann das nicht. Vielleicht ist es doch noch zu frisch. Das ich das V-Wort benutzt habe, stört mich in diesem Zusammenhang auch gar nicht. Noah scheinbar auch nicht.   „Ich habe dir nicht wehtun wollen, das musst du mir glauben. Es ist... ich war völlig überfordert und habe daheim Sachen aussortiert, die ich noch von Frank hatte. Ich hatte ihm geschrieben, dass er sie sich abholen kommen kann. Das wir... das war nicht geplant. Es ist einfach passiert und ich habe nicht nachgedacht.“   „Ich will das nicht hören.“, bin ich mir sehr sicher und kriege die Bilder nicht aus meinen Kopf. Hat Noah ihn... oder Frank ihn...? Ist Noah mit ihm auch so zärtlich gewesen wie mit mir? Oder war es nur eine schnelle Sache? Schneller Sex, wie ich ihn vermutlich mit Jonas hätte haben können?   „Und ich will nicht nochmal sehen müssen, dass du andere Jungs küsst.“   Scheiße, er hat Jonas und mich gesehen.   „Das ist ja wohl meine Sache.“   „Nicht, solange wir noch zusammen sind.“   Also das ist ja...!   „Wenn ich mich recht entsinne, habe ich mit dir Schluss gemacht.“   Noah kommt einen Schritt auf mich zu, sein ihm eigener, mir ganz bekannter Duft steigt mir in die Nase. Meine Knie werden weich. Nicht nachgeben, rede ich mir ein und weiche Noahs Blick aus.   „Ja, du sagtest so was, von wegen ich könne dich mal und du wärst fertig mit mir. Ich bin aber noch nicht fertig mit dir.“   Eine seiner Hände streichelt über meine Schulter, schiebt sich in meinen Nacken. Ich kann mich nicht bewegen. Ein Teil von mir will, dass er mich küsst, ich will ihn küssen, der andere Teil will weg rennen und nie wieder zurück kommen. Das geht so nicht. Mein Herz schmerzt viel zu sehr, als das ich ihm einfach so verzeihen könnte.   „Noah...“, will ich protestieren, doch all meine Gegenwehr zerbröselt zu Staub, als er mich küsst. Ganz zart nur, ohne mich zu bedrängen, aber seine Lippen liegen auf meinen, als wäre es das natürlichste auf der Welt. Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße.   Ich kralle mich in sein Tshirt und lasse mich von der Hand in meinem Nacken etwas näher ziehen.   Wir küssen uns, ähnlich wie mit Jonas zuvor, zunächst sehr sanft, langsam, beinahe schüchtern. Dann wird der Kuss inniger, wilder, genüssliche Laute verlieren sich zwischen unseren Mündern.   Dann schiebe ich Noah weg.   „Ich kann das nicht. Tut mir leid.“   Und dann renne ich weg, weil ich das so gut kann und weil es das einzig richtige ist. Ich renne ins Horizon, suche Hannah und muss nichts sagen. Sie versteht mich auch ohne Worte, umarmt mich ganz fest und streichelt meinen Rücken.   „Ich liebe ihn so sehr“, gestehe ich und halte mich an Hannah fest, „aber ich kann ihm nicht verzeihen.“   Ich spüre eine andere Hand an meinem Rücken, sie gehört zu Lars, der bei uns steht. Und dann ist da noch eine andere Hand und als ich aufschaue, sehe ich Maxi, der mich aufmunternd anlächelt. Dann umarmt er mich und Hannah.   „Lass dir Zeit.“, sagt er geheimnisvoll und während ich darüber nachdenke, dass ich wunderbare Freunde habe und mir die letzten sechs Monate wirklich viel zu viel waren und gleichzeitig alles gegeben haben, was ich mir jemals habe wünschen können, sehnt mein Herz sich so sehr nach Noah, dass es weh tut.   Mein Kopf ist anderer Meinung und findet, dass ich Abstand von Noah brauche. Kapitel 10: ------------ Im ganzen Haus wabert Lebkuchen, Plätzchen und Teegeruch umher, vermischt mit dem Vogel, der seit Stunden im Ofen vor sich hin brät. Der Esstisch im Wohnzimmer, wo wir nur zu besonderen Anlässen oder mit Gästen essen, ist festlich gedeckt und dekoriert. Ein Adventskranz mit dicken roten Kerzen steht in der Mitte, die Kerzen flackern ganz leicht und verwandeln den Tisch in ein kleines, gemütliches Paradies. In der einen Ecke steht der Tannenbaum, der dieses Jahr... Trommelwirbel bitte... ganz bunt geschmückt ist. Nicht nur eine Farbe, wie bisher, sondern quasi alle Farben des Regenbogens. Das hat mich, als wir alle vier zusammen gemeinsam den Baum geschmückt haben, ein klein wenig zu Tränen gerührt. Also, hinterher, als ich mal kurz ins Bad musste, aber nur eine Ausrede brauchte, um kurz ein paar Tränen zu verdrücken. Sorgen machen, dass meine Eltern mich verstoßen, weil ich schwul bin, brauche ich jedenfalls nicht mehr haben. Zugegeben, es ist ein klein wenig seltsam und nicht alles rosarot und harmonisch. Mom versucht mit dieser Sache jedenfalls so gut es ihr möglich ist umzugehen. Also, nicht, dass es da irgendwas zu umgehen braucht. Sie ist wohl einfach nur, wie jede Mutter, entsetzt und peinlich berührt, dass ihr Baby, das man selbst mit vierzig noch bleibt, Sex hat. Mir Jungs. Also, eigentlich nur mit einem, mit dem die Sache zwar gelaufen ist, aber dennoch. Dad hat, glaube ich, ein bisschen mehr an meiner Homosexualität zu knabbern, oder viel mehr damit, dass Noah und ich was miteinander hatten. Schließlich ist er ja so was wie ein Familienmitglied und mit denen fängt man in aller Regel nichts an. Gut, dass sich das inzwischen ja gegessen hat.   Seit dem Gespräch mit Noah vor dem Horizon habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Es herrscht mal wieder Funkstille zwischen uns und eigentlich ist das ja auch ganz gut so. Der Kuss hat mich, zugegeben, doch ziemlich aus der Bahn geworfen. Ich meine, Gefühle lassen sich halt nicht so einfach ausschalten, ganz gleich, was vorgefallen ist. Schließlich ist Liebe kein Gefühl, das man mal eben so empfindet wie man zum Beispiel sein Haustier liebt oder die beste Freundin oder den besten Freund. Der Streit mit Hannah hat mich krank gemacht und nicht schlafen lassen, Noahs Fremdgeherei – so einmalig sie auch gewesen ist – hat mich... keine Ahnung. Stumpf gemacht? Nein, es ist mehr ein wahnsinnig Dämpfer, als hätte ein Rennwagen eine sehr abrupte Bremse eingelegt. Ich mache mir nichts vor: ich liebe Noah, das war seit jeher so und ist immer noch so. Aber der Schmerz sitzt zu tief und mein Vertrauen in ihn ist auf eine Art erschüttert, dass ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Wie ich mit ihm, mit mir, mit uns umgehen soll. Manchmal sehne ich mich so schrecklich nach ihm, dass ich ihn anrufen und mich mit ihm verabreden möchte. Einfach zu ihm fahren, will ich. Dann springt mein Hirn aber rechtzeitig wieder an und führt mir die Bilder von einem halbnackten Frank, mit Knutschfleck am Hals, vor die Augen, der wie selbstverständlich aus Noahs Dusche spaziert kommt. Wäre es ein anderer, fremder Kerl gewesen, ich weiß nicht, ob es das besser gemacht hätte. Ich weiß aber, dass Frank zu sehen, ein absoluter Schlag ins Gesicht und so was von unterhalb der Gürtellinie war. Ein kleiner Teil von mir hat ein bisschen Mitleid mit Noah, weil der sich ausmalen kann, wie er sich fühlen muss, mit seinem Ex geschlafen zu haben. Nein, nicht geschlafen, gevögelt. Die beiden lieben sich schließlich nicht und da schläft man nicht miteinander, sondern befriedigt Bedürfnisse und das wars dann.   Was ja auch so eine Sache ist, die mir ein bisschen zu denken gibt. Keine Ahnung, wer von beiden nun den aktiven Part übernommen hat, vielleicht sogar beide in allen möglichen Variationen, ich will es mir eigentlich nicht vorstellen, aber darüber nachdenken muss ich schon. Hat Noah vielleicht in dieser kurzen Beziehung mit mir etwas vermisst? Wir haben schließlich nie über die Rollenverteilung gesprochen, es erschien mir logisch, dass ich eher den passiven Part einnehme. Wenn ich nämlich daran denke, Noah zu... also, ich weiß nicht. Das Bild ist schon ein wenig komisch, weil man eben doch den Altersunterschied, den Größenunterschied und sowieso alles, was anders zwischen uns ist, sieht. Das sollte eigentlich überhaupt keine Rolle spielen, wenn man sich liebt, trotzdem weiß ich ja gar nicht, ob Noah das überhaupt wollen würde. Ob ich das wollen würde? Keine Ahnung, wahrscheinlich, oder? Von den anfänglichen Schmerzen und dem ungewohnten, doch etwas unangenehmen Gefühl mal abgesehen, ist es dann doch schön und befriedigend, wenn man sich daran gewöhnt hat. Und Noah ist wirklich super einfühlsam gewesen, hat mir so viel Zeit gelassen, wie ich brauchte. Gut, beim zweiten Mal ist es... naja, nicht ruppig zur Sache gegangen, aber es war klar, dass wir beide das brauchten und wollten. Und beim dritten Mal... keine Ahnung, wie das dann noch weiter gegangen wäre, was eigentlich sehr schade ist, weil der Gedanke, auf ihm zu sitzen, ihn anzusehen und von ihm angesehen und berührt zu werden, doch wahnsinnig schön, aufregend und süß-beschämend ist. Jedenfalls, wenn es mir gefällt, dann wird es ja auch Noah gefallen, oder nicht? Ob er sich das mal irgendwann gewünscht hat? Für ihn muss das ja auch ziemlich... mhh, befriedigend gewesen sein, immerhin ist er danach immer wahnsinnig entspannt gewesen. Es muss sich also gut anfühlen, aktiv zu sein. Schätze, wenn man seinen Schwanz in etwas warmes, enges steckt, ist das generell erstmal ein geiles Gefühl. Nicht, dass es aktuell überhaupt von Bedeutung wäre, aber irgendwo frage ich mich, ob ich vielleicht etwas hätte tun können, um Noah nicht in Franks Arme zu treiben. Das diese Gedanken, wie so viele andere, völliger Schwachsinn sind, ist mir bewusst. Helfen tut es mir aber trotzdem nicht.   Ich zupfe ein wenig die Servietten auf dem Tisch zurecht, weil sie nicht alle gleich ordentlich gefaltet auf den Tellern liegen. Das Besteck wird auch nochmal überprüft, die Geschenke unterm Baum zurecht geschoben. Oskar liegt an der Heizung und schaut zu mir, während ich fast ein bisschen zwanghaft nach irgendeiner Beschäftigungsmöglichkeit suche. Meine Eltern und Bastian sind sehr geschäftig in der Küche zugange, was mich immer noch sehr nervös macht. Also, dass Bastian hier ist. Unsere mehr-oder-weniger-Aussprache ist zwar für den Moment okay gewesen, aber etwas angespannt ist es zwischen uns schon, glaube ich. Er zieht mich immer noch auf wie gewohnt, aber manchmal kann er mich nicht ansehen und wenn er glaubt, dass keiner ihn sieht, hat er diesen abwesenden Blick. Da wirkt er wahnsinnig verletzt, einsam und... unglücklich. Das tut mir mehr leid, als ich jemals für möglich gehalten habe. Denn ich muss auch darüber nachdenken, ob Noah wohl auch so aussieht. Gerade jetzt, an Heilig Abend. Da er zu seinen Eltern keinen Kontakt hat und auch sonst familientechnisch nicht gerade gut aufgestellt ist, wird er wohl alleine in seiner Wohnung hocken. Eigentlich würde er am zweiten Weihnachtstag zu uns kommen. Das wird dieses Jahr wohl nicht der Fall sein und irgendwie glaube ich, dass allen Beteiligten hier im Haus diese Tatsache bewusst ist. Aber keiner spricht darüber.   Naja. Es ist das Fest der Liebe, der Familie und Gemütlichkeit. Da sollte man keinen trüben Gedanken nachhängen. Deshalb gehe ich lieber in die Küche und sehe zu, dass ich ein wenig helfen kann. Salate vorbereiten, Mama mit den selbstgemachten Knödeln helfen, Papa staunend beim selbstgemachten Apfelrotkohl über die Schulter gucken... Bastian zaubert irgendeinen sehr lecker aussehenden Nachtisch aus Erdbeeren, Mascarpone und Löffelbuiscuits zusammen. Eine riesige, große Glasschlüssel voll damit. Die könnte ich jetzt gut und gerne auf mein Zimmer mitnehmen und selber auslöffeln. Und ein Nutella Glas gleich hinterher.   Bevor wir abends, um genau sechs Uhr, zum Abendessen am Tisch sitzen, gehen wir alle in den Musikraum, wo ich ein paar Weihnachtslieder zum Besten gebe. Wir singen Merry Christmas zusammen, während meine Finger über die Klaviatur fliegen. Bastian kann übrigens wahnsinnig gut singen und seine tiefe Stimme ist sehr angenehm. Es ist schön, seine Stimme mit meinem Spiel zu hören. Danach sitzen wir gemütlich am Essenstisch, stoßen mit Rotwein an, helfen uns gegenseitig, unsere Teller zu füllen und wünschen uns allen einen guten Appetit. Dabei reden wir über das vergangene Jahr, erinnern uns an verschiedene Höhepunkte, witzige Momente, Ereignisse in der ganzen Welt und was wir uns so für das nächste Jahr vorgenommen haben. Da steht nicht sehr viel auf meiner Liste, wie immer: das Abitur schaffen. Mom und Dad nicken einträchtig, Bastian zieht mich auf, dass ich anstatt essen dann aber lieber lernen sollte. Ich schnaube nur und kippe mir lieber den Rotwein hinter die Birne, um ein Stück der Weihnachtsgans runter zu spülen. Keiner erwähnt Noah. Wir reden nicht über meine sexuelle Orientierung, nicht darüber, dass ich Noah liebe, nicht darüber, dass Bastian und Noah irgendwie Streit haben. Noah spielt jetzt gerade keine Rolle und irgendwie tut es gut, nur mit meiner Familie zusammen zu sein. Sich mal keine Sorgen und Gedanken darüber zu machen, wie es jetzt weiter gehen soll. Weitergehen wird.   Nach dem Essen folgt traditionell die Bescherung. Bastian und ich haben zusammen gelegt und unseren Eltern ein verlängertes Wochenende in Rom geschenkt. Dafür haben wir beide einen Klaps auf den Hinterkopf und dann Küsschen links und rechts auf die Wangen gekriegt. Bastian, der Arsch, kriegt eine neue, sündhaft teure Kamera im vierstelligen Bereich, über die er sich wahnsinnig freut und die er sofort ausgiebig studiert. Ich muss ein wenig lächeln, die Fotografie ist wirklich etwas, das ihn erfüllt. Und er ist ein wahnsinnig guter Fotograf. Ich frage mich, wann er mal eine Ausstellung machen wird, anstatt nur für Magazine zu shooten oder im Studio, in dem er arbeitet. Als ich an der Reihe bin, fällt mir fast alles aus dem Gesicht. Da ist ganz schön viel Bargeld und... Unterlagen von einer Fahrschule drin. Bastian schnappt hörbar nach Luft.   „Wieso bezahlt ihr dem Giftzwerg den Führerschein? Ich musste meinen selber bezahlen!“, ereifert er sich nicht wirklich ernst gemeint, erntet ein Lachen seitens unserer Eltern.   „Du hast ja auch schon selber Geld vedient.“, erklärt Paps trocken. Stimmt, denn im Gegensatz zu mir hat Bastian neben der Schule und dem Studium und der Ausbildung gejobbt.   „Könnte der Faulpelz ja wohl auch.“   Ich gucke Mom und Dad an und freue mich wie doof.   „Danke, das ist wahnsinnig lieb.“   Bastian schnaubt und murmelt irgendwas Fieses in meine Richtung, das ich gekonnt überhöre.   „Wir hatten gedacht, dass du im neuen Jahr anfangen kannst. Damit du fertig bist, wenn du das Abi hast und bei Bedarf zur Uni fahren kannst...“, erklärt Mama und schaut mich etwas vorsichtig an. Die Unipläne sind nämlich etwas konkreter geworden, allerdings müsste ich dafür eine Stunde mit dem Zug pendeln. Das ist schon etwas blöd, was mir ein Führerschein ohne Auto nutzen soll, ist mir allerdings auch ein Rätsel. Bastian wohl nicht.   „Ihr kauft ihm nicht auch noch das Auto, oder?“, stöhnt er genervt-entsetzt und ich fürchte, er kriegt gerade einen mittelschweren Anfall. Bastian hat seinen Führerschein schon lange, aber ein Auto bisher nicht benötigt. Bei Bedarf hat er das Schlachtschiff von unseren Eltern genutzt und ist damit bisher ziemlich zufrieden gewesen.   „Neidisch?“, stichele ich und fange mir eine Kopfnuss ein. Mom und Dad lachen, schütteln dann aber den Kopf. Naja gut, einen kleinen Gebrauchtwagen werde ich mir vermutlich irgendwie organisieren können. Und für die Uni bewerben werde ich mich im Februar, für das Wintersemester. Deshalb habe ich das Weihnachtskonzert in diesem Jahr auch absagen müssen, weil ich mich lieber etwas auf das Abi und die Aufnahmevoraussetzungen konzentrieren will. Das ist auch total in Ordnung gewesen, auch wenn ich es immer noch etwas seltsam finde. Es ist das erst Mal, dass ich zum Ende des Jahres hin nicht noch ein Konzert habe.   Nach der kleinen Bescherung räumen wir alle gemeinsam auf, trinken noch ein bisschen Wein, gucken Fernsehen, ich gehe nochmal mit Oskar raus und telefoniere später am Abend mit Hannah, der ich fröhliche Weihnachten wünsche. Sie erzählt mir ein bisschen von ihrem Fest mit ihrer Mama und ihren Großeltern, dass sie einen Haufen an neuen Klamotten und Büchern bekommen hat und Lars hat ihr eine wunderschöne Kette geschenkt, die sie schon so lange heimlich haben wollte, aber leider auch nicht ganz billig war. Ich finde es unglaublich süß, wie verliebt sie in Lars ist und freue mich wahnsinnig, dass meine beste Freundin einen so tollen Freund hat. Das hat sie verdient. Sie ist eine wunderbare Freundin und ich bin so dankbar, sie zu haben.   „Hat Noah sich gemeldet?“, fragt sie irgendwann etwas unsicher und ist sich wohl auch nicht so ganz darüber einig, ob sie das Thema überhaupt noch ansprechen soll.   „Nein.“   „Oh... mhh, magst du ihm nicht zumindest frohe Weihnachten wünschen?“   Darüber habe ich schon den ganzen verfluchten Tag nachgedacht. Die ganze Zeit, seit unserem Kuss. Aber ich bringe es einfach nicht fertig. Ich habe nicht das Gefühl, dass er sonderlich um... naja, um uns kämpft? Wenn er mir zeigen würde, dass es ihm ernst ist, wenn er hier auftauchen und mich vor versammelter Mannschaft küssen würde, vielleicht würde ich schwach werden und nachgeben. Aber er tut weder das eine, noch das andere.   „Ich will nicht mehr so abhängig von ihm sein. Und ich weiß auch nicht, was ich ihm groß noch sagen soll.“   „Na, dass du ihn liebst und du endgültig weg bist, wenn er nochmal schwachsinnig wird.“   „Ja, vielleicht... ich kann gerade einfach nicht mit ihm reden.“   Hannah seufzt.   „Hoffentlich kriegt ihr das vor Ende des Jahres noch gebacken.“   Ein Teil von mir hofft das auch, aber mein Hirn grätscht mal wieder ungefragt dazwischen.   „Naja. Das mit Mittwoch steht noch, ja?“, erkundige ich mich und habe direkt ein bisschen Herzklopfen, schwachsinniger weise.   „Na klar“, ruft Hannah und ihre Stimme überschlägt sich fast, „die Jungs freuen sich schon. Besonders Maxi.“, höre ich sie grinsen und muss meine Augen verdrehen.   „Na dann bis Mittwoch. Ich hab dich lieb, Hannah.“   „Ich dich auch, Konsti. Knutschi!“   Sie macht Kussgeräusche, dann legen wir auf und ich freue mich auf Mittwoch.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Es hat geschneit!   Leider etwas zu spät, erst am zweiten Weihnachtstag, was gestern, also Dienstag, war, aber dafür ausgiebig und viel, was alles gleich viel, viel besser macht. Es ist zwar bitterkalt und ich friere mir so ziemlich alles ab, aber das haben wir uns ja selber ausgesucht.   Ich hatte nämlich die Idee, mein vergangenes Jahr irgendwie fest zu halten. Und zwar so, dass ich es sehen kann, immer wieder. Deshalb habe ich Bastian gefragt, ob er wohl Zeit und Lust hätte, ein kleines Fotoshooting mit meinen Freunden und mir zu machen. Da ist er erst etwas überrascht gewesen, aber weil er seine neue Kamera dann wenigstens direkt austesten kann, hat er zugesagt und wir uns im Wald verabredet. Natürlich muss man bei so einem Fotoshooting ein tolles Outfit tragen, das wurde auch allen Beteiligten gesagt, schließlich sind das hier Fotos für die Ewigkeit. Sollen sie jedenfalls werden.   Jules fällt mit seinen frisch gefärbten, ampelroten Haaren natürlich ins Auge wie immer. Neben ihm wirkt Lex wie ein schüchternes Schaf, aber glücklich und... entspannt. Ich glaube, die beiden haben etwas Festes miteinander und es scheint, als wäre Lex endgültig aus seinen Schrank gekrochen. Er hält nämlich Jules' Hand wie selbstverständlich und lächelt total süß, wenn der ihn zwischendurch küsst oder eine Schneeflocke von seiner Wange streicht.   Maxi hat sich auch ziemlich raus geputzt, ob nun für das Fotoshooting oder für meinen Bruder... keine Ahnung. Ich will da ehrlich gesagt nicht drüber nachdenken, weil es so aberwitzig ist, dass ich fast einen Lachkrampf bekomme. Und Frostbeulen, weil Maxi unter seinem Hoodie nur ein Tshirt trägt und den Reißverschluss offen trägt.   Hannah und Lars sind die einzigen, die zwar hübsche Kleidung tragen, aber nicht so furchtbar gestylt auftauchen. Meine beste Freundin trägt ihre Haare offen und die Locken fallen ihr wunderschön über die Schultern bis zu ihren Rippen. Lars sieht sie immer mal wieder an und lächelt so sanft und verliebt, dass ich ein klein wenig neidisch werde. Aber nur ein bisschen, denn Hannah begrüßt mich mit einer wahnsinnig lieben und stürmischen Umarmung, drückt mir dicke Schmatzer auf beide Wangen und schaut mich mit großen, glücklichen Augen an.   „Toll siehst du aus. Das ist eine super schöne Idee!“, findet sie und begrüßt Bastian mit einer fast familiären Umarmung und tauscht Küsschen, die ins Nichts verschwinden, mit ihm aus. Maxi sieht ein bisschen aus, als wäre er gerne an Hannahs Stelle.   „Also dann, Kinder“, setzt mein Bruder an, während wir andere unsere Mäntel und Jacken an einen Baum hängen und direkt frieren, während der Schnee auf uns herab rieselt, „habt ihr an irgendwas Bestimmtes gedacht?“   Keiner stört sich daran, von Bastian als Kind bezeichnet zu werden und wir einigen uns sehr schnell darauf, dass wir erstmal mit Pärchenfotos anfangen. Das... tut wahnsinnig weh, weil Noah eigentlich hätte hier sein müssen. Weil ich mich gerne in seine Arme schmiegen, in die Kamera lächeln und seine Hand halten würde. Weil ich ihn gerne im Schnee küssen würde, während der Schnee um und herum fällt wie in einem Winter Wonderland. Aber es sind Hannah und Lars, die verliebt und glücklich in die Kamera lächeln, einen Lachanfall haben, weil Hannah mitten im Kuss niesen muss. Bastian ist völlig in seinem Element und weiß genau, in welchen Momenten er den Auslöser zu betätigen hat. Danach schaut er manchmal etwas kritisch auf das Display der Kamera, ändert irgendwas an den Einstellungen, von denen keiner außer ihm eine Ahnung hat und schießt ein Foto nach dem anderen. Jules ist wahnsinnig selbstbewusst vor der Kamera und Lex braucht eine Weile, bis er etwas auftaut, aber dann sieht man, dass es ihm Spaß macht und er Jules wohl wirklich lieben muss. Andernfalls kann ich mir nicht erklären, wieso er ihn nicht in den Wind schießt, als Jules ihm Schnee in den Nacken stopft. Wir alle, bis auf Lex, finden das zum Lachen, aber auch, als Jules von Lex niedergerungen und in den Schnee gedrückt wird. Das nehmen wir alle zum Anlass, um uns mit Schneebällen zu bewerfen, miteinander zu raufen, zu lachen, uns gegeneinander zu verschwören, jeder mit jedem verbrüdert, jeder gegen jeden. Hannah fällt mich irgendwann von hinten an, springt auf meinen Rücken und ihre Arme schlingen sich um mich während ihr glockenhelles Lachen durch den Wald hallt. Maxi lacht sich fast tot, weil ich durch die Wucht etwas ins straucheln gerate, trotzdem aber ein Lächeln hinkriege. Irgendwann vergessen wir, dass Bastian mit der Kamera da steht, hören den Auslöser kaum noch, stellen uns zusammen, die Arme um die Schultern, den Rücken, die Taille, wie und wo auch immer wir uns wohl miteinander fühlen. Ich kann mit Maxi genauso relaxt sein wie mit Hannah, habe bei Jules ein wenig Magenkribbeln, weil er mich immer noch mit seiner Art etwas nervös macht und ich es eben doch nicht vergessen kann, dass Frank mit ihm fremd gegangen ist.   Als wir irgendwann von der immer wieder aufflammenden Schneeballschlacht, Schneeengeln und der generellen Winterkälte völlig durchfroren und etwas durchnässt sind, ziehen wir uns wieder unsere Mäntel und Jacken an, stopfen die Hände in die Taschen und schauen Bastian erwartungsvoll an, der gerade noch ein paar Fotos durchgeht. Er sieht wahnsinnig konzentriert aus, dann lächelt er und schaut uns an.   „Ich glaube, ihr braucht alle einen Tee, hm?“   Da sind wir uns alle einig und es ist seltsam, als wir zu mir nach Hause gehen, die gesamte Truppe. Natürlich bin ich sehr schnell abgeschrieben. Jules und Maxi streiten sich quasi um Oskar, dem es wohl ganz egal ist, von wem er bekuschelt und betüddelt wird. Hannah holt für alle warme Decken, weil sie sich in unserem Haus auskennt wie in ihrem eigenen Zimmer, Lex bedient wie selbstverständlich den Wasserkocher und sucht gemeinsam mit Lars nach Tassen und durchforstet die Teebox.   Meine Eltern sind ein wenig überrascht über all meine... ja, meine Freunde, freuen sich aber, das Haus so kurz nach Weihnachten voll und erfüllt zu haben von Lachen, Gesprächen und glücklichen Momenten.   Weil es nie zu dem Pizzaabend bei mir gekommen ist, Jules aber endlich wissen will, wie gut ich wirklich Klavier spielen kann, ziehen wir uns irgendwann in das Musikzimmer zurück, wo alle, bis auf Hannah und Maxi, staunend meinen Flügel betrachten.   „Das Ding muss ja ein Vermögen gekostet haben.“, faselt Jules und streicht über den Steinway & Sons Schriftzug. Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihm auf die Finger zu hauen während ich mich setze. Oskar legt sich mitten in den Raum, meine Freunde tun es ihm nach, strecken sich verteilt auf den Boden aus und halten ihre Tassen mit dem Tee in ihren Händen. Ich blicke auf die Tasten vor mir, als ich mich setze und überlege, was ich spielen soll. Das Stück, das ich irgendwann mal für Noah angefangen habe, habe ich nie weiter ausgearbeitet. Nie weiter angerührt. Ein Teil von mir möchte gerade herum experimentieren. Möchte etwas schaffen, das nur Noah und mir gehört.   Für den Moment müssen sich meine Freunde aber mit Demons von Imagine Dragons zufrieden geben. Jules singt leise mit, zumindest teilweise, was sehr schön klingt, ich aber schon bald ausblende. Ich schließe meine Augen, spiele vor mich hin und denke an Noah. Noah, mit seinem honigblondem Haar, seinen sturmgrauen Augen, die mich warm anlächeln. Seine Lippen, die sich auf meine legen, mich sanft küssen, mir liebe Worte ins Ohr flüstern, mir sagen, dass er mich liebt. Seine Hände, die mich berühren, seine Arme, die mich halten. Sein Duft, nach Sommer und Zitrusfrüchten, der die Schmetterlinge in meinem Bauch aufscheucht. Ich denke an Noah, der Fußball spielt und den ich so lange schon nicht mehr dabei beobachtet habe, heimlich. Seine langen, trainierten Beine, die ihn wahnsinnig schnell über das Spielfeld tragen, die gezielten Pässe, die er seinen Mitspielern zukommen lässt. Seine Mitspieler, die ihn bei einem Tor anspringen, seine Haare wuscheln, seinen Bauch tätscheln. Seine Mitspieler, mit denen er nach Spielende duschen geht. Ich möchte mit Noah duschen gehen. Ich möchte seine warme Haut berühren, seine festen Muskeln nachfühlen, möchte seine Stimme hören, die meinen Namen wispert. Möchte seine Hände in meinen Haaren spüren. Möchte seinen Körper ganz nah bei mir spüren. Möchte ihn spüren. Möchte in seinen Armen liegen, einschlafen, mit ihm aufwachen.   Ohne Pause fange ich an I will wait von Mumford and Sons zu spielen, danach Counting Stars von One Republic. Meine Freunde sind ganz still, auch als ich das Stück mittendrin unterbreche und stattdessen irgendwas anderes spiele. Elemente, die mir gerade in den Sinn kommen, mal hell und fröhlich, rasant, dann dunkle, langsam, melancholisch. Alles vermischt sich zu einem Stück, das ich mir aus meinem Herzen leier, einfach so, wie es mir in den Sinn kommt. So, wie ich es fühle.   Dann höre ich auf und atme tief durch. Die Stille hinter mir macht mich etwas nervös und als ich mich umdrehe, blicke ich in staunende, überraschte und irgendwie... verständnisvolle Gesichter. Hannah hat ihr Handy auf mich gerichtet, ich sehe das Licht ihrer Handykamera leuchten.   „Hannah...“, seufze ich und wische mir kurz über die Augen, weil mich etwas juckt. Sie tippt ein bisschen auf ihrem Handy rum, schaut es noch einen Moment an und legt es dann weg. Dafür kommt sie zu mir, setzt sich neben mich und drückt mich ganz fest.   „Das war wunderschön, Konsti.“, sagt sie und drückt mich gleich noch etwas fester. Die anderen fangen an zu klatschen und reden alle durcheinander, Oskar bellt protestierend, weil weder Maxi, noch Jules ihm den Bauch kraulen.   Ich schaffe es zu lächeln und bin dankbar, dass ich so wunderbare Menschen um mich habe, ganz gleich, ob ich Hannah nun schon gefühlt ewig kenne und den Rest erst seit einem halben Jahr. Man muss sich nicht ewig kennen, um festzustellen, dass man gut miteinander auskommt und zukünftig auch weiterhin was miteinander zu tun haben will. Ich muss die anderen nicht so innig und in und auswendig kennen wie Hannah um sie zu meinen engsten Freunden zählen zu können.   Deshalb stört es mich auch nicht zu sehr, als mir ein paar Tränen aus den Augen kullern, die Hannah lieb mit dem Ärmel ihres Pullovers wegtupft und ich meinen Kopf an ihre Schulter legen kann. Daran stört sich keiner. Und ich störe mich auch nicht daran, später mit ihnen allen auf dem Boden zu sitzen, ganz nah zusammen, Tee trinkend, während wir über alles mögliche sprechen und es mir wieder ein wenig besser geht.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Die Tage zwischen den Jahren sind an mir vorbeigezogen, ohne das irgendwas nennenswertes passiert wäre. Da meine Eltern Urlaub haben, nutzen sie die Gelegenheit, das Haus auf Vordermann zu bringen und den Frühjahresputz einfach mal ein paar Monate vorzuverlegen. Das lenkt mich ganz gut ab und ich nutze das, um mein Zimmer nicht nur aufzuräumen, sondern auch alte Sachen auszusortieren und etwas umzuräumen. Dabei hilft mir Bastian, der seit Weihnachten hier übernachtet und erst im neuen Jahr wieder arbeiten muss. Es ist schon schön, wieder als Familie zusammen zu sein, aber komisch, dass Bastian wieder vierundzwanzig sieben hier rum schwirrt und mich immer wieder sehr charmant grüßt oder generell anspricht, wenn er was zu sagen hat. Allerdings, das gebe ich zu, tut mir diese Normalität auch ganz gut, wie ich so im Nachhinein feststelle.   Geschwitzt, schnaubend, aber zufrieden betrachte ich mein neues, altes Zimmer. Wenn man rein kommt, steht mein Kleiderschrank nun rechts an der Wand, ebenso wie meine hohe Kommode, über der ein neuer, runder Spiegel hängt. Daran kleben Fotos von Hannah und mir aus jüngeren Tagen. Mein Bett steht jetzt unter dem Fenster, was fast romantisch sein könnte, um nachts den Sternenhimmel und den Mond zu beobachten. Mein Schreibtisch steht links von der Tür, dort, wo vorher mein Kleiderschrank stand. Habe den Schreibtisch zur Abwechslung auch mal aufgeräumt, neue Organiser besorgt, damit alles seine Ordnung hat. Rechts von meinem Kleiderschrank steht mein Bücherregal, in dem sich mehr Schulkrams befindet als das es für Bücher gedacht ist. Naja, ich lese halt nicht so wahnsinnig viel wie Hannah, okay?   Bastian hat die Hände auf die Hüften gestemmt, sieht sich um und nickt fast etwas anerkennend.   „Sieht gut aus. Kannst ein bisschen Deko vertragen.“   Ich bin halt gar nicht so der Dekofreak und mag meine sterilen Wände eigentlich sehr gerne.   „Mal sehen.“, zucke ich meine Schultern und möchte eigentlich nur noch duschen gehen.   „Die Fotos bringe ich übrigens am Dienstag vorbei. Ich schaue mal, welche ich größer ziehe, dann kannst du die ja aufhängen.“, schlägt Bastian vor und sieht mich abwartend an. Er wirkt entspannt, auf seinen Lippen liegt sogar ein leichtes Lächeln.   „Danke dir. Ich bin so um fünf daheim.“   „Okay. Ich bin dann mal duschen.“   Er verlässt mein Zimmer, ich kriege einen Anfall.   „Ich will zuerst!“, rufe ich und stolpere ihm hinterher, greife nach seinem Tshirt, doch er grinst mich nur süffisant an, sprintet ins Bad und knallt die Tür zu. Grrr, ich hasse Bastian!!   Murrend verfluche ich ihn ein wenig, trete nochmal besonders erwachsen gegen die Tür und latsche zurück in mein Zimmer, ziehe mein Tshirt aus, damit ich mich nicht vor mir selber ekeln muss und suche schon mal neue Klamotten raus, die ich nach der Dusche dann anziehen kann.   Das Verhältnis zwischen Bastian und mir ist nicht mehr so angespannt wie noch vor Weihnachten. Es hat sogar eigentlich wieder Normalität angenommen, was mir, wenn ich ehrlich bin, wahnsinnig gut tut. Unsere Familie steht nach wie vor nah beieinander, wir haben uns noch alle lieb und ich sehe Bastian nicht mehr so oft nachdenklich oder still irgendwo rum sitzen.   Zwischen Noah und uns herrscht immer noch Funkstille. Er meldet sich weder bei Bastian, noch bei mir. Ich glaube, Bastian ist an einen Punkt angekommen, wo er ernsthaft darüber nachdenkt, seinem besten Freund schlimm zu verprügeln. Nicht, weil er noch groß böse auf ihn ist, sondern weil er dessen Verhalten zum Kotzen findet. Das allerletzte, hat er mal leise geflucht, als ich ihn ganz kurz auf Noah angesprochen habe. Dann hat er mich stehen lassen und ist auf sein Zimmer verschwunden.   Ich frage mich, nicht zum ersten Mal, ob es das jetzt gewesen ist. Vier Jahre lang verliebt bis zum Schwachsinn, ein halbes Jahr Achterbahnfahrt, ein Monat Herzschmerz. Mir ist das, so im Nachhinein, wahnsinnig viel auf einmal. Mein Leben hat sich in kurzer Zeit völlig verändert. Aus meiner Jugendliebe ist meine erste große Liebe geworden, mit der ich für eine gewisse Zeit zusammen war. Ich hatte das erste Mal Sex und es war ein wunderschönes Gefühl, diese Intimität, dieses Vertrauen, mit jemanden zu teilen, den man liebt.   An meinen Gefühlen gegenüber Noah hat sich nichts geändert, wie sollte es auch anders sein. Ich liebe ihn, das sage ich mir jeden Tag. Und jeden Tag hoffe ich, dass er sich bei mir meldet. Das er vor der Tür steht, mit mir redet, mir sagt, dass er mich liebt und so eine selten dämliche Aktion nie wieder vorkommen wird. Leider tut er das nicht, um Mitternacht beginnt heute das neue Jahr und ich habe Magenschmerzen wenn ich daran denke, so das neue Jahr zu beginnen. Es wird sich so viel für mich nächstes Jahr ändern. Ich werde studieren gehen, ich werde achtzehn werden. Eigentlich möchte ich von Noah auf meinen Abiball begleitet werden, auch wenn ich natürlich mit Hannah tanzen werde. Aber am Abend möchte ich in Noahs Armen liegen, ihn bei mir spüren und wissen, dass das mit uns etwas ganz Besonderes ist.   So, wie es jetzt aussieht, wird das aber wohl nicht passieren und ich habe mir vorgenommen, dass ich ihn spätestens morgen abhaken werde. Meine Gefühle werden sich natürlich nicht in Luft auflösen, dessen bin ich mir sicher. Aber ich kann auch nicht ewig auf Noah warten und es ist nicht meine Aufgabe, ihm nachzulaufen. Das habe ich lange genug getan. Jetzt ist es an ihm, zu mir, zu uns zu stehen und deutlich zu machen, dass er mich will. Auf jede erdenkliche Weise.   Wie es morgen weitergehen soll, weiß ich allerdings nicht. Die Gefühle werden ja nicht einfach verschwinden, aber ich werde mir auch nicht länger etwas vormachen oder auf jemanden warten können, der mich scheinbar nicht genug liebt. Vielleicht ist Noah die Sache mit mir auch zu heiß geworden. Zu heikel. Das kann ich verstehen und es tut mir irgendwo auch leid, ihn quasi bedrängt und mich ihm aufgezwungen zu haben. Manchmal denke ich auch darüber nach, ob es hätte anders kommen können, hätten wir von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Denn wenn wir ehrlich sind: Heimlichtuerei mag niemand gerne. Ich glaube, ich wäre ausgerastet, hätte ich Bastian mit Hannah oder Maxi erwischt, so abwegig sowohl der eine, als auch der andere Gedanke ist.   All das spielt aber in einigen Stunden keine Rolle mehr, deshalb sollte ich mich lieber früher als später mit diesem Gedanken anfreunden. Mich direkt in das nächste Abenteuer stürzen werde ich aber nicht, denn ein wenig Ruhe und Abstand von allem wird mir bestimmt gut tun. Und wer weiß, vielleicht lerne ich im neuem Jahr ja jemand Neues kennen. Einen Jungen, vielleicht mal in meinem Alter, mit dem es weniger kompliziert ist, in den ich mich verliebe und mit dem es genauso schön wird wie einst mit Noah. Oder anders schön. Es wird nämlich nie so sein wie mit Noah, das ist mir bewusst, weil uns beide einfach etwas völlig anderes miteinander verbindet. Das ist aber auch gut und okay so, denke ich. Noah wird, trotz allem, immer etwas Besonderes für mich bleiben und einen Platz in meinem Herzen haben.   Mit diesen Gedanken kann ich dann auch endlich duschen gehen, nachdem Bastian mal fertig ist und ich den Schweiß und die harte Arbeit von mir waschen kann. Das tut wahnsinnig gut, nicht zuletzt, weil es draußen so kalt ist, dass wir Blitzeis haben und man keinen Fuß vor die Tür setzen kann, ohne sich auf die Fresse zu legen. Oder den Hintern. Mir ist beides schon passiert, als ich mit Schnee schippen dran war und weder das eine, noch das andere muss ich nochmal haben.   Den Rest des Tages verbringe ich dann damit, meinen Eltern zu helfen, alles für das Silvester-Abendessen vorzubereiten. Das ist nichts aufwendiges, dafür aber in rauen Mengen. Fingerfood, Salate, Risotto, kaltes Fleisch, warmes Fleisch, Lachshäppchen... wenn ich mir so meinen Bauch anschaue finde ich, dass ich vielleicht weniger essen sollte. Das ist natürlich nur Einbildung, tatsächlich habe ich fast zehn Kilo über die letzten Wochen abgenommen, was meinen Eltern mit einer gewissen Besorgnis aufgefallen ist. Dabei esse ich eigentlich ganz normal und an Weihnachten habe ich echt rein gehauen. Naja, Liebeskummer geht wohl nicht ganz so spurlos an einem vorbei.   Traditionell backen wir dann noch einen Neujahreszopf, den ich am liebsten sofort verschlingen würde anstatt bis morgen früh zu warten. Das finde ich sagenhaft unfair und überlege, ob ich nicht noch einen backen kann. Für mich alleine, jetzt genau in diesem Moment. Leider haben wir nicht genug Zutaten dafür da und einkaufen gehen fällt auch flach. Die Geschäfte haben nämlich inzwischen überall zu und draußen ist es so einsam und leer gefegt... hat was von einem Horrorfilm. Fehlt nur noch der Nebel. Uwah, besser nicht darüber nachdenken!!   Der arme Oskar ist natürlich das Opfer dieses Tages, weil er winselt und jault, wann immer ein paar Idioten die ersten Böller durch die Gegend schmeißen und unser armer Hund fast einen Herzkasper kriegt. Deshalb ist der auch schon mit ein paar natürlichen Substanzen etwas entspannt worden und darf sich bei dem Feuerwerk in den Keller zurückziehen. Davor muss ich ihn aber noch ganz fest bekuscheln, kraulen, ihm meine ewige Liebe gestehen und dann ist er gewappnet genug, um auch dieses Neujahr zu überstehen.   Am Abend bereiten wir dann den Garten vor, wo wir wie üblich anstoßen und das Feuerwerk der Nachbarn beobachten werden. Mit Wunderkerzen, Bleigießen, Sekt und Heizstrahlern, die wir extra dafür angeschafft haben. In den Pool geht an diesen Abend natürlich niemand.   Der Gartentisch wird feierlich gedeckt, Sitzpolster und Decken raus gelegt, denn trotz Heizstrahler ist es immer noch kalt und weil wir nichts Besseres zu tun haben, bauen wir noch alle zusammen einen Schneemann, der uns später neidisch beim Essen zusehen darf. Bastian hat seine Kamera hier und macht zwischendurch ein paar Fotos – unter anderem davon, wie ich dem Schneemann seine Nase in Form einer Karotte in die Visage stopfe. Die Lichterketten und Lampions, die unseren Garten schmücken, werden der Gemütlichkeit halber angemacht und spenden sanftes, buntes Licht. Als wir zum Essen draußen sitzen und uns über dies und das unterhalten, stelle ich fest, dass ich zufrieden bin. Glücklich vielleicht nicht unbedingt, aber die Zufriedenheit in mir ist doch entspannend und all umfassend. Ich kann sogar lachen, mit Bastian freundlich-feindliche Gemeinheiten austauschen und ein Selfie an Hannah zurück schicken, als sie mir eins von ihrer Mom und sich schickt. Ich schicke dann auch noch eins von meiner Familie und mir zurück und werde mich in einer halben Stunde wieder bei ihr melden – dann ist Mitternacht, das alte Jahr vorbei und ein neues Jahr, ein neuer Abschnitt beginnt für mich.   Wir räumen den Tisch noch frei, zumindest halbwegs, holen die Wunderkerzen und das Bleigießen-Set, behalten die Uhr im Blick und sprechen über den Gartenzaun hinweg mit unseren Nachbarn, die fleißig ihre Raketen fertig machen. Wir haben nur einmal selbst Raketen gekauft, aber der ganze Spaß ist viel zu teuer, als das Mom und Dad nochmal ihr Geld wortwörtlich verpulvern möchten. Bastian und ich sind da wohl ähnlicher Meinung. Wunderkerzen sind das höchste der Gefühle.   Zehn Minuten.   Ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder auf mein Handy schauen muss. Da ist dieser kleine Hoffnungsfunke in mir, der einfach nicht vergehen möchte. Bastian sieht ein wenig nachdenklich aus und als er meinen Blick bemerkt, dreht er sich weg. Seine Schulterpartie ist ziemlich angespannt und ich glaube, er denkt an dieselbe Person wie ich. Es tut mir weh, meinen Bruder so zu sehen, wenn ich ehrlich bin. Trotzdem bringe ich es nicht fertig zu ihm zu gehen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln.   Während ich in den Nachthimmel schaue, nehme ich nur nebenbei wahr, wie Dad irgendwann nach drinnen verschwindet, vermutlich geht er noch ein paar Getränke holen, oder den Sekt, der steht nämlich noch nicht hier draußen.   Mein Handy verschwindet in meiner Hosentasche, als ich mir meine Wunderkerze von Mom geben lasse und wir uns schon mal in einen lockeren Kreis zusammenstellen. Bastian setzt ein gezwungenes Lächeln auf.   Fünf Minuten.   Paps kommt wieder und irgendwie riecht er nach Sommer und Zitrusfrüchten, wie ich verwirrt feststellen muss. Will schon fragen, ob er noch eine letzte Dusche im alten Jahr genommen hat, doch jedes Wort bleibt mir im Halse stecken.   Noah folgt ihm nach draußen in den Garten und hat noch nicht mal den Anstand, irgendwie schlecht auszusehen. Er ist wunderschön, seine Wangen von der Kälte etwas gerötet und sein olivfarbener Strickpulli sitzt so locker, dass er auf einer Seite seine Schulter etwas entblößt. Er tränkt ein ärmelloses Top darunter und eine schwarze Skinnyjeans.   Mein Herz fängt an zu bollern.   Neben mir zieht Bastian scharf die Luft ein, ich traue mich aber nicht, ihn anzusehen. Und überhaupt habe ich nur Augen für diesen wunderschönen Mann, dessen Blick auf Bastian ruht. Er beißt sich leicht auf die Unterlippe, was ich in einem Moment wie diesen nicht heiß finden soll. Dann tritt er vor, einen Schritt, zwei, geht auf Bastian zu. Es ist, als würde die Welt für einen Moment aufhören sich zu drehen. Als würde die Zeit still stehen. Keine Ahnung, von wem es zuerst ausgeht, aber im nächsten Moment halten sie sich in den Armen, umarmen sich feste, halten den anderen, halten sich an dem anderen fest. Bastian lehnt seinen Kopf gegen Noahs, seine Augen sind geschlossen und er sieht aus, als würde er weinen wollen. Er drückt Noah so fest an sich, dass ich fürchte, er bricht ihm noch alle Rippen.   Die beiden sehen gut zusammen aus, wie ich mit einem schmerzlichen Stich feststellen muss. Bastian ist etwas größer als Noah und der passt so wunderbar in dessen Arme, dass ich mich einen Moment lang frage, ob er das mit mir nur zugelassen hat, weil er an meinen Bruder nicht ran kommt. Ob ich nur ein Ersatz für ihn war.   Zum Glück wird dieser Gedanke sofort nichtig, als die beiden sich schließlich freigeben und Bastian seinen besten Freund ein schiefes Grinsen schenkt.   „Einen Tag länger, und ich hätt dich ins Krankenhaus geprügelt.“   Noah lacht leise und es klingt so wunderschön, wie die Engel im Himmel, wie ein wunderschönes Stück auf meinem Flügel, wie die Vögel im Frühling, wie das rauschen der Wellen am Meer... wie mein Herz, das immer schneller schlägt.   Bastians bester Freund wendet sich von ihm ab, dreht sich zu mir und als sich unsere Blicke treffen... ich bin ehrlich, ich habe ihm sofort verziehen. Naja, nicht verziehen, aber es spielt keine Rolle mehr. Nur am Rande nehme ich wahr, dass Mom und Dad schweigend dabeistehen und sich die Szene nur anschauen. Was sie gerade denken mögen, entzieht sich völlig meinem Wissen.   Noah bleibt dicht vor mir stehen, ohne seinen Blick auch nur einen Moment von mir abzuwenden. Unsere Augen begegnen sich, als würden unsichtbare Magneten sie anziehen, unfähig, sich voneinander zu lösen. Mein geliebter Sommergeruch steigt mir in die Nase, kleine Ameisenarmeen krabbeln über meine Haut. Die Winterkälte macht mir gar nichts aus, es ist, als würde der Heizstrahler endlich mal was taugen, wenn man nicht gerade direkt dran klebt.   Ich sehe so viel in Noahs Augen, in seinem Gesicht. Alles, was in den letzten Wochen zwischen uns nicht ausgesprochen wurde, findet gerade in diesem Moment statt. Es tut ihm leid, mehr, als er in Worte fassen kann. Er hat einen Fehler gemacht, den er nicht rückgängig machen kann und mehr bereut, als ich vermutlich ahnen kann. Er hofft, dass ich ihm irgendwann verzeihen kann.   Auch ich rede mit ihm, ohne Worte zu benutzen. Sehe ihn an und sehe den Mann, den ich schon so lange liebe und mit dem ich mein erstes Mal erlebt habe. Der mir Herzklopfen, Magenkribbeln und dümmliches Lächeln entlockt, weil ich in seiner Nähe wie betäubt und wahnsinnig verliebt in ihn bin.   „Um Gottes Willen“, höre ich Bastian genervt stöhnen, „jetzt küss ihn schon endlich, das ist ja nicht zum Aushalten!“   Mein Freund, denn das ist er gerade wieder geworden, muss lachen, nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst mich, dass mir die Lichter ausgehen.   Unsere Nachbarn schießen Raketen in den Nachthimmel, „Frohes neues Jahr!“, wird durch die Nachbarschaft gerufen, ich schlinge meine Arme um Noah und küsse ihn wie verrückt zurück. Es macht mir nichts aus, dass Bastian uns zusieht. Das meine Eltern sehen, wie ich diesen wunderbaren, fast zehn Jahre älteren Mann und Teil unserer Familie küsse, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich kann ihm gar nicht nah genug sein. Seinen Körper zu spüren ist alles, was ich gerade brauche, neben dem Kuss. Seine Hände wuseln durch meine Haare, über meine Schultern, in meinen Nacken, an meinen Rücken. Er zieht mich so nah es nur möglich ist an sich, seine Augen sind genauso geschlossen wie die meine. Seine Zunge teilt meine Lippen, taucht in meinen Mund, umspielt und umgarnt meine als sei es das erste Mal. Ich kriege kaum genug von Noah. Mein Herz platzt, meine Kehle schnürt sich zu. Mir ist nach lachen und weinen zugleich. Nur dumpf nehme ich das klicken eines Kameraauslösers wahr, aber darauf konzentrieren kann ich mich nicht. Ich kralle mich in den Stoff seines Pullovers an seinem Rücken, küsse ihn wie verrückt, abwechselnd langsam und zärtlich, aber eigentlich nur verzweifelt, wild, innig, leidenschaftlich und zum verrückt werden. Scheiße, ich liebe Noah so sehr.   Wie immer weiß Noah besser als ich, wann Schluss ist und entfernt seinen Mund von meinem. Na, vielleicht liebe ich ihn doch nicht so sehr. Doch, scheiße, tue ich. Ich muss mir die Lippen lecken. Ich will ihn wieder küssen.   „Frohes neues Jahr, Konstantin.“   Ich kann nur dümmlich nicken und mindestens genauso dümmlich grinsen. Dann gibt Noah mich frei, greift aber nach meiner Hand und verschränkt unsere Finger miteinander. Er dreht sich zur Familie um und ich wage einen Blick in die umstehenden Gesichter. Bastian lächelt und sieht wahnsinnig entspannt aus. Und glücklich. Mom und Dad... ein klein wenig geschockt sehen sie schon aus, aber Mom ist die erste die mich anlächelt und Paps schafft es schließlich auch.   „Ist es okay, wenn ich Konstantin abhole?“   „Meinetwegen kannst du den nach Timbuktu entführen.“, zuckt Bastian mich fies angrinsend die Schultern, aber ich weiß, dass die Frage mehr an meine Eltern gerichtet ist. Mir wird schwächlich in den Beinen, als mir bewusst wird, dass er sich gerade den Segen meiner Eltern abholt.   Du großer Gott!!   Paps kommt auf uns zu, schaut erst mich an, dann Noah, der neben mir ein klein wenig versteift. Ich drücke seine Hand aufmunternd.   „Noah“, beginnt mein Dad und sieht ziemlich ernst drein, bevor er schließlich lächelt, „wenn du meinem Sohn weh tust, dann wirst du dich nicht nur vor Bastian verantworten müssen.“   Au scheiße, wie peinlich!   Mom kommt dazu und greift nach Noahs anderer Hand, im Gegensatz zu Dad lächelt sie ihn warm und lieb und aufrichtig an.   „Ihr seid ein schönes Paar.“, sagt sie nur und damit scheint alles gesagt zu sein.   Naja, fast alles.   Noah dreht sich zu Bastian und es fällt mir schwer, meinen Bruder anzusehen. Ich spüre seinen Blick auf mir, auf uns, auf unsere verschränkten Hände. Dann reicht er die Kamera – ich wusste es! - an Dad weiter, kommt auf uns zu und umarmt Noah wieder. Ganz fest drückt er ihn an sich und flüstert ihm irgendwas ins Ohr, das ich vor lauter Raketenböllerei nicht verstehen kann. Es muss was Lustiges sein, denn Noah lacht, nickt und drückt Bastian noch einmal mit seinem freien Arm. Dann lässt er meine Hand los, streichelt aber noch ganz kurz und zart meine Finger.   „Magst du ein paar Sachen zusammen packen?“   Ich nicke stumm, umarme meine Eltern und renne wie ein Geisteskranker auf mein Zimmer. Unterwegs krame ich mein Handy aus meiner Hosentasche, höre Hannahs kreischende Frohes-Neues-Jahr-Sprachmail an und kreische genauso zurück. Und das Noah und ich ein Paar sind, dass er hier ist, mich abholt und ich völlig aus dem Häuschen bin. Dann schmeiße ich ein paar Klamotten in meinen Rucksack, auch wenn ich gar nicht weiß, wie lange ich bleiben kann... naja, ich packe mal für eine Woche, für den Fall, dass ich so lange bei ihm bleiben kann... immerhin habe ich ja noch Schulferien.   Nachdem alles gepackt ist, treffe ich meine Familie und Noah im Wohnzimmer wieder, wo mein Freund sich gerade von den anderen verabschiedet. Bastian und er umarmen sich schon wieder, mein Bruder klopft ihm auf die Schulter, sie lachen über irgendwas. Es tut wahnsinnig gut, die beiden so zusammen zu sehen. Keine Ahnung, ob zwischen ihnen alles wieder in Ordnung ist, ich denke, sie werden noch ein ausgiebiges Gespräch führen. Für den Moment aber scheinen beide zufrieden zu sein. Und ich sowieso.   Mein Freund kommt auf mich zu, ein Lächeln auf den Lippen und nimmt mir den Rucksack ab, meinen Protest ignoriert er. Murrend gehe ich nochmal zu meinen Eltern, die ich erneut umarme und ihnen auch endlich mal ein frohes neues Jahr wünschen kann. Beide drücken mich ganz fest und Mama flüstert mir zu, dass ich mich doch bitte schützen soll. Ich glaube, das ist ungefähr der peinlichste Moment meines Lebens, nicke mit hochrotem Kopf und gehe gar nicht erst weiter darauf ein. Was meine arme Mutter gerade denkt, will ich mir mal lieber nicht ausmalen. Paps spart sich dergleichen zum Glück und als mein Blick auf Bastian fällt... er sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann.   Ich bedeute Noah, schon mal vorzugehen, während ich zu Bastian gehe und etwas mit mir ziehe – zu dem Schneemann, der in der einen Ecke des Gartens steht und dessen Karottennase feine Eiskristalle gebildet hat.   „Ist es echt okay für dich, wenn... Noah und ich...“, stammele ich mir einen dranlang und habe Mühe, meinen Bruder in die Augen zu sehen. Er sieht ein wenig kritisch aus, wenn ich ehrlich bin und ich glaube, dass ein Teil von ihm niemals darüber hinweg kommen wird, dass sein bester Freund etwas mit seinem kleinen Bruder hat. Der andere Teil hingegen...   „Wie heißt es so schön? Wo die Liebe hinfällt... hör mal, wenn Noah glücklich mit dir ist, dann bin ich der letzte, der deswegen Probleme machen wird.“   „Du hast ihm ins Gesicht geschlagen.“, erinnere ich ihn, was er weniger amüsant findet. Er verzieht das Gesicht etwas und sieht reichlich schuldbewusst drein.   „Das war der Schock im ersten Moment. Wir werden das schon noch klären. Und du solltest jetzt zu deinem Freund gehen, bevor er ohne dich fährt.“   Bastian tut etwas sehr, sehr seltenes: er umarmt mich. Damit bin ich so überfordert, dass ich die Umarmung gar nicht erwidern kann und stattdessen einfach akzeptiere, dass er mir anschließend durch die Haare wuschelt, wie Noah es immer so schön zu tun pflegte. Pflegt, wenn er es jetzt bald wieder tun wird.   Ich verabschiede mich und folge Noah zu seinem Auto, das in der Auffahrt hinter dem meiner Eltern steht. Mein Rucksack wird auf die Rückbank verfrachtet, wir schnallen uns an und Noah fährt los. Es dauert eine Weile bis wir bei ihm sind, weil Noah seine liebe Mühe damit hat, nicht in irgendwelche Leute mit Feuerwerkskörpern zu fahren – oder von solchen getroffen zu werden. Das wäre ja jetzt auch ein ganz blödes Timing.   Als wir bei ihm daheim sind, da bin ich ehrlich, muss ich erstmal nach der Reisetasche gucken, die ich beim letzten Mal hier gesehen habe. Falls Noah meinen Blick bemerkt, so kommentiert er das nicht, sondern geht ins Wohnzimmer, wo er scheinbar Gläser aus dem Vitrinenschrank seiner Wohnwand holt. Meinen Rucksack hat er hier im Flur stehen lassen. Ich folge ihm und beobachte, wie er zwei Sektgläser füllt und mir, als er auf mich zukommt, eins davon reicht. Meine Finger zittern ein wenig, als ich das Glas entgegennehme und dabei ganz leicht seine Hand berühre. Noah lächelt mich an wie die Sonne als wir anstoßen.   Bevor er jedoch von seinem Glas trinken kann, halte ich ihn davon ab.   „Keine Ex-Freunde mehr, Noah.“   Er nickt.   „Keine anderen Jungs mehr.“   Darüber müssen wir beide lachen, unseren Sekt trinken und dann... naja, dann muss das alles besiegelt und gefeiert werden. In Noahs Bett. Und dafür brauchen wir keine Worte.   Noah fährt Geschütze auf, die ich niemals für möglich gehalten habe. Er trägt mich zum Beispiel ins Schlafzimmer, weil er mich einfach so hoch hebt. Muss direkt Arme und Beine um ihn schlingen, damit ich es halbwegs bequem habe – naja und weil ich Noah so nah wie möglich sein möchte.   In seinem Zimmer brennt seltsamerweise schon – oder noch – Licht, wenn auch nur das Nachtlicht auf seinem Nachttisch. Er lässt mich kurz vor seinem Bett runter, seine Hände wandern in meinen Nacken während er mich ganz sanft und super lieb küsst. Wow, ich habe total vergessen, wie sich seine Lippen anfühlen. Dieses angenehm Raue, das mich ganz wahnsinnig macht. Seine Zunge, die genau weiß, wie sie meine bezirzen muss. Noah küsst wahnsinnig gut, wie ich mal wieder feststellen muss. Seine Hände gleiten über meine Schultern, Brust und Bauch nach unten, schieben sich unter meinen Pullover, den er mir auszieht und einfach an Ort und Stelle zu Boden fallen lässt. Behutsam drängt er mich zum Bett, auf das ich mich nur zu gerne lege und mit großen Augen zusehe, wie Noah sich zumindest von seinen Oberteilen befreit. Bilde ich mir das nur ein, oder hat er sich gerade wirklich die Lippen geleckt, als sein Blick über meinen Oberkörper wandert?!   Es dauert nicht lange, bis Noah sich über mich beugt, meinen Hals küsst, ganz zart an der weichen Haut zwischen Hals und Schulter knabbert, saugt, leckt... ich muss leise wimmern, seufzen und Noahs Namen flüstern, während seine Hände mich so behutsam streicheln, dass ich einerseits will, dass er niemals nie damit aufhört und andererseits hoffe, dass er mich endlich richtig anfasst. Scheinbar hat er aber was anderes geplant und ignoriert auch geflissentlich meine Hände in seinem Haar, als er sich über meine Brust küsst, saugt, leckt und knabbert. Mein Herz rast mir bis zum Hals und ich muss tief ein und ausatmen, damit ich halbwegs bei Verstand bleibe. Die Zärtlichkeit, mit der Noah mir begegnet, bringt mein Herz fast zum Platzen vor Glück. Ich muss leise lachen, als seine Zunge mich am Bauchnabel kitzelt und winde mich ein wenig, um dieser süßen Gemeinheit zu entfliehen.   Ein paar Mal reizt Noah mich damit noch, doch während er schließlich nur an meinem Bauch herum knutscht und saugt, öffnen seine Hände sehr geschickt meine Hose. Er lässt sich Zeit, mich sowohl davon als auch von meiner Shorts zu befreien. Meine Socken streife ich mit den Füßen ab und es kostet mich doch ein klein wenig Überwindung, mich nicht zu bedecken während ich so völlig entblößt vor Noah liege. Das sollte mir nicht peinlich sein, schließlich hat er mich ja schon nackt gesehen, aber das ist auch schon einige Wochen her... es fühlt sich ein bisschen wie das erste Mal an.   Mir fällt Noahs Lächeln auf, während er mich von oben bis unten mustert. Kein anzügliches grinsen, keine herausfordernde Bemerkung ob meiner Erektion, auf die er nun perfekte Sicht hat. Scheiße, ich bin mir sicher, dass ich einfach nur davon kommen könnte, wenn er mich so ansieht. Mit diesen liebenden, warmen Augen.   Ich sehe ihm dabei zu, wie er sich auf den Knien aufrichtet und sich von seiner restlichen Kleidung befreit. Es macht mich immer noch verlegen, Noah nackt zu sehen, gleichzeitig kribbelt es in meinem Bauch vor Aufregung und Liebe und all den wahnsinnigen Gefühlen, die ich gerade empfinde und doch nur die wenigsten benennen kann. Überwältigt von all diesen Gefühlen muss ich mich hinsetzen, eine Hand in Noahs Nacken legen und zu mir ziehen, um ihn zu küssen. Er seufzt leise, was wahnsinnig schön klingt und ich genieße es ein wenig, bei diesem Kuss die Führung zu übernehmen. Seine Hände streicheln warm über meinen Körper, durch mein Haar, legen sich an meinen Rücken und stützen mich, als er sich über mich beugt und mich wieder in eine liegende Position bringt.   Er macht mich wahnsinnig, während er ziemlich hingebungsvoll und wahnsinnig sexy an meiner rechten Brustwarze saugt und als er auch noch kurz seine Zähne mit ins Spiel bringt, wähne ich mich schon in anderen Sphären. Das Noah immer noch wieder einen drauflegen kann, wird mir erst bewusst, als er, nachdem er sich über meinen gesamten Oberkörper geküsst hat, meinen Beinen ebenso viel Aufmerksamkeit zukommen lässt. Ich werde fast bekloppt vor Lust und Liebe und muss überrascht feststellen, dass nicht nur Noah meinen Körper kennen lernt, sondern auch ich neues entdecke. Zum Beispiel, dass meine Kniekehlen wahnsinnig empfindlich sind während Noah mich dort küsst, eine warme Hand meine Wade etwas hoch hält und ich mein Bein anwinkeln muss, damit es bequem ist. Meine Knöchel sind genauso erogene Zonen wie mein Hals, wie ich etwas peinlich berührt feststellen muss als sich ein stöhnen über meine Lippen bahnt und ich mir mal lieber den Mund zuhalte. Oh Mann!   Noah lacht leise, was ich erst etwas gemein finde, dann muss ich aber auch lachen, weil es irgendwie so schön ist, diese neuen Erfahrungen mit ihm zu sammeln. Ich strecke meine Arme nach ihm aus während ich meine Beine – bemüht schamlos – etwas mehr spreize, damit er bequem Platz zwischen ihnen hat. Zum Glück lässt er sich nicht zweimal bitten, sondern folgt der Einladung sofort und küsst mich so innig, dass mir Hören und Sehen vergeht. Sein Gewicht auf mir verankert mich im Hier und Jetzt. Sein heißer Körper bringt mich trotzdem fast um den Verstand. Ihn so nah bei mir zu spüren... ich schlinge meine Arme um ihn, während ich mich ganz leicht an ihm reibe. Wow, ist das schön. Wow, Noahs Stimme ist wahnsinnig sexy. Und wenn er meinen Namen so... verrucht wispert, wird mir ganz anders.   Ich halts kaum aus, als Noah sich von mir entfernt um Gleitmittel und Kondom aus seinem Nachttisch zu fischen und helfe ihm vielleicht ein klein wenig zu enthusiastisch mit letzterem. Das lässt uns beide dann lachen und führt zu einem verspielten Kuss, der ganz bald schon wieder inniger und langsam wird, während Noah mich mit warmen, geschickten Fingern vorbereitet. Ich will schon jetzt kommen und muss meine Augen schließen, weil alles andere viel zu überwältigend für mich ist.   Vielleicht wäre es besser, mit ihm zu reden, anstatt Sex zu haben. Ich meine, wir haben doch eigentlich ziemlich viel, über das wir reden sollten, oder?   Zum Glück spielt das zumindest jetzt gerade keine Rolle, für keinen von uns. Es ist nicht so, als hätte ich vergessen, wie sich Sex mit Noah anfühlt, aber... es ist doch irgendwie ganz anders, ganz neu und trotzdem gewohnt. Wie etwas, das man kurzzeitig verlegt und dann endlich wieder gefunden hat.   Noah ist unglaublich zärtlich und rücksichtsvoll, es fällt mir dieses Mal viel leichter mich zu entspannen, gleich zu Beginn und wenn ich mir Noahs Gesicht so anschaue, dann genießt er es mindestens genauso sehr wie ich. Ich halte ihn ganz fest bei mir, meine Arme um seine Schultern, meine Lippen auf den seinen, was nicht ganz einfach ist, da ich nicht weiß, ob ich ihn küssen oder meiner Lust und Liebe eine Stimme geben soll. Beides zeitgleich funktioniert nicht ganz so gut, aber... Herrgott, ich sollte mir darüber keine Gedanken machen.   Noah ist alles, was gerade zählt. Wir sind alles, was gerade zählt.   Nach dem Sex genieße ich es einfach nur in den Armen meines Freundes zu liegen, seine Finger in meinen Haaren wuseln zu spüren während eine meiner Hände träge über seinen Oberkörper streichelt. Ich bin noch völlig weggetreten von all der süßen Aufmerksamkeit, die Noah mir hat zukommen lassen und fühle mich fast ein bisschen schlecht, weil ich ihm das gerne zurückgeben würde. Das muss aber wohl warten, denn im Moment fühle ich mich eher, als würde ich jeden Moment einschlafen, so tiefenentspannt bin ich.   „Du, Noah?“, frage ich stattdessen in die Stille und zeichne unbestimmte Muster auf seiner Brust.   „Hm?“   „Wieso hast du so lange gebraucht?“   Ich spüre, wie mein Freund sich etwas verspannt. Ob er damit gerechnet hat, dass ich ihn früher oder später darauf ansprechen werde? Das wir darüber sprechen werden, ganz gleich, wie viel stumm zwischen uns gelaufen ist, als er bei mir daheim auftauchte?   „Weil ich einerseits Angst hatte und andererseits dachte, dass es so vielleicht nicht doch besser für uns alle wäre.“   „Angst?“   Noah lacht leise, dreht den Kopf etwas, damit er mich ansehen kann. Ich stütze mein Kinn auf seine Brust.   „Das du mich ablehnst.“   Oh Gott, ich glaube mir fällt gerade alles aus dem Gesicht! Ich hätte nie, niemals gedacht, dass Noah deswegen... Angst haben könnte! Ich meine, schließlich bin ich schon seit Ewigkeiten hinter ihm her und... ich werde rot.   „Wirklich?“, frage ich ganz leise und etwas ungläubig nach... und muss meinen Kopf nun ganz auf seiner Brust ablegen, damit ich ihn nicht mehr anschauen muss. Sonst knutsche ich ihn nämlich bis zur Besinnungslosigkeit, weil seine Worte die Schmetterlinge in meinem Bauch aufschrecken.   „Erst dachte ich, dass ein bisschen Abstand nicht schaden würde. Das ging dann so weit, bis wir uns am Horizon trafen... und als du weg bist, ist mir bewusst geworden, was ich da verloren habe. Verlieren könnte. Aber ich war zu feige, weil ich gleichzeitig Bastian im Kopf hatte. Was er denken würde.“   Bastian. Natürlich.   „Bastian hat mit uns weniger ein Problem als mit der Tatsache, dass du es ihm nicht gesagt hast“, gestehe ich und lausche ein bisschen seinem Herzschlag, „er hat mir ein paar Nachrichten von dir gezeigt.“   „Ich würde gerne sagen, dass mich das beruhigt, aber... ich hab echt Angst, mich mit ihm auszusprechen.“   „Er hat gemerkt, dass du die letzten Monate glücklich warst. Bastian ist enttäuscht, aber am Ende seid ihr wie Hanni und Nanni.“   Mein Freund lacht leise und wuschelt mir lieb durch die Haare.   „Danke. Du, Konstantin?“   Ich hebe meinen Kopf, um ihn anzuschauen und bereue es ein bisschen, als ich diesen gefassten, ernsten Ausdruck in seinem Gesicht sehe. Seine freie Hand greift nach meiner, die inzwischen über seinem Herzen zum liegen angekommen ist.   „Das mit Frank tut mir wahnsinnig leid. Danke, dass du trotzdem zurück gekommen bist.“   „Hast du ihn...?“   Eigentlich will ich das nicht wissen, das ist nur Gift für mein Kopfkino, aber es lässt mir auch keine Ruhe. Es ist wie ein Unfall: man sollte eigentlich dran vorbei fahren, aber hingucken muss man trotzdem. Zumindest kurz.   Noah schüttelt den Kopf.   „Ich weiß nicht, ob er irgendwas geahnt hat... Fakt ist, Frank und ich kennen uns gut genug und er wusste immer, was ich gerade brauche.“   Scheiße, das will ich eigentlich auch nicht wissen!   „Jemanden, der dir den Verstand raus vögelt?“   Der muss ihm bei dieser Aktion schließlich abhanden gekommen sein.   „Konstantin!“   Ahhh, Noah wird rot! Und er sieht geschockt, entsetzt und irgendwie überrascht aus. Ich bin auch überrascht, nämlich darüber, dass es zwar noch weh tut, es mich aber nicht mehr so sehr stört. Vielleicht weil ich weiß, dass Noah nicht den aktiven Part übernommen hat. Irgendwie krank, was das für einen Unterschied macht, oder?   Ich wurschtel mich aus seiner Umarmung und setze mich lieber auf seinen Schoß. Da sitze ich gerne, wie ich feststelle, als ich meine Hände an sein Gesicht lege und ihn prüfend mustere.   „Nie wieder, Noah, hörst du? Wenn du dich von jemanden flachlegen lässt, dann nur von mir, klar?“   So cool, wie ich gerade tue, bin ich gar nicht. Aber es ist irgendwie wahnsinnig interessant und ein klein wenig lustig, wie verlegen und geschockt Noah nicht nur aufgrund meiner Wortwahl, sondern auch von dem ist, was ich ihm da gerade gesagt habe. Und ein bisschen geschockt bin ich wohl auch von mir selber, weil mir gerade bewusst wird, dass ich ihn schon gerne... naja.   Noah blinzelt einige Male, dann lächelt er und legt seine Arme um mich, seine Hände verschränken sich knapp über meinem Gesäß.   „Klar.“, strahlt er mich an, richtet sich etwas auf und küsst mich so süß, dass ich leise lachen muss. Er auch. Eine seiner Hände greift in mein Haar.   „Ich liebe dich, Konstantin.“   Oh Gott, der macht mich fertig!   „Ich liebe dich auch, Noah.“   So was muss man natürlich nochmal mit einem Kuss besiegeln, doch kurz bevor meine Lippen die seine erreichen, dreht er plötzlich den Kopf weg, lässt mich los und streckt sich etwas zur Seite, um nach seinem Handy auf den Nachttisch zu greifen. Hallo? Hat der sie noch alle? Das ich wegen seiner Verrenkung fast von ihm runter rutsche, scheint auch nur mich zu stören.   Fassungslos schnaufend will ich nach seinem Handy greifen.   „Was soll das denn jetzt?“   Noah hält sein Handy außer Reichweite, auf seinen göttlichen Lippen liegt ein Lächeln wie in einer Zahnpastawerbung.   „Warte...“, speist er mich ab und tippert irgendwas darin herum. Ich verrenke mir den Kopf, beuge mich vor, will sehen, was er da tut, doch er dreht sich weg und hält sein Handy so, dass ich nichts sehen kann. Grr, ich will ihn köpfen! Und dann knutschen. Vielleicht nicht unbedingt in der Reihenfolge, aber die Message kommt hoffentlich an. Streichele ihm lieber ein bisschen über den Oberkörper und berühre dabei natürlich nur ganz zufällig seine Brustwarzen... er wischt meine Hände mit einer Hand weg und atmet angestrengt. Selbst Schuld, wenn der an seinem blöden Handy rum hängt, wenn er doch mich küssen kann?! Ganz gleich, was ich jemals darüber gesagt habe, dass es mich nicht stören würde, wenn man mal kurz an sein Handy geht... ich nehme es hiermit ganz offiziell zurück. Das geht gar nicht!!   „Noah...“, murre ich nun doch reichlich ungehalten und starte einen letzten Versuch, ihm das Handy weg zu nehmen, als er es plötzlich zu mir umdreht. Im selben Moment gibt mein Handy, das irgendwo auf dem Boden bei meiner Hose liegt, einen Ton von sich. Das ist mir egal, denn ich kann nur auf dieses Lebensereignis gucken, das mir in Noahs Chronik angezeigt wird.   In einer Beziehung mit Konstantin Wagner.   Bastian Wagner ist der erste, dem es gefällt und der es kommentiert.   Na das ging ja schnell... ;) Gute Nacht ihr zwei!   Ich bin mir sehr sicher, dass er etwas eindeutig zweideutiges meint und werde etwas rot. Noah legt sein Handy weg und endlich wieder seine Arme um mich. Also, seine Hände gleiten hinunter zu meinem Hintern. Ich starre ihn völlig entrückt an.   „Du... wir sind... das ist jetzt... offiziell?“, stammele ich total belämmert herum und lasse Noah mich näher an ihn drücken... scheiße, ich krieg zu viel. Noah küsst mich am Mundwinkel, seine Zunge huscht einmal kurz über meine Unterlippe.   „Stört dich das?“   Er saugt leicht an meiner Unterlippe. Hallo, wie soll ich ihm denn da antworten? Seine Hände, die über meinen Hintern streicheln und das nicht gerade un-aufreizend, helfen da auch nicht. Ich schüttele den Kopf, während Noah mich langsam auf meinen Rücken verfrachtet und frech angrinst.   „Alles andere hätte ich auch nicht akzeptiert.“   Bastian hat gut Reden. Gute Nacht, am Arsch! Noah verführt mich nach allen Regeln der Kunst und das fast die ganze Nacht lang. Ich gucke zum letzten Mal gegen fünf oder so auf die Uhr, bevor ich mich, selig lächelnd und zutiefst befriedigt, in die Arme meines gleichermaßen befriedigten Freundes schmiege.   Also, vier Jahre warten und ein halbes Jahr Achterbahnfahrt haben sich ausgezahlt, würde ich mal behaupten! Epilog: -------- Es ist kurz nach sieben, ich habe zwei Stunden geschlafen und das nicht besonders gut.   Doch, theoretisch schon, aber mein Kopf findet, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als schlafen. Der Rest meines Körpers ignoriert die Erschöpfung und die Tatsache, dass es im Bett eigentlich so viel gemütlicher ist.   Konstantin schläft tief und fest, sein Haar ist vollkommen durcheinander, sein Gesicht tiefenentspannt und auf seinen Lippen liegt ein ganz kleines Lächeln. Er liegt auf der Seite, bis vor kurzem lag er noch in meinen Armen und es ist wunderschön gewesen, mit ihm in den Armen aufzuwachen.   Auch wenn der Schlaf nur sehr kurz war.   Ich ziehe mir schnell ein paar Klamotten an, schlüpfe in einen uralten Hoodie, schreibe eine Notiz für Konstantin, dass wir frühstücken, wenn ich wieder da bin, dann schnappe ich mir Handy, Schlüssel, ziehe die ersten Schuhe an, die ich finde und verlasse meine Wohnung. Draußen ist es bitterkalt und ich lege mich fast hin, weil es mal wieder Blitzeis gibt. So eine Scheiße! Es ist Neujahr, da sollte ich mir nicht direkt das Genick brechen. Mein erster Vorsatz für dieses Jahr. Die Liste wird dann im Laufe des Tages noch erweitert.   Im Auto schmeiße ich die Heizung an, klemme mein Handy in die dafür vorgesehene Einrichtung und tippe blind auf dem Touchscreen herum bis ich das Freizeichen höre. Ich fahre los, noch bevor abgenommen wird.   „Noah? Was zum Arsch, die Sonne ist noch nicht mal aufgegangen...“, murrt es mir nicht sehr freundlich entgegen.   „Ich bin in einer halben Stunde da.“   „Was? Hör mal, ich bin am schlafen... habe gepennt... was bist du überhaupt schon wach? Was ist mit dem Grottenolm?“   „Schläft. Bis gleich.“   Ich beende das Gespräch und konzentriere mich mal lieber auf die Straße, damit ich das Auto und mich am Ende nicht noch um einen Baum wickle. Wäre ja ziemlich blöd. Zweiter Vorsatz fürs neue Jahr: keinen Autounfall bauen.   Zum Glück kriege ich das hin und parke auf die Minute genau eine halbe Stunde später hinter meinem quasi-Zweitheim. Im Flur brennt Licht, als ich mein Auto abschließe und rüber zur Haustür eile. Ich muss nicht klingeln, die Tür wird direkt geöffnet und mein bester Freund lässt mich rein, während er mit einem Bein Oskar wegschiebt, der fröhlich hechelnd hofft, dass ich ihm irgendwas Tolles mitgebracht habe. Tja. Mehr als mich gibt es nicht. Ich tätschle ihm brav den Kopf, Bastian schließt die Tür und dann schaffen wir es endlich, uns anzuschauen.   Wow.   Vor siebeneinhalb Stunden haben wir uns erst zuletzt gesehen, doch es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Bastian sieht ziemlich verschlafen aus, er trägt eine ziemlich alte Jogginghose und ein Tshirt, das selbst ihm zu groß ist. Er ist barfuß, sein Haar zerzaust und ich vergesse schlagartig, was ich hier eigentlich will. Wäre ich doch mal besser daheim geblieben. Das hier ist schwieriger, als ich erwartet hätte.   „Kaffee?“, fragt er und lächelt mich leicht schief an. Ich nicke und folge ihm in die Küche, wo er uns einen ziemlich starken Kaffee macht. Oskar wuselt fröhlich um Bastian herum und hofft wohl, dass er irgendwas zum Essen kriegt. Ich weiß, dass er das schon hatte, denn sein Napf steht frisch gespült in der Spüle. Armer Oskar, ich habe glatt Mitleid mit ihm.   „Entschuldige für die frühe Störung...“, wage ich mich leise vor, als wir ins Wohnzimmer gehen, was ich, zugegeben, mit einem kleinen Stich ins Herz bemerke. Alle wichtigen Dinge haben wir immer in Bastians Zimmer oder bei mir besprochen. Und das hier ist verdammt wichtig. Lisa und Richard sind bestimmt noch im Bett, weshalb ich davon ausgehe, dass Bastian schnell mit Oskar draußen war und ihm direkt sein blutiges Frühstück gegeben hat. Es tut mir ein bisschen leid, ihn so überfallen zu haben, aber ich hätte keine Sekunde länger schlafen können.   „Schon okay. Aber dafür werde ich es dir erst recht nicht leicht machen.“   Ich weiß genau was er meint und auch wenn seine Lippen dieses typisch freche Grinsen zeigen, das ich seit Ewigkeiten kenne, blickt er mich mit ernsten Augen an. Nicht böse, aber ich weiß, dass ich ein ganzes Stück Arbeit vor mir habe. Auch wenn wir so vieles bereits um Mitternacht, zum Jahreswechsel, geklärt haben. Naja, nicht wirklich geklärt, aber es war schon eine erste kleine Versöhnung.   Nervös drehe ich die Tasse mit dem fast schwarzen Gebräu in meinen Händen und überlege, wo ich anfangen soll. Bastian drängt mich nicht, noch scheint er irgendwie genervt zu sein. Ich schweige sicherlich für fünf Minuten, aber weder ihm, noch mir ist das unangenehm.   „Ich habe dir nichts gesagt, weil ich Angst hatte“, fange ich dann irgendwann an, „und weil ich hoffte, dass es nur eine verquere Sache war, die mir die Trennung von Frank eingebracht hat, keine Ahnung. Ich hatte niemals vorgehabt, mich in Konstantin zu verlieben.“   Neben mir atmet Bastian ganz entspannt und nichts deutet darauf hin, dass er mir gleich wieder ins Gesicht schlagen wird.   „Als ich nach der Sache mit Frank hierher kam und er mir die Tür geöffnet hat, da... keine Ahnung, ich habe ihn für diesen einen Moment als jemand völlig anderen gesehen. Da war er nicht dein kleiner Bruder oder der Junge, den ich seit seiner Geburt kenne.“   Ich zucke hilflos mit den Schultern und genehmige mir endlich einen Schluck Kaffee. Grundgütiger, ist der stark. Die Müdigkeit, sollte ich sie jemals verspürt haben, wird sehr effizient vertrieben.   „Aber da habe ich ihn noch nicht geliebt“, erkläre ich schnell und fange einen Kaffeetropfen am Rand der Tasse auf, „und überhaupt habe ich zu dem Zeitpunkt auch nicht wirklich darüber nachgedacht. Das kam erst, als Konstantin im Horizon war und ich ihn nach Hause gefahren habe, weil er zu viel getrunken hat... da hat er mich geküsst und das hat mir irgendwie keine Ruhe gelassen.“   „Hatte er nicht bei dir gepennt?“, fragt Bastian verwirrt dazwischen und zieht eine Augenbraue hoch.   „Das war erst beim zweiten Mal. Er war auch nicht wirklich betrunken beim ersten Mal, eher etwas angeheitert. Jedenfalls, beim zweiten Mal, als er bei mir übernachtet hat... da hat er mir seine Liebe gestanden.“   Bastian verschluckt sich fast an seinem Kaffee und hustet ziemlich unschön. Ich wage mich, ihm den Rücken zu klopfen und bin erleichtert, weil er es zulässt.   „Er hat dir...? Ich dachte, du hättest...!“   Ach du großer Gott!   „Nein“, rufe ich verzweifelt und glaube, dass ich ein wenig rot werde, „Basti, wirklich, ich hätte mich ihm niemals aufgedrängt! Ich habe ihm bei einem weiteren Gespräch auch gesagt, dass zwischen uns nichts laufen kann und wird und ich habe verdammt nochmal gesagt, dass ich keine Gefühle für ihn habe.“   Er sieht mich skeptisch an.   „Was ja offensichtlich gelogen war.“, bemerkt er belustigt-spöttisch und trinkt erneut von seinem Kaffee, dieses Mal ohne sich zu verschlucken. Ich tue es ihm gleich, bevor ich weiter rede.   „Jedenfalls, nach seinem Hausarrest ist er dann irgendwann bei mir aufgekreuzt und... eins kam zum anderen. Bastian, wirklich, ich habe das niemals gewollt noch geplant. Und ich habe mich jedes Mal schrecklich gefühlt, weil ich einerseits nicht so empfinden sollte, nicht für ihn, andererseits aber auch... es war schön, weißt du? Und ganz anders als mit Frank.“   „War?“   „Ja, also... damals. Letztes Jahr.“, grinse ich und spüre, wie mein Herz leichter wird, als ich Bastian lächeln sehe. Am Anfang hat mich das fertig gemacht, als ich gerade dabei war, romantische Gefühle für Konstantin zu entwickeln. Bastian und er sehen sich nicht super ähnlich, aber man sieht doch die Verwandtschaft. Und sie beide haben dieses kleine, süße Grübchen auf der rechten Seite, wenn sie lächeln.   „Wieso hast du es mir nicht gesagt?“   „Das ich deinen kleinen Bruder liebe?“   „Ja.“   „Weil ich Angst vor deiner Reaktion hatte. Weil ich unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen wollte.“   „Und da ist es besser, ihn hier an meinem Geburtstag flachzulegen?“   „Ich hab ihn nicht flachgelegt...“   „Ihr hattet verdammt nochmal Sex, Noah, da ist es egal, wie man es nennt.“   In mir sträubt sich alles und ich schüttle nachdrücklich den Kopf.   „Das will ich aber nicht. Ich will nicht das du denkst, ich würde Konstantin flachlegen, ihn ficken oder sonst was. Er ist nicht wie Frank.“   „Logisch, er ist ja auch elf Jahre jünger als Frank.“   Manchmal macht Bastian es einem wirklich nicht leicht... jetzt verstehe ich, was er eben damit gemeint hat.   „Es tut mir wahnsinnig leid, wie das raus gekommen ist. Ich hab... ich dachte noch, dass es keine gute Idee ist und wollte mich auch gar nicht Konstantins Nachfragerei ergeben, aber... dann habe ich mich doch früher mit ihm getroffen. Und den Rest kennst du ja.“   Wir schweigen eine Weile während wir unseren Kaffee trinken. Dann ist es Bastian, der dieses Mal das Wort ergreift.   „Erst war ich wahnsinnig wütend, weil... ja, er ist mein kleiner Bruder und du mein bester Freund. Es gibt bestimmt irgendeinen Kodex, der so was vollkommen und absolut ausschließt. Aber als die Wut darüber nachließ, war ich nur maßlos enttäuscht, weil du mir nichts gesagt hast. Wir hätten darüber reden können.“   Das ist im Nachhinein sicherlich einfach zu sagen. Wie hätte Bastian wohl reagiert, hätte ich es ihm direkt gesagt? Das ich Gefühle für Konstantin habe? Ich wüsste nicht mal, wie ich dieses Gespräch hätte anfangen sollen.   „Vielleicht hättest du mir dann ja auch eine rein gehauen.“   „Dann aber sicher nicht mit der Faust. Hör mal, das tut mir echt leid. Scheiße, ich habe das echt nicht gewollt. Bist du okay gewesen?“   Bastian sieht mich mit großen Augen an und ich bin mehr als erleichtert darüber, tiefe Sorge und die Entschuldigung in ihnen sehen zu können.   „Ich sah sehr tapfer nach einer Prügelei aus, die ich nie hatte.“   „Ich hätte dir noch eine verpasst, wärst du nicht vor Neujahr hier aufgekreuzt. Und dann auch noch auf den letzten Drücker. Du bist so ein Penner, Noah.“   „Tut mir leid...“   „Das sollte es auch. Hast du gar kein Vertrauen in mich gehabt? In unsere Freundschaft?“   So, wie mein bester Freund mich anschaut, wage ich es kaum, seinen Blick zu erwidern. Ich höre bereits aus seiner Stimme heraus, wie wahnsinnig verletzt er tatsächlich ist. Und als ich es endlich schaffe, ihn anzusehen, bricht es mir das Herz.   „Ich wusste einfach nicht, wie ich es dir sagen sollte... du weißt, dass ich dich niemals anlügen würde. Unsere Freundschaft ist mir wichtiger als alles andere. Wenn ich wählen müsste, dann...“   „Das will ich nicht gehört haben“, unterbricht Bastian mich streng und stellt seine Tasse weg, „und ich hoffe du weißt, dass ich dich niemals vor die Wahl stellen werde.“   „Ist es sehr schlimm für dich...?“   „Das du mit dem Grottenolm zusammen bist? Du, ich hab den seit siebzehn Jahren an der Backe... ich werde es genießen, wenn du dich über ihn beschweren kommst.“, grinst er mich süffisant an und boxt mir freundschaftlich gegen den Arm. Ich möchte weinen vor Glück und Erleichterung.   „Wirklich?“   „Grundgütiger, soll ich dir ein offizielles Dokument ausstellen? Noah, hör mal, klar ist es seltsam, dass du was mit meinem kleinen Bruder hast. Und ich muss mich da sicherlich noch dran gewöhnen und, nimm es mir nicht übel, ich weiß nicht, ob ich mir gewisse Dinge anhören kann oder will... jedenfalls noch nicht. Aber meine Güte, du bist verliebt, er ist verliebt... daran kann ich ja wohl nichts ändern und es ist mir wichtiger, euch glücklich zu sehen.“   Ich stelle meine Tasse nun auch weg und wage es, Bastian ein klein wenig frech anzuschunkeln.   „Ich wusste schon immer, dass Konstantin dein schwacher Punkt ist.“   Denn so sehr er ihn auch ständig triezt und aufzieht... ich weiß genau, dass er einen totalen Narren an ihn gefressen hat. Schon seit seiner Geburt, weil Konstantin wahnsinnig süß und lustig war. Und Bastian, der große Bruder, ihn um jeden Preis der Welt beschützen wollte. Deshalb packt er mich nun am Kragen und zieht mich auf einen Millimeter an sich ran. Mir bleibt vor lauter Schreck fast das Herz stehen.   „Ganz genau. Und deshalb habe ich nun die große Ehre dir zu versprechen, dass es kein Loch auf dieser Welt gibt in dem ich dich nicht finden werde, wenn du so eine Aktion wie mit Frank nochmal bringst. Oder wenn du Konstantin anderweitig verletzt, haben wir uns verstanden, Noah?“   Ich muss heftig schlucken, weil ich einerseits wahnsinnig erleichtert bin, andererseits... wenn das mit Konstantin und mir jemals zu Ende gehen sollte, warum auch immer... wie werden Bastian und ich dann zueinander stehen? Darüber sollte ich besser nicht nachdenken denn ich plane nicht, Konstantin in nahe oder gar ferner Zukunft zu verletzen. Jedenfalls nicht beabsichtigt. Oder generell.   „Glasklar.“, nicke ich schwächlich und habe doch etwas Sorge, dass Bastian mir vielleicht noch eine rein haut. Er sieht mich einen viel zu langen Moment prüfend an, dann lässt er meinen Kragen los und zieht mich stattdessen in eine feste Umarmung, die mich nun doch sehr wundert und etwas überfordert. Eine Erfahrung, die für mich ungewohnt ist, denn wir haben keine Berührungsängste. Bastian hat, auch nachdem ich mich damals vor ihm geoutet habe, nie davor zurückgeschreckt mich zu berühren. Natürlich nie auf sexuelle Art und Weise, aber er hat mich umarmt, wenn wir uns gesehen haben, mich festgehalten, wenn ich wegen meiner Familie am Boden war, hat wie selbstverständlich neben mir im Bett gelegen, wenn ich mich nicht mehr habe beruhigen können. Das ich jetzt, gerade wegen unserer Situation, verwirrt bin, ist da wohl legitim. Mehr oder weniger. Aber eigentlich bin ich nur unglaublich dankbar und deshalb halte ich ihn schließlich auch ganz fest und bin mehr als beruhigt, als ich spüre, wie Bastians Körper sich entspannt.   „Es tut mir so leid.“, flüstere ich leise und lehne meinen Kopf an seine Schulter. Trotz des Kaffees spüre ich die Müdigkeit fast schlagartig in mich krauchen, trotz der Stunden, die ich mit Konstantin verbracht habe. Die unausgesprochene Sache mit Bastian hat mich nicht zur Ruhe kommen lassen.   „Mir auch.“, erwidert er ebenso leise, tätschelt meinen Rücken und gibt mich dann frei. Er klopft mir kurz auf die Schulter, steht auf, nimmt unsere Tassen und bringt sie in die Küche. Ich treffe ihn auf dem Flur wieder und will mich eigentlich verabschieden, doch Bastian sieht mich nur ungläubig an.   „Nee, du fährst nirgendwo hin. Du siehst aus, als könntest du ne Portion Schlaf gebrauchen. Leg dich was hin. Ich brauch auch noch ein bisschen Ruhe.“   Eigentlich weiß ich nicht so wirklich, was ich davon halten soll, weil ich eigentlich gerne wieder zurück möchte... Konstantin ist bestimmt noch nicht wach, aber der Gedanke, ihn gerade jetzt alleine zu lassen, liegt mir doch quer im Magen. Allerdings weiß ich auch, dass ich in meinem Zustand jetzt wohl wirklich kein Auto fahren sollte. Und eine Bahn fährt garantiert nicht. Also gebe ich mich geschlagen und folge Bastian nach oben, kriege Herzklopfen, als wir Konstantins Zimmer passieren und ich will gerade ins Gästezimmer abbiegen, da packt Bastian mich am Arm und sieht mich böse an.   „Noah, bei aller Liebe... wenn du mit dem Scheiß nicht aufhörst, dann trete ich deinen Arsch nach Afrika. Lass den Quatsch und komm her.“   Wir gehen in sein altes Zimmer, das inzwischen wahnsinnig leer und unbewohnt aussieht. Die meisten Möbel hat er hier gelassen, so auch das Bett, in dem ich unzählige Male geschlafen habe. Es ist unordentlich, wofür ich mich ziemlich schuldig fühle. Ich hab ihn immerhin geweckt und dann hatte er nur eine halbe Stunde Zeit, um sich halbwegs präsentabel zu machen, Oskar ruhig zu stellen und dann wach genug zu sein, um mit mir zu reden. Lediglich das kleine Nachtlicht auf seinem Nachttisch brennt. Ich glaube, es gibt immer noch viel, über das wir reden sollten und ich fürchte, dass ich ihm nicht alles gesagt habe, was ich noch gerne sagen würde, damit er weiß, wie sehr ich ihm alles hätte sagen wollen. Aber vielleicht ist es für den Moment in Ordnung so.   Trotzdem ist mir etwas unwohl, als Bastian die Tür schließt und anfängt, sich aus der Hose und dem Tshirt zu schälen. Das ist nichts, womit ich jemals ein Problem gehabt hätte und wir beide haben uns durchaus schon nackt gesehen, jetzt kommt es mir allerdings falsch vor. Wenn Bastian irgendwas davon bemerkt, so kommentiert er es nicht sondern schlüpft direkt auf seine Seite des Bettes – die zum Fenster hin. Ich atme tief durch und entledige mich meiner Kleidung bis auf die Shorts. Bastian bricht in schallendes Gelächter aus und sieht mich mit weit aufgerissenen, amüsierten Augen an.   „Du siehst ziemlich schlimm misshandelt aus“, gluckst er und inspiziert die Knutschflecken und kleinen Kratzer, als ich neben ihm liege was mir sagenhaft unangenehm ist, „wusste gar nicht, dass der Giftzwerg seine Krallen ausfahren kann.“   „Basti...“, murre ich und zum ersten Mal ist es mir unglaublich peinlich, dass mein bester Freund die Spuren dessen sieht, was sonst im Bett mit meinen Partnern lief. In diesem Fall mit Konstantin.   „Entschuldige. Aber, tut mir leid, ein bisschen leiden hast du schon verdient. Hast du dir also selbst zuzuschreiben.“   „Ich hoffe du siehst davon ab, Konstantin so aufzuziehen.“   „Hey, ich hab ihn noch nicht mal damit aufgezogen, dass ich schon längst wusste, dass er mit Mädchen nichts anfangen kann. Und so gemein bin nicht einmal ich.“   Mir rutscht mein Herz in die Hose und ich bin schlagartig hellwach.   „Wie bitte?“   Bastian sieht mich entgeistert an.   „Hast du das etwa nicht gewusst?“   „Äh... nein? Ich meine, seine sexuelle Orientierung war ja nie Thema. Woher... wie kommst du darauf?“   „Naja, am Anfang war ich mir nicht sicher. Ich hab ja ewig noch gedacht, er hat was mit Hannah, aber so mit vierzehn, meine ich... keine Ahnung, irgendwie hatte ich da so ein Gefühl und später war es irgendwie eindeutig.“   „Aber er hat doch nie irgendwas angemerkt...?“   „Vielleicht funktionieren meine Antennen besser als deine. Dabei bin ich nicht mal schwul.“   „Du hast ja aber auch mit ihm unter einem Dach gelebt. Das ist Heimvorteil.“, verteidige ich mich und überlege trotzdem fieberhaft, ob es jemals einen Anlass gegeben hat, diese Vermutung aufzustellen und dann auch noch recht zu haben. Bastian ist mir manchmal ein wenig unheimlich, gleichzeitig spüre ich direkt wieder diese tiefe Verbundenheit und Achtung vor meinem besten Freund. Wenn man ihn lediglich aufs Äußere reduzieren und ihn nur oberflächlich kennen würde, würde man niemals vermuten, dass er eine wahnsinnig gute Menschenkenntnis hat und obendrein auch noch äußerst... naja, ich würde sagen, sensibel ist. Nicht im Bezug auf sich selbst, sondern auf andere. Das er viel mehr der stille Beobachter ist und sich viele Gedanken um seine Mitmenschen macht. Und ich weiß ganz genau, wie sehr er an Konstantin hängt.   „Das stimmt allerdings. Ich habe mal überlegt, ihn darauf anzusprechen, aber das war nie meine Baustelle. Naja, wie auch immer. Schlaf jetzt ein bisschen.“   Er knipst das Licht aus und dreht sich wie üblich auf den Bauch. Eine Sache, die er mit Konstantin gemein hat. Der schläft nämlich grundsätzlich auf dem Bauch, wenn er nicht gerade in meinen Armen einschläft. Ich strecke vorsichtig meine Hand nach seinem Arm aus und berühre ihn ganz zaghaft.   „Danke, Basti. Schlaf gut.“   „Jederzeit, Noah, jederzeit.“   Ich ziehe meine Hand wieder zurück, meinen Teil der zwei mal zwei Meter großen Decke über mich und schließe meine Augen. Neben meinem besten Freund einzuschlafen ist unglaublich entspannend und ein guter Start ins neue Jahr.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Wahnsinn, wie die Zeit vergeht. Das Gespräch mit Bastian ist jetzt schon ein halbes Jahr her. Naja, sieben Monate. Es ist Juli, Hochsommer, Konstantin möchte alles und jeden töten und ich viel zu spät dran, weil ich nicht der einzige bin, der heute zum Abiball der Realschule fährt. Gefühlt die halbe Stadt ist hier, also an der Schule, an der ich noch nicht angekommen bin, weil jede Ampel rot ist und nur Idioten unterwegs sind. Bastian hat mich schon mehrmals angerufen und gefragt, wo ich denn sei und ich habe jedes Mal geflucht, weil mir langsam der Geduldsfaden reißt.   Zum Abiball des Freundes zu spät kommen ist ja ungefähr so, wie den Jahrestag zu vergessen. Den haben wir zwar noch nicht, aber Abiball ist ja nun mal was Besonderes. Und ich bin extra zeitig los gefahren! Konstantin hat sich nicht gemeldet, aber der ist sicherlich selber gut beschäftigt. Soweit ich weiß, wird er das Programm des Abiballs gelegentlich mit Musik begleiten und den anschließenden richtigen Ball, mit tanzen und dergleichen, mit einem Walzer eröffnen. Trotzdem wird er ja im Bilde darüber sein, dass ich der einzige bin, der noch nicht da ist.   Weil mir so ein blöder BMW Fahrer gerade die Vorfahrt nimmt, hupe ich etwas ungehalten und gestikuliere mit den Händen, was eigentlich gar nicht meine Art ist. Wie so vieles nicht meine Art ist, seit ich mit Konstantin zusammen bin. Und das meine ich in keinster Weise negativ.   Mein Auto schleicht durch die Straßen der Stadt, jede rote Ampel wird verflucht, jeder andere Autofahrer sowieso und als ich an der Schule ankomme, geht die scheiß Parkplatzsuche los. Nichts ist frei. Bastian schreibt, ich solle bei ihnen parken und dann zur Schule laufen, was glücklicherweise nicht weit ist, aber viel Zeit frisst. Und ich nun definitiv zu spät bin: die Festlichkeiten haben bereits seit zehn Minuten angefangen. Scheiße!   Normalerweise sind es gerade mal zwei oder drei Minuten mit dem Auto bis zu Konstantins Haus. Noch nicht mal. Ich brauche weit über zehn Minuten und als ich endlich aus dem Auto aussteige, ist mir egal, ob ich schwitze oder nicht und renne los zur Schule. Das dauert weniger als zehn Minuten, die Leute, die am Eingang zwecks Kartenkontrolle abgestellt worden sind sehen mich überrascht an, weil ich genervt und völlig außer Atem bin.   Mein Handy piepst. Ich schalte es direkt schon mal auf lautlos, die Nachricht jedoch bringt mein Herz zum unangenehmen rasen: sie haben mit Konstantins Klasse angefangen, die Abiturzeugnisse auszugeben. Auch wenn ich generell gerne Fußball spiele, noch nie habe ich mich so sehr darüber gefreut, ein schneller Läufer zu sein. Und weil der Weg zur Aula ausgeschildert ist, finde ich diese auch sehr schnell und bemühe mich, keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, als ich mich rein schleiche. Zum Glück ist die Aula etwas abgedunkelt und nur die Bühne hell erleuchtet. Bastian hat mir geschrieben sie sitzen irgendwo in der sechsten Reihe von vorne... oh Gott, da sind sie! Lisa, Richard und Bastian sitzen gespannt irgendwo in der Mitte der aufgestellten Stühle und ich quetsche mich durch die schmalen Gänge aus Füßen und den nächsten Stühlen, bis ich auf dem freien, reservierten Platz neben Bastian Platz nehmen kann. Neben mir sitzt Kristina, Hannahs Mama, die ich leise begrüße. Sehr viel Beachtung schenkt sie mir nicht, weil ihre Tochter gerade aufgerufen wird.   Hannah trägt ein königsblaues, langes Kleid mit Neckholder-Trägern aus Spitze. Bis zur Taille ist das Kleid aus Spitze gefertigt, sie hat einen leichten Ausschnitt, der von einem passend zum Kleid blau-goldenen Collier geziert wird. Ihre roten Haare sind hochgesteckt, die Locken perfekt gestylt. Jede Wette, dass ihre Mama das gemacht hat. Die klatscht und jubelt am lautesten und ich beglückwünsche sie leise, Lisa, Richard und Bastian beugen sich auch etwas vor, um ihr stolze Blicke zu zuwerfen.   Konstantins beste Freundin kriegt einen Strauß Blumen in die Hand gedrückt und ihr Zeugnis, dann verschwindet sie wieder von der Bühne irgendwo hin. Ich weiß leider nicht, wo die ganzen Schüler sich aufhalten, so viel Platz ist in der Aula dann wohl doch nicht. Da Konstantins Nachname sehr weit am Ende der Liste steht, dauert es glücklicherweise noch eine Weile, bis er aufgerufen wird. Als er dann die Bühne betritt, setzt mein Herz aus.   Aus der sechsten Reihe sieht man jetzt nicht jedes kleinste Detail, aber mir ist, als würde er direkt vor mir stehen. Konstantin trägt einen dunkelblauen Anzug, gegen den er sich sehr lange gesträubt hat. Lisa ist mit ihm einkaufen gewesen, was er wahnsinnig peinlich und ich zugegeben sehr lustig fand. Da Lisa was von Mode versteht, hat sie keine wirklichen Diskussionen zugelassen und ich bin froh, dass Konstantin seine Drohung nicht wahr gemacht und in Shorts und Tshirt hier aufgekreuzt ist. Ein weißes Hemd hat er an, das ordentlich in seiner Hose steckt und ich erkenne eine blaue Krawatte mit irgendeinem Farbtupfenmuster. Aus der Entfernung erkenne ich das nun doch nicht so gut. Seine Haare hat er von Hannah gestylt bekommen, weil sie sich alle bei den Wagners getroffen haben. Der Anzug ist zwar nicht maßgeschneidert, sitzt aber figurbetont. Unter dem Jackett erkenne ich eine Weste, die er über dem Hemd trägt. Gott, er sieht zum Anbeißen aus. Während er sein Zeugnis entgegen nimmt und wir alle klatschen wie die Bekloppten, stößt Bastian mir plötzlich den Ellbogen in die Seite und lehnt sich zu mir rüber.   „Du sabberst.“, wispert er mir mit einem dreckigen Grinsen zu wofür ich mein Knie gegen seines stoße und das besiegelt die freche Neckerei.   Im übrigen sabbere ich nicht, aber, wow, ich werde meine diebische Freude daran haben, Konstantin aus jedem einzelnen Kleidungsstück herauszuschälen. Woran ich jetzt vielleicht besser nicht denken sollte.   Im Gegensatz zu allen anderen verlässt Konstantin die Bühne nicht, sondern setzt sich samt Zeugnis an ein Klavier, das etwas weiter hinten in einer Ecke der Bühne steht. Ich glaube, es stammt aus dem Musikraum und auch wenn ich weiß, dass er darauf genauso gut spielen wird wie auf seinem Flügel, so ist es doch klar, dass dieses Schulklavier auf keinen Fall mit Konstantins Flügel oder den Konzertflügeln, auf denen er spielt, mithalten kann. Bis er aber anfängt zu spielen, dauert es noch eine gefühlte Ewigkeit und es sind immer nur kleine Passagen, während Hinz und Kunz irgendwelche Reden halten, witzige Gags bringen oder sonstige Dinge aus dem Schulalltag oder den vergangenen Jahren einbringen. Ich höre nur mit einem halben Ohr zu, weil mein Blick wie gebannt auf Konstantin liegt, auf den ich so unendlich stolz bin.   Okay, das klingt ein bisschen seltsam. Aber ich bin schon stolz, weil er sich in diesem letzten halben Jahr wirklich ins Abi rein gekniet und einen sehr guten Abschluss gemacht hat. Er hat im Frühjahr die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule im Spaziergang bestanden und fängt zum Wintersemester an zu studieren. Den Führerschein hat er inzwischen auch gemacht und vor kurzem einen kleinen, netten Gebrauchtwagen gekauft. Und das alles während er im Abiprüfungsstress und einer Beziehung war. Also, in letzterer ist er natürlich immer noch und das lässt mich selig lächeln.   Seit sieben Monaten sind wir nun schon zusammen und mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Vielleicht, weil das alles mit ihm letztes Jahr im Sommer anfing. Da sind wir ja dann auch schon für eine gewisse Zeit zusammen gewesen, ehe es zu diesem unerfreulichen Erlebnis an Bastians Geburtstag kam. Unser Jahrestag ist jetzt aber trotzdem der erste Januar. Was soll ich sagen? Die Beziehung zu und mit Konstantin ist aufregend. Und obwohl ich ihn schon seit inzwischen achtzehn Jahren kenne – er ist letzten Monat volljährig geworden – so entdecke ich doch immer wieder Neues an ihm. Nein, das stimmt so nicht. Ich nehme ihn anders wahr. Sehe ihn mit anderen Augen (an). Früher ist er nur Bastians kleiner, irgendwie süßer Bruder gewesen, den man eigentlich den ganzen Tag hätte bekuscheln wollen, weil er einfach... keine Ahnung, er hatte etwas drolliges an sich und das klingt so verkehrt, dass ich mich fast ein bisschen selbst dafür schlagen möchte. Ich weiß aber auch nicht, wie ich das sonst beschreiben soll. Er ist nie einer dieser nervigen kleinen Geschwister deiner Freunde gewesen, sondern immer ein willkommener Teil der Familie. Und wenn ich zu Besuch kam und er dort herum turnte – als Kleinkind oder später als Teenager – dann ist es immer angenehm und witzig gewesen.   Bis ich ihn letztes Jahr, als das mit Frank und mir zu Ende ging, an diesem einen Tag plötzlich ganz anders gesehen habe. Als er mir die Tür geöffnet und mich mit großen Augen angesehen hat, weil ich vollkommen verheult war und jeden Moment wieder los geheult hätte. Ich bin so schnell wie möglich auf Bastians Zimmer gerannt, als ich für einen viel zu deutlichen Moment dachte: Wow, Konstantin ist ein hübscher Junge. Ich würde gerne diese Lippen küssen. Daran ist alles so verkehrt gewesen, wie es nur verkehrt gewesen sein konnte und ich habe den Teufel getan, weiter darüber nachzudenken. Aber jedes Mal, wenn Konstantin irgendwie ins Spiel kam, kamen diese völlig absurden und unangebrachten Gedanken zurück. Ich habe mich dagegen gewehrt, so gut es mir möglich war. Das musste ich schließlich, oder nicht? Schließlich ging es hier um den kleinen Bruder meines besten Freundes. Ich kenne Konstantin seit seiner Geburt, habe ihn quasi aufwachsen gesehen. Und er ist letztes Jahr ja gerade mal siebzehn geworden was noch viel zu nah an sechzehn dran ist und das war sowieso der absolute Supergau. Ich habe mich nie für jüngere interessiert. Frank ist zwei Jahre älter gewesen und die Geschichten aus meiner Jugend entweder gleich alt oder ein paar Jahre älter. Ich hatte und habe nie irgendwelche bedenklichen Fantasien gehabt.   Inzwischen kann ich mit Konstantin viel besser leben als noch letztes Jahr. Okay, ich gebe zu, manchmal schleichen sich diese Gedanken in meinen Kopf, dass ich einen ganz großen Fehler gemacht habe. Heute Morgen zum Beispiel.   Konstantin hat gerade seinen Abiball. Mein eigener ist inzwischen neun Jahre her, ich habe ein abgeschlossenes Sozialpädagogikstudium und stehe mitten im Berufsleben. Die Kids, mit denen ich arbeite, sind in Konstantins Alter oder jünger. Das ist mir heute sehr unangenehm um die Ohren geschlagen und hat mir wieder Kopfzerbrechen beschert. Deshalb habe ich mit Bastian telefonieren müssen, der das nicht nur wahnsinnig souverän, sondern auch sehr verständnisvoll mit mir besprochen hat.   Das er hier neben mir sitzt, ich wegen des knappen Raumangebotes seine Schulter an meiner spüre, beruhigt mich mehr als ich für möglich gehalten hätte. Ich bin unwahrscheinlich froh, dass die Sache zwischen uns geklärt ist und er kein Problem damit hat, dass ich mit seinem kleinen Bruder zusammen bin. Zwischen uns hat sich nichts geändert – außer, dass ich nun über Konstantin mit ihm rede, anstatt über Frank. Nicht, dass wir das oft tun, aber gelegentlich ist Rat beim großen Bruder deines Freundes einholen ganz hilfreich, wenn man mit seltsamen Verhaltensweisen konfrontiert wird. Die wiederum hat es in den letzten sieben Monaten durchaus gegeben und ich, das muss ich gestehen, bin daran vielleicht nicht immer ganz unschuldig gewesen.   Vor allem nicht an dieser völlig dämlichen Sache mit Frank nach Bastians Geburtstag. Das hätte niemals passieren dürfen und ich fühle mich heute noch genauso furchtbar wie letztes Jahr. Konstantin wütend und aufgebracht zu sehen, ist eine Sache. Aber den Schmerz und die bittere Enttäuschung, als er Frank bei mir gesehen hatte... das werde ich mir niemals verzeihen können. Nur lernen, irgendwie damit umzugehen. Genauso wie Konstantin. Das es schließlich nicht in der Neujahresnacht geklärt und alles gut zwischen uns war, ist uns in den Wochen danach nämlich noch um die Ohren geschlagen.   Glücklicherweise wird es mir erspart, weiter darüber nachzudenken oder es gar zu erörtern, denn die Zeugnisübergabe und das Programm hier wird beendet und der Rest auf die Sporthalle verlegt. Es ist ein Akt, all die Mütter, Väter, Freunde und andere Familienmitglieder aus der Aula zu kriegen und mindestens genauso ein Akt, die Schüler und Schülerinnen irgendwie zu sortieren. Dichtes Gedrängel, ungewollte Berührungen, aber irgendwann stehen Lisa, Richard, Bastian und ich draußen und Kristina ebenfalls. Hannah kommt gerade auf uns zu und umarmt ihre Mama stürmisch, drückt ihr das Zeugnis in die Hand und begrüßt dann auch mich mit einer erstaunlich kräftigen Umarmung und haucht mir links und rechts Küsschen auf die Wangen, die hinter mir ins Nichts verschwinden.   „Konsti müsste eigentlich auch gleich hier sein“, meint sie nachdenklich und reckt den Kopf, ehe sie einen Arm plötzlich hoch reißt und hektisch winkt, „hier drüben!“   Und tatsächlich, da ist er. Mein Freund. Wahnsinn, sieht der gut aus. Und immer besser, je näher er kommt. Er hält sein Zeugnis ganz lässig in der linken Hand und sieht erst zu seinen Eltern, die er stolz anlächelt, dann zu Bastian, bei dem er ein klein bisschen weniger enthusiastisch drein blickt und als er mich bemerkt, wandern seine Augen über meinen Körper, von Kopf bis Fuß und schließlich zu meinem Gesicht. Seine Wangen haben eine gesunde Rötung angenommen und als er bei uns stehen bleibt, umarmt er zunächst Kristina, weil die ihn sofort in eine feste Umarmung zieht.   „Oh Gott, Konsti, ich hab dich Ewigkeiten kein Klavier mehr spielen gehört. Hannah behält immer alles für sich.“   Hannah schnaubt empört.   „Weil du ja immer alles versehentlich verlegst!“   Lisa und Richard lachen leise und mir fällt der liebende Ausdruck in ihren Augen auf, mit denen sie Konstantin betrachten. Der kriegt von seinen Eltern auch nochmal eine Umarmung, wobei Lisa ihn etwas länger festhält als Richard. Bastian entreißt ihm das Zeugnis und beäugt es äußerst kritisch.   „Zehn Punkte in Mathe? Damit hast du dein Abi bestanden?“   Oh weh... Konstantin schnappt hörbar nach Luft und will nach seinem Zeugnis greifen, doch Bastian hält es hoch und somit aus seiner Reichweite, während er weiter die Noten betrachtet.   „Biologie fünfzehn... na, das wundert mich nicht.“   Mein Freund wird knallrot, Richard hustet, weil er sich wohl verschluckt hat und Lisa haut ihrem ältesten Sohn mit der Handtasche gegen den Oberarm. Ich suche Bastians Augen auf und deute ein kaum merkbares Kopfschütteln an. Daraufhin lässt er seinen Arm sinken und gibt Konstantin das Zeugnis zurück, der es lieber direkt an seine Eltern weiter reicht. Dann sieht Konstantin mich endlich richtig an und schenkt mir eins seiner kleinen, irgendwie schüchternen Lächeln. Ich glaube, er ist gerade im Begriff das Wort an mich zu richten, als jemand nach ihm ruft. Es ist eine der Lehrkräfte, ein, mit Verlaub, sehr alter Mann, der besser gestern in den Ruhestand gegangen wäre als morgen. Mir fällt Konstantins leicht hin und her gerissener Blick auf, den er zwischen mir und dem Lehrer schweifen lässt. Dann schenkt er mir ein gequältes Lächeln und wendet sich an den Lehrer, der ihn bittet, bei dem Transport des Klaviers zur Sporthalle anwesend zu sein. Wenig später verschwindet er auch schon mit dem Lehrer und, zugegeben, ein klein wenig gefrustet bin ich schon.   Wir haben heute noch kein einziges Wort miteinander gesprochen – abgesehen von den Nachrichten, die wir uns bezüglich der Zeit und des Ablaufes nochmal hin und her geschickt haben. Für mich ist das nicht unbedingt eine neue Erfahrung, in Bezug auf Konstantin aber schon. Es überrascht mich selbst ein wenig, aber sehr viel länger kann ich diesen neuen Gedanken auch nicht nachhängen. Hannah gibt das Signal, dass wir uns besser in Bewegung setzen, wobei sie ihre Mama ganz fest drückt.   „Lars bringt dich dann nach Hause?“, vergewissert Kristina sich und blickt ihre Tochter prüfend an, die liebevoll-genervt die Augen verdreht und ihrer Mama ein Küsschen ins Nichts auf die Wange drückt.   „Ja, Mama. Hab dich lieb. Danke für alles.“   Kristina verabschiedet sich von uns allen während Hannah sich bei mir unterhakt und dann zu Lisa und Richard schaut.   „Wollt ihr warten, bis Konstantin tanzt? Sein erster Tanz gehört im Übrigen mir. Aber vorher muss er noch ellenlang diesen blöden Walzer klimpern bevor die endlich die Musik anmachen.“   Bastian sieht ein klein wenig verwirrt aus, wie mir aus dem Augenwinkel bewusst wird und Lisa und Richard tauschen nachdenkliche Blicke aus ehe letzterer mich ansieht. Den kurzen Blick auf Hannah an meiner Seite kann er sich nicht verkneifen ehe er meine Augen wieder aufsucht.   „Wir werden euch dann auch mal alleine lassen. Brunch ist morgen um elf Uhr.“   Richard und ich sind eigentlich immer prima miteinander ausgekommen. Okay, das tun wir immer noch, aber manchmal, so wie gerade, sieht er mich an, als würde er mich am liebsten am Kragen packen und auf einen Millimeter an sich ran ziehen um mir böse Worte an den Kopf zu knallen. Nein, auch das ist übertrieben. Ich kann es nicht richtig beschreiben. Seit der Silvesternacht ist unser Verhältnis zueinander... anders. Nicht schlecht-anders, aber ich mache mir keine Illusionen darüber, dass er mir nicht jeden Knochen brechen wird, würde ich mir bei Konstantin irgendwas zu Schulden kommen lassen. Das ich das nicht vorhabe, habe ich ihm schon in jener Nacht beteuert, als er mich anrief und drohte, dass er mich eigenhändig in den Garten schleifen würde, würde ich nicht meinen verdammten Arsch zu ihnen schwingen. Ja, das hat er so gesagt.   Er und Lisa verabschieden sich von Hannah und mir und Bastian will sich dem gerade anschließen, als Hannah ihn völlig entgeistert anstiert und rechtzeitig am Ärmel seines schwarzen Hemdes festhält.   „Ja, weißt du, es gibt da so ein kleines Problem...“, fängt sie an und hakt sich nun auch bei ihm unter, so das sie in der Mitte zwischen uns ist, „Maxi hat nämlich niemanden für den Ball und da Charlotte ja auf einem Mädelstrip ist...“   Nicht nur Bastian fällt alles aus dem Gesicht, auch ich bin nicht schlecht überrascht über diese Offenbarung. Charlotte ist übrigens Bastians Freundin, die er im Februar kennen gelernt hat. Ob es was langfristiges ist? Keine Ahnung. Die beiden sind auf jeden Fall verliebt und Bastian, der sonst mit Gefühlen eher zurückhaltender ist, zeigt doch deutlich, dass ihm was an Charlotte liegt. Auch wenn die gerade irgendwo in den Bergen ein Spa Wochenende mit ihren Mädels macht, während Bastian auf dem Abiball seines kleinen Bruders tanzen darf. Wohl im wahrsten Sinne des Wortes. Wohl zum ersten Mal in seinem Leben sieht er sich nach seinen Eltern um, die sich bereits aus dem Staub gemacht haben. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich kein Mitleid mit meinem besten Freund, den ich über Hannahs Kopf hinweg frech angrinse.   „Auf keinen Fall tanze ich auf irgendeinen Abiball mit irgendeinem Typen!“, wehrt Bastian sich, zugegeben, nur halbherzig, während Hannah uns beide mit erstaunlicher Kraft nach draußen auf das Außengelände mitzieht und Richtung Sporthalle führt.   „Es ist ja auch nicht irgendein Abiball, sondern der des Freundes deines besten Freundes, der zufälligerweise dein kleiner Bruder ist. Also der Freund, nicht der beste Freund. Du weißt schon. Und Maxi ist auch nicht irgendein Typ, sondern Teil der Großfamilie.“, befindet Hannah und ich muss mir wirklich ein Lachen verkneifen. Ich weiß, wieso sie Konstantins beste Freundin ist und bin darüber auch ziemlich froh. Sie ist ein wundervoller Mensch und ihre Art so erfrischend offen und herzlich, dass selbst Bastian ihr nichts abschlagen kann.   „Ich kann nicht tanzen!“, protestiert er dennoch versuchsweise und ich finde, dass ich mir als bester Freund raus nehmen darf, das zu widerlegen.   „Du tanzt hervorragend. Erinnerst du dich an den dreimonatigen Tanzkurs, den wir für unseren Abiball gemacht haben? Du bist ein Naturtalent.“   Ist er im Übrigen wirklich, aber davon will er wohl gerade nichts hören. Sein fassungsloser Blick ist Gold wert!   „Du bist so was von tot, Noah.“   „Ach, schaut mal, da ist er ja!“, freut Hannah sich, als wir dem riesigen Gebäude mit Glasdach und festlicher Dekoration näher kommen. Konstantin hat nicht gelogen als er sagte, dass der Abiball wie aus einem schlechten High School Hollywood Film gestaltet werden würde. Der Eingang der Sporthalle ist über und über mit kunterbunten Luftballons, Plakaten und weiß der Teufel was noch alles in Homecoming-Manier geschmückt. Dichte Massen drängeln sich am Eingang, aber Maxi ist tatsächlich nicht zu übersehen: er steht nämlich alleine, abseits der Masse und schaut auf sein Handy. Er trägt einen einfachen schwarzen Anzug, wobei er das Hemd weit aufgeknöpft hat und die schwarze Krawatte nur lässig umgebunden. Als er uns bemerkt, hellt sich seine Miene auf und das Handy verschwindet sofort in seine Hosentasche.   Auch Maxi wird von Hannah mit einer Umarmung und Küsschen ins Nichts begrüßt, mir gibt er die Hand und Bastian grinst er zugegeben ziemlich frech an.   „Danke, dass du dich bereit erklärst, mein heutiger Tanzpartner zu sein. Jules verbringt den Abend lieber mit irgendso einem Punk-Balg von der Gesamtschule, dieser elendige Verräter.“   Mir wird ein klein wenig unwohl als er Jules' Namen erwähnt. Konstantin erzählte mir vor... ich glaube ein, zwei Monaten, dass nach einer sehr intensiven Beziehung zu diesem gewissen Lex mit eben diesem nun wieder Schluss sei und Jules wieder genau dort, wo er zuvor auch schon war: in jedermanns Bett. Unter anderem auch damals in dem meines Ex-Freundes, was mir an dieser Stelle wieder mit einem unangenehmen Druck im Kopf bewusst wird. Aber das sind Dinge, über die ich mir jetzt keine Gedanken machen sollte oder gar brauche. Auf mich wartet ein Tanz mit meinem Freund. Unser erster Tanz, denn im Gegensatz zu all seinen Klassenkameraden hat Konstantin vorher nicht mit mir üben wollen. Auch Bastian hat sich seltsamerweise nicht darüber amüsiert, wie Konstantin wohl gelernt hat. Komisch.   Bastian schnaubt ungehalten.   „Ich bin zu alt für diesen Scheiß...“, murrt er nur noch halb protestierend während Hannah ihm mit einem Grinsen den Arm tätschelt.   „Du willst doch den armen Maxi nicht um einen unvergesslichen Tanz an seinem eigenen Abiball bringen!“   Ich weiß nicht, wer von uns zuerst lacht, aber irgendwann stimmt auch Bastian widerwillig ein, packt Maxi am Arm und flüstert ihm irgendwas zu, was für Hannah und mich wohl auf ewig ein Rätsel bleiben wird. Maxi weiß wohl nicht so recht, ob er strahlen oder grinsen soll. Von Konstantin weiß ich, dass Maxi nämlich... wie heißt es so schön? Er hat einen ziemlich heftigen Crush was Bastian betrifft. Und das zeigt er auch recht schamlos, was das ganze irgendwie amüsant, aber auch ein klein wenig merkwürdig macht. Bastian weiß das im Übrigen – und stört sich daran nicht, auch wenn diese Situation jetzt wohl doch ein klein wenig zu viel des Guten ist. Ich habe fast ein wenig Mitleid mit ihm, gleichzeitig kann ich nicht anders, als Bastian unbemerkt wahnsinnig glücklich zu mustern, während er mit Maxi ein Stück vor Hannah und mir geht, als wir die Sporthalle betreten.   Bastian ist der beste Freund, den man sich wünschen kann und Respekt, Wertschätzung und Toleranz würden ihn nicht einmal ansatzweise beschreiben. Es fühlt sich ein bisschen an wie damals, als ich ihm mein eigenes schwul sein gestanden habe. Okay, gestanden klingt doof. Ich habe es ihm ganz normal erzählt, nervös bin ich trotzdem gewesen. Und Bastian, dieser wunderbarer Mensch, hat genauso reagiert, wie er jetzt mit Maxi umgeht: vollkommen entspannt und locker, als wäre es das normalste auf der Welt.   Als wir die riesige Turnhalle schließlich betreten, ist diese bereits gut gefüllt. Vom Glasdach hängen abertausende bunte Luftballons, irgendwer hat sogar Lichterketten von A nach B gespannt, eine Discokugel von beachtlichem Ausmaß ist ebenfalls aufgetrieben worden. Die Vorhänge, die sonst die einzelnen Hallen voneinander trennen, sind nach oben gezogen um so eine einzige riesige Halle zu ergeben. Links oben in der Ecke sehe ich ein Klavier und ich meine, ich kann Konstantins Haarschopf ausmachen. In der rechten Ecke am anderen Ende der Halle steht ein langer Tisch mit Getränken und Fingerfood. Auf der durchgängigen Tribüne auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs haben nur vereinzelt ein paar Leute Platz genommen. Überall schillern junge Mädchen in festlichen Abendkleidern, manche schwindelerregend kurz, die meisten jedoch bodenlang. Die Jungs hier tragen fast ausnahmslos Anzüge, vereinzelt entdecke ich aber auch eine Jeans und sogar Chucks. Das könnte ich sein, wie ich mit einem heimlichen Lächeln feststelle. Zu meinem eigenen Abiball habe ich Skinnyjeans und zwei verschiedenfarbige Chucks getragen. Immerhin ein nettes Hemd mit chicen Jackett. Also ungefähr so wie jetzt, wobei ich dann doch die Chucks gegen ein Paar besserer Schuhe eingetauscht habe. Der Rest ist allerdings ähnlich wie damals. Ich bin einfach kein Anzugtyp.   Die Masse bildet nach und nach einen weiträumigen Kreis, bis ein Spotlight auf das Klavier und somit Konstantin und einem älteren Herrn fällt. Es ist der Schulleiter, der zum Abschluss der Zeugnisausgabe nochmal das Wort an die Gäste und Schüler gerichtet hatte. Mit einem Mikrofon in der Hand teilt er den frisch gebackenen Abiturienten mit, dass der Ball eröffnet wird und kündigt Konstantin mit hörbar dankbarer Stimme am Klavier an. Die Masse klatscht begeistert und ich bin nicht schlecht überrascht, johlende Rufe und begeistertes Pfeifen zu hören. Hannah strahlt mich überglücklich an: sie ist stolz, Konstantin ihren besten Freund zu nennen und mich an seiner Seite zu wissen. Ich muss zurück lächeln und als es still wird, entfernt sich der Schulleiter irgendwo zur Seite, man hört keinen einzigen Ton, als Konstantin sich an das Klavier setzt. Gebannt starre ich seinen Rücken an, wie gerade er da sitzt. Uns trennen mit Sicherheit um die fünfzig Meter und doch habe ich das Gefühl, als würde ich direkt neben ihm stehen. Ich kann regelrecht sehen, wie er tief einatmet, seine Augen sich auf die Klaviatur fokussieren und nach einer aufregenden Stille die ersten Klänge eines entspannten und doch lockeren Walzers die Halle erfüllen.   Keiner rührt sich, als würde jeder warten, dass ein anderer den Anfang machen wird.   Neben mir schnaubt Bastian ungehalten.   „Kinder.“, murrt er, verdreht die Augen und zieht einen verwirrten Maxi mit sich, der wohl nicht damit gerechnet hat, als erster auf der Tanzfläche zu erscheinen. Bastian bringt sie gekonnt in Position und führt Maxi so sicher und selbstbewusst, dass der nur brav der Führung Folge leisten kann. Hannah gibt neben mir ein leises Quietschen von sich und zückt ihr Handy aus einer kleinen Umhängetasche und schießt noch schnell ein Foto, ehe die nächsten Tanzpaare sich aufs Parkett trauen.   „Bastian ist ein mindestens genauso toller bester Freund wie Konsti.“, meint Hannah und schunkelt mich lieb an, einen Arm noch immer um meinen geschlungen. Sie schenkt mir ein strahlendes Lächeln, das ich nur erwidern kann.   „Darauf kann ich nicht unparteiisch antworten.“, gebe ich zurück und suche in der Masse nach Bastian, der alleine schon wegen seiner Größe im Vergleich zu all den jungen Abiturienten auffällt. Er ist der beste Freund, den ich mir vorstellen kann. Ich würde ihn niemals eintauschen wollen. Und manchmal kann ich mein Glück kaum fassen, weil ich Teil dieser wunderbaren Familie bin, die bereits seit meiner Kindheit zu und hinter mir steht und sich daran auch nichts geändert hat, seit ich mit dem jüngsten Sohn des Hauses eine intime Beziehung führe.   „Wir haben beide den jeweils für uns richtigen.“, lenkt sie schließlich großzügig ein und ich kann dem nur nickend zustimmen. Konstantin hat eine wunderbare beste Freundin, die ich an seiner Seite sehr schätze. Wo Konstantin zurückhaltend ist und manchmal unsicher, wie er manche Dinge angehen soll, spricht sie diese ohne Punkt und Komma an, wie er mir manchmal mitteilt. Das sie sich sorgt und kümmert, ist mir noch bewusster geworden, als sie mir dieses Video von Konstantin an seinem Flügel geschickt hat. Kommentiert hat sie die Nachricht mit Du bist so ein Trottel und ich schaue mir das Video heute noch an, wenn ich alleine bin. Das ich sowohl meinen besten Freund als auch meinen beziehungstechnischen Freund in derselben Familie habe... das macht vieles einfacher, manches vielleicht auch ein bisschen komplizierter, aber im Großen und Ganzen hat es für mich und alle anderen keinerlei nennenswerte Nachteile.   „Hannah!“, ruft uns plötzlich eine Stimme aus unserem stillen Betrachten der Szenerie und Hannah ist die erste, die den Kopf in die Richtung dreht, aus der sie angesprochen wurde. Ich kann es nicht sehen, weiß aber auch so, dass sich ihre Miene sofort noch mehr aufhellt als es überhaupt möglich wäre. Ihr Freund, Lars, kommt auf uns zu und trägt äußerst... seltsame Kleidung. Also, nicht seltsam, aber fast ein bisschen... Vintage, nennt man das wohl. Hannah löst sich von meinem Arm und tauscht einen Kuss mit ihrem Freund. Mir reicht er anschließend die Hand zur Begrüßung, mit der anderen hält er Hannahs, die er keine Sekunde loslässt.   „Du siehst wunderschön aus.“, komplimentiert er ihr Aussehen, was Hannah zart erröten lässt. Ich muss lächeln, weil die beiden ein sehr süßes Paar abgeben. Und ich die Liebe in den Augen von Hannahs Freund sehen kann. Es berührt mich und ich weiß nicht wirklich wieso. Dann richtet Lars den Blick auf die tanzende Menge und als er Maxi und Bastian irgendwo dazwischen ausmacht, wird sein Blick kurzzeitig finster.   „Ich kann nicht glauben, dass Jules Maxi wirklich abgesagt hat. So ein Idiot. Ich schwöre, dieser Typ macht mich derzeit wahnsinnig.“   „Hast du mit ihm reden können?“, erkundigt sich Hannah neugierig und gleichermaßen besorgt. Ich werde in dieses Gespräch nicht mit einbezogen, zuhören tue ich trotzdem – ohne dabei unanständig zu lauschen.   „Den Mund fusselig rede ich mir. Mann, es ist wie damals, als der ganze Scheiß anfing. Ich weiß echt nicht, was ich machen soll.“   „Verprügeln?“, schlägt Hannah schief grinsend vor, woraufhin Lars wütend schnaubt – aber garantiert nicht wegen Hannah.   „Glaub mir, wenn der sich nicht bald in den Griff kriegt, werde ich genau das tun. Zum Glück ist Maxi nicht verknallt, aber einen guten Freund so hängen zu lassen... Jules hat echt Nerven. Mann, ernsthaft, ich bin so sauer, ich könnt ihm echt eine reinschlagen. Lass uns bitte nicht mehr darüber reden.“   Ein Teil von mir fragt sich, was da wohl los ist. Konstantin erzählt wenn nur sehr oberflächlich von diesen Dingen, was für mich vollkommen in Ordnung ist. Es geht ja sowohl ihn als auch mich in erster Linie nichts an. Trotzdem denke ich darüber nach, was in diesem Jules, der mit meinem Ex gevögelt hat, vor sich geht. Da das aber nicht meine Baustelle ist, blende ich das junge Paar neben mir für eine Weile aus, beobachte das beinahe gleichmäßige Treiben der Masse und warte mit klopfendem Herzen auf Konstantin, als das Klavierspiel nach einer viel zu langen Weile verstummt und stattdessen normale Musik über eine große Musikanlage gespielt wird.   Bastian und Maxi sind noch vor Konstantin zurück und während mein bester Freund aussieht, als würde er irgendwen töten wollen, sieht Maxi fast ein wenig verzückt drein, als er Lars begrüßt. Ich habe jedoch nur Augen für Konstantin, der sich schließlich durch die Menge kämpft und ein wenig atemlos ist. In meinem Bauch kribbelt es angenehm. Er begrüßt Lars mit einer lockeren Umarmung und ich gehe davon aus, dass er Maxi bereits vorher getroffen hat, da er ihn nicht besonders begrüßt. Als er mich ansieht, schenkt er mir ein zaghaftes Lächeln. Bastian faselt irgendwas davon, dass er was zu trinken braucht und macht sich ansonsten kommentarlos vom Acker. Konstantin will gerade das Wort an mich richten, da drückt Hannah Lars auch schon ihre kleine Handtasche in die Hand und greift nach Konstantins Hand.   „Konsti Wagner, darf ich um diesen Tanz bitten?“   Sie wartet eine Antwort gar nicht ab und ich überlege, ob ich irgendwas nach Hannah werfen kann, habe aber bis auf meine Schlüssel, Geldbörse und Handy nichts dabei, was ich ansonsten entbehren könnte. Mein Freund sieht ein klein wenig gequält aus: ich sehe ihm an, dass er sich lieber mir zuwenden würde, dann nickt er aber ergeben und lässt sich von Hannah mitziehen, die dank ihrer hohen Schuhe nun noch ein Stück größer ist als sie ohnehin schon größer als er ist. Ich seufze leise. Es ist irgendwie angenehm spannend, Konstantin zu sehen, ihm beinahe nah sein zu können und dann doch nicht dazu zu kommen, eine kleine Zärtlichkeit oder mehr als eine Begrüßung miteinander zu wechseln. Das ich solche Gefühle nochmal haben würde...   Lars neben mir räuspert sich leise.   „Hannah ist eine total fiese Möpp.“   Ich grinse.   „Darfst du so was über deine Freundin sagen?“   „Das bleibt unter uns.“   Wir lachen gemeinsam und ich beschäftige mich lieber damit, Konstantin und Hannah zu beobachten. Ein kleiner Teil von mir denkt, dass die beiden gut zusammen aussehen. Das alles so viel einfacher und entspannter für uns alle gewesen wäre, wären sie das Paar und nicht Konstantin und ich. Hannah strahlt ihren besten Freund an, wie sie wohl auch Lars anstrahlt, das sehe ich auch aus der Entfernung und trotz all den anderen tanzenden Paaren. Mein Freund strahlt genauso zurück. Ich freue mich, dass er und Hannah sich genauso nah stehen wie Bastian und ich. Aber mehr noch freue ich mich, weil dieser junge, wahnsinnig hübsche Abiturient zu mir gehört. Das er später mit zu mir kommt und wir morgen zusammen zum Familienbrunch fahren.   Maxi seufzt theatralisch.   „Ich glaube, ich werde mich auch betrinken gehen. Falls wir uns nicht mehr sehen: genießt euren Abend!“   Lars verabschiedet sich zuerst von Maxi und drückt ihn kurz, aber nicht minder herzlich. Wir reichen uns die Hände, wobei ich mich dann doch wage, ihm mitfühlend die Schulter zu tätscheln. Er blitzt mich verschwörerisch an, dann winkt er uns zu und macht sich aus dem Staub. Kurz darauf kommen Konstantin und Hannah zurück, ersterer sieht aus, als hätte er gerade den Albtraum seines Lebens hinter sich, Hannah hingegen wirkt, als wäre ihr Lebenswunsch in Erfüllung gegangen. Sie gesellt sich schnell an Lars' Seite und gibt ihm einen zarten Kuss. Konstantin bleibt vor mir stehen, den Blick auf Hannah und Lars gerichtet.   „Pass auf deine Füße auf.“, grinst Konstantin Lars an und streckt Hannah frech die Zunge raus, die empört nach ihm schlägt.   „Du bist so eine fiese Bazille! Noah, Konsti ist ein wahnsinnig schlechter Tänzer. Total hoffnungslos!“, schießt sie zurück, doch das blitzen in ihren Augen straft sie Lügen. Und auch Konstantin sieht eher so aus, als würde er seine beste Freundin nur foppen wollen.   Lars sieht Hannah mit zusammengezogenen Augenbrauen an.   „Das wird schon schief gehen. Es ist eine gute Probe für meinen Abiball nächste Woche.“   Hannah stampft – ja, stampft – mit Lars davon, wirft Konstantin aber noch einen Luftkuss zu und tanzt kurz darauf eng umschlungen mit ihrem Freund. Das strahlen, das nun auf ihrem Gesicht zu sehen ist, ist so viel anders als das, das sie für Konstantin auf dem Gesicht trug. Und doch ähnlich. Alle Gedanken an andere Menschen verschwinden jedoch augenblicklich, als ich eine warme, zaghafte Hand an meiner spüre. Schlanke Finger, die sich mit meinen verschränken. Konstantins Hand ist im Vergleich zu meiner deutlich kleiner, doch das ist ein schönes Gefühl, ein schöner Unterschied, den ich lieben gelernt habe.   Endlich sehen wir uns richtig an und auf Konstantins blassrosa Lippen liegt ein beinahe schüchternes Lächeln. Er behauptet seit seinem Geburtstag, dass er gewachsen ist, aber um mich anzusehen, muss er den Kopf immer noch deutlich heben – und er reicht mir immer noch nur bis zur Brust. Auch etwas, das ich lieben gelernt habe: der Größenunterschied zwischen uns.   „Hi Noah.“, dringt seine eher hellere Stimme an meine Ohren und der Ausdruck in seinen grünlichen Augen macht mich nicht zum ersten Mal schwach.   „Hey Konstantin.“, grüße ich zurück und drücke seine Hand behutsam, aber nicht minder liebevoll. Ich lasse meinen Daumen über seinen Handrücken streichen und genieße einfach nur diesen kleinen, zärtlichen Moment zwischen uns. Konstantin ist nervös, das wusste ich schon vorher und spüre es nun ganz deutlich. Es ist wie eine feine Schwingung in der Luft.   An seiner Schule wissen – ganz bewusst und ganz sicher – nur Maxi und Hannah, dass er in einer Beziehung ist. Mit mir. Er hat irgendwann mal verlauten lassen, dass er glaubt, dass seine Mitschüler und Mitschülerinnen etwas ahnen, aber darauf angesprochen hat ihn niemand. Er ist auch, zum Glück, nie ins Visier irgendwelcher Anfeindungen gekommen. Ich bin mir sicher, dass Hannah jeden Aufstand sofort zerschlagen hätte, was mich ein klein wenig getröstet hat, weil ich weiß, wie furchtbar Teenager sein können. Und das meine ich wirklich nicht abwertend, auch wenn Konstantin ja nun volljährig ist!   Mein Freund hat in der Öffentlichkeit nämlich noch etwas Zeit gebraucht, bis er unsere Zugehörigkeit zeigen konnte. Es ist ihm nicht wirklich unangenehm gewesen, aber doch eine kleine Hürde, die er wohl nicht erwartet hatte. Seine sexuelle Orientierung und Beziehung zu mir vor Freunden und Familien offen zu legen ist ihm weitaus leichter gefallen, als bei einem Stadtbummel meine Hand zu halten. Das ist für mich vollkommen in Ordnung gewesen und nichts, worauf ich unbedingt gesteigerten Wert gelegt hätte. Also, klar möchte ich in der Öffentlichkeit auch seine Hand halten, aber mir wäre es im Traum nie eingefallen, ihn zu drängen oder deswegen gar Diskussionen mit ihm zu führen.   Das er nun meine Hand hält, ganz dicht bei mir steht und ich seinen ihm ganz eigenen süßen Duft nach Honig und Mandelmilch und Gemütlichkeit wahrnehme, macht mich unglaublich stolz. Es ist schön zu erleben, welche Schritte Konstantin seit letztem Jahr macht – fast so wie damals, als er laufen gelernt hat, woran ich jetzt gerade besser nicht denken sollte.   Konstantin lächelt eins dieser wunderschönen, zarten Lächeln, seine Hand drückt meine etwas fester, er stellt sich auf die Zehenspitzen und dann streifen seine Lippen ganz sachte meine, als ich ihm etwas entgegen komme, um die kleine Distanz zwischen uns zu überwinden. Ich spüre sein Lächeln an meinen Lippen, als er mich zaghaft, aber doch ganz bewusst und beabsichtigt küsst. Ich verwette mein Hemd darauf, dass mein Herz mindestens so schnell schlägt wie das seine, dabei sollte man annehmen, ich sei aus dem Alter von verrücktem Herzklopfen, Schmetterlingen im Bauch und Co raus. Dann wiederum: all das spielt keine Rolle, wenn man verliebt ist. Egal, wie alt man ist.   Der Kuss ist nur kurz, ohne Zungen, aber doch mit leicht geöffneten Lippen als Konstantin sanft an meiner unteren saugt. Dann löst er sich von mir, zumindest von meinen Lippen, sinkt zurück auf seine Füße und dieses Mal ist sein Lächeln so viel sicherer, selbstbewusster und lässt sein ganzes Gesicht strahlen. Wow. Wie hätte ich mich eigentlich nicht in ihn verlieben können?   Es bedarf keiner Worte zwischen uns, als er mich langsam, aber doch bewusst zwischen die anderen Tanzenden zieht und wieder ein klein wenig nervöser wird, als er sich dicht vor mich stellt. Die Musik spielt immer noch verschiedene Walzer und Konstantin hebt seine rechte und meine linke Hand in die Höhe, während sich seine linke Hand an meine rechte Schulter legt. Der beinahe schüchterne Ausdruck in seinen Augen macht mich fertig – im positiven Sinn. Meine rechte Hand gleitet unter seinem Arm hindurch an seinen Rücken, ich warte ein paar Takte, dann, nach einem stillen Signal seinerseits, führe ich ihn durch unseren ersten gemeinsamen Tanz.   Abseits eines Clubs wie dem Horizon. Abseits des nicht immer unschuldigen Tanzens dort. Der erste Walzer mit Konstantin.   Wo und wie auch immer er geübt hat: er tanzt wahnsinnig gut und bleibt ganz genau im Takt. Keine Bewegung zu viel, keine zu wenig und überhaupt nicht verkrampft oder steif. Als würde er die Takte der Musik selber vorgeben, sich von ihnen tragen, sich führen lassen. Sein Körper bewegt sich mit solcher Leichtigkeit, wie er sich manchmal beim Flügel spielen bewegt. Wenn er sich den Klängen entgegen lehnt.   Und die ganze Zeit über sieht er mir in die Augen, mit diesem liebenden und doch ein wenig ungläubigen, verwunderten Ausdruck in dem herrlichen grün. Wahnsinn. Ich könnte ihn nicht noch mehr lieben.   Unser Walzer findet ein jähes Ende, als die Musik plötzlich in irgendwas pop-rockiges umschlägt, die Discokugel sich schillernd dreht und knallbunte Lichtinstallationen die Turnhalle in eine Disco verwandelt. Die Meute grölt und aus den Walzern wird schnelles, freies tanzen. Konstantin sieht ein wenig überfordert aus, dann schlingt er in einer schnellen, fließenden Bewegung die Arme um meinen Hals und bringt unsere Lippen stürmisch zusammen. WOW!! Die Tanzenden um uns herum nehmen keine Notiz, zumindest nicht mehr, als sie sollten. Ein tanzendes Paar sieht uns entgeistert an und während das Mädchen kurz darauf einen fast träumerischen Ausdruck im Gesicht hat, sieht der dazugehörige Junge aus wie ein Kreidefelsen, als ich meine Zunge in Konstantins Mund tauchen lasse. Und den fremden Jungen dabei ansehe. Er dreht sich hastig weg und ich, schuldig in allen Anklagepunkten, fühle mich ein klein wenig verwegen.   Konstantins Kuss ist innig, seine Hände greifen in meinen Nacken und ich gestehe, dass wir meinetwegen jetzt gerne nach Hause könnten. Da es aber Konstantins Abiball ist und ich mich vielleicht ein wenig am Riemen reißen sollte, löse ich den Kuss bald und lege lieber meine Arme locker um ihn. Er sieht mich an, ein wenig schmollend, aber eher verzückt als verärgert.   „Okay, wir haben getanzt, uns geküsst... jetzt müssen wir nur noch etwas trinken, Smalltalk führen und dann ist der American-Homecoming-Abklatsch perfekt.“, befindet Konstantin und greift wieder nach meiner Hand, als ich meine Arme um ihn löse.   „Ich bin mir sicher, dass es da gar nicht so wie in den Hollywood-Filmen zugeht.“, gestehe ich nachdenklich und ernte ein entrüstetes schnauben meines jungen Freundes.   „Das kannst du einem frisch gebackenen Abiturienten doch nicht einfach so sagen!“   Wir müssen beide lachen, dann folge ich ihm zu dem Buffet, das sich fleißig dezimiert. So viele auch tanzen, so viele stehen hier an der langen Tafel und schlage sich die Bäuche voll oder trinken etwas. Wir gönnen uns beide jeweils ein Glas von dem Punsch, der uns von einer Lehrkraft gereicht wird. Während Konstantin die Alkoholversion trinkt, begnüge ich mich mit der alkoholfreien Variante. Wir beobachten die Masse eine Weile schweigend, bevor Bastian zu uns stößt. Konstantin wirkt ziemlich überrascht.   „Was machst du denn noch hier?“   „Jetzt nichts mehr. Ich gehe jetzt nach Hause.“, murrt er und mustert Konstantin von oben bis unten mit einem prüfenden Blick. Dann richten sich seine Augen auf mich.   „Wehe, ihr seid morgen zu spät. Und wehe, er hat einen Kater.“, ertrage ich geduldig Bastians Warnung und überlege, ob ich einen lockeren Spruch bringen soll, lasse es aber bleiben. Konstantin verdreht beinahe hörbar seine Augen und macht eine abwinkende Handbewegung in Richtung seines großen Bruders.   „Danke, du bist dann jetzt entlassen.“   „Mach nicht zu lange, Grottenolm.“   Konstantin grummelt irgendwas vor sich hin, während Bastian mich kurz umarmt und kameradschaftlich meinen Rücken klopft. Ich erwidere die Geste, wir nicken uns kurz zu, dann macht er sich auf und davon. Ich mache mir eine geistige Notiz, ihn morgen ein klein wenig zu loben für sein großes Herz, mit Maxi zu tanzen. Und ja, auch wir necken uns durchaus.   „Mann, das er ausgerechnet hier und heute so ne Laune schieben muss...“   „Er musste mit Maxi tanzen.“, gestehe ich und lache ein wenig über Konstantins völlig entgleisten Blick.   „Nein!?“   „Oh doch. Ein Bild für die Götter. Hannah hat ein Foto gemacht.“   Konstantin grinst von einem bis zum anderen Ohr und nippt an seinem Glas.   „Das geschieht ihm so was von recht.“   „Ausnahmsweise habe auch ich das ein klein wenig genossen.“   „Ahh, was bist du nur für ein fieser bester Freund!“   Oh, ich liebe es, wenn Konstantin sich ein klein wenig frech gibt. Dafür muss ich ihn kurz küssen, was ihn leise lachen lässt, seine Aufmerksamkeit sich aber bald auf Hannah und Lars richtet, die sich uns nähern. Maxi im Schlepptau.   Während wir gemeinsam ein Glas Punsch nach dem anderen trinken, ermahne ich mich ab einem gewissen Punkt, Konstantin nicht weiter trinken zu lassen. Nach dem sechsten Glas ist er zwar nicht betrunken, aber angeheitert genug, um ihm vom nächsten Glas besser abzuhalten. Die Abiballparty nimmt ausgelassene Züge an, es gibt genauso viele Tanzende wie umherstehende Grüppchen die essen, trinken, lachen oder einfach nur miteinander reden. Hier und da ein Pärchen, das sich küsst. Konstantin ist mit Hannah tanzen, während Lars, Maxi und ich am Rand stehen bleiben, bis wir doch auch irgendwann wieder tanzen und den Abend genießen.   - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -   Es ist nach Mitternacht, als wir uns auf den Heimweg machen: erst zu Konstantin nach Hause um mein Auto zu holen, dann zu mir nach Hause. Mein Freund ist fleißig dabei, mir von seinem Schulleben zu erzählen, dass er es komisch findet, nicht mehr täglich dorthin zu müssen und zum Wintersemester sein Studium beginnt. Als wir im Aufzug stehen hält er sich an der Wand fest, weil er ein klein bisschen schwankt. Das lässt ihn verwirrt drein schauen, als würde er sich wundern, woher das kommt. Ich muss lächeln, weil Konstantin irgendwie wahnsinnig süß ist, wenn er beschwipst ist.   Als ich die Haustür aufschließe und das Licht im Flur anmache, schält Konstantin sich beinahe sofort aus seinem Jackett und hängt es auf. Seine Schuhe wird er genauso schnell los, legt Schlüssel und Handy auf meinen Schuhschrank und knöpft auch die drei kleinen Knöpfe seiner Weste auf. Ich tue es ihm nach, werde Schuhe, Kleinkram – bis auf mein Handy – und Jackett los, schließe die Haustür ab und fahre mir mit den Händen ein wenig durch die Haare. Konstantin zieht nun auch die Weste aus, hängt sie zum Jackett und dreht sich dann zu mir um. Seine Wangen sind vom Alkohol ein wenig gerötet, aber seine Augen blicken wach und aufmerksam drein. Er lächelt, küsst mich kurz und geht in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu genehmigen. Ich beobachte ihn kurz dabei, dann gehe ich ins Schlafzimmer und bereite das Bett vor, falte die Tagesdecke ordentlich zusammen und lege sie weg, lasse die Jalousien herunter und ziehe die Vorhänge zu, nachdem ich das Fenster ganz geöffnet habe. Es ist nicht ganz kühl in meinem Zimmer, aber wenigstens auch nicht trotz Hochsommer zu warm. Nicht, dass das irgendeine Rolle spielen wird.   Mit dem Handy in der Hand setze ich mich auf die Bettkante und schicke eine Nachricht an Bastian, dass wir daheim sind und Konstantin nicht betrunken. Es wundert mich nicht, als Bastian mir zurückschreibt. Ich muss ein wenig lächeln, weil er so viel mehr der große Bruder ist, als er jemals vor allem vor Konstantin zugeben würde. Das Konstantin die Küche verlassen hat und stattdessen ins Schlafzimmer kommt, nehme ich erst wirklich wahr, als er mir das Handy wegnimmt und vorsichtig auf den Boden ablegt und mit dem Fuß wegschiebt. Dann stellt er sich zwischen meine Beine, nimmt meine Hände und legt sie an seine Hüften. Ich verkneife mir ein Lachen, wirklich, weil ich merke, wie er ein klein wenig schwankt.   „Lach nicht.“, mahnt er mich, weil er mich inzwischen gut genug kennt.   „Niemals. Mhh, herzlichen Glückwunsch Konstantin. Das habe ich dir noch gar nicht gesagt.“   Er lächelt, als sich seine Hände an meinen Schultern abstützen und er sich rittlings auf meinen Schoß setzt. Vom ersten Mal an, als wir das erste Mal letzten Sommer miteinander intim geworden sind, setzt er sich bevorzugt auf meinen Schoß. Und, da bin ich ehrlich: mir würde es im Traum nicht einfallen, auch nur im Geringsten dagegen zu protestieren. Das ist etwas, das ich erst mit Konstantin erfahren habe: das ich es mag, es genieße, wenn er so auf mir sitzt. Seine Arme haben sich locker um meine Schultern gelegt, ich verschränke meine Hände hinter seinem Rücken.   „Danke. Auch für unseren ersten gemeinsamen Walzer. Den ich nie wieder tanzen werde. Oder, vielleicht nur noch einmal, wenn ich mein Studium beendet habe.“, sinniert er und legt den Kopf für einen Moment in den Nacken. Ich würde gerne seinen Hals küssen, den er da so perfekt anbietet, aber seine Krawatte und das Hemd sind immer noch ordentlich an Ort und Stelle, so das ich sowohl das eine, als auch das andere erst aus dem Weg schaffen müsste.   „Sagst du mir jetzt, wo und wie du gelernt hast?“, erkundige ich mich nicht zum ersten Mal. Konstantin sieht mich sofort wieder an und die Röte in seinem Gesicht verdunkelt sich. Er beißt sich auf die Unterlippe, weicht meinem Blick aus, dreht den Kopf etwas zur Seite, seine Hände wuseln nachdenklich über meinen Nacken, meine Schultern... er macht es mir wirklich nicht leicht.   Nach einer Ewigkeit seufzt er und senkt den Blick irgendwo auf die Knopfleiste meines Hemdes.   „Bastian.“   Okay, ich gebe zu: ich bin ehrlich überrascht. Und ein klein wenig ungläubig, weil ich mir relativ sicher bin, dass Konstantin ihn niemals nie deswegen gefragt haben kann. Verwirrt suche ich seinen Blick auf.   „Bastian?“   Konstantin nickt, sieht mich an und grinst dann.   „Er hat gesagt, dass er sich in Grund und Boden schämen würde, wenn ich keinen ordentlichen Walzer mit dir auf die Kette kriegen würde. Also hat er es mir selbst beigebracht.“   Ich muss lachen, weil der Gedanke so aberwitzig und gleichzeitig so komisch ist, dass ich mir es leibhaftig vorstellen kann. Konstantin boxt mir empört gegen die Schulter.   „Du sollst nicht lachen!“   „Entschuldige, aber das ist... Basti hat wirklich...“, gluckse ich und reibe mir mit einer Hand den Augenwinkel, weil sich da Lachtränen bilden. Konstantin schaut mich bitterböse an. Naja, er versucht es zumindest. Ich gebe ihm lieber schnell einen Kuss, den er zwar zulässt, aber widerwillig dabei murrt.   „Das ist überhaupt nicht komisch. Er hat mich andauernd angemeckert und mir fast die Schultergelenke ausgekugelt, weil er nur an mir herum gezerrt hat. Und er hat mich schwören lassen, es dir nicht zu sagen.“, grinst er zum Schluss hin und streicht über den Kragen meines Hemdes, den er behutsam glatt streicht – unnötiger weise.   „Was ja wunderbar funktioniert hat.“   „Du wirst es ihm nicht erzählen, oder?“   „Nicht, wenn du mich jetzt küsst.“   Eine weitere neue Erfahrung für mich: von Konstantin geküsst werden wollen. Das möchte ich natürlich gerne und so oft wie möglich. Aber manchmal, das muss ich gestehen, sage ich ihm das auch ganz deutlich, weil ich es wirklich brauche. Weil ich mich manchmal nach ihm sehne, verzehre und den Moment nicht abwarten kann, wenn wir uns endlich wiedersehen. Beispielsweise nach einer langen Woche in der ich Spätdienst hatte und Konstantin nur mit lernen für seine Prüfungen beschäftigt war. Ihn dann endlich wiederzusehen...   Konstantin lächelt, stößt seinen Atem aus, als würde er nach einer ewig langen Diskussion endlich großzügig einlenken, seine Hände wandern in meinen Nacken und das nächste Mal, als sich unsere Lippen treffen, geschieht das äußerst forsch, wild und mit ganz und gar nicht untätigen Händen. Mein Freund lässt seine Augen zufallen und ich genieße einen Moment den Anblick seines hübschen Gesichtes, seiner langen Wimpern, die sachte auf seiner Haut ruhen. Dann schließe auch ich meine Augen und genieße den Kuss, die wachsende Leidenschaft zwischen uns und befreie Konstantin erst einmal von der Krawatte. Zeitgleich beginnen unsere Finger, die Knöpfe des Hemdes des jeweils anderen zu öffnen, ertasten erste Stücke Haut. Konstantins Haut ist warm und weich, ich spüre sein Herz an meiner Hand schlagen, als ich sie auf seine glatte Brust lege. Er ist schneller im loswerden von Kleidung als ich, denn während er mir gerade mein Hemd auszieht und es zu seiner Krawatte auf den Boden schmeißt, ist sein Hemd immer noch nur bis zu seinem Bauch aufgeknöpft.   Seine Hände wandern über meine Seiten, meine Brust, meine Arme und Schultern, in mein Haar, meinen Nacken, legen sich an mein Gesicht. Er bewegt sich mit langsamen, genüsslichen Zügen auf meinem Schoß, presst sich näher an mich und stöhnt leise in den Kuss, als sich seine Erektion durch den dünnen Stoff seiner Anzugshose hart und unmissverständlich gegen meinen Bauch drückt. Oh, wow, ich will ihn jetzt und sofort. Konstantin scheinbar auch, denn er fängt an, sich mit intensiven Bewegungen seiner Hüfte an mir zu reiben, stöhnt in den Kuss, den er beendet und seinen Kopf an meine Schulter lehnt. Sein Atem geht schwer, meiner auch.   „Oh, fuck, Noah...“, bringt er mit tonloser Stimme hervor, greift nach einer meiner Hände und führt sie zwischen seine Beine. Wahnsinn, geht mir einer ab. Er bewegt sich meiner Hand entgegen, als ich sie aufreizend über den gespannten Stoff streichen lasse. Dann habe ich genug und sehe lieber zu, ihm fahrig aus dem Hemd zu helfen, seinen Hals und Schultern zu küssen, meine Hände über seinen Oberkörper wandern zu lassen. Konstantin schnauft protestierend, weil ich ihm somit meine Hand in seinem Schritt entziehe, aber irgendwann hätte ich das ja so oder so tun müssen, damit ich ihm aus seiner Hose helfen kann. Und ich muss auch dringend aus meiner raus, weil es allmählich unbequem und zu eng wird.   Konstantin scheint das ganze wohl nicht schnell genug zu gehen, er steht auf und sieht mich mit lustvollen Augen an, während er sich von dem Rest seiner Kleidung befreit. Ich will aus dem kläglichen Rest meiner Kleidung genauso schnell raus, muss Konstantin aber erst einmal anstarren. Ich kenne seinen Körper inzwischen so gut und trotzdem nimmt er mich jedes Mal genauso in Bann wie am Anfang. Wo ich dank Fußball und Sport generell deutlich muskulöser gebaut bin, ist Konstantin schlank und weich. Sein Bauch ist flach, seine Hüftknochen stehen minimal hervor. Er ist nicht zu dünn, aber generell von vielleicht etwas zierlicherer Statur, im Gegensatz zu seinem Bruder, der locker drei Köpfe größer ist. Vielleicht sogar vier. Mein Blick wandert über seine Brust, die sich ob seines tiefen Atmens deutlich hebt und senkt, hinab zu seinem Bauchnabel. Etwas weiter unterhalb verfolgen meine Augen den schmalen Streifen dunklen Haares, der mir aufgeregtes Magenkribbeln beschert. Von allem anderen, was ich da noch sehe, mal ganz zu schweigen. Auch das ist ein deutlicher Unterschied zwischen uns: Körperbehaarung. Konstantins Körper produziert dahingehend nicht mehr als er für nötig erachtet, aber das, was da ist, entfernt er nicht obschon er sicherlich hier und da ein wenig für eine ordentliche Form sorgt. Es stört mich nicht im Geringsten.   „Willst du mich nur anschauen?“, vernehme ich seine Stimme halb belustigt, halb gequält und ich fühle mich tatsächlich ein wenig aus meinen Gedanken gerissen, als ich den Blick wieder hebe und seine Augen aufsuche. Er sieht mich an, beißt sich leicht auf die Unterlippe und, fuck, ich bin tatsächlich fertig mit schauen. Vorerst. Meine Hände schlängeln sich über seine Seiten an seine Hüften, ich ziehe ihn näher und küsse seinen süßen Bauch, genieße seine Hände, die sich sofort an meinen Kopf legen. Ein Schaudern geht durch seine Beine, als ich meine Hände an seinen Hintern schiebe und meine Lippen seine Erektion streifen. Er seufzt leise und sehnsüchtig, eine seiner Hände krallt sich in mein Haar. Ich krieg zu viel.   Von ihm ablassend, schiebe ich ihn ein kleines Stück weg damit ich aufstehen kann. Konstantin sieht mich atemlos an, während ich mich fahrig von dem kümmerlichen Rest meiner Kleidung befreie und mich gleich nicht mehr so eingequetscht fühle. Die Augen meines Freundes wandern an meinem Körper herab, bleiben an meiner Körpermitte hängen, dann sieht er mich wieder an. Dieser Moment zwischen uns, in dem wir uns nackt gegenüberstehen, dauert gefühlt eine Ewigkeit an. Manchmal, da kann ich nicht glauben, dass wir tatsächlich eine Beziehung führen. Das wir inzwischen seit über einem halben Jahr miteinander intim sind. Wenn man letztes Jahr mitzählt, irgendwie so ein Jahr. Etwas weniger. Und obwohl wir uns in den ganzen vergangenen Monaten besser kennen gelernt haben, den jeweils anderen Körper und dessen Bedürfnisse inzwischen mehr verstehen, ist es doch jedes Mal aufs Neue aufregend und... neu.   Konstantin greift nach einer meiner Hände, stellt sich dicht zu mir, ich spüre seine Erregung, die sich gegen meine drückt. Die Hitze zwischen uns lässt mich scharf die Luft einziehen. Ich will ihn so sehr, dass es mich schier wahnsinnig macht. Und das ist mir, gelegentlich, ein klein wenig unangenehm weil ich doch manchmal denke, dass ich Konstantin nicht auf diese oder jede anders erdenkliche Art begehren sollte.   Glücklicherweise kommt dieser Gedanke nicht mehr so häufig auf, wie noch letztes Jahr. Oder Anfang des Jahres. Und jetzt gerade verpufft er wie von selbst, weil Konstantin sich von mir löst und stattdessen rückwärts aufs Bett krabbelt. Er sieht mich an, während ich jede seiner Bewegungen mit Argusaugen verfolge. Das Lächeln auf seinen Lippen wird etwas verruchter, als sein Blick erneut über meinen Körper wandert.   Okay, die Schonfrist ist vorbei. Nicht, dass es die jemals gegeben hätte. Ich bin schnell bei Konstantin und wer hier wen festhält, darüber mag ich mich nicht auslassen. Wir streicheln und greifen aneinander rum, küssen uns wild und leidenschaftlich und lang und heftig atmend. Konstantin gibt die schönsten Laute von sich, die angenehm in meinen Ohren klingeln.   Er schlingt Arme und Beine um mich, als wir schließlich miteinander schlafen.   Sex mit Konstantin ist etwas ganz Besonderes – jedes Mal. Wo er am Anfang noch so unerfahren und sicherlich gehemmt war, sagt und zeigt er mir inzwischen doch deutlich, was er gerne mag. Oder wenn er etwas Neues ausprobieren möchte. Okay, er ist zuweilen sicherlich noch schüchtern und hält viele Dinge auch noch beinahe wie gewohnt erst einmal eine ganze Weile hinterm Berg. Aber es ist nicht mehr so wie am Anfang und ich freue mich immer wieder für Konstantin, weil er doch spürbar an Sicherheit in unserer Beziehung gewinnt.   Unsere Küsse werden gieriger, immer wieder unterbrochen von keuchen und stöhnen beiderseits, von Konstantins Stimme, die meinen Namen mal nur wispert, dann lustvoll über die Lippen bringt. Ich genieße das Gefühl unserer Körper, die Bewegung, die bei jedem Stoß durch seinen Körper geht. Die Hitze seiner Haut, die sich mit meiner vermischt.   Seine Arme lösen sich um mich, strecken sich über seinen Kopf, die Hände greifen in die Kissen während er sich auf die Unterlippe beißt, nur um seiner Lust dann doch wieder eine Stimme zu verleihen. Gott, er ist so wahnsinnig schön. Gott, wie sehr er mich erregt. Eine seiner Hände schlängelt sich zwischen unsere Körper und als mir bewusst wird, was er vorhat, möchte ich am liebsten vor Lust und Liebe vergehen. Wo Konstantins Augen eben noch geschlossen waren, öffnet er diese nun und sieht mich an, die Lippen leicht geöffnet, während er sich selbst berührt. Ich krieg zu viel. Während ich mich mit einer Hand abstütze, suche ich mit der anderen nach seiner verbliebenen freien Hand, verschränke unsere Finger und halte sie ganz fest. Konstantins Atem beschleunigt sich, ich spüre ein leichtes zucken in seinen Beinen um mich und ein angenehmes, anschwellendes Kribbeln in meinem Unterleib.   Konstantins Stimme überschlägt sich fast, als er immer wieder meinen Namen flüstert, bis er zuletzt nur noch stockend über seine Lippen kommt, ein kleines, englisches Fluchwort sich irgendwo dazwischen mischt und er den Kopf in den Nacken legt, als er schließlich kommt. Sein Körper spannt sich an, während sein Unterleib dem meinen entgegen kommt, er den Rücken ein wenig durchbiegt und seine Hand meine fast schmerzhaft umklammert. Während Konstantin seinen eigenen Orgasmus bereits genießt, folge ich ihm etwas später und lege meine Lippen an seinen Hals, küsse und sauge an der weichen Haut um meine Stimme irgendwie zu ersticken.   Seine Hand bewegt sich nur noch langsam und entspannt zwischen uns, unregelmäßiger, dann schlingt er den Arm um mich, drückt mich an sich und ich gestatte es mir, Konstantin für einen Moment mein Gewicht tragen zu lassen. Dann löse ich mich von ihm, gebe ihn frei und uns beide den Moment der Ruhe, während wir nebeneinander auf dem Rücken liegen, die Decke anstarren und versuchen, unseren Atem zu normalisieren. Konstantin kommt vor mir zur Ruhe und ich spüre, wie sich tiefe Entspannung in ihm breit macht, als er sich an meine Seite schmiegt und den oberen Arm um mich legt. Seine Hand streichelt träge über meine Brust. Das Gefühl seines heißen, verschwitzten Körpers an meiner Seite lässt mich entrückt lächeln und ich gestatte es mir, für eine Weile die Augen zu schließen und das Nachgefühl meines Höhepunktes zu genießen.   Als mein Herz auch endlich wieder gemächlich vor sich hin schlägt, lege ich den Arm um Konstantin, streichle über seine Seite, seinen Rücken, die schmale Schulterpartie. Er seufzt zufrieden und reibt seinen Kopf an meine Schulter, auf der er halb liegt. Wir schweigen eine ganze Weile, lauschen dem Atem des anderen, genießen die Wärme und Nähe zwischen uns. Dann hebt Konstantin den Kopf und sieht mich nachdenklich an. Sein Haar ist zerzaust und ich finde, es könnte nicht besser aussehen. Die Spuren der Nähe zwischen uns sind etwas, das ich gerne sehe.   „Heute vor einem Jahr war ich noch bis über beide Ohren in dich verknallt.“, sinniert er plötzlich und ich merke, wie meine Augenbrauen von ganz alleine gen Norden wandern.   „War?“   „Also, hoffnungslos“, fügt er mit einem kleinen Grinsen hinzu, das ihm ganz ausgezeichnet steht, „und ohne dein Wissen.“   Ich verschränke meinen anderen Arm hinter meinen Kopf und lasse meinen Blick über Konstantins Gesicht gleiten. Seine Lippen sind vom lauter küssen ganz rot, was wahnsinnig gut aussieht.   „Ich hatte keine Ahnung, wie ich es dir jemals sagen sollte, weißt du das? Und Hannah war mir nur bedingt eine Hilfe.“   „Die arme Hannah tut mir echt ein bisschen leid, dass sie sich das so lange hat geben müssen.“   Konstantin zwickt mir in die Brust, was leider nicht sehr angenehm ist. Ich fluche leise und reibe mir mit der freien Hand nun doch die unangenehm wunde Stelle.   „Rede nicht so darüber! Sie hat mir in all den Jahren beigestanden und sich nie beschwert. Und sonderlich unglücklich bist du ja auch nicht darüber, oder?“   Ahh, Konstantin ist wahnsinnig süß wenn er schmollt. Das ist ja auch so eine Sache... ihn süß finden. Ich finde kleine Kätzchen süß und Oskar, diesen treulos doofen Hund, aber genauso süß – anders süß – finde ich auch Konstantin. Ich schlinge meine Arme um Konstantin und drehe mich auf die Seite, damit ich ihn ganz entspannt anschauen kann, ohne das es einer von uns unbequem hat. Seine Hände ruhen sachte an meiner Brust, während er mich mit großen Augen mustert.   „Wie könnte ich darüber unglücklich sein? Obwohl ich manchmal nicht wusste, ob ich nicht doch besser den Kontakt zu dir vermeiden sollte oder nicht.“, gebe ich zu und erinnere mich an den Sommer im letzten Jahr, an Konstantins ersten, plötzlichen Kuss in meinem Auto. Er hatte etwas von süßer Verzweiflung und ja, ich gebe zu, im ersten Moment ist da ein kleines Feuerwerk in mir explodiert, als ich seine zarten Lippen auf meinen spürte. Es war ein Kuss ohne Zunge, ein unschuldiger Kontakt unserer Lippen und doch hatte ich mir schon da gewünscht, seinen Mund schmecken zu können. Bevor ich hatte reagieren können, war er auch schon aus meinem Auto geflüchtet.   Konstantin sieht mich mit großen Augen an, ein wenig ungläubig vielleicht, aber doch eher entrückt und das Lächeln auf seinen Lippen wird auch immer größer.   „Zum Glück hast du später dann nachgegeben. Das war wie ein Sechser im Lotto.“ Mein Freund schmiegt seinen Kopf an meine Brust, seine Arme schlängeln sich über und unter mir hindurch, ich spüre seine Hände an meinen Rücken, die mich ganz fest halten. Wenn er so wie jetzt in meinen Armen liegt, dann ist für mich alles in Ordnung. Dann bin ich mit der Welt wie sie ist im Einklang. Ich hätte niemals auch nur zu träumen gewagt, etwas mit Konstantin anzufangen. Aber als letztes Jahr irgendwie alles aus den Fugen geriet und Frank immer mehr in Vergessenheit... ich gebe zu, ich konnte mich Konstantins Charme nicht erwehren. Und das schlimme ist: er hat überhaupt keine Ahnung, welche Wirkung er hat! Auf mich. Aber irgendwie ist auch das wahnsinnig schön und spannend.   Ich halte ihn gleich etwas fester, küsse sein Haar und streichle sanft seinen Nacken. Er seufzt zufrieden und schiebt sein oberes Bein zwischen meine um noch mehr Körperkontakt zwischen uns herzustellen. Falls das überhaupt möglich ist. Eine meiner Hände wandert wie von selbst über seine Seite zu seiner Hüfte um ihn auch ja so nah bei mir zu halten.   Glück breitet sich in meinem Herzen aus, strahlt durch meinen Körper und erfüllt mich mit warmer, inniger Zuneigung für diesen hübschen, jungen Mann in meinen Armen.   Noch ein Kuss auf sein Haar.   „Ich liebe dich, Konstantin.“   Er hebt den Kopf etwas, damit er mich ansehen kann und ich schwöre, seine Augen strahlen mit den Sternen um die Wette. Das Lächeln auf seinen Lippen, das ich seit achtzehn Jahren kenne, entwaffnet mich heute noch genauso wie letztes Jahr. Wie jeden Tag aufs Neue.   „Noah“, wispert er und schließt halb die Augen, „ich liebe dich auch. So sehr.“   Seine Augen schließen sich gänzlich, als er mich küsst und ich tue es ihm gleich, halte ihn genauso fest wie er mich, spüre sein Herz an meiner Brust schlagen und muss in diesen süßen, liebenden Kuss lächeln.   Und ich weiß, dass es richtig ist. Das es mit Konstantin richtig ist.   * E N D E * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)