Irrgerpfade von ElCidIV (Aus der Schwarzes Herz Reihe) ================================================================================ Kapitel 1: Irrgerpfade ---------------------- Nach einigem Zögern setzte sich die Bahn wieder in Bewegung. Noah hasste Verzögerungen. Dabei wurden sämtliche Bahnen vom Hauptcomputer gesteuert. Draußen wurde es hell. Noah öffnete ihre Tasche und besah sich die dunkelblaue Querflöte. In wie vielen Städten sie damit schon gewesen war. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte die Flöte weit von sich schleudern. Und damit die mit dem Instrument verbundene Verantwortung, die auf ihr lastete. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder ein freies Leben zu führen. Ein Leben frei von Verpflichtungen und Regeln. Sie sah aus dem Fenster. Vor ihr erstreckte sich das weite Meer. Einzig und allein die Schienen befanden sich über dem Wasser, doch die sah sie innerhalb der Bahn nicht. Die langen Bahnfahrten über das Meer waren nicht das Schlimmste, aber sie waren lästig. Da tönte die Computeransage aus den Lautsprechern: „Nächster Halt – Frost.“ Tatsächlich war es spürbar kälter geworden, seit sie die letzte Haltestelle hinter sich gelassen hatte. Ob das nur ihr Empfinden oder tatsächlich so war, würde sie nicht so schnell erfahren, denn sie war derzeit der einzige Passagier. Das war oft der Fall, denn Noah war ein Irrger. Und ein Irrger ging immer zuletzt. Mittlerweile sah man bereits, wie sich eine schneebedeckte Insel näherte. Auch mal wieder etwas Neues. Schnee hatte sie schon lange nicht mehr erlebt. Zum Glück war ihre Kleidung für jedes Wetter geeignet. Die Bahn hielt quietschend am Haltesteg. „Ausstieg in Fahrtrichtung links.“, tönte die Computerstimme durch den Lautsprecher. Ein guter Witz. Wenn man sich nicht daran halten würde, fiele man ins eisige Wasser. Die Türen gingen auf. Eisiger Wind wehte herein. Da half auch die Heizung nichts. Noah stand auf und stieg aus der Bahn. Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Sie schob sich den Mantelkragen vors Gesicht, so dass nur noch ihre Augen darüber sichtbar waren. Derweil schloss die Bahn ihre Türen wieder und fuhr los. Noah blieb fröstelnd am Steg zurück. Schneefelder so weit das Auge reicht. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Noah das Dorf erreichte. Wenn man es überhaupt Dorf nennen konnte. Ein paar vereinzelte Holzhütten. Bei einigen von ihnen stieg Rauch aus dem Kamin. Andere waren wiederum schon so weit verfallen, dass sie unmöglich bewohnt sein konnten. Alles in allem schien es eine mehr als ärmliche Gegend zu sein. Noah seufzte. Ihre Vorräte waren bereits knapp. In letzter Zeit war sie mit ihrer Arbeit fast ausschließlich an arme Schlucker geraten. Diese hier mussten schon etwas zu bieten haben. Leider konnte sie kein Angebot ausschlagen. Aber zum Glück wusste das keiner. Zumindest kein Mensch. Sonst würde sie womöglich überhaupt nichts mehr bekommen. Sie klopfte an eine der Hütten. Die musste bewohnt sein, schließlich kam Rauch aus dem Schornstein. Außerdem war der Gehweg vor der Hütte frei geschippt worden. Hinter den verschneiten Fenstern brannte Licht und es war Stimmengewirr von drinnen zu hören. Fröhliche Stimmen. Nach Alkohol roch es auch. Nachdem Noah an die Tür geklopft hatte, verstummten die Stimmen im Haus. Stille senkte sich hernieder, so dass man fast die herabfallenden Flocken aufkommen hörte. Das Licht im Haus wurde schwächer. Dann öffnete eine alte Frau mit schneeweißen Haaren die Tür. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch als sie in Noahs pechschwarze Augen sah, erstarrte sie. Noah war das gewohnt. „Habt ihr auf mich gewartet? Wenn ja, sag mir wo ich einen von Jenen finde.“, kam sie gleich zum Punkt. Die Frau erwachte aus ihrer Schockstarre. Dann räusperte sie sich. „Am Hügel westlich des Dorfes in einer Höhle.“ „Gut.“, sagte Noah, „Ich hole ihn. Schafft derweil eure Toten raus.“ Sie musste laut sprechen, damit man sie durch den Mantelkragen hören konnte. Die alte Frau verneigte sich kurz und schlug dann die Tür wieder zu. Westlich vom Dorf also. Da war ein Hügel, allerdings einen halben Tagesmarsch vom Dorf entfernt. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Sie waren immer einsam. Jegliche Form von Zivilisation mieden sie. Und das aus gutem Grund. Zwischen einigen verschneiten Tannen und zugefrorenen Teichen konnte Noah den Eingang der Höhle erkennen. Sie zog ihren Mantelkragen herunter und begann die Flöte zu spielen. Da es um sie herum schneite, spielte sie eine melancholische Wintermelodie, die sie von einem älteren Irrger gehört hatte. Ganz genau erinnerte sie sich nicht, also improvisierte sie ein wenig. Das taten alle Irrger und so entstanden neue Melodien, die wiederum von anderen Irrgern abgewandelt wurden. „Zur Hölle, was soll das nervtötende Gedudel?“, rief da eine raue Stimme aus der Höhle. Noah setzte die Flöte wieder ab und wartete. Es dauerte nicht lange, bis einer von Jenen brummend und fluchend aus der Höhle stapfte. Dass es sich um einen von Jenen handelte, stand außer Frage. Die dunkle Haut, die schwarzen krausen Haare und die schwarzen Pupillen ließen keine andere Option offen. Noah verneigte sich vor dem alten Mann. „Im Namen der Dorfbewohner erbitte ich Eure Mithilfe, um die Seelen der Verstorbenen ins ewige Dunkel zu geleiten und…“, begann sie, doch der Alte fuhr mit einer unwirschen Handbewegung dazwischen. „Bla-blah! Erst weckst du mich mit dieser Katzenmusik und dann schläferst du mich mit deinem gestochenen Geschwafel wieder ein. Für diesen Lärm befördere ich nicht mal einen toten Köter zur Hölle.“ Er wollte schon wieder in die Höhle zurück wanken. Da setzte Noah die Flöte erneut an. Dieses Mal war es eine fröhliche Melodie. Hatte es vorhin noch nach Schnee und abgestorbenen Bäumen geklungen, war dieses Lied voller Leben und Wärme. Der Alte verharrte auf der Stelle. „Nicht schlecht.“, sagte er ohne sich umzudrehen, „Was kannst du noch?“ Noah erinnerte sich an ihre besten Melodien, die sie sich eigentlich für sehr anspruchsvolle Jene aufgespart hatte. Offenbar wollte dieser keine traurige Melodie hören. Sie versuchte es mit einer Weise, die im krassen Gegensatz zum ruhigen Winter stand. Ein Lied, das sie von einem Irrger mit einer Tröte gelernt hatte. Zunächst ließen lang gezogene Klänge an eine Dünenlandschaft denken. Jeder Ton zeichnete eine der sanft geneigten Dünen. Nachdem sie mit dem Rohentwurf fertig war, spielte sie mehrere helle Töne, die an Licht und Sonnenschein denken ließen. Schließlich brachte sie zwischendrin noch einen tiefen Tremolo zwischen den Haupttönen unter, die einen schweren Sand und sengende Hitze spüren ließen. Dann ließ sie ein paar Töne durcheinander laufen. Ein Markt voller Menschen. Stimmengewirr. Eine Wüstenstadt. „Halt!“, rief er da, „Das reicht! Ich hasse Menschenmengen!“ Noah setzte die Flöte ab. Er strich sich mit der Hand übers Gesicht. „Na ja“, gab er zu, „Der erste Teil war ganz gut. Also schön, ich packe mein Zeug zusammen. Sag den Leuten im Dorf Bescheid. Aber wehe, die geizen mit gutem Alkohol!“ Noah atmete auf. Er war der einzige weit und breit. Vielleicht sogar der einzige auf der ganzen Schneeinsel. Das wäre jedenfalls nicht unüblich gewesen. Sie konnten sich gegenseitig nicht ausstehen und zogen meist so weit voneinander weg wie nur möglich. Auch die Menschen mochten Jene nicht besonders, weil sie sie an ihre eigene Vergänglichkeit erinnerten. Aus demselben Grund mieden die Menschen auch die Irrger. Noah fand Menschen primitiv. Sie konnten so wenig und bildeten sich sogar auf ihren Mangel an Bildung etwas ein. Und sie stanken. Irrger marschierten tagelang und stemmten wenn es sein musste tonnenweise Gepäck, wenn es nötig war, Jene zu bestechen. Dabei blieb ihre Haut knochentrocken. Sie mussten sich also auch nicht oft reinigen oder ihre Kleidung wechseln. Im Gegensatz zu Menschen. Sie erklommen einen Berg oder hackten ein paar Scheite Holz und schwitzten und stanken wie kurz vor der Verwesung. Und dann rotteten sie sich auch noch zu hunderten auf einen Fleck zusammen. Die Männer schufteten und die Frauen schlugen sich mit der abartigen Brut herum. So vermehrten sie sich ständig und stanken um die Wette – ekelhaft. Was auch immer sie ihn ihrem früheren Leben getan hatte – dies war die Strafe dafür. Von Nest zu Nest zu reisen und die Seelen dieser Parasiten ins Jenseits zu schicken. Es war fast schon ein Jammer, dass es ihnen verboten war, Menschen zu töten. Das würde ihre Arbeit um ein Vielfaches beschleunigen. Ihrer Meinung nach sollte man diese Wesen ausräuchern und ihre Nester niederbrennen. Allein schon für das was sie sich untereinander antaten. Noah schüttelte die finsteren Gedanken ab und ging ins Dorf zurück. Dort hatten die Menschen ihre Toten in der Mitte des Dorfes versammelt. Die Leichen hatten sie zuvor in einem Schuppen aufbewahrt. Sie waren steif gefroren. So waren sie wenigstens nicht verwest. Ein paar der Menschen weinten leise. Als sie Noah sahen, verstummten sie. Trauer wurde von Angst abgelöst. Jetzt mussten sie nur noch auf Jenen warten. Noah setzte sich abseits von den Menschen an den Rand des Dorfes. Sie war einen Tag und eine Nacht unterwegs gewesen und jetzt wurde es bereits wieder hell. Der blassgrüne Ton ihrer Haut wurde sichtbar. Ein kleines Mädchen ging zu ihr. Ihr Blick fiel auf Noahs Querflöte. Es war fast schon lachhaft, wie sehr es ihre Gier zur Schau stellte. Noah ignorierte sie bewusst. Sie betrachtete die aufgehende Sonne. Das Mädchen ließ nicht locker. Es stand da und schmollte, weil Noah es nicht auf Kommando süß fand, oder mit übertrieben hoher Stimme sensible Fragen stellte, dessen Antworten sich das Kind bereits in seiner Freizeit ausdachte. Schließlich verlor es ob Noahs Dreistigkeit die Geduld. „Ich will darauf spielen“, forderte es und wies auf die Querflöte. Die Eltern des Kindes kamen hinzu. Es waren unverkennbar die Eltern, denn der Stolz stand ihnen unübersehbar ins Gesicht geschrieben. Die besondere Art von Stolz auf ein Kind ohne Manieren, was in Menschenkreisen als Statussymbol ausgelegt wurde. „Sie spielt für ihr Alter ganz ausgezeichnet Flöte.“, sagte der Vater. „Vermutlich“, sagte Noah und reichte dem Mädchen ihr Instrument. Die Eltern sogen hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. Offenbar hatte niemand damit gerechnet. Noch nie hatte ein Mensch auf einem Instrument der Irrger gespielt. Es war gemeinhin bekannt, dass Menschen keine Irrgerinstrumente spielen konnten. Das Mädchen bekam vor Aufregung rote Wangen. Es setzte die Flöte mit einem überheblichen Funkeln in den Augen an die Lippen und blies. Doch es kam kein Ton heraus. Das überhebliche Funkeln verschwand. Stattdessen nahm ihr Gesicht trotzige Züge an. Doch es blieb still. Mittlerweile standen Tränen in ihren Augen. Ihre Eltern sahen sich peinlich berührt um, denn inzwischen hatten sich einige Leute ums sie herum versammelt. Schließlich gab das Mädchen auf. Die Eltern lächelten entschuldigend und der Vater sagte: „Normalerweise pfeift sie immer auf ihrer Flöte wie ein Vögelchen.“ Noah nahm dem Mädchen die Flöte wieder weg und sagte mit unverhohlenem Spott: „Ein kleines Vögelchen brächte es wahrlich besser zuwege als du, Menschenkind.“ Nun war das Mädchen erst recht beleidigt. Mit hochrotem Gesicht stapfte es davon. Ihr Vater folgte ihr und stammelte beruhigend auf sie ein. Die Mutter des Mädchens warf Noah einen mehr als tief gekränkten Blick zu. Noah ignorierte sie. Jener trat aus dem Kreis der Toten. Noah schloss die Augen damit sie sich besser konzentrieren konnte und begann auf der Querflöte zu spielen. Zuerst spielte sie plätscherndes Wasser, das die Füße der Menschen wie einen Fluss umgab. Ein verwundertes Raunen ging durch die Menge. Einige hoben reflexartig die Füße um sie aus dem vermeintlichen Wasser zu ziehen. Doch es war nicht wirklich nass. Man konnte die Hand ins Wasser strecken und es kräuselte und wellte sich. Doch fühlen konnte man es nicht. Man war sich sicher, dass man eine Illusion vor sich hatte. Doch es stieg immer höher – und da. Die Toten wurden von der Flut angehoben und schaukelten auf den seichten Wellen. Das Licht der Morgensonne brach sich in den Eiszapfen der Dächer und verlieh der Wasseroberfläche ein buntes Schillern. Jetzt konnten sich die Dörfer nicht mehr zurückhalten. Sie brachen in Tränen aus. Noah ließ den Fluss so weit ansteigen, dass einige durchsichtige Lebewesen darin Platz fanden. Eines der Kinder, dem das Wasser bis zum Knie reichte, packte neugierig hinein und scheuchte einen Schwarm von winzigen silbernen Fischen auf. Allmählich kam Bewegung in die Toten. Ihre Totema verließen die Körper. Kurz zwischen Tod und Wiedergeburt zeigten sich die Totema der Menschen und nahmen in dieser Zeitspanne die Gestalt des Wesens an, als welches der Mensch wiedergeboren werden sollte. Für Menschen waren sie natürlich nicht sichtbar, aber für Jene und Irrger schon. Sonst hätten diese kaum ihrer Arbeit nachgehen können. Schon seltsam. Da gingen die Menschen hin und erfanden immer grausamere Wege, Tiere niederzumetzeln und einzusperren und dann wurden sie schlussendlich zur nächsten Generation dieser Gefangenen. Und da standen sie alle und weinten um ihre Angehörigen. Wenn sie ihnen das nächste Mal begegneten, schnitten sie ihnen bei lebendigem Leibe vom Hals bis zum Nabel, um ihre dampfenden Eingeweide in eine Blechschüssel fallen zu lassen. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte Noah von einem Fall gehört, in dem ein Mensch das Totem in Form eines Menschen hatte. So toll war das Leben als Mensch dann wohl doch nicht. Außerdem stand nicht von vornherein fest, ob die Menschen wirklich zurückkehrten. Die Entscheidung fällte letztlich das Jenseits. Jetzt galt es erst eine Brücke zwischen den Welten zu schaffen. Wie Blüten öffnete sich das Karma der Toten. Heraus schwebten die Totema. Sie versammelten sich zur den Füßen des Jenen. Wie immer wurden sie von dessen Resonanz angezogen. Jener nickte Noah aufmunternd zu. Sie spielte Stufe für Stufe eine Treppe aus Licht. Jener trat an den Fuß der Treppe. Weit oben hatte sich ein schweres Tor aus schwarzem Stein gebildet. Jener winkte den Totema zu und machte sich daran, die Treppe hinaufzusteigen. Die Totema – Vögel, Fische, Säugetiere – folgten ihm wie eine Schafherde ihrem Schäfer. Sie umspielten seinen Mantelsaum und schwammen ihm durch das noch immer steigende Wasser voraus. Das schwarze Tor öffnete sich langsam und lautlos. Liquide Dunkelheit floss hinaus und rann die Treppe hinunter. Sie verschmolz mit den gläsernen Stufen und verlieh ihnen eine strenge Kontur. Jener schritt unbeirrt weiter. Dort wo seine Füße die Finsternis berührten, zog sie rauchige Fäden und zerfloss im Licht. Das Tor schwang schließlich ganz auf und ein Schwall aus Finsternis strömte ihm entgegen. Doch er hielt ihm stand wie ein Seemann einer gigantischen Welle. Er watete durch den schwarzen Strom, die Totema dicht an seiner Seite. Schritt für Schritt, Ton für Ton näherten sie sich dem Tor. Als sie direkt davor standen, griff die Finsternis wie eine dürre Klaue nach den Totema. Eines nach dem andern wurde ins Tor gezogen. Eine der dunkeln rauchigen Klauen grabschte kurz nach Jenem, zuckte dann jedoch sofort zurück und schnappte sich ein Totema in Form einer Katze. Dann schloss sich die Türe langsam wieder. Nachdem alle Totema verschwunden waren, glitt auch die flüssige Finsternis wieder durch den Türspalt. Jener stieg nun allein wieder die Stufen hinab. Noah spürte, wie sie ermüdete. Lange konnte sie das Gebilde nicht mehr instand halten. Sie ließ daher bereits Stufe um Stufe hinter Jenem verschwinden. Auch den Wasserpegel, der sich weit über den Köpfen der Menschen befand, ließ sie langsam aber stetig absinken. Schließlich trat Jener von der letzten Stufe und auch das Wasser schwand. Die Toten glitten wieder ganz auf den Boden. Sie waren nun endgültig leer und konnten begraben werden. Eine weitere typisch menschliche Praxis, die sie als Egoisten auswies. Jedes andere Wesen überließ die leeren Hüllen den hungrigen Tieren, die noch etwas damit anfangen konnten. Menschen verwehrten ihnen selbst diesen letzten Akt der Barmherzigkeit. Nein, das sind UNSERE toten Körper und bevor sich ein armes todgeweihtes Hyänenjunges daran laben kann, verscharren wir sie lieber in der Erde und stellen ein hölzernes Symbol drauf. Den Gedanken musste man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Jedes Tier streifte umher und fraß die Toten der anderen. Das war natürlich. Das war respektvoll dem Toten gegenüber, dass er anderen zum Leben verhalf. Nur der Mensch behielt alles für sich, auch wenn es ihm nichts mehr nutzte. Noah setzte die Flöte ab. Kaum einer beachtete sie noch. Alle suhlten sich in ihrem Selbstmitleid. Sie zog den Mantelkragen wieder hoch und setzte sich abseits auf eine Mauer. Lediglich Jener schlurfte zu ihr hin. „Ihr mögt sie wirklich nicht, die Menschen.“, stellte er fest. Noah schwieg. Jener räusperte sich. „Ich gehe jetzt was trinken.“ Und weg war er. Sollten die Menschen je erfahren, dass es viele Irrger gab, die sie hassten, würde für sie eine Welt zusammenbrechen. Daher war es Irrgern strengstens untersagt, ihnen das ins Gesicht zu schleudern. Menschen hielten sie für eine Unterform der Engel, oder zumindest für dessen Handlanger. Für sie waren Irrger sanfte Wesen aus dem Himmel, die ihre Seelen barmherzig in den Schlaf wiegten. So erzählten sie es sich jedenfalls. Das war ihre Art sich gegenseitig zu beruhigen, so eitel waren sie. Selbstverständlich gingen sie davon aus, dass sie eine so wunderbare Rasse waren (wie sagten sie doch? Nach Gottes Abbild erschaffen?), dass für ihre Toten extra himmlische Wesen erschienen, die dafür sorgten, dass sie eine Extrabehandlung bekamen, weil sie so etwas Besonderes waren. Die Wahrheit war weitaus ernüchternder. Jedes andere Wesen schien einfach über eine bessere Intuition zu verfügen. Sie fanden von allein den Weg in die Dunkelheit. Die Seelen der Menschen waren verkorkst. Sie waren die einzigen, die ziellos umher irrten. Weil sie sich über die Natur hinwegsetzten wurden ihre Seelen so verwirrt, dass sie nicht mehr zurückfanden. So viel zur fantastischen Einzigartigkeit. Noah freute sich auf ihre Belohnung. Die Dörfler hatten während ihrer Vorstellung sehr verblüfft ausgesehen, also konnte sie mit etwas Großem rechnen. Sie wartete eine Weile, bis sich alle beruhigt hatten und ging dann zu ihnen. „Mein Honorar“, sagte sie laut und deutlich. Sofort wandten sich ihr Blicke zu. Ängstliche und Vorwurfsvolle. Schon bald darauf wurde sie widerwillig in eine Vorratshütte geführt. Sie staunte nicht schlecht. Fleisch, so weit das Auge reichte. Endlich wieder Fleisch! Wie lange hatte sie darauf verzischen müssen. Eilig hing sie ein paar große Räucherwürste ab. Dann stapelte sie Steaks und Trockenfleisch zu einem großen Haufen. Die Dorfbewohner jammerten, sie hätten nur noch dieses letzte Fleisch und keine Tiere mehr, so klagten sie. Bei Noah stießen sie jedoch auf taube Ohren. Sie hatte einen riesigen Schinken ins Auge gefasst. Plötzlich bedrängten die Dörfler sie, sie müsse doch so langsam aufbrechen, da gewiss noch weitere Seelen auf sie warten würden. So viel Selbstlosigkeit bei Menschen bedeutete immer, dass was im Busch war, also setzte Noah sich umso entschlossener hin, lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. Die Dörfler wurden immer unruhiger, ihr Gejammer drängender. Schließlich kehrte draußen der Schweinehirt ins Dorf zurück. Vor sich her trieb er an die dreißig fette Tiere. Als er Noahs Gesicht am Fenster erblickte, stolperte er vor Schreck und schlug der Länge nach hin. Sie musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass die Gesichter der Dörfler jetzt so rot wie Zündholzköpfe waren. Ihr Blick schweifte noch immer zum Schweinehirten, der sich aufrichten wollte. Dabei hielt er sich links und rechts an zwei Schweinehintern fest. Es kam selbstverständlich wie es kommen musste. Die Tiere stoben zu beiden Seiten davon und der Hirte knallte mit ausgebreiteten Armen das Gesicht voran in die Jauche. „Interessant“, sagte Noah, „Packt mir den Schinken ein.“ Mochten die Menschen noch so eingebildet und stur sein – Noah musste bald feststellen, dass sie sich mit dem Schinken fast übernommen hatte. Er zog sie mit seinem Gewicht runter, als hätte sie sich einen Felsbrocken auf den Rücken geladen. Sie schwankte und taumelte schon als sie das Dorf verließ. Schließlich gewöhnte sie sich einen schiefen Gang mit Schlagseite an. So ging es zumindest eine Weile. Es dauerte nicht lange und Jener gesellte sich zu ihr. Auch er hatte Schlagseite, allerdings lediglich von seiner eigenen Last. Er war schwer betrunken. Es war gemeinhin bekannt, dass Jene dem Alkohol sehr zugetan waren. Deshalb mieden sie für gewöhnlich die Zivilisation, da sie sich sonst zu Tode saufen würden. Für ihre Arbeit verlangten sie fast immer Alkohol. Es war ihnen ein Ansporn und Fluch zugleich. Jetzt lallte er Noah zu. „Ist bestimmt schwer… haben die Würste nicht gereicht? Willste dich totfressen?“ Noah schulterte das Fleisch. „Für schlechte Zeiten.“ Sie zog etwas Dörrfleisch aus ihrer Tasche und biss hinein. Lange hielt sie sich nicht mit Kauen auf. Gierig schlang sie den Rest hinunter. Sie schluckte wie eine Gans. Jener musste sich plötzlich übergeben. Noah dachte gar nicht daran, sich zu schämen. Sie hatte oft genug hart arbeiten müssen, um letztendlich kaum etwas dafür zu erhalten. Und wenn die Menschen sie in eine riesige Vorratshütte führten und ihr freie Hand ließen, waren sie doch selbst schuld. Außerdem hatten sie Noah verschaukeln wollen. Damit hatten sie bei ihr jegliche Chance auf Gnade verspielt. Nein, arm dran waren sie ja schließlich auch nicht. Sie hatten mehr Fleisch als Noah je besitzen würde und abgemagert wirkten sie auch nicht. Warum sollte sie sich also nicht auch ihr Stück vom Kuchen abschneiden? Jener hatte sich wieder halbwegs nüchtern gekübelt. Er redete auf Noah ein. „Verschlagen oder nicht. Wenn du ihre Trauer ausnutzt um mehr Beute für dich raus zu schlagen, bist du keinen Deut besser.“ Noah schnaubte. „Natürlich bin ich besser. Du solltest es wissen, du bist schließlich auch besser als sie.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Ein Anblick, der Jenen zurückschrecken ließ. „Von wegen Trauer.“, fuhr Noah fort, „Keine Trauer sondern Selbstmitleid, weil ihre ohnehin zu große Anzahl dezimiert wurde. Nichts, was sich nicht mit ihrem krankhaften Vermehrungsdrang beheben lassen würde.“ Tatsächlich zweifelte Noah stark daran, dass Menschen so etwas wie Trauer empfinden konnten. Genauso wenig wie so manche Tiere. Doch anders als diese waren sie dazu in der Lage, diese Gefühle vorzutäuschen. Das machte sie in Noahs Augen gefährlich. Da konnte sich auch Jener nicht von ihrer Meinung abbringen. Doch er begleitete sie zur Bahn. Am Bahnsteig unterhielten sie sich noch eine Weile bis die Linie 16 einfuhr. Noah gab Jenem noch etwas Trockenfleisch und stieg ein. Sie ging in ein Abteil mit stählernen Fächern. An der Seite neben der Tür befand sich ein Computer mit einer Eingabemaske. Noah tippte ihren Zugangscode ein. Ihr Fach öffnete sich. Sie legte den Schinken und die Steaks rein. Das Trockenfleisch behielt sie bei sich. Als sie in ein weiteres Abteil ging, stutzte sie. Da saß noch ein anderer Irrger. Er saß weiter vorn in ein Buch vertieft. Noah setzte sich auf den gegenüberliegenden Platz und liftete ihren Mantelkragen. Irrger versteckten ihre Gesichter nicht voreinander. Auch der andere Irrger nahm seinen Schal ab. Sein Schnabel war lang und vorne gebogen. Noah hatte einen flachen, breiteren Schnabel, dessen Spitze lediglich ein wenig hoch stand, ideal um Flöte zu spielen. Sie linste zu ihm hinüber. Er trug eine Klarinette bei sich. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er darauf spielte. Er hatte sich wieder in sein Buch vertieft und sein blauschwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht. Einzig seine Augen waren für sie sichtbar. Die weißen Punkte, seine Pupillen, huschten beim lesen des Buches in seinen pechschwarzen Augen umher, wie rastlose Fische in den Tiefen des Meeres. Noah ließ ihre Augen, die genau wie seine waren, über das Meer schweifen. Es gongte. „Nächster Halt – Kentro. Ankunft in etwa 40 Minuten.“ Kentro also. Die Hauptstadt der Irrger. Endlich konnte Noah wieder eine Weile entspannen. Der Gedanke stimmte sie so zufrieden wie schon lange nicht mehr. Dem andern Irrger schien es ähnlich zu gehen. Er schlug sein Buch zu. „Ich heiße Raxus.“, sagte er. „Noah.“, sagte sie, „Eine gute Klarinette hast du da.“ „Danke. Was spielst du?“ „Querflöte.“ „Spielen wir?“, fragte er. Das bedurfte keiner Antwort. Sie zog ihre Querflöte aus der Tasche. Die Bahn fuhr gerade eine weitschweifige Kurve über das Meer. Die beiden Irrger nutzten diesen Platz um zu spielen. Sie stellten sich ans Fenster und ließen ihre Instrumente erklingen. Wo ihre Töne die Wasseroberfläche berührten, kräuselte sich diese und schlug sanfte Wellen. Schließlich fanden sie einen gemeinsamen Rhythmus und zupften die Wellen an ihren Spitzen an die Höhe. Ganz behutsam und doch spielerisch hoben sie einen dünnen Vorhang aus Wasser über das Meer. Gebäude entstanden. Eine Straße floss um sie herum und tanzte über die runden Kuppeln. Eine gläserne Stadt ohne Bewohner. Das Licht brach sich schelmisch in den Dächern, als die Bahn sich von ihr entfernte und sie wieder in sich zusammenfloss. Doch die Irrger dachten gar nicht daran mit dem Spielen aufzuhören. So schoss ein Gebäude nach dem anderen neben der Bahn aus dem Wasser, um Sekunden später wieder in sich zusammenzufallen. Links und rechts von der fahrenden Bahn umsäumten durchsichtig schimmernde Gebäude die sprudelnden Töne. Die beiden Irrger waren so sehr in ihr Werk vertieft, dass sie fast die Ansage überhörten. „Nächster Halt: Kentro. Bitte Vorsichtsmaßnahmen treffen.“ Im Grunde war Kentro nur eine von den drei Städten der Irrger, doch es klang besser, wenn man sie Hauptstadt nannte. Raxus und Noah blickten nach vorne in Fahrtrichtung. Vor der Bahn teilte sich das Meer. Ein unterirdischer Tunnel tat sich auf. Die Irrger setzten sich auf ihre Plätze und schnallten sich an. Die Bahn fuhr steil bergab in die Dunkelheit. Eine Sekunde lang war es stockfinster. Dann flackerten die Lichter in der Bahn auf und man sah nur noch Schwärze an den Fenstern vorbeirauschen. Die Bahn vervielfachte ihr Tempo und rauschte senkrecht in die Erde. Dabei wand sie sich wie eine Schraube mal links- mal rechtsherum. Noah und Raxus wurden in ihre Sitze gepresst. Keiner sagte etwas, denn das Atmen fiel ihnen schwer. Eine lange Zeit ging es bergab durch die Dunkelheit. Dann verringerte die Bahn ihre Geschwindigkeit. Schlagartig wurde es hell. Die Bahn erreichte wieder Schräglage. Azurblauer Himmel zog an den Fenstern vorbei. Die Spitzen der elfenbeinfarbenen Türme kamen in Sicht. Kentro. Die einzige von den drei Städten, die man nicht nur einmal sondern mehrmals betreten konnte. Ansonsten gab es die Stadt in der die Irrger geboren wurden, an die sich natürlich keiner erinnern konnte – und Telos. Das war allerdings keine Stadt im eigentlichen Sinne. Es war das Paradies. Der Ort an den Irrger gehen konnten, die ihren Soll erfüllt hatten. Und die erste richtige Heimat für einen Irrger. Denn auch Kentro war nur zur Durchreise gedacht. In Kentro lebte nämlich niemand. Es gab zwar prächtige weiße Bauten, doch waren die nicht dazu da, dass jemand darin wohnte. Irrger hatten keine Heimat. Sie mussten zwar essen und trinken, doch Schlaf hatten sie kaum nötig. Sie dösten lediglich ein wenig während der langen Bahnfahrten. Irrger wurden geboren und in die Welt hinaus geschickt. Dort wandelten sie ständig umher, bis sie ihre Aufgaben erfüllt hatten. Erst dann erhielten sie die lange ersehnte Belohnung. Ein Heim in dem Paradies Telos. Ein richtiges zu Hause und nicht bloß einen Ort durch den man durchwandelte. Dieses Heim musste man sich durch nahezu endlose Reisen verdienen. Daher empfand Noah für die Menschen nichts als Verachtung. Sie wurden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Von Anfang an lebten sie in ihren behaglichen Häusern und taten ihr Leben lang nichts dafür außer zu fressen, zu scheißen und sämtliche andere Lebewesen auszurotten. Damit sie mehr Platz hatten um ihre stinkende Brut aufzuziehen. Aber irgendwann würde sie auch eine Heimat besitzen. Doch etwas an diesem Gedanken behagte ihr ganz und gar nicht. Was wäre, wenn sie dann schon so sehr an das Reisen gewöhnt war, dass sie danach nicht mehr an einem Ort verharren konnte? Wenn sie dazu verdammt war auch dann weiter zu ziehen, wenn sie einen Ort gefunden hatte, an dem sie für immer bleiben konnte? Sie schob den Gedanken beiseite. Damit würde sie sich auseinandersetzen, wenn es so weit war. Neben den Türmen erschienen nun auch die kunstvoll verzierten Kuppeln der Amtsgebäude. Eines der größten davon war der Gerichtshof. Dort mussten jene Irrger vorsprechen, die gegen die Gesetze verstießen. Neben den Gesetzen, die kleinere Vergehen rügten, indem sie die Übeltäter mit einem Fluch belegten, gab es noch welche auf denen unweigerlich die Todesstrafe stand. Diese wurden vor das Tribunal bestellt. Jedem Irrger fröstelte es bereits bei dem Gedanken daran. Das Tribunal befand sich ganz oben im Gerichtshof. Das schwere Tor, das es vor den Augen der Tadellosen verbarg öffnete sich nur den Todgeweihten. Es war mit düsteren Verzierungen umrahmt, auf denen stand die Inschrift: „Lasst jede Hoffnung fahren, die ihr mich durchschreitet.“ Wer vor diesem Tor wartete, besaß keine Hoffnung mehr, die er hinter sich lassen konnte. Die kleineren Gebäude kamen nun in Sicht, während die Bahn spiralenförmig abwärts um die Stadt fuhr. In eines dieser kleineren Gebäude musste sich Noah begeben. Eine so genannte Abrufzentrale. Dort konnte man sein Seelenkonto prüfen. Für jeden Irrger gab es eine Anzahl von Seelen, die er ins Jenseits begleiten musste. Als die beiden Irrger aus der Bahn stiegen, wehte ihnen eine angenehme Brise entgegen. Auch das war eine der Annehmlichkeiten, die tief unter der Erde von Irrgern künstlich erschaffen worden war. Wie immer, wenn Noah eine Pause vergönnt war, schritt sie auf das mittelgroße Gebäude im Zentrum der Stadt zu. Zusammen mit vielen anderen Irrgern, die ihren Kontostand überprüfen wollten. Hinter den automatischen Schiebetüren befand sich eine riesige Halle. Sie war düster und kühl. Einzig ein riesiger Bildschirm am anderen Ende der Halle gegenüber vom Eingang beleuchtete die Räumlichkeiten. Davor saßen an die hundert Irrger auf den Sitzen, die den Rest der Halle ausfüllten. Sie alle starrten auf den Schirm. Der war momentan noch weiß. Nur der Hinweis: “Bitte nehmen Sie Platz und warten auf weitere Anweisungen.“, prangte in großen schwarzen Buchstaben darauf. Noah atmete auf. Es hatte also noch nicht begonnen. Schon oft genug geschah es, dass ein Irrger von den Eindrücken ihrer Stadt so ergriffen war, dass er die Gelegenheit nutzte um in der von Artgenossen überfluteten Gegend herumzuspazieren. Was nur allzu verständlich war. Denn wie oft bekam ein Irrger überhaupt erst einen seiner Art zu sehen? So war es nicht verwunderlich, dass man in Kentro auf geschwätzige Irrger traf, die einen in ein ausschweifendes Gespräch verwickeln wollten. Erfahrene Irrger umgingen diese Plappermäuler geschickt, denn sie hielten einen nur unnötig auf. Dann kam man zu spät zur großen Halle. Im Grunde war es weniger schlimm, wenn man gar nicht hinging, als wenn man nur etwas spät dran war. Denn dann saß man die ganze Zeit da und wartete darauf, dass der eigene Name aufgerufen wurde, bis man am Ende feststellen musste, dass der bereits ganz am Anfang unter den ersten Aufrufen gewesen war. Noah nahm nahe am Rand einer Sitzreihe Platz und stellte ihren Rucksack unter den Sitz. Da der Bildschirm unverändert blieb, nutzte sie die Zeit um sich umzusehen. Die Irrger kramten in ihren Taschen und unterhielten sich distanziert. Weitere strömten nach wie vor durch die Schiebetüren in die Halle rein. Die leuchtend weißen Pupillen bewegten sich hin und her um noch freie Plätze zu ergattern. Unter den Neuzugängen befand sich auch Raxus. Sobald er ihren Blick auffing, steuerte er ohne Umschweife auf sie zu. In seinen Augen glaubte Noah so etwas wie naive Erleichterung zu sehen. Tatsächlich sah er sie fragend an und wies auf den freien Platz neben ihr. Noah nickte ihm aufmunternd zu. Froh, jemand Bekanntes getroffen zu haben, nahm er neben ihr Platz. Der Bildschirm leuchtete grün auf. Der ganze Saal wurde von dem grünen Licht durchflutet. Neben dem ohnehin stets grün schimmernden Ton ihrer Haut, sahen die Irrger nun aus, als würden sie sogar einen kompletten Satz an grüner Kleidung tragen. Auf dem Schirm flackerte ein Countdown von der Zahl 5 an abwärts auf, so dass die letzten Gespräche schnell verstummten. Dann wurde der Schirm hellblau und der erste Name wurde aufgelistet. „Claymore, 7249378“, stand dort in großen schwarzen Lettern. Ein weißhaariger Irrger stand auf. Er wurde von einem Rampenlicht erfasst. Die Schrift auf dem Schirm veränderte sich. Seine Erfolge wurden aufgelistet. Insgesamt war er in über vierzig Dörfern. Keine schlechte Leistung. Über fünfhundert Seelen hatte er begleitet. Es musste ein Krieg in der Nähe stattgefunden haben. Phobus, 26478 hingegen hatte weitaus weniger zu bieten. Ebenso Zrir, 67836, die bei ihrem Aufruf sichtlich nervös war. Allerdings war ihre Nervosität nichts gegen gas Gezappel von Raxus. Er rutschte auf seinem Sitz herum und machte dabei den Eindruck, als wolle er jeden Moment aufspringen und davon hetzen. Schließlich wurde ihr Name angezeigt. „Noah, 37567864“ Sie stand auf. Der Lichtstrahl erfasste sie. Die Schrift veränderte sich. In der Tat hatte Noah nicht mitgezählt, wie viele Dörfer sie besucht hatte, geschweige denn wie viele Seelen sie bereits befördert hatte. Doch das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Zumindest war es besser als der Durchschnitt, wenn man berücksichtigte, dass sie noch nicht lange existierte. Irrgern sah man ihr Alter kaum an. Sobald ein Irrger genug Seelen begleitet hatte, zeigten sich die ersten Anzeichen für einen beginnenden Alterungsprozess. Dieser wird dann in Telos gestoppt, wo man den Rest seines Daseins verbringt. Nachdem ihr noch einmal gezeigt wurde, wie viele Seelen sie noch begleiten musste, setzte sie sich wieder. Ihr schwirrte der Kopf. Es war eine Zahl mit über dreizehn Stellen. Das Gezappel von Raxus ging ihr auf die Nerven. Es wurden noch einige weitere Irrger aufgerufen. Die meisten, deren Name bereits an der Reihe gewesen waren, brachen sofort wieder auf um ihren restlichen Soll zu erfüllen. Obwohl dies die wohl vernünftigste Entscheidung war, blieb Noah sitzen und dachte nach. So viele Seelen. Es kam ihr so vor, als würde sie gegen Windmühlen kämpfen. Ob es zu Anfang jedem so erging? Diese Aufgabe war so schwierig, so zermürbend. Wie hielt man das bis zur Hälfte, geschweige denn bis zum Ende aus? Am liebsten würde man doch alles hinwerfen. Ihre Aufgabe und ihren Stolz. Sie wollte am liebsten vor die Tore von Telos treten, sich in den Staub werfen und flehen, dass man sich ihrer doch erbarmen möge und sie ausnahmsweise schon vorzeitig hinein ließe. Nicht für immer, sondern nur ganz kurz. Damit sie einen Blick ins Paradies werfen konnte. Ein Anblick, der sie in ihrer Aufgabe bestärken würde. Dafür würde sie dann anschließend sogar die dreifache Menge an Seelen begleiten wollen. Doch allein der Gedanke an so ein schändliches Verhalten glich bei einem Irrger bereits einem blasphemischen Affront. Ganz zu schweigen davon, dass niemand wusste, wo sich Telos überhaupt befand. Da ging mit einem Mal ein überraschtes Raunen durch die Menge. Einen lächerlichen Augenblick lang dachte Noah, man hätte ihre Gedanken gelesen und anschließend für alle gut sichtbar auf den Schirm projiziert. Doch dem war natürlich nicht so. Dennoch war es ein ziemlicher Schock für sie, als sie zum Bildschirm hinauf sah. Dort stand: „Raxus, 25787286“ Darunter stand: „Besuchte Dörfer: 2, Beförderte Seelen: 8“ Und dann geschah etwas, das unter den Irrgern bisher nur als urbane Legende bekannt war. Raxus, der sich neben ihr in seinem Sitz so klein wie möglich zu machen versuchte, wurde in ein gleißendes rotes Licht getaucht. Die Irrger, die in seiner unmittelbaren Nähe saßen, rückten um einige Plätze weiter. Auch Noah wich unwillkürlich von ihm zurück. Sie wollte auf keinen Fall mit diesem Licht in Berührung kommen. Mit einem Mal wurde das Licht so hell und weiß wie ein Blitz. Es flackerte so grell, dass es die Irrger blendete. Noah schloss die Augen. Sie hörte einen schmerzhaften Aufschrei. Er kam von Raxus. So schnell wie das Licht erschienen war, war es auch schon wieder verschwunden. Zurück blieb alleine Raxus, der sich wimmernd die Hände vors Gesicht hielt. Noah beugte sich leicht vor um ihn zu betrachten. Vorsichtig nahm Raxus die Hände von seinem Gesicht weg und erwiderte halb benommen ihren Blick. Noah war entsetzt. Quer über seine Augen waren nun rote Male zu sehen. Er war für sein Leben gezeichnet. Zudem schienen seine Augen etwas von ihrem natürlichen Glanz verloren zu haben. Ab jetzt würden ihn die anderen Irrger, denen er ohnehin selten genug begegnete, meiden, aus Angst, dass er einen schlechten Einfluss auf sie ausüben würde. Dennoch fühlte Noah sich nicht wirklich von ihm abgestoßen. Sie war eher neugierig und würde gerne erfahren, was es mit dem Licht auf sich hatte. Doch hatte sie Angst um ihren Ruf. Daher wartete sie, bis sich die große Halle nach und nach geleert hatte. Es waren fast nur noch sie und Raxus übrig. Das musste man ihm lassen, er blieb bis ganz zum Schluss. Entweder das, oder er war noch zu traumatisiert um aufzustehen und den Saal zu verlassen. Schließlich rückte sie wieder näher zu ihm hin. „Raxus?“, fragte sie vorsichtig und tippte ihm auf die Schulter. Raxus zuckte so stark zusammen, dass auch sie erschrak. Als er antwortete, klang seine Stimme seltsam brüchig. „I-ich ha…habe es drauf an…angele…le…“ Er stotterte. Ein weiterer Fluch. Aber was meinte er mit seiner Aussage? War er lebensmüde oder einfach nur dumm? Als Gezeichneter war er abgeschrieben. Selbst wenn er irgendwann einmal nach Telos eingelassen wurde, würde er dort wie ein Aussätziger behandelt werden. Er würde dort die niedrigsten Arbeiten überhaupt vernichten müssen und weder Dank noch sonst ein nettes Wort dafür zu hören bekommen. Es war schlimmer als der Tod. Im Grunde, so dachte Noah bei sich, sprach sie gerade mit einem Toten. Bei dem Gedanken fröstelte sie. Aber vor allem empfand sie bei seinen Worten große Wut. Wie konnte er es nur wagen, dem System so in den Rücken zu fallen? Was hatte er die Jahre über bloß getan, während sie die ganze Zeit über so hart gearbeitet hatte? Es sich gut gehen lassen, ein schönes Leben gehabt. Wenn er wirklich so faul wie ein Mensch gewesen war, dann hatte er es wirklich verdient gezeichnet zu werden. „Du hast dir also die ganze Zeit über den Lenz gemacht?“, hakte sie nach. Raxus schüttelte den Kopf. „I…ich habe nur so g-g-große Angst…“, murmelte er. „Die hätte ich an deiner Stelle auch.“, schnaubte Noah abfällig, „Ist dir eigentlich klar, dass du vor das Tor zitiert wirst, wenn du so weiter machst?“ Raxus sah sie verständnislos an. Sie seufzte. „Hast du eigentlich schon vorher so gestottert, oder ist das ein Fluch?“ Sie war sich nämlich gar nicht mehr sicher. Schließlich hatten sie bisher kaum mehr als ein paar Worte gewechselt. Raxus schüttelte den Kopf. „G-geht nicht mehr w-weg.“ Also war er nicht nur äußerlich mit einem Fluch belegt. Er fuhr fort: „Ich ha-habe keine Angst v-vor dem Gericht.“ Was konnte ihm mehr Angst machen als das Fegefeuer? Noah beugte sich noch weiter zu ihm vor und während sie ängstlich ihren Blick umherschweifen ließ, um sich zu vergewissern, dass sie keiner beobachtete, flüsterte sie: „Dann… wovor um alles in der Welt kannst du sonst Angst haben?“ Als er antwortete zog sich alles in ihr zusammen, als würde sie in Sekundenschnelle von der Erdoberfläche nach Kentro hinabstürzen. „Ich h-habe schreckliche Angst vor T-t-telos.“ Sie gingen nach draußen und suchten sich einen Ort, an dem sie ganz allein waren. Was sich als gar nicht so einfach erwies. Jetzt, da die Auflistung vorbei war, strömten die Irrger durch die Gassen. Selbst die Arbeitswütigsten unter ihnen betrieben danach in der Regel noch etwas Sightseeing, um sich innerlich darauf vorzubereiten, irgendwann einmal in einer großen Stadt unter tausenden von ihresgleichen zu leben. Für viele von ihnen, würde das ein großer Schock sein. Einigen von ihnen war sogar Kentro bereits zu viel. Besonders diejenigen, die es das erste Mal dorthin verschlagen hatte. Mit weit aufgerissenen Augen taumelten sie in der Gegend herum wie Gehörlose. Die meisten ignorierten sie vehement. Teilweise aus Fremdscham. Aber viele schämten sich auch für sich selbst. Schließlich hatte sich jeder einmal in dieser Lage befunden. Auch Noah musste sich zu ihrem Leidwesen eingestehen, dass sie an ihrem ersten Tag hier mit aufgeklapptem Schnabel umhergetorkelt war. Ausgerechnet auf der Schattenseite des Gerichtsgebäudes befanden sich die ruhigsten Ecken. Wie immer mied man dieses Gebäude, wenn es nicht gerade darum ging, jemanden zu verurteilen. Was das betraf erwiesen sich Irrger als regelrecht beseelt von sadistischer Schadenfreude. Man sollte es ihnen niemals direkt ins Gesicht sagen, aber in diesem Punkt waren sie wie Menschen. Ängstlich befolgten sie die Befehle der Obrigkeit, entsagten allen verlockenden Versuchungen und hofften in ihren schwärzesten Stunden auf Erlösung. Und dann kam da jemand daher, der es sich anmaßte, au das alles zu pfeifen und sich seine eigenen Regeln aufstellte, während sich die anderen abmühten. Da war es eine wahre Wohltat, zu sehen, wie dieser Jemand dafür schließlich die Quittung erhielt. Im Grunde also Schadenfreude gepaart mit Eifersucht. Zudem spornte ein solches Ereignis die anderen Irrger weiter dazu an, die Regeln zu befolgen und weitaus emsiger zu arbeiten als sonst. Ähnliche Gefühle kämpften nun auch in Noah. Einerseits dachte sie sich, dass es Raxus nur recht geschah, dass er dieses Mal trug und stotterte. Andererseits ließ das Ganze in ihr einen bitteren Nachgeschmack zurück. Irgendetwas war an der Sache nicht richtig. Vielleicht waren es die Gründe aus denen Raxus so gehandelt hatte. Es wäre richtig gewesen, wenn er einfach aus Faulheit oder Arroganz gegen die Gebote verstoßen hätte. Aber er hatte es aus einer lähmenden Furcht heraus getan. Einer Furcht, die Noah beim besten Willen nicht begreifen konnte. Im Schatten des Gerichtsgebäudes erzählte ihr Raxus seine Geschichte. Die Angst hatte ihn eines Tages überwältigt. Bis dato war er ein vorbildlicher Irrger gewesen. Aber dann geschah etwas, das sein Leben grundlegend verändert hatte. Er befand sich damals in der Nähe eines Hirtendorfes. Dort sollte er die Seelen der Verstorbenen begleiten. Doch zunächst musste er sich wie immer auf die Suche nach Jenem machen, der weitab außerhalb des Dorfes lebte. Eine Weile irrte er in dem grünen Flachland umher, bis er an eine große umzäunte Weide kam. Dort graste eine schneeweiße Schafherde. In diesem Moment verspürte Raxus zum ersten Mal das seltsame Kribbeln in seiner Brust, das bald schon zu seinem ständigen Begleiter werden würde. Er holte seine Klarinette aus der Tasche. Bisher hatte er nur für die Toten gespielt. Die Instrumente der Irrger wurden schließlich eigens dafür angefertigt. Allerdings gab es bisher kein offizielles Gebot, welches das Spielen vor Publikum, sei es Mensch oder Tier, verbat. Er setzte also an und spielte eine muntere Melodie, die an fließende Bäche und Äpfel erinnerte. Die Schafe hoben schläfrig ihre Köpfe, blieben aber ganz ruhig. Keines von ihnen gab auch nur den leisesten Ton von sich. Dafür stand eines nach dem anderen auf und trabte auf Raxus zu. Schon bald stand die ganze Herde vor ihm. Einige legten sich vor ihm hin. Andere wackelten sogar rhythmisch mit ihren wolligen Hinterleiben zu seiner Melodie. Ein paar kleine Lämmchen machten übermütige Bocksprünge. Raxus bemühte sich trotz seiner Verwunderung weiterzuspielen. Dabei schaute er in ihre Bernsteinaugen mit den eckigen Pupillen. Die Tiere schienen komplett in Trance gefallen zu sein. So etwas hatte er noch nie erlebt. Hatte dieses Instrument wirklich so eine Macht? Nicht nur auf die Seelen der Toten, sondern auch noch auf die Lebenden? Weit hinten erkannte Raxus, wie sich ein Mensch näherte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit der Hirte, der diese Tiere hütete. Als der sah, was mit seinen Schützlingen los war, stutzte er. Dann lachte er laut. Es war ein älterer Mensch mit bereits grauen Haaren. Er lachte heftig und schlug sich dabei aufs Knie. Fast fiel er um, so ausgelassen war er. Raxus ließ die Klarinette sinken. Er hatte schon befürchtet, dass der Hirte wütend sei. Es wäre nicht das erste Mal, dass Menschen automatisch aggressiv auf Irrger reagierten. So wie sie fast immer aggressiv auf alles Unverständliche reagieren. Außerdem hatte er die Tiere manipuliert. Doch die wirkten überhaupt nicht schreckhaft, als hätten sie gegen ihren Willen gehandelt, nachdem Raxus mit seiner Musik aufgehört hatte. Im Gegenteil machten sie eher einen recht ausgeschlafenen Eindruck. So als wären sie aus einem entspannten Traum aufgewacht, obwohl sie ihn gerne noch etwas weiter geträumt hätten. Der Mann ging auf ihn zu, blieb jedoch in einem respektvollen Abstand vor ihm stehen und lüftete seinen Hut. Rückwirkend hätte Raxus nicht mehr sagen können, ob er das aus Respekt tat, oder einfach nur so, weil es ein heißer Tag war. Der Fremde trug einen langen Sommermantel, aus dessen Tasche der Stiel einer Pfeife ragte. Insgesamt machte er einen sehr gemütlichen Eindruck. Er meinte dann, dass er so etwas noch nie gesehen hätte. Damit meinte er nicht nur die tanzenden Schafe, sondern auch die Tatsache, dass ein Irrger allein für lebende Wesen spielte. Was hätte Raxus schon dazu sagen sollen? Für ihn selbst war es ja schließlich genauso verwunderlich. Er spielte noch eine Weile weiter um sich dieses Gefühl zu verinnerlichen. Dabei geriet er selbst in eine Art Trance. Als er sein Spiel beendet hatte, ging die Sonne bereits unter. Alles war in ein sanftes Orange getaucht. Selbst die Wolle der Schafe zierte ein kupferner Schimmer. Der Hirte, der inzwischen neben Raxus auf dem Zaun saß, schien die Zeit vergessen zu haben. Er erhob sich und bemerkte ernst, dass Raxus nun seine Bestimmung gefunden hätte. Raxus schüttelte verständnislos den Kopf und erklärte ihm, er wisse nicht was er meine. Die Bestimmung eines jeden Irrgers sei es, ihr Soll an Seelen zu begleiten, bis sie ihre Erlösung fänden. Aber noch während er diesen Gedanken dachte, wusste er, dass das nicht stimmte. Es gab noch etwas außerhalb dieses Systems. Man musste nicht nur für die Toten spielen. Es machte viel mehr Spaß, wenn man für lebendige Wesen spielte, die eine Reaktion auf die Musik zeigten, es erfüllte ihn mehr. Dieses Kribbeln, das er in seiner Brust verspürte, wenn die Wesen sich im Takt seiner Musik wiegten, war tausendmal schöner als der Gedanke an Telos. Telos war ein bloßer Gedanke, ein weites Ziel von dem keiner wusste, ob es wirklich existierte. Die Freude dieser Wesen war anders – sie war einfach greifbarer. Dieses Gefühl war real. Von da an veränderte sich sein Leben. Er kehrte gar nicht erst ins Dorf zurück um seine Arbeit fortzusetzen. Stattdessen probierte er sein Klarinettenspiel an allen möglichen verschiedenen Lebewesen aus. Zunächst an Tieren, später auch an Menschen und sogar an Pflanzen. Ja, selbst Pflanzen reagierten auf die Töne. So stieg er nach einiger Zeit unverrichteter Dinge in die Bahn. Dort nagte dann selbstverständlich das schlechte Gewissen an ihm. Als er an der nächsten Station ausstieg, verflog seine Furcht allerdings sofort wieder, sobald er die vielen neuen Lebewesen sah, die er mit seiner Musik beglücken konnte. Auch hier tat er nichts anderes, als für andere zu spielen. Dabei mied er die Dörfer mit äußerster Vorsicht. Es konnte sein, dass ihn jemand sah, der darauf pochte, dass er seine eigentliche Arbeit wieder aufnahm. So verbrachte er seine Zeit damit, für die Lebenden zu spielen. Und dabei fühlte er sich selbst so lebendig wie noch nie zuvor in seinem Leben. Doch wie alles hatte auch diese entdeckte Lebensfreude ihre Schattenseiten. Mit der Freude kam auch die Angst. Immer wenn er einen Sonnenuntergang betrachtete, oder Tieren beim Tanzen zusah, keimte die Furcht wie ein fauliger Samen in seinem Bewusstsein. Es schien, als könne er sich plötzlich an Dinge erinnern, die nie passiert waren. Er begann daran zu zweifeln, dass es in Telos so schön war wie hier. Vielleicht gab es dort noch nicht einmal einen richtigen Sonnenuntergang, so wie es in Kentro nur einen künstlichen Himmel gab. Auf jeden Fall würde es dort nicht so viele verschiedene Sonnenuntergänge geben, wie er bisher hier erlebt hatte. Es war ja schließlich nur ein Ort. Ein und derselbe Ort. Außerdem würde es ihm nur mit Irrgern schnell langweilig werden. Hier gab es so viele verschiedene Lebensformen zu entdecken. Und sie alle schätzten seine Musik. Würden die anderen Irrger seine Musik so zu würdigen wissen? Wohl kaum. Schließlich spielten sie genauso gut – wenn nicht sogar wesentlich besser als er. Und was wäre, wenn man Telos nicht mehr verlassen durfte sobald man es einmal betreten hatte? Er war noch nie einem Irrger begegnet, der dort einmal gelebt hatte. Es hieß ja, wer einmal die Tore von Telos durchschritten hatte, wollte nie mehr zurück. Aber stimmte das wirklich? Was war, wenn es dort auch solche wie ihn gab, denen es außerhalb gefiel? Was wäre, wenn diese Irrger Telos nicht mehr verlassen durften und nun dort in einer regelrechten Gefangenschaft lebten? Unglücklich und einsam, weil sie von keinem der anderen Glücklichen verstanden wurden? Mit aufkeimender Panik dachte er an die vielen Seelen, die er in seinem Leben bereits begleitet hatte. Und sein Soll sank und sank. Da wurde es ihm klar. Ab jetzt war Schluss damit. Er würde die Dörfler ab jetzt komplett meiden. Nur, wenn er unterwegs auf vereinzelte Tote stieß, würde er Jenen suchen und die Seele begleiten. Das war schon bereits mehr als ihm eigentlich recht war. Am liebsten hätte er gar nichts dergleichen mehr gemacht, aber wenn ihn jemand darum bat, einen verstorbenen Freund oder Verwandten zu begleiten, konnte er sich seiner Verantwortung kaum entziehen. So hatte er immer weniger und weniger begleitet. Und nun war in der großen Halle an diesem unglückseligen Tag der ultimative Supergau eingetreten. Noah hatte sich seine Geschichte bis zum Ende angehört. In ihr kämpfte es. Es war zum Teil so, wie sie es sich bereits gedacht hatte. Er hatte tatsächlich ein weitaus besseres Leben geführt als sie. Aber das war irgendwie noch nicht alles. Es war das Wissen, das er für sich errungen hatte. Diese Erfahrung, die er für sich gewonnen hatte. Es war etwas, das sie voneinander unterschied. Und das war ihr nicht ganz geheuer. Bisher waren die Begegnungen, die sie mit anderen Irrgern erlebt hatte, alle gleich gewesen. Was daran lag, dass im Grunde alle gleich waren. Doch diese eine Begegnung mit Raxus brachte ihre gewohnte Welt radikal ins Wanken. Mit einem Mal waren Irrger nicht mehr gleich. Sie hatte gedacht, dass die Irrger, die von der Gesellschaft verstoßen wurden, einfach kaputt, falsch, krank und ekelhaft seien. Etwas, das man schon aus rein pfleglichen Gründen heraus mied. Doch dem war nicht so. Raxus dachte nur anders als die anderen. Er war weder krank noch faul, noch sonst irgendwie äußerlich anders als die andern, wenn man von seinem Mal einmal absah. Aber all das machte ihn nicht weniger gefährlich. Denn auch in dieser Hinsicht war es wieder so, wie Noah es geahnt hatte. Seine Ideologie war ansteckend. Auch sie begann sich nun die gleichen Fragen zu stellen wie er. War ein Paradies noch ein Paradies, wenn man es nicht mehr aus feien Stücken verlassen konnte? Ein Teil von ihr war noch zuversichtlich und dachte – nein, also es war doch logisch, dass man Telos jederzeit verlassen konnte, wenn man es wollte. Aber auch der zweifelnde Teil in ihr dachte – nein, also war Telos ein Ort wie jeder andere auch, mit dem Unterschied, dass er nur für deinesgleichen errichtet wurde. Noah schwirrte der Kopf. Sie befahl sich, mit diesen Gedanken aufzuhören. Stattdessen versuchte sie an seine Vernunft zu appellieren. Sie schlug ihm vor, dass sie vielleicht irgendwann zusammen nach Telos gehen würden. Wenn es ihnen dort nicht gefiel, dann würden sie eben wieder gehen. Doch Raxus schüttelte den Kopf. Es gab bereits einen Ort der ihm besser als jeder andere gefiel – die ganze Welt. Hier gab es nichts mehr zu argumentieren, das war ihr klar. Außerdem musste sie sich so langsam aber sicher wieder auf den Weg machen. Im Gegensatz zu Raxus wollte sie nämlich zu jedem Preis einmal nach Telos kommen. Dennoch war sie hin und her gerissen. Mit keinem Irrger hatte sie bisher so viele Worte gewechselt wie mit Raxus. Wenngleich sie eher zugehört hatte und ihr Gegenüber stark stotterte. Auf jeden Fall wollte sie ihm wieder begegnen. Also vereinbarten sie, dass sie bei ihrem nächsten Aufenthalt in Kentro wieder in der großen Halle warten würden, bis fast alle außer ihnen den Saal verlassen hatten. Noah würde Raxus ohnehin schnell erkennen, da er der Einzige war, der in den letzten Jahrzehnten gezeichnet wurde. Als Noah sich auf den Weg machte, blieb Raxus im Schatten sitzen. Sie machte den Fehler und sah sich noch einmal nach ihm um. Er lehnte noch immer an der Mauer, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Als würde er schlafen. Seltsamerweise verspürte Noah bei seinem Anblick überhaupt keine Wut oder Neid. Alles was sich in ihr ausbreitete war Mitleid und ein Gefühl, das sie nicht einordnen konnte. Sie kam zu dem Entschluss, dass es sich dabei um eine Form von nagender Sorge handeln musste. Eine Erklärung, die für sie bereits absurd genug erschien. Ihres Erachtens nach hatte es das in der Geschichte der Irrger noch nie gegeben. Ein Irrger, der sich um etwas anderes sorgte, als um seine Arbeit und seine Erlösung. Aber das Gefühl hielt an. Auch noch als sie das Bahnhofsgebäude von Kentro betrat. Wie immer war es voll. Wenn auch nicht so hoffnungslos überfüllt wie sonst. Der Großteil der Pflichtbewussten war bereits kurz nach ihrem Aufenthalt in der großen Halle wieder aufgebrochen, um ihrer Arbeit nachzugehen. Nur die Müßiggänger und Fehlzünder waren noch übrig, die sich auf den Sitzplätzen breitmachten und sich in der für Irrger typisch stockend-schleppenden Art unterhielten. Noah hatte weder die Muße noch die Nerven um sich hinzusetzen und in Ruhe auf die Bahn zu warten. Stattdessen ging sie die Haltestelle auf und ab. Selbst wenn sie sich beide an ihre Verabredung hielten, würden sie sich erst nach Jahrzehnten wieder sehen können. Und selbst dann war nicht gewährleistet, dass sie sich zur gleichen Zeit in Kentro befanden. Irgendetwas in ihr flüsterte ihr zu, dass sie gerade eine sehr große Chance verstreichen ließ. Und in ihr schrie plötzlich alles danach, aus dem Bahnhof zu flüchten und zurück hinter das Gerichtsgebäude zu rennen um nach ihm zu sehen. Glücklicherweise obsiegte wie immer ihre Vernunft und als die Bahn einfuhr, wurde sie endgültig aus ihren trüben Gedanken gerissen. Sie spürte nämlich mit einem Mal, wie ihr Magen knurrte. Wie lange hatte sie schon nichts mehr gegessen? Ihr fiel der große Schinken ein, der in ihrer Box lagerte. Allein der bloße Gedanke daran ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Auf einmal gluckerte ihr Bauch so heftig, dass sie sich peinlich berührt umsah, ob nicht noch jemand anderes dieses Geräusch bemerkt hatte. Sie sah sich um. Doch die anderen waren wie immer viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie Noah überhaupt erst einmal wahrgenommen hätten. Einige von ihnen erhoben sich und stiegen in ihre Bahn. Jetzt setzte sich Noah doch hin und sah zu, wie sich die Bahn in Bewegung setzte. Ihre Bahn – die Linie 16 – fuhr wenige Minuten später ein. Noah musste sich beherrschen um nicht gleich hineinzustürmen. Dazu hätte sie auch die anderen Irrger, die hinein gingen, zur Seite rempeln müssen. Ein absolutes Tabu. Also musste sie sich gedulden, bis sie einsteigen konnte. Drinnen in der Bahn musste sie dann noch einmal warten, weil sich an den Boxen mitunter kleine Schlangen gebildet hatten. Sie war nicht die einzige hungrige Person an Bord. Wütend blickte sie auf einen Irrger, der offensichtlich Schwierigkeiten hatte, sich an seine Kombination zu erinnern. Schließlich bildete sich eine kleine schmale Schneise und ließ sie sich zu ihrer Box durchzwängen. Schnell tippte sie ihre Kombination ein und ein Schwall Fleischwaren schwappte ihr lawinenartig entgegen und warf sie zu Boden. Mit hochrotem Kopf stopfte sie alles zurück und zog den Schinken raus. Dann zog sie ihr Schnappmesser aus einem ihrer Stiefel und schnitt sich ein großes Stück vom Räucherschinken ab. Den Rest verstaute sie hastig und verschloss ihre Box schnell wieder. Mit ihrer Beute – einem beträchtlichen Brocken von Schinken – ließ sie sich auf einen freien Viererplatz fallen. Dort schnitt sie sich ein Stückchen ab, schob es sich in den Schnabel und kaute genießerisch. Ihr Magen gab ein dankbar grollendes Tremolo von sich, ehe er sich wieder ganz beruhigte. Erst jetzt sah sie sich um. Auch die anderen Irrger hatten ihr Essen ausgepackt und aßen schweigend. Der eine hatte Konserven, der andere einen großen Laib Käse auf seinem Schoß. Doch so ein schönes Stück Räucherschinken wie sie ihn auf den Knien liegen hatte, so etwas konnte keiner von ihnen vorweisen. Sie konnte die neidischen Blicke schon förmlich auf der Haut spüren. Was genau sie zu ihrem Handeln bewog hätte sie später nicht mehr sagen können. Sie stand auf, ging zu dem Irrger mit den Konserven herüber und bot ihm etwas von dem Räucherschinken an. Der lehnte natürlich ab. Und auch die anderen, denen Noah etwas anbot, wollten nichts von ihr annehmen. Selbst diejenigen die nichts hatten, wendeten konsequent ihre Blicke ab. Resigniert ließ sie sich wieder auf ihren Platz fallen. Das war ihr ja von Anfang an klar gewesen. Sie hätte ja selbst nichts angenommen, wenn es ihr ein anderer Irrger angeboten hätte. Nehmen taten Irrger ausschließlich von den Menschen. Auf die Habe eines Artgenossen angewiesen zu sein galt als große Schande. Und etwas von einem Irrger zu nehmen, stellte für den Geber eine große Beleidigung dar. Denn so wurde er auf die gleiche Ebene wie ein Mensch eingestuft: Kurzlebig, austauschbar, eine Last, eine zu erledigende Arbeit für die Irrger. Dennoch war Noah sich sicher, dass es Irrger gab, die ihr Geschenk angenommen hätten, wenn keiner hingesehen hätte. Raxus zum Beispiel. Noah schüttelte sich. Wie kam sie jetzt bloß wieder auf ihn? Ein Gong ertönte. Sie fuhren wieder auf die Erdoberfläche. Noah schnallte sich an und presste sich den Schinken an den Leib. Kurz darauf ging es wieder senkrecht bergauf durch die Dunkelheit. Erst als sie wieder auf der Erde waren, hörte man, wie die Irrger nach Luft schnappten. Einige von ihnen lachten sogar nervös. Da ertönte der Gong wieder. Eine Durchsage: „Sonderhalt. Zwei flüchtige Existenzen.“ Noch ehe jemand anderes reagieren konnte, drückte Noah den Halteknopf, packte den restlichen Schinken in den Rucksack und stellte sich an die Tür. Mit einem Sonderauftrag konnte sie sich gut von ihren fremden und seltsamen Gedanken ablenken. Wie erwartet meldete sich sonst niemand freiwillig. Nach einem Besuch in Kentro sehnten sich die meisten von ihnen üblicherweise nach Routineaufträgen. Aber sie musste auf andere Gedanken kommen. Die Bahn fuhr über eine flache weite Ebene. Was Noah daran allerdings besonders auffiel war, dass die Umgebung an ihren natürlichen Farben einbüßte je weiter sie fuhren. Vorhin war sie in einer Eislandschaft gewesen und selbst dort waren die Farben satter und kräftiger gewesen. Und in Kentro herrschte vornehmlich die Farbe weiß. Gerade deshalb sollten ihr Wiesen und Äcker umso farbenprächtiger erscheinen. Doch das war nicht der Fall. Ein grauweißer Himmel erstreckte sich über die weite Einöde, als die Bahn träge quietschend zum Stillstand kam. Ein müder Windhauch wehte Noah entgegen, als sie aus der Bahn stieg, so als wäre hier sogar die Luft ihrer Arbeit überdrüssig geworden. Ein einsamer Trampelpfad führte durch die Felder in den tristen Horizont. Vereinzelte kahle Bäume säumten den verwahrlosten Weg. Hinter Noah setzte sich die Bahn wieder ratternd in Bewegung. Erst als die Geräusche des Gefährts vollends verstummt waren, wandte sie sich um. Weiter hinten führte der Weg zu einer kleinen Stadt. Vor ihr zog er sich weiter in die Ferne, zwischen Wiesen und Feldern. Noah seufzte. Natürlich war es ein verlockender Gedanke, in die Stadt zu gehen und dort nachzufragen, ob jemand dort zwei Tote geladen hatte. Nebenher konnte sie da auch ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen und sich dafür fürstlich entlohnen lassen. Doch die flüchtigen Individuen waren stets Seelen, die längst von der Menschheit abgeschieden lebten. In der Stadt würde sie also keine Informationen bekommen. Blieb ihr also nur noch der Weg ins Nirgendwo. Widerwillig machte sie sich auf den Weg. Sonderaufträge dauerten immer lange und man wurde nicht viele Seelen los. Doch man genoss eine gewisse Anerkennung, wenn man hin und wieder einen solchen Auftrag annahm. Und diese Anerkennung hielt noch in Telos an. So wie Gezeichnete dort gemieden wurden, so gewannen fleißige Irrger dort rasch an steigender Beliebtheit. Vielen war dieser Anreiz nicht gut genug. Deshalb rissen sie sich nicht gerade um diese Jobs. Die meisten wollten einfach nur schnell nach Hause. Doch was war schon eine schnelle Heimreise gegen ewige Anerkennung? Nachdem sie einige Zeit so allein gewandert war, kam Noah an einigen kleinen Holzhütten vorbei. Die meisten sahen verlassen aus, was nicht weiter verwunderlich war. Der Acker in der Gegend war komplett verwahrlost. Als sie eine Hand voll Erde aufnahm und vorsichtig roch, bestätigten sich ihrer Vermutungen. Die Erde roch faulig und verdorben. Es würde sie nicht wundern, wenn alle Hütten schon seit Jahren leer stehen würden. Keiner dieser Acker würde in den nächsten Jahrzehnten wieder Früchte tragen. Aber irgendwo musste sie schließlich mit ihrer Suche beginnen. Also ging sie in verschiedene Hütten und spielte auf ihrer Flöte. Doch sie erhielt keine Reaktion. Für gewöhnlich antworteten Seelen. Die gesamte Häusergegend war verlassen und die Felder verwildert. Nur das Unkraut regierte hier über die sonst kahle, unebene Fläche. Hin und wieder stieß sie auf einen Platz, auf dem eine der Hütten verbrannt worden war. Vielleicht war es auch nur ein Blitzeinschlag. Das ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Schließlich und endlich kam sie bei der letzten Holzhütte an. Wie bisher gewohnt rüttelte sie an der Tür und wich erschrocken zurück, als von drinnen ein Aufschrei ertönte. Noah wartete, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass ihr das Herz nicht mehr bis zum Hals schlug. Dann klopfte sie zögernd an. Die Stimme hinter der Tür forderte sie auf, einzutreten. Drinnen sah es fast genauso ärmlich aus wie in den verlassenen Hütten, die sie bereits zuvor betreten hatte. Es war wie sonst auch nur ein einziger Raum, der nach modrig-feuchtem Holz roch. Drinnen war eine Kochnische in der ein schwaches Feuer prasselte. Ansonsten war die Nische verstaubt. Töpfe und Pfanne schienen seit Tagen nicht mehr benutzt worden zu sein. In einer andern Ecke befand sich eine Art Schlafstelle – wenn man das so nennen konnte. Eigentlich waren es lediglich auf Stroh ausgebreitete Laken. In der Mitte des Hauses stützte ein einziger maroder Holzbalken das Gebäude. Direkt daneben stand in gebückter Haltung eine Frau mittleren Alters. Ihr Haar war dunkel und von grauen Strähnen durchzogen, in ihrem Nacken zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden. In ihrer geduckten Haltung war sie etwa genauso groß wie Noah. Zu ihrer vollen Größe aufgerichtet würde sie sie um mehr als einen Kopf überragen. Ihre Arme und Beine ragten sehnig aus dem braunen Lumpen den sie am Leibe trug. Aber was Noah am meisten an ihrem Anblick beunruhigte war ihr Blick. Wenn man nur flüchtig hinsah, wirkten ihre Augen lediglich stumpf, trüb und müde. Sah man jedoch genauer hin, erkannte man den stillen Wahn, der darin funkelte. Wie ein Wesen aus einem finsteren tiefen Teich, das sich hin und wieder an die Wasseroberfläche verirrte und dort seine unheilvollen Kreise hinterließ. Da es nirgendwo im Haus einen Platz zu geben schien, auf den sie sich setzen konnte, blieb Noah einfach an Ort und Stelle stehen und befragte die Frau. Wenngleich auch so vorsichtig wie möglich, denn sie machte einen recht instabilen Eindruck und das nicht nur aufgrund ihrer körperlichen Verfassung. „Verzeiht meinen plötzlichen Besuch.“, begann sie, „Mein Name ist Noah und ich bin im Namen der Obrigkeit auf einer speziellen Mission.“ Sie hatte sehr langsam und sanft zu ihr gesprochen. Doch die Frau wich vor ihr zurück als hätte diese ihr ins Gesicht geschlagen. Sie fiel vor ihr auf die Knie und bettelte: „Bitte! Bitte nehmt sie mit! Ich finde keine Ruhe mehr, solange sie mich quälen! Nachts poltern sie an meine Tür, rütteln am Gehölz oder weinen mir ins Ohr. Manchmal setzen sie sich auf meine Brust und werden immer schwerer bis mein Atem für eine Weile ganz aussetzt und ich in die kalte Ohnmacht gleite. Bitte nehmt sie mit! Sie peinigen mich doch so!“ Jeder andere hätte die Frau für vollkommen verrückt erklärt und auf dem Absatz kehrt gemacht. Doch Noah kannte solche Fälle nur zu gut. Flüchtige Individuen konnten den zähesten Menschen innerhalb von nur wenigen Tagen in ein bibberndes Häuflein Elend verwandeln. Die meisten Menschen hatten allerdings ohnehin bereits große Angst vor ihnen. Sie nannten sie Poltergeister und behaupteten, sie kämen direkt aus der Hölle. Oft genug geschah es, dass sich besonders junge Menschen zusammentaten und diese Seelen heraufbeschworen. Tatsächlich zogen sie zumeist ganze Horden von diesen Individuen an. Jedoch nahmen sie diese meistens nur als ein einziges wahr. Diese Frau jedoch wusste sofort, dass es sich um mehrere Individuen handelte. Das konnte nur bedeuten, dass sie den Verstorbenen bereits im Leben nahe gestanden haben musste. Sie erweckte in Noah jedenfalls nicht den Eindruck, als ob sie sich mit der spirituellen Welt auseinandersetzte. „Wo halten sie sich üblicherweise auf?“, fragte Noah und dachte sich, dass der Umstand, dass die Frau die Seelen kannte die Sache ungemein vereinfachte. „Da wo sie ihre Körper verlassen haben. Nicht sehr weit von hier.“, sagte die Frau, „Da gibt es weite Weiden und Felder. Früher waren sie mal grün und voller Vieh, aber seit die beiden aufgetaucht sind…“ Sie stockte. Ich verstand. Nicht nur Menschen konnten von den Verstorbenen heimgesucht werden, sondern auch Tiere und sogar Pflanzen. Kein Wunder also, dass hier nichts mehr gedieh. Doch etwas an der Geschichte war seltsam. Normalerweise konnten zwei Seelen allein nicht ganze Ländereien ausrotten. Dafür waren schon mehrere hundert von ihnen erforderlich, die sich zusammenrotteten. Das war auch der Grund, warum auf so vielen Schlachtfeldern nichts mehr blühte. Aber auch in der Bahnansage war nur von zwei Seelen die Rede. Vielleicht hatten die ja gar nichts mit dem raschen Verfall der Umgebung zu tun. Noah beschloss, sich erst einmal um die beiden Seelen zu kümmern. Danach konnte sie immer noch Nachforschungen anstellen. „Du sagtest bei den Weiden. Wo befinden die sich?“ Die Frau überlegte kurz. „Weiter südlich von hier. Folge einfach dem Weg weiter. Doch auf der Weide werdet ihr sie nicht finden. Dahinter…“ Sie fasste sich plötzlich an die Schläfen. „Mein Kopf schmerzt so sehr. Ich habe schon seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen.“ Lange wollte Noah sich nicht mehr an diesem bedrückenden Ort aufhalten. „Sag mir noch schnell wo ich sie finde.“, befahl sie daher barscher als sie es vorgehabt hatte. Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht mehr genau. Auf jeden Fall aber auch hinter den Weiden.“ Sie schleppte sich vor Müdigkeit torkelnd auf ihr behelfsmäßiges Nachtlager. Sie legte sich hin und es dauerte nicht lange bis Noah nichts anderes als ihr regelmäßiges Atmen hörte. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Noah verließ die Hütte und folgte dem Weg weiter nach Süden. Unterwegs verwilderte der Pfad zusehends und die Wolkenwand am Himmel wurde düsterer und dichter. Disteln säumten den Weg, der nicht mehr ausgetreten war, sondern felsig und holprig wurde. Es war als würde die Landschaft selbst Noah davon abhalten wollen, weiter ins Tal zu marschieren. Denn es ging allmählich bergab und Noah sag, was sich am Ende des Hanges befand. Es war ein riesiger Wald. Oder besser gesagt – das war es einmal. Jetzt waren zwar die Bäume noch da – riesige Bäume mit vollen Kronen. Doch auch dieser Ort hatte enorm an Farbe eingebüßt. Nun glich der Ort einem gähnenden schwarzen Schlund, der sich dazu anschickte, das triste graue Ödland um ihn herum zu verschlingen. Der Abhang, der ohnehin schon steinig und gefährlich war, wurde zum Wald hin immer steiler und forderte geradezu dazu auf, in den Wald zu rennen. Noah ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Betont langsam und mit einer an Übertreibung grenzenden Sorgfalt machte sie sich an den Abstieg. Denn als etwas anderes konnte man die folgende Kraxelei kaum bezeichnen. Zwar ragten hier und dort ein paar vereinzelte Grasbüschel aus dem ansonsten kahlen Boden, doch diese waren von ungesunder gelbbrauner Farbe und zerrissen sofort, sobald man auch nur ein wenig daran zog. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich an den aus der Erde ragenden Felsen festzuhalten. Doch diese waren mitunter messerscharf. Noah musste aufpassen, dass sie sich nicht an den Händen verletzte. Nicht selten konnte sie sich nur mit den Fingerspitzen festhalten, während sie sich mit den Füßen an einem solideren Standplatz herantasten musste. So war es nicht weiter verwunderlich, dass sie den letzten Abschnitt hinabrutschte. Dabei überschlug sie sich und fiel mit dem Gesicht so fest in den Dreck, dass sie ihren Schnabel mit Mühe herausziehen musste. Staub wirbelte auf und setzte sich hartnäckig in ihrem Mantel fest. Grimmig dachte sie daran, dass sie für ihren nächsten Auftrag neue Kleidung statt einer Mahlzeit verlangen musste. Den neuen Gürtel musste sie dann vermutlich gleich für eine Weile enger schnallen, aber wer wollte seine Verstorbenen schon von einem staubigen Irrger ins Jenseits begleiten lassen? Nachdem sich der größte Teil der aufgewirbelten Staubwolken gelegt hatte, sah sie, dass es ihr ohnehin schwer fallen würde, sich im Wald zurechtzufinden. Denn abgesehen davon, dass die Bäume von dichten Schlingpflanzen umwachsen waren, waberten milchiggraue Nebelschwaden zwischen ihnen umher. Diese waren zum Teil so hoch, dass Noah zur Gänze in ihnen zu verschwinden drohte. Bedächtig tastete sie sich vorwärts. Mit der Hilfe ihrer Flöte würde sie auf jeden Fall wieder aus dem Wald hinausfinden. Die Hauptsache war es im Moment, in den Wald hineinzufinden und Jenen zu suchen, der hier irgendwo hausen musste. Was das betraf, hatte sie noch erhebliche Zweifel. Zwar lebten Jene gerne weit weg und abgeschottet von jeglicher Form von Zivilisation, doch in solch einer Umgebung würden selbst sie sich nicht wohl fühlen. Vielleicht lebte er ja hinter dem Wald. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie fast stolperte. Sie war mit einem Fuß in ein bis zum Knöchel reichendes Loch geraten. Vorsichtig hob sie ihn heraus. Hätte sie sich nicht im letzten Moment noch rechtzeitig gefangen, hätte das einen fiesen Bruch zur Folge haben können. Nachdenklich setzte sie sich hin und massierte ihren Fußknöchel. Wenn es hier noch viele von diesen Löchern gab, sah es um ihre Erfolgsaussichten düster aus. In diesen finsteren Gedanken versunken saß sie eine Weile da und lauschte. Kein einziger Laut war zu hören. Es schien hier nicht einmal Vögel zu geben. Doch da war etwas. Eine Reihe von seltsamen Geräuschen, die Noah bekannt vorkamen, hallte aus der Ferne. Zunächst konnte sie sie nicht einordnen, doch dann fiel ihr ein, wo sie diese Laute zuletzt schon einmal gehört hatte. Es war, als sie das letzte Mal in der Bahn gesessen hatte und alle Irrger einschließlich ihr selbst mit dem Essen beschäftigt gewesen waren. Es waren Kaugeräusche. Im ersten Augenblick dachte Noah, der Wald wäre auf schaurige Art und Weise zum Leben erwacht und hätte angefangen seine Bewohner zu verdauen. Doch dann fiel ihr auf, dass die schlürfenden Schmatzgeräusche aus einer bestimmten Richtung kamen. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob sie gezielt in eine andere Richtung gehen sollte, um Ärger zu vermeiden. Doch dann besann sie sich darauf, dass sie noch immer keinen Anhaltspunkt hatte, wohin sie gehen sollte. Sie würde lediglich weiter im Nebel herum stolpern, bis sie sich womöglich noch verletzte. Also stand sie auf und ging vorsichtig den Geräuschen entgegen. Nach einiger Zeit wurden die Geräusche lauter. Bald konnte sie oben im Nebel einen dunklen Fleck erkennen. Etwas bewegte sich zwischen den Bäumen. Zwischen den Baumkronen krauchte etwas Dunkles herum. Zuerst dachte Noah, dass es sich dabei um eine riesengroße Spinne handelte, die an einem großen dicken Faden zwischen den Bäumen hing. Doch es war etwas wesentlich Abartigeres, so dermaßen abstoßend, dass sie es zunächst gar nicht erst richtig registrieren konnte. Es war ein schwarz gewandetes Wesen, das kopfüber in der Luft hing. Mit seinen Beinen hielt es sich an den Ästen der Baumkrone fest. Dabei waren seine Gliedmaßen so krumm, falsch und schief, dass es im Nachhinein kein Wunder war, dass Noah es mit einem Insekt oder einer Spinne verglichen hatte. Es fraß an einer von zwei menschlichen Leichen, die an einem der Bäume hingen. Jedes andere Wesen hätte dieser Anblick dazu veranlasst, schreiend die Flucht zu ergreifen. Nicht so der Irrger. Noah atmete erleichtert auf. Zum einen, weil sie nun zumindest die Körper der flüchtigen Individuen gefunden hatte, zum anderen, weil ihr die Rasse die da oben an den Leichen nagte nicht unbekannt war. Es war ein Dim. Eine Unterform der Nachtalben. Sie trieben sich auf den Friedhöfen der Menschen herum um sich von Leichen zu ernähren. Im Grunde waren sie Aasfresser und für die Lebenden meistens ungefährlich. Dennoch nutzten sie nicht selten ihre skurrile Gestalt um Menschen zu erschrecken, ja sogar zu verletzen. Besonders Letzteres taten sie grundsätzlich nur bei deutlich schwächeren Wesen. Auch andere Wesen außer den Menschen mieden sie allein schon deshalb, weil sie einen fauligen Atem hatten. Ihr ganzer Körper verströmte besonders an heißen Tagen den faulig-süßlichen Duft von verrottetem Fleisch. Sie wussten von der Angst, die Menschen vor ihnen hatten und nutzten diese schamlos für ihre Streiche aus. Die Menschen, die sie, genau wie Seelen und sonst alles ihnen Fremdartige nicht voneinander unterscheiden konnten, hielten auch die Dim für ein einziges Geschöpf, das an verschiedenen Orten sein Unwesen trieb und gaben ihm den Namen Springheeled Jack. Zugegeben, der Name schmeichelte ihnen offensichtlich. Das Wesen in den Bäumen hatte sein Mahl fast beendet. Es waren kaum mehr als Skelette übrig, die im Wind klapperten. Erst jetzt bemerkte der Dim Noah. Vielleicht hatte er sie schon die ganze Zeit gehört, mit seinen langen spitzen Ohren. Doch jetzt wendete er ihr sein Gesicht zu und zeigte ihr sein Grinsen. Dieses Grinsen hatte nichts zu bedeuten, zumal es nicht ganz beabsichtigt war. Jeder Dim hatte eine rötliche Linie auf den Lippen, die über die Mundwinkel hinaus ging und ihnen ein clownhaftes Claskowgrinsen verlieh. Noah beschloss Vorsicht walten zu lassen. Dim waren in sämtlichen Intelligenzklassen vertreten. Diejenigen, die von niederer Gesinnung waren, spielten den Menschen harmlose Streiche. Es gab jedoch auch Hochintelligente unter ihnen, die auf andere eine manipulierende Wirkung hatten. Dim und Irrger gingen sich aus dem Weg. Noah wartete ab, bis der Dim das Wort ergriff, damit sie ihn besser einschätzen konnte. Der Dim bleckte die nadelspitzen Reißzähne und schnarrte: „Da hat die Ente sich im Wald verlaufen. Wie gedenkst du hier ein Pfeifkonzert zu veranstalten? Das Publikum ist spärlich…“ Seine gelbschwarzen Augen funkelten und er lachte laut und heiser, während Noah ihre Wut unterdrückte. Ente war ein Schimpfwort, das die Dim für die Irrger erfunden hatten. Es deutete an, dass sie langsam waren und trotz ihres Schnabels nicht wie die Dim in der Lage waren zu fliegen. Betont gelassen antwortete Noah: „Enten und Flederratten hausen oft im gleichen Wald. Und was mein Publikum betrifft, das hat die Flugratte fast zur Gänze abgenagt.“ Ganz offensichtlich hatte sie es hier mit einem der unterbelichteten Exemplare zu tun. Sein Lächeln gefror und seine Mundwinkel zuckten. Hoffentlich, so dachte Noah, war er noch bereit, zu kooperieren. Sie wies auf die sterblichen Überreste. „Du weißt nicht zufällig, wo die beiden sich derzeit aufhalten?“ Der Dim dachte kurz nach. „Wer will das wissen?“ „Noah 37567864. Mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Krimm. Krimmcrow. Und diejenigen, die du suchst, findest du im Norden in der alten Hütte. Auch Jener lebte dort. Aber...“, er griente – diesmal mit voller Absicht, „Er war schon lange nicht mehr das was du erwartet hast.“ Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und pulte sich betont langsam mit seinen dunklen Fingernägeln zwischen den Zähnen herum um die fauligen Fleischreste zu entfernen. Seine daraus resultierenden Errungenschaften flitschte er in die Luft und streckte sich dann wohlig auf einem Ast aus um einen Verdauungsschlaf zu halten. Noah hatte keinen Zweifel an seinen Worten, denn die Dim hatten die Fähigkeit die Seelen von Verstorbenen zu sehen. Irrger konnten das nur, wenn sie sie ins Jenseits schickten, in der Zeitspanne in der sie musizierten. Noah vermutete, dass die Dim diese Fähigkeit aufgrund ihrer Ernährungsweise nötig hatten. So konnten sie bei der Sichtung einer wirtlosen Seele immer davon ausgehen, dass sich der dazugehörige Körper noch irgendwo in dessen Nähe befand. Dennoch machte sie etwas stutzig. Die letzten Worte von Krimm beunruhigten sie. Es war eine für Dim typische versteckte Warnung an sie. Immerhin ein Zeichen seiner Wertschätzung an sie, dass sie immerhin interessant war, da er sie ansonsten kopflos ins Unglück hätte rennen lassen. Nun war es für sie beide zu einer Wette geworden. Auch wenn Krimm jetzt ein kurzes Nickerchen halten würde, sie wusste genau, er würde ihr hinterher fliegen und ihr zusehen. Gewann sie, hatte er seine Darbietung. Verlor sie, bekam er eine Darbietung und eine weitere Mahlzeit. Noah ließ also den Dim weiter auf seinem Ast dösen und machte sich auf den Weg nach Westen. Zumindest war sie sich sicher, dass sie nach Westen ging. Die Umgebung wurde sumpfig und schwammig, so als wäre der Wald wirklich etwas Lebendiges und dies seine Organe. Immer mehr exotische Pflanzen nahmen den Platz von gewöhnlichem Moos oder Pilzen ein. Zwar war es nicht so, dass der Wald an Farbe gewann – er wurde noch immer trister und düsterer. Aber die Formen wurden vielfältiger. Immer mehr wirkte der Wald wie ein tropischer Dschungel. Doch da – da funkelte etwas durch den Nebel hindurch. Es befand sich nicht in der Richtung, die der Dim ihr angegeben hatte, doch es war ein verlockendes Glitzern und Noah nahm sich fest vor nur einen einzigen Blick darauf zu werfen. Also änderte sie kurzzeitig ihre Richtung und ging auf das Funkeln zu. Es erhellte die Umgebung und zog sie an. Bald schon teilten die Lichtstrahlen den Nebel, schnitten durch die Dunkelheit. Und dann sah sie es. Es waren Bäume. Leuchtende Bäume aus Kristall. Noah hatte so etwas schon öfter gesehen. Oftmals, wenn sie auf Reisen war und aus dem Fenster der Bahn blickte, wenn sie über das Meer fuhr. Diese Gebilde aus Kristall befanden sich meist unter Wasser. Meistens im Meer, aber einmal hatte sie es auch in einem See gesehen. Dieser steile Abhang und die seltsame Flora in den Tiefen des Waldes. Nun ergab alles einen Sinn. Dieser ganze Wald, oder zumindest die Fläche auf der sie sich befand, musste sich vor vielen Jahren einmal auf dem Grund des Meeres oder eines Sees befunden haben. Und der Wasserpegel unter dem Wald stieg oder sank mit den Jahren und dementsprechend veränderte er sich. Derzeit schien er sehr hoch zu sein. Das erklärte den Nebel und die tropisch feuchte Flora. An den Kristallen an sich hatte Noah kein Interesse, also machte sie kehrt und marschierte weiter nach Norden. Nach der strahlenden Pracht, die sie hinter sich ließ, kam ihr der reguläre Wald nun noch finsterer vor als sonst. Es kostete sie Mühe und vor allen Dingen Zeit, sich ihren Weg durch das Dickicht zu bahnen. Zumal sie nicht wusste, wann die Sonne wieder unter ging. Wenn das geschah, musste sie zwangsläufig an Ort und Stelle übernachten. In völliger Dunkelheit im Wald herumzustolpern wäre lediglich töricht und gefährlich noch dazu. Glücklicherweise kam bald darauf schon die Hütte in Sicht. Eine verwitterte alte Hütte. Bei näherer Betrachtung stellte man fest, dass dieses Haus eigentlich gar nicht mehr stehen dürfte. Es war so alt und hatte so lange leer gestanden, dass die Witterung daraus unlängst eine Ruine machen musste. Das faulige Holz hielt jedoch so zusammen, als wäre die Hütte aus einem einzigen riesigen Holzblock gezimmert worden. Und hinzu kam selbstverständlich noch die unnatürliche Aura, die das Gebäude umgab. Obwohl alles in Noah sich dagegen sträubte, ging sie hin und öffnete die Tür. Drinnen herrschte absolute Dunkelheit und die Luft war so stickig und dick, als ob man sie schneiden könnte. Eine ungewöhnlich schwüle Hitze lag in der Luft und das obwohl kein Feuer brannte. Die Fenster waren vor Dreck und Schmutz so schwarz, dass man sie erst erkennen konnte, wenn man sich bereits eine Weile an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Außerdem waren sie schon seit Tagen so stark beschlagen, das sich von innen her bereits ein grünes Geflecht auf ihnen gebildet hatte. Von dem Haufen Gerümpel, das wohl vor langer Zeit einmal eine Kochnische gewesen war, ging ein schaler fauliger Geruch aus. Es war ein ähnlicher Geruch wie der, der von den Dim ausging – nur ohne diese bittere Ledernote. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Dim hier gehaust hatte. Sie hassten Gebäude und schliefen vornehmlich in Grüften oder unter Brücken. Noah schloss die Tür hinter sich. Je eher sie anfing, desto schneller konnte sie diesen abartigen Ort wieder verlassen. Sie wartete eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann entdeckte sie die zwei Sessel. Eine Sekunde lang dachte sie darüber nach, ob sie sich setzen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Es hätte sonst sein können, dass sie die letzten Spuren der flüchtigen Existenzen verwischte. Stattdessen stellte sie sich direkt mit dem Rücken zur Tür. So konnte sie den ganzen Raum überblicken, falls sich etwas veränderte. Sie holte noch ein paar Mal tief Luft und setzte dann die Flöte an. Den kleinen Gerippen nach, an denen der Dim genagt hatte, waren die Seelen noch Menschenkinder. Sie spielte eines der Wiegenlieder, das sie von einigen Menschenmüttern einmal gehört hatte. Etwas in der Luft… flackerte, aber ganz schwach. Sie waren hier, aber sie wollten sich aus irgendeinem Grund nicht zeigen. „Wo seid ihr?“, flötete sie aufmunternd. Eine Zeitlang geschah nichts. Dann durchdrang ein leises Flüstern die Stille, wie ein fernes Seufzen. Es war eindeutig eine weibliche Seele. „Wir verstecken uns.“ Das war alles, was Noah verstehen konnte, bevor der leise Ton wieder von der stickigen Stille verschluckt wurde. Da war noch jemand. Die andere Seele verbat der leisen Stimme den Mund. Wenn sie etwas aus den beiden herausbekommen wollte, musste sie beide überzeugen, mit ihr zu sprechen. „Ich bin harmlos“, spielte sie. Dabei gab sie sich Mühe, die Töne möglichst naiv und verspielt klingen zu lassen, um nicht noch mehr Misstrauen zu erwecken. Es herrschte noch immer Stille im Raum, doch es war nicht die gleiche Anspannung darin wie zuvor. Wenn man genau hinhörte, nahm man leise Schwingungen wahr, wie die kleinen weißen Abstände zwischen den Textzeilen. Es war eine bewusst herbeigeführte Stille, die dazu diente, Geräusche nach außen hin abzuschirmen, damit die Kinder sich in Ruhe beraten konnten. Schließlich begann die Luft zu knistern, wie kurz vor einem Gewitter. „Geh weg!“, fauchte eine kräftigere Stimme. Ganz eindeutig ein kleiner Junge. Noah appellierte an seine Vernunft. „Ich kann euch helfen“, spielte sie, „Oder ich kann wieder gehen. Aber so schnell bekommt ihr keine zweite Chance.“ Sie wusste genau, dass es nur sehr wenige Menschen gab, die eine Chance ungenutzt verstreichen ließen. So auch diese beiden Kinder. Es schien als würde sich die Luft ein wenig auflockern. Alles war wesentlich klarer zu sehen, alles im Raum schien wieder an schärferen Konturen zu gewinnen. Wenn Noah die Augen zusammenkniff, sah sie zwei flimmernde Gestalten auf den Sesseln sitzen. „Wollt ihr nach Hause?“, spielte Noah. „Wir können nicht nach Hause. Nicht solange ER da ist.“, erwiderte der Junge. „SIE.“, verbesserte ihn das Mädchen. Das Abbild des Jungen flackerte. Offenbar ein spiritueller Ersatz für ein Stirnrunzeln. Zuerst hatte Noah vermutet, dass der Junge von Krimm sprach. Doch das Mädchen sagte SIE. Sie waren sich darüber uneins, also wechselte Noah das Thema. „Wisst ihr wo ich Jenen finden kann?“ Die Kinder schwiegen betreten. Schließlich platzte das Mädchen heraus: „Er ist tot! Schon lange, lange tot!“ Und ehe der Junge sie bremsen konnte, fuhr sie fort: „Er hat vor langer Zeit hier gelebt, kurz nachdem das Meer weg war. Doch dann ist der Wasserpegel wieder gestiegen. Und dann kamen SIE zurück und… und nahmen seinen Körper in Besitz.“ Noah verstand. Der Junge hatte Recht damit, dass es ein männlicher Körper gewesen war, der hinter ihnen her war. Doch das Mädchen war feinfühliger auf dieser Ebene und hatte gleich gemerkt, dass es mehrere waren, die ihn lenkten. Etwas aus dem Meer… Sie hatte einmal von einer Seelen fressenden Kreatur aus dem Meer gehört. Das war in einer Legende, einem Lied, das sich Irrger gegenseitig vorspielten. Sie versuchte sich wieder an die Zeilen zu erinnern, doch es gelang ihr einfach nicht mehr. Doch das Abbild des Mädchens glühte plötzlich so hell, dass ihr Licht bis zu der hellen Stelle über den Kaminsims reichte, dort wo scheinbar einmal eine Jagdtrophäe gehangen hatte und daher noch ein einigermaßen heller Fleck war. Auf dieser Fläche begannen sich krakelige schwarze Buchstaben zu bilden, so als würden sie von einem kleinen Kind mit schwarzer Farbe an die Wand gemalt: Wo Angst und Furcht sich einen Kann kein Licht hin scheinen Auf des Meeres Grunde Macht Schreckliches die Runde Die Luft flackerte wieder und der Junge rief halb zornig, halb ängstlich: „Hör auf!“ Doch das Mädchen ließ sich nicht beirren. Was tausend Jahre währt Weil es vom Leben nährt Und wie der schwarze Mann Den Alptraum schmecken kann Die Luft im Raum wurde bleischwer. Noah konnte kaum atmen. „Lass das!“, schrie der Junge fast verrückt vor Angst, „Du rufst ihn! Sei still!“ Doch unerbittlich erschienen nun auch noch die letzten Zeilen auf der Wand über dem Kaminsims: Aus 2 mach 1 Und fürchte dann Den Zwillingsschlächter ÄGIRRAN Ein feiner Riss kroch über die Wand und spaltete den Text von „und“ und „Furcht“ bis hin zu „Ägir“ und „Ran“. Dann fühlte es sich an, als würde die Luft implodieren. Hitze und Kälte wechselten sich innerhalb von Sekunden ab. Die Kinder verschwanden mit einem erschrockenen Aufschrei und es wurde wieder schlagartig dunkel im Raum. Dafür war es jetzt so kalt, dass Noah ihren Atem sehen konnte. Es war so still, als würden die Geräusche abgesaugt. Ägirran war da. Noah bekam eine Gänsehaut bis in den Nacken. Sie setzte ihre Flöte an und spielte. Es ertönte ein hoher langer Ton, der in der Mitte brach und abrupt endete. Als hätte ihn jemand in seinem schier flammenden Zorn durchtrennt. Noah versuchte es noch einmal. Aber die Stille schluckte alle Schallwellen. Natürlich war sie nicht so dumm zu versuchen, die Tür hinter sich zu öffnen. Stattdessen versuchte sie weiter zu spielen. Was sich selbstverständlich als schwierig erwies, da sie ihre Flötenmusik nicht hören konnte. Dennoch beschloss sie zunächst einmal mit dem Wesen zu kommunizieren. Was meinte das Gedicht? Aus 2 mach 1… „Ich grüße dich, Ägirran. Mein Name ist Noah. Ich bin ein Irrger mit dem Auftrag, diese beiden Kinder in die Dunkelheit zu führen.“ Die Antwort von Ägirran schnitt ihr so schrill durch ihren Geist, dass ihr der Kopf schmerzte. „SIESINDNICHTMEHRHIERWOSINDSIEWOHINISTDERDIMVERSCHWUNDEN!“ Die Stimme überschlug sich in ihrem Kopf. Sie konnte die Sätze kaum auseinander halten. „Weißt du, wo sich einer von Jenen aufhält?“, fragte sie. „ERWARDERLETZTEWIRTERISTFORTWIRWARENUNACHTSAM!“ Das war also mit Jenem geschehen. „Was meinst du mit fort?“ „ERISTTOTSIEHABENIHNAUFDEMGEWISSENDAFÜRWERDENWIRSIEJAGENBISINALLEEWIGKEITUNDDUHILFSTUNSDABEI!“ Noah suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Wenn sie ihren Körper übernahmen, würden sie mit der Flöte Seele um Seele anlocken, bis sie die ganze Welt in sich einverleibt hatten. Aus 2 mach 1… Der Zwillingsschlächter…! Jetzt wurde es ihr mit einem Mal klar, warum sich seine Stimme in ihrem Kopf so wild überschlug. Ägir und Ran waren Zwillinge. Aus 2 mach 1 Und fürchte dann… Und wenn man aus 1 wieder 2 machte? Musste man sich dann noch immer fürchten? Ganz sicher war das nicht. Aber es war der letzte Strohhalm, an den Noah sich zu ihrer Rettung klammern konnte. Sie wartete bis die Luft vor ihr knisterte. Dann setzte sie die Flöte an ihren Schnabel an und stieß mit aller Kraft einen schrillen Pfeifton aus: „AUS 1 MACH 2!“ Und für einen kurzen Augenblick flackerten vor ihr zwei schmerzverzerrte Gesichter auf, die widerwillig auseinander gerissen wurden. Ein empörter Aufschrei fegte durch die Hütte. Offenbar waren die Zwillinge zum ersten Mal getrennt worden. So weit so gut. Jetzt kam der knifflige Teil. Da die Zwillinge noch benommen waren, hörte man auch die Töne wieder. Noah spielte eine euphorische Marschmelodie und rief die Seelen der beiden Kinder zu sich. Sie blitzten angriffslustig vor ihr auf. Die Seele des Jungen noch recht misstrauisch, das Mädchen umso energischer und strahlender. Nun kam es auf Sekunden an. Es galt die beiden Seelen so schnell wie möglich zu überreden. „Haltet sie voneinander fern! Haltet sie fest! Alleine sind sie machtlos!“ Das Mädchen stürzte sich sofort auf Ägir und setzte ihn fest. „DU!“, keuchte der entsetzt, „DU HAST UNS SCHON EINMAL DAZWISCHEN GEFUNKT!“ Nun setzte sich auch der Junge in Bewegung. Er setzte Ran auf der Stelle fest. Die getrennten Zwillinge rangen noch eine Weile mit ihren Peinigern, wurden dann allerdings schnell schwächer, bis sie sich nur noch wanden und lamentierten. „NICHT MEHR! BITTE! WIR HALTEN DAS NICHT AUS!“ „Dann sagt mir, wie diese Kinder ohne Jenen jemals ihren Weg ins Jenseits finden sollten!“, befahl Noah. „ES GIBT EINEN WEG.“, antwortete Ran hastig, „WIR BRINGEN ES ZUWEGE.“ „Ihr könnt die Seelen ins Dunkel geleiten, wenn ich spiele?“ Eine Art spektrales Hohnschnauben ließ die Luft flimmern. „WIR HABEN LANGE GENUG IN DER HAUT EINES JENEN GELEBT UM MIT DEM RITUAL VERTRAUT ZU SEIN.“ Nach dem was Noah erfahren hatte, stimmte das wohl. „Dann habe ich noch eine Forderung.“, verlangte sie, „Nachdem wir die Kinder begleitet haben, werdet ihr wieder frei sein. Ich verlange, dass ihr dann sofort zurück ins Meer zieht, sonst werde ich euch hier so lange getrennt festsetzen, bis der Wasserpegel wieder sinkt. Die daraus resultierenden Schmerzen werden euch in den Wahnsinn treiben.“ „NEIN, ALLES NUR DAS NICHT!“, wimmerten sie, „WIR WERDEN OHNEHIN JAHRE BRAUCHEN UM WIEDER RICHTIG MITEINANDER ZU VERSCHMELZEN!“ Im letzten Teil schwang so etwas wie ein leiser Vorwurf mit und Noah musste sich zusammenreißen um nicht zu lachen. Wenn man den Stier erst bei den Hörnern hatte, verwandelte sich die wildeste Bestie wieder in ein schmollendes Kleinkind. „Also gut. Ich denke, wir alle wollen das hier so schnell wie nur irgendwie möglich hinter uns bringen. Ich fange jetzt an.“ Sie spielte eine Melodie über das Wasser, welches sich unter dem Wald befand. Vom steigenden Pegel und die Auswirkungen, die dieser auf seine Umgebung hatte. Dann ging es tiefer nach unten. Runter bis auf den Meeresgrund. Dort wo sich die Wiege der Welt befand. Ein altes Lied, das die Menschen vor langer Zeit einmal sangen, kam Noah in den Sinn. Also spielte sie die Zeilen die ihr noch einfielen. Es ging um eine alte Schildkröte, die nie erwachsen sein wollte und nach vielen Jahren erkannte, dass man tief im Herzen noch jung sein konnte, auch wenn man außen bereits hart wie Stein war. Und ohne dass Noah es beabsichtigt hatte, erschien vor ihnen ein silberner Lichtstrahl, der von einer durchsichtigen Wasserschildkröte umkreist wurde. Für einen Augenblick war Noah fast zu baff um weiterzuspielen, doch sie fasste sich schnell wieder und ließ die Schildkröte weiter um den Lichtstrahl schwimmen. Mit einem Mal lösten sich die Seelen der Kinder von den Zwillingen und schwammen auf das Licht zu. Alarmiert blickte Noah auf Ägir und Ran. Doch die blickten nur wie hypnotisiert auf die Schildkröte. Die Luft um sie herum vibrierte harmonisch und ähnelte dabei einem friedlichen Schnurren. Die Seelen der Kinder schwammen zusammen mit der Schildkröte um den Lichtstrahl herum. Es sah aus wie die Geburt eines kleinen Sonnensystems. Sie schwammen in immer engeren Kreisen nach oben und das Licht wurde dabei immer heller. Schließlich musste Noah die Augen zukneifen und als sie sie wieder öffnete, waren die Kinder mitsamt der Schildkröte und dem Lichtstrahl verschwunden. Eine Weile herrschte Stille. Dann brach ein Freudengeheul los, als die beiden Zwillinge aufeinander los stürmten und sich in einer wilden Umarmung vereinten. „ZWILLING! ZWILLING! WIR SIND WIEDER EINS! LASS UNS HEIMKEHREN! WIR HABEN SEHNSUCHT NACH DEM MEER!“ Und nach einigem Zögern, „DANKE FÜR DAS LIED!“ Und mit diesen letzten Worten erhob sich Ägirran in die Luft und fuhr vor Freude jauchzend durch den Erdboden ins Meer zurück. Noah atmete auf. Mit so viel Lob hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Sie war so sehr von ihrer Euphorie gebannt, dass sie gar nicht bemerkte, wie sich die Tür hinter ihr langsam öffnete. Sie öffnete sich nicht zur Gänze sondern nur halb. Dann steckte Krimm von draußen sein bleiches Gesicht rein und schnarrte: „Na, das war doch mal richtig amüsant.“ Noah bemühte sich, nicht vor Schreck zusammenzufahren. Doch es dauerte ein wenig zu lange, bis sie sich betont langsam zu ihm umdrehte. Um der Blamage ein wenig von der Spitze zu nehmen trat sie die Flucht nach vorn an. „Dafür, dass es so amüsant war, hast du dich aber lange vor der Tür rumgedrückt. Eigentlich sind die Festivitäten bereits vorbei.“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass es nicht nur der Lichtstrahl aus dem Türspalt war, der den Raum erhellte. Die stickige Luft war verschwunden. Stattdessen wehte nun klare Waldluft in die Hütte, wenn auch leicht gemischt mit dem fauligen Geruch des Dim. Noah schob sich mit angehaltenem Atem an ihm vorbei ins Freie. Der Wald war wie ausgewechselt. Sämtliche Farben waren zurückgekehrt und die exotischen Gewächse waren verschwunden. Noah warf einen Blick zurück in die Hütte. Sie war gar nicht mehr finster. Zwar war sie dunkel, alt und verfallen, doch innen schien jetzt wieder Licht durch die Fenster und tauchte den Raum in ein gewöhnliches Grau. Auch der Nebel hatte sich verzogen. Man brauchte mit Sicherheit weder einen Kompass noch ein Instrument um aus dem Wald wieder herauszufinden. Zumindest dann nicht wenn man ein Dim oder ein Irrger war. Hier gab es nichts mehr zu tun. Was weiterhin mit diesem Wald geschehen würde, lag nicht mehr in ihrer Hand. Sie steckte ihre Flöte ein und machte sich auf den Rückweg. Nach kurzer Zeit fielen ihr die schlurfenden Schritte hinter ihr auf. Dieses Mal musste sie sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer ihr da auf den Fersen war. Es dauerte auch nicht lange, bis der Dim sie erneut ansprach. „Wie ich sehe sind dir Kreaturen, die sich besiegt am Boden winden, sympathisch.“ „Mh… ja.“, antwortete Noah trocken, „Die sind immer so bescheiden und distinguiert.“ Daraufhin brachen sie beide in ein dermaßen laut schallendes Gelächter aus, dass sie ganze Schwärme von Vögeln in den Bäumen aufscheuchten. Noah wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. Wann war sie das letzte Mal in ihrem Leben so ausgelassen gewesen? Vielleicht war einfach zu viel Routine in ihr Leben eingekehrt. Schließlicht hatte sie nicht gerade die fröhlichste Lebensaufgabe. Sie blinzelte, als sie die Vögel im Sonnenlicht davonfliegen sah. Sofort wurde sie wieder ernst. „Wenn du glaubst, dass ich dich zu irgendwelchen Häppchen führe, hast du dich geschnitten. Meine Aufgabe hier ist erledigt. Ich begebe mich auf direktem Wege zurück zur Haltestelle und mein Ticket gilt immer nur für eine Person.“ Der Dim grinste schief und krächzte: „Keine Ermäßigung?“ „Wenn du dich auf dem Dach festklammerst und beim Durchbrechen der Schallmauer in Fetzen gerissen wirst, darfst du das gerne als Ermäßigung bezeichnen.“ Trotz ihrer harten Worte – oder vielleicht gerade deshalb – fühlte Noah sich so beschwingt wie in einem Traum. Nicht wie in dem Alptraum, den der Wald zuvor in ihr ausgelöst hatte. Es war wie einer von diesen seltenen luziden Träumen, die man als Kind häufiger hatte. Was seltsam war, denn wie jeder andere Irrger auch konnte Noah sich nicht daran erinnern, jemals ein Kind gewesen zu sein. Kamen Irrger von Anfang an als Erwachsene auf die Welt? Sie war so tief in ihren Gedanken versunken, dass sie über eine Baumwurzel stolperte und fast der Länge nach hinschlug. Im letzten Moment konnte sie sich noch fangen und ihr Gleichgewicht wahren. Was zum Teil daran lag, dass Krimm sie mit einer Klaue am Mantelkragen festhielt. „Holla!“, rief er lachend, „Nur weil der Wald nicht mehr dein Feind ist, heißt das nicht, dass ihr zwei ab jetzt dicke seid!“ Normalerweise hätte Noah ihn spätestens jetzt zum Teufel gejagt. Doch dieses seltsam beschwingte Gefühl in ihr hielt jegliche negativen Gedanken von ihr fern. Daher fragte sie ihn verhältnismäßig freundlich: „Was willst du noch? Hier gibt es nichts mehr zu holen.“ Krimm zwinkerte ihr geheimnisvoll zu. „Warten wir es ab. Diese Wette verlierst du“, sagte er nur noch. Für den Rest des Weges schwiegen sie, was Noah jedoch nur recht war. So konnte sie die klare Waldluft genießen und freute sich schon auf ein Nickerchen in der Bahn. Als sie den Waldrand erreichten fiel ihr ein, dass ihr ja noch der mühsame Aufstieg bevorstand. Sie war müde und abgekämpft, doch es half alles nichts. Der einzige Weg zurück zu den Bahngleisen führte nun einmal den Abhang hinauf. Während Noah sich mühevoll ächzend an den Aufstieg machte, war ihr Krimm dabei keine Hilfe. Im Gegenteil. Kaum hatte Noah ein Viertel des Weges hinter sich gelassen, breitete er seine ledrigen Schwingen aus und flog hinauf. Dort legte er sich lässig an den Rand und sah Noah mit einem provokanten Gähnen beim Klettern zu. Immerhin half das insoweit, dass sie eine unbändige Wut entwickelte und sich doppelt und dreifach anstrengte, um den Weg möglichst schnell hinter sich zu bringen. Vor so einem müßigen Aasfresser wollte sie sich im Partout keine Blöße geben. Doch die Wut machte sie ebenso schnell wie unvorsichtig. Sie glitt dadurch öfter als nötig aus und der letzte saubere Teil seines Mantels starrte ebenso vor Dreck wie der Rest, als sie oben ankam. Der Dim empfing sie mit einem süffisanten Grinsen. „Oha. So langsam riechst du fast so gut wie ich.“, krächzte er und schnupperte mit seiner langen Nase. „Sofern ich nicht in einen Haufen Aas falle, habe ich die Hoffnung, dass mir das vorerst erspart bleibt.“, konterte Noah und klopfte sich notdürftig den Staub von ihrem Mantel. Sie gingen weiter den Pfad entlang. Auch hier hatte sich die Umgebung schlagartig geändert. Zwar waren die Weiden und das Vieh nicht einfach wieder zurückgekehrt – das hätte an Zauberei gegrenzt – aber die Farben waren auch hier wieder satter geworden. Was früher trist und bedrückend gewirkt hatte, war nun lediglich einsam und verfallen. Dennoch hegte Noah nicht den geringsten Zweifel, dass hier wieder etwas wachsen würde, wenn man es denn anpflanzte. Was das betraf, war sie sich wiederum nicht sicher. Menschen waren sehr abergläubisch und ängstlich. Es würde wahrscheinlich noch eine ganze Weile dauern, bis sich die ersten Menschen wieder an die Landschaft wagen würden. Besonders, wenn sie Vieh großziehen wollten. Das brachte Noah auf etwas. Vielleicht sollte sie die alte Frau noch einmal besuchen. Schließlich schien sie die beiden Seelen näher gekannt zu haben. Es würde sie freuen, zu erfahren, dass sie das Jenseits erreicht hatten. Außerdem lag die Hütte von ihr ohnehin auf ihrem Weg. Problematisch war dabei nur die Anwesenheit von Krimm. Die Frau würde beim Öffnen der Tür einen Herzinfarkt erleiden, wenn sie den Dim bemerkte. Noah überlegte bereits fieberhaft, wie sie das Wessen auf die billigste Art und Weise loswerden konnte, als sie von Weitem die Rauchsäule bemerkte, die sich am Horizont bis in den Himmel zog. Ihr kam ein übler Verdacht. Sie änderte die Richtung und schritt nun direkt auf die Rauchsäule zu. Krimm folgte ihr. Nachdem sie eine Weile gegangen waren, hörten sie aus der Ferne aufgeregte Stimmen. Es dauerte nicht lange, bis sie eine größere Ansammlung von Menschen ausmachen konnten, die um die rauchenden Trümmer einer Hütte standen. Die Hütte in der die alte Frau gelebt hatte. Noah beschleunigte ihre Schritte, bis sie fast schon rannte. Die Leute sahen sie. Es war ihnen sofort klar, woher sie kam. Als sie den Dim sahen, schrieen einige erschrocken auf. Doch Noah zog sich den Mantelkragen vom Gesicht und rief: „Was ist hier vorgefallen?“ Respektvoll wichen sie vor dem Irrger zurück. Eine Zeitlang drucksten sie nur herum. Dann schob sich eine kleiner stämmiger Mann nach vorne. „In diesem Haus hat eine Hexe gelebt.“, verkündete er geradezu feierlich. Wo man gerade gedanklich mit der Thematik des menschlichen Aberglaubens beschäftigt ist, dachte sich Noah. „Ich war bereits in der Hütte.“, sagte sie, „Da war nur eine harmlose alte Frau. Was ist mit ihr geschehen? Habt ihr sie verbrannt?“ Der Wortführer der Gruppe schüttelte stumm den Kopf und wies auf etwas, das neben dem schwelenden Holzhaufen lag. Es sah von Weitem wie ein loses Lumpenbündel aus. Es war die alte Frau. Obwohl sie sie nicht verbrannt hatten, war kaum zu übersehen, dass sie tot war. Sie lag auf dem Bauch. Noah drehte sie mit einem Fuß auf den Rücken. Wenn man vom oberen Teil des Kopfes absah, wirkte sie, als würde sie schlafen. An ihrer Stirn befand sich jedoch eine stark blutende Delle. Noahs Blick fiel auf den Lynchmob. Genügend Werkzeug hatten sie dabei um einer alten Frau den Schädel einzuschlagen. Man könnte sogar sagen, dass sie bis an die Zähne bewaffnet waren. Zumindest für menschliche Verhältnisse. Was auch immer richtig oder falsch gewesen wäre – hier war nichts mehr zu machen. Und doch wurde Noah das Gefühl nicht los, dass noch etwas zu tun sei. „Habt ihr Beweise dafür, dass sie der Umgebung geschadet hat?“ Der Wortführer kratzte sich am Kopf. „Nun, die Umgebung hat sich nach ihrem Tod wieder gebessert, oder? Außerdem hat sie ihre beiden Kinder dem Teufel geopfert.“ Der Teufel. Wieder so eine Erfindung der Menschen. Waldgeister, Kobolde und sogar Gottheiten wurden von ihnen mal wieder nur mit einem einzigen Namen bedacht. Und wieder sahen sie nur ein Ganzes und nicht die Vielfalt. Auch die logischste Erklärung, dass die Frau ihre Kinder getötet hatte um ihnen den langsamen und qualvollen Hungertod zu ersparen, leuchtete ihnen nicht ein. Es wäre auch sinnlos gewesen, ihnen von Ägirran zu erzählen. Daher sagte sie nur: „Nun gut. Von jetzt an soll dieser Boden hier wieder fruchtbar sein. Baut an, was auch immer euch beliebt und überlasst die leblose Hülle der Hexe diesem hier.“ Sie wies auf Krimm. Die Menschen waren die ganze Zeit über schon nervös gewesen. Jetzt fragte einer von ihnen fast schon ängstlich: „Mit Verlaub, warum führt Ihr einen Teufel mit Euch herum?“ Wieder etwas, das Noah entfallen war. Für sie, die nahezu alles in Schwarz und Weiß unterteilten, waren die Irrger Geschöpfe Gottes. Eine Unterart der Engel, die mit dem Guten harmonierte. Die Dim jedoch, die den Menschen aus ihrer Sicht keinen Dienst erwiesen, wie zum Beispiel ihre Seelen zu begleiten, waren für sie Wesen des Teufels. Noah vermutete, dass die Menschen diese Einteilungen nicht ohne Eigennutz vornahmen. Natürlich waren beide Rassen nützlich. Die Irrger führten die Seelen aus der Welt und die Dim kümmerten sich um die Körper. Betrachtete man das Ganze mit der nötigen Ironie, sorgten im Grunde beide Rassen lediglich dafür, dass die Menschen restlos von der Erde verschwanden. Dennoch war klar, wie die Einteilung vonstatten ging. Noah war schon ein paar Mal in einem so genannten Gotteshaus gewesen und hatte bruchstückweise von der primitiven Religion der Menschen erfahren. Auf den Bildern hatte sie gesehen, wie Menschen sich heilige Wesen vorstellten – nämlich genauso wie sie selbst. Noah hätte damals fast laut aufgelacht, als sie diesem Gipfel der inkompetenten Anmaßung sah. Die „Engel“ waren lediglich Menschenfrauen mit einer Haut wie Milch und Spucke, einem unnatürlich symmetrischen Gesicht und riesigen prallen Brüsten, mit denen sie unmöglich so grazil fliegen konnten, wie die Gemälde einen glauben machen wollten. Wer würde da schon freiwillig vom Glauben abfallen? Die Teufel hingegen verkörperten alles, was den Menschen zuwider war. Hässliche Gesichter mit langen Nasen und Falten, abstoßender Hautfarbe und krummen Gliedmaßen. Oft genug hatte Noah auf ihren Reisen nahe der Zivilisation innehalten müssen um eine Seele mithilfe von einem Jenen zu begleiten. Und das in erster Linie, weil Jemand seinen missgestalteten Säugling in die Büsche geworfen hatte. Man konnte an dieser Stelle behaupten, dass dies geschah, weil die menschliche Religion diese Kinder verteufelte. Doch Noah war sich da nicht so sicher. Ihrer Meinung nach war der Menschheit die Oberflächlichkeit bereits in die Wiege gelegt worden. Daher war es genau andersherum und sie hatten die Teufel einfach den ihnen so verhassten missgestalteten Exemplaren angepasst. So schlugen sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie schufen zum einen ein glaubwürdiges Feindbild, zum anderen konnten sie ihre missratene Brut nun guten Gewissens abmurksen – und die Verursacher gleich mit – um der Verbreitung schlechter Gene zuvor zu kommen. So wurden auch die Dim als Diener der Hölle angesehen. Mit ihrem dem Menschen ähnelnden Körperbau und den dabei so schiefen Zügen lieferten sie die perfekte Vorlage für das Böse. Jetzt musste schnellstens eine Ausrede her. Noah holte tief Luft und verkündete so laut, dass es alle hören konnten: „Der Herr hat beschlossen, dass Hexen aus der Hölle nur durch Höllenbrut beseitigt werden sollen, damit seine getreuen Schäfchen nicht beschmutzt werden.“ So einfach ging das. Etwas hochtrabendes Geschwafel und Schmeichelei. Fertig war die Heiligkeit. Sie nickte Krimm zu. „Dafür bist du mir doch nachgelaufen, oder?“ Der Dim dehnte sich, dass seine Gelenke knackten. „Jep. Mach dir um die Seele keinen Kopf. Die ist den Kindern gefolgt.“ Noah hatte keinen Grund daran zu zweifeln. Hin und wieder schafften es ein paar Seelen allein ins Jenseits, besonders wenn diejenigen so tief mit den Vorangegangenen verbunden waren. Und wenn Krimm diese Seele auf ihrer Reise an ihnen vorübergehen gesehen hatte, war das halt so. Angewidert wich die Menschenmenge zurück, als der Dim auf den Körper der Frau zu tappte. Er beugte sich über sie, schnupperte eine Weile an ihr herum, leckte an ihrer Kopfverletzung und schmatzte genießerisch. Dann hob er die Leiche hoch und warf sie sich über die Schulter. Mit sichtlicher Befriedigung stellte Noah fest, dass dies die Menschen sehr ängstigte. Krimm nickte ihr zu und sagte so laut, dass alle es hören konnten: „Ich lasse das Fleisch noch ein paar Wochen lang abhängen. Die Hütte im Wald ist ja heute wieder frei geworden.“ Er warf seinen Kopf in den Nacken und lachte heiser. So fröhlich vor sich hinmeckernd schritt er betont langsam an der erschrockenen Meute vorbei. Dabei blieb er kurz stehen, verneigte sich übertrieben tief und tat als würde er einen Hut heben. „Meine Damen…“ Dann plötzlich ohne Vorwarnung breitete er seine Lederschwingen aus und flog mit seiner Beute zurück in Richtung Wald. Ein paar der „gestandenen Männer“ kippten auf den Hintern und Noah stellte mit Genugtuung fest, dass sich einige von ihnen eingenässt hatten. Eine schutzlose alte Frau zu töten, dazu waren die Leute mutig genug. Vor einem harmlosen Aasfresser und der Leiche schreckten sie jedoch zurück. Ebenso gut konnten sie sich auch in die Hosen machen, wenn ein gewöhnlicher Geier ihren Schatten kreuzte. Menschen töteten schnell und hatten anschließend so große Angst vor den Leichen, dass sie die schnell vergruben, oder zumindest die Gesichter verdeckten. Von diesen Leuten wollte sie nicht einmal eine Entlohnung haben. „Nun, da es hier offensichtlich nichts mehr zu tun gibt, werde ich mich wieder auf den Weg machen.“ Sie wollte schon gehen, als jemand rief: „Warte! Meine Frau ist schwer krank! Bitte sag mir, ob sie in den Himmel kommt!“ Noah musste sich beherrschen um nicht genervt die Augen zu verdrehen. „Ihr kommt alle in den Himmel für eure großartigen Taten, die ihr hier und heute vollbracht habt.“, verkündete sie laut und nicht mehr ganz so feierlich wie zuvor. Es grenzte an einer Meisterleistung, dass die Menschen den triefenden Hohn ausblendeten. „Ja…“, meinte der Mann kleinlaut und begehrte dann auf, „Aber meine Nachbarin führt ein ganz und gar unreligiöses Leben und…“ „Bete für sie!“, fuhr Noah ihn gereizt an, „Es ist leicht zu verurteilen und schwer, jemanden auf den rechten Weg zu bringen. Alles andere überlasst dem Schöpfer.“ Es war wirklich kaum zu fassen. Kaum wiegten sie sich in Sicherheit, schon begannen sie, andere anzuprangern. Noah machte schnell, dass sie von dort weg kam. Sie war so wütend, dass sie sogar vergessen hatte, dass sie neue Kleidung benötigte. Stattdessen stapfte sie vor Wut kochend den Weg entlang. Zurück zu den Schienen. Erst als sie die Menschen und die Rauchsäule nicht mehr sehen konnte, ließ ihr Zorn allmählich nach. An dessen Stelle machte sich Erschöpfung breit. Obwohl sie eine Pause in Kentro gemacht hatte, fühlte sie sich vollkommen gerädert. Dies war keine Form von Müdigkeit, die sich mit einem Happen zu Essen und ein paar Schlückchen aus der Feldflasche kurieren ließ. Hier war dringend Schlaf vonnöten. Endlich kamen die Gleise in Sicht. So weit so gut. Doch es war noch ein ganzes Stückchen Fußmarsch bis zu Haltestelle. Noah fragte sich ernsthaft, wie sie den ganzen Weg ohne Mühe bewältigt haben konnte. Gerade mal zwei – nein – drei Seelen hatte sie für diesen Gewaltmarsch befördern können. Aber nein, sie musste ja diesen extremen Egotrip hinter sich bringen. Warum hatte sie diesen Auftrag überhaupt angenommen? Diese Frage hätte sie sich mal besser nicht gestellt. Nun fiel ihr alles wieder ein, was sie so gerne vergessen hätte. Wieder drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Sie fragte sich, wie es Raxus wohl gerade erging. Ob er wohl zur Vernunft gekommen war und wieder Seelen beförderte, wie alle anderen Irrger? Oder boykottierte er seine Aufgaben nun komplett und bekam noch eine viel härtere Strafe? Was konnte schlimmer sein, als aus der Gesellschaft ausgestoßen zu werden? Sie erreichte die Haltestelle. Im Norden über der Stadt war der Himmel leicht gerötet. Ansonsten war es noch immer zu bewölkt um den Himmel zu betrachten. Es gab einfach nichts womit sie sich ablenken konnte. So lief sie auf und ab, wartete auf die Bahn und redete sich ein, dass der Schlaf ihr die gewünschte Erlösung bringen würde. Als die Linie 16 einfuhr, ertappte sich Noah dabei, wie sie in die Fenster starrte und nach einem ihr wohlbekannten Gesicht Ausschau hielt. Was war nur mit ihr los? Sie sollte sich doch eigentlich darüber ärgern, dass ihre Ausbeute für ihre Bemühungen so mager ausgefallen war. Oder darüber, dass sie es nicht geschafft hatte, ihren Stolz runter zu schlucken und von den Menschen neue Kleidung zu fordern. Die anderen Irrger sahen sie schon missbilligend an. Stattdessen stieg sie wie in Trance in die Bahn und nahm kaum wahr, wie die anderen von ihr abrückten. Ihre Gedanken glichen einem pulsierenden Herzschlag. Ein einziger Gedanke pochte durch ihren Geist. Raxus…Raxus…Raxus… Sie wusste genau, sie sollte sich um ihr Seelenkonto kümmern. Doch zunächst musste sie ihn finden und ihr Versprechen halten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)