Karmesindornen von ElCidIV ================================================================================ Kapitel 1: Karmesindornen ------------------------- Es war einmal ein Reich, das wurde seit Generationen von einer Königsfamilie regiert. Da gab es den König, seine Frau die Königin und ihre beiden Kinder, den Prinz und die Prinzessin. Die Königin hatte viele Ideen, welche der König sich bemühte umzusetzen. Er war nicht für große Weisheit, dafür aber umso mehr für seine Güte bekannt. Er war genügsam und hatte immer ein Ohr für seine Untertanen. Und weil er sein Volk so glücklich machte, verlor kaum jemand ein schlechtes Wort über ihn. So brachte er es auf seine eigene Weise zu großer Beliebtheit. Leider teilte die Königin diese Ansichten nicht. Sie war der Meinung, wer genug Zeit hat um Fremden sein Gehör zu schenken, der kann diese auch für seine Familie und deren Ansehen einsetzen. Sie stritten sich oft darüber, doch gerade immer dann wenn die Königin wütend wurde, gelang es dem König, sie durch einen lustigen Witz oder ein Wortspiel doch noch zum Lachen zu bringen. Alles verlief wunderbar, bis eines Tages ein Besucher von weit in einem schwarzen Umhang das Schloss betrat. So sehr man sich auch bemühte, man konnte sich das Gesicht der Gestalt nicht einprägen. Und wenn doch, so vergaß man das Gesicht des Fremden sofort wieder. Das war bei jedem so, außer bei der Prinzessin. Wenn sie die Gestalt ansah, war hinter der Kapuze nur Schwärze zu sehen. Doch wurde die Gestalt herzlich empfangen, so wie jeder andere Gast auch. Zunächst brachte sie allen Geschenke. Dann erzählte sie Geschichten von der weiten Welt. Von verrückten Orten an denen ganz andere regeln herrschten als im Königreich. Orte an denen der Himmel rot war oder die Leute ununterbrochen tanzten. Die Kinder konnten mit den meisten Geschichten gar nichts anfangen. Sie fanden die Gestalt ohnehin sehr langweilig, wenn sie ihnen nicht gerade Geschenke mitbrachte. Oft schlichen sie sich einfach weg und spielten in den Palastgärten. Die dunkle Gestalt kam derweil immer öfter vorbei. Sie sprach nun auch vorwiegend mit den Eltern und das meist hinter verschlossenen Türen. Das erste Mal, dass die Kinder bemerkten, dass sich ihre Eltern veränderten, war an einem Abend an dem ein Streit zwischen ihnen nicht gut ausging. Die schwarze Gestalt sprach nun auch häufiger mit der Königin allein. Der König hingegen zog sich immer mehr zurück. Eines Tages schließlich geschah etwas Schreckliches. Man suchte den König in seinem Gemach auf und stellte fest, dass er sich in Stein verwandelt hatte. Er stand als lebensgroße dunkle Statue vor seinem Bett. Die Mediziner waren ratlos. Sie wussten kein Gegenmittel, da sie ja überhaupt keine Ahnung hatten, wie das Malheur geschehen war. Man war sich schließlich einig, dass zunächst erst ein Gegenmittel gefunden werden musste. Der Prinz war so begeistert von der Idee, dass er alle davon zu überzeugen versuchte, dass er der einzig richtige für diese Aufgabe war. Er stahl sich nachts aus dem Palast, sattelte eins der Pferde und ritt fort. Zunächst machte sich kaum jemand Sorgen. Dann nach mehreren Tagen wurde ein Suchtrupp ausgesandt. Als einige Zeit verstrich, wurde die Königin apathisch. Niemand konnte es ihr verübeln. Schließlich wurde der Prinz geborgen. Er war bei seiner Suche, nicht lange nachdem er losgeritten war, in einem tiefen Graben gestürzt. Der Graben war voller Dornenranken. Dornen, so lang wie Finger und so spitz wie Nadeln. Und je mehr der Prinz versucht hatte, sich zu befreien, desto mehr Dornen hatten sich in sein Fleisch gebohrt, waren abgebrochen und in ihm stecken geblieben, bis er durch den Blutverlust in Ohnmacht gefallen war. Und sobald er erwachte, ging es wieder von vorne los. Sein bewusstloser Körper wurde auf einer Bahre ins Schloss getragen. Die schwarze Gestalt verschwand für kurze Zeit von der Bildfläche. Zurück blieben eine zerstörte Familie und ein trauerndes Volk. Doch niemand achtete wirklich darauf. Viel zu sehr waren alle darauf fixiert, dass der junge Prinz bald wieder gesund wurde. Sein Krankenbett war Tag und Nacht belagert von seiner Mutter und den besten Ärzten des Landes. Die Dornen enthielten ein sehr seltenes Gift. Es machte jeden der damit in Berührung kam kalt, grausam und wild, ähnlich der Tollwut bei Tieren. Ständig schikanierte der Prinz seine Bediensteten und funkelte sein Umfeld böse an. Die Prinzessin hielt es nicht mehr aus und zog sich von ihrer Familie zurück. Oft war sie im Gemach ihres Vaters anzutreffen, wo sie neben der Steinstatue saß und Bücher las. Derweil versuchten die Ärzte die Dornen aus dem Körper des Prinzen zu ziehen und das möglichst ohne sich selbst dabei zu verletzen. Auch die Königin half dabei. So waren sie Tage und Wochen lang damit beschäftigt, bis nur noch eine Handvoll Dornen übrig waren. Indes war die Prinzessin in einem ihrer Bücher auf eine interessante Entdeckung gestoßen. Es gab allem Anschein nach ein Heilmittel gegen die Krankheit ihres Bruders. Nur sehr vage wurde ein Fundort erwähnt. Schnell schrieb sie die wenigen Details aus dem Buch auf ein Stück Papier ab und klemmte es in die Hand der Statue, falls sie die Seite verblättern sollte. Dann rannte sie mit dem Buch zu ihrer Mutter. Die war gerade damit beschäftigt ihrem Sohn den letzten Dorn aus dem Herzen zu ziehen. In diesem Moment stieß die Prinzessin die Tür auf und rief nach ihrer Mutter. Die Königin erschrak, vergriff sich und stach sich an dem Dorn. Erstaunt blickte die Königin zunächst ihre Tochter und dann ihre blutende Hand an. Doch dann verhärteten sich ihre Züge. Sie riss der Prinzessin das Buch aus der Hand und warf es ins Kaminfeuer. Dann befahl sie ihrer Tochter, auf ihr Zimmer zu gehen. Dort solle sie bis zum Abendessen bleiben. Die Prinzessin setzte sich ängstlich auf ihr Bett. Sie konnte das grausam verzerrte Gesicht ihrer Mutter nicht vergessen. Ebenso wenig wie ihren schwerkranken Bruder. Als sie zum Abendessen gerufen wurde, erschrak sie. Wie hatte sich ihre Familie verändert. Wütend beschimpften sie ihre Bediensteten, während diese das Essen auftrugen. Ihr Bruder schlug sogar eine Dienerin mit solcher Heftigkeit, dass sie zu Boden fiel, nur weil sie seinen Kelch nicht bis zum Rand gefüllt hatte. Als ihnen das zu langweilig wurde, traktierten sie auch die Prinzessin mit Vorwürfen, dass sie sich nicht an der Kritik beteiligte. Als ihr Bruder ein Fleischmesser nach ihr warf und ihr dieses die Wange blutig schnitt, lachte die Königin schrill auf. Betrübt wollte die Prinzessin zurück in ihr Zimmer flüchten, doch die Königin und der Prinz erlaubten es ihr nicht. Sie ließen sie weiter dabei zusehen, wie sie ihre Mägde und Knechte schikanierten und peinigten. Die Prinzessin konnte ihnen dabei nur mitleidige Blicke zuwerfen. Die Königin und der Prinz planten etwas, das war nicht zu übersehen. Sie schlossen sich immer öfter ein und berieten sich. Sogar die Mahlzeiten wurden nicht mehr gemeinsam eingenommen. Mehr und mehr wurde die Prinzessin aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Nicht, dass sie sonderlich betrübt darüber war. Doch sie spürte, dass es in den Gesprächen teilweise auch um sie ging. Und das bekam sie auch schon in den nächsten Tagen zu spüren. Den versteinerten König hatten die beiden nämlich längst vergessen. Dafür widmeten sie sich dem größten Schatz der Prinzessin. Eines Tages war der König von einer zehntägigen Reise zurückgekehrt und hatte seiner Tochter ein Geschenk mitgebracht. Es handelte sich um eine Sammlung mehrerer Kristallgläser. Diese Gläser waren eine Besonderheit. Denn jedes Land hatte ein eigenes Kristallglas, welches als Souvenir verkauft wurde. Wenn man alle haben wollte, musste man durch sämtliche Länder reisen. Auf jedem war ein anderes Motiv abgebildet. Sie stellten Geschichten und Sprichwörter dar. Einige davon kannten weder der König noch die Prinzessin. Zusammen mit ihrem Vater reiste sie damals viel umher um fremdländische Sprichwörter und Geschichten zu entdecken. Diese schrieb sie dann auf Kärtchen und steckte sie in das entsprechende Kristallglas. Irgendwann war es die Königin leid geworden, die Prinzessin zu traktieren. Sie befahl nun dem Prinzen, diese Aufgabe zu übernehmen. Und der leistete dabei vorzügliche Arbeit. Er stellte Regeln auf, wie sie sich gegenüber den beiden verhalten sollte. Wenn sie die Regeln nicht befolgte, hatte sie mit schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen. Da gab es entweder Schläge mit dem Knüppel, kein Essen, oder eins ihrer Sachen wurde zerstört. Mit Vorliebe eines der Gefäße, eines der bunten Gläser, den Mitbringseln ihres Vaters. Das war für sie die schlimmste Strafe. Essen konnte sie eine Zeit lang entbehren und Schläge waren immer gleich, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Aber diese letzte Erinnerung an ihren Vater bevor er versteinert wurde, war wie eine zweite Seele in ihrer Brust. Und die Königin und der Prinz wussten das. Doch sie wussten auch, dass ihnen diese Köstlichkeit nicht unbegrenzt zur Verfügung stand. Deshalb genossen sie sie wie einen guten Wein in kleinen genussvollen Dosierungen. Jedes Mal, wenn sie eines in tausend Stücke warfen, genossen sie das Weinen der Prinzessin. Und wie sie weinte. Sie warf sich aufs Bett, verbarg ihr Gesicht im Kissen und wurde vom Schluchzen geschüttelt. Der Prinz und die Königin waren höchst amüsiert über ihren Zustand. Sie bewarfen sie mit ihren Sachen und einmal leerte ihr Bruder sogar seinen Nachttopf über ihr aus. Sie ließen sie erst in Ruhe, wenn sie vor Erschöpfung eingeschlafen war. Manchmal taten sie auch nur so, als würden sie eines der Gläser zerbrechen. Ihre Mutter hielt ein Glas mit zwei Fingern über den Boden fest. Dann zwang sie die Prinzessin, sie solle sagen, dass sie ihren Vater hasste. Ansonsten würde sie das Glas fallen lassen. Also musste die Prinzessin sagen, dass sie ihren Vater hasste, dass sie sich wünschte, er würde nie mehr aufwachen, dass er anstatt der Versteinerung besser mausetot sein sollte. All das musste sie sagen und sie redete sich dabei ein, dass es nur Worte waren. Worte, mit deren Hilfe sie das Vermächtnis ihres Vaters rettete. Doch das linderte den Schmerz den sie empfand kaum. Tief im Inneren glaubte sie sogar, das diese Worte dafür sorgen würden, dass ihr Vater niemals mehr erwachte. Daher schlich sie später immer ins Gemach ihres Vaters und flüsterte ihm zu, sie habe es nicht so gemeint, sie habe ihn in Wahrheit sehr lieb. Ihre Mutter durfte davon nichts wissen. Sie hatte sie schon einmal dabei erwischt und ihr anschließend gedroht, die Statue zu zerschlagen. Seitdem schlich sie sich so selten wie möglich zu ihrem Vater und wenn überhaupt, dann nur nachts wenn alle schliefen oder wenn die Königin und der Prinz auf Reisen waren. Die Gestalt im schwarzen Kapuzenmantel war wieder zurück. Sie war jetzt nicht mehr zurückhaltend sondern mehr präsent denn je. Sie saß nun bei Veranstaltungen neben Prinz und Königin, während die Prinzessin etwas weiter abseits saß. Die Gestalt sprach nur mit den Beiden, nie mit der Prinzessin. Und noch immer konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Es waren nur Schwärze und Schatten dahinter. Doch etwas war nun anders. Immer wenn die Gestalt zu ihr rüber sah – und sie spürte ihren Blick, war es, als würde sie ein Flüstern hören, das sie nicht verstand. Und es geschah immer öfter, dass die Gestalt sie ansah. Als wollte sie die Prinzessin verhöhnen. Doch mit ihr zu reden war der Prinzessin nicht möglich, dafür sorgten ihre Mutter und ihr Bruder schon. Sie sorgten dafür, dass sie alle möglichen Arbeiten erledigen musste, die sonst die Bediensteten alleine erledigen mussten. Aber das hatte auch seine Vorteile. Auf diese Weise kam sie mit den Mägden ungestraft ins Gespräch, während sie die Böden schrubbten. Sie erfuhr, dass die Gestalt regelmäßig ausging und das wahrscheinlich immer an den gleichen Ort. Die Prinzessin fasste daraufhin eines Tages einen Entschluss. Sie würde der Gestalt folgen, die ihrer Familie so viel Leid gebracht hatte. Denn mittlerweile war sie sich sicher, dass dieser Mensch, wenn es überhaupt ein Mensch war, zumindest etwas mit dem Dilemma zu tun hatte, in dem sie nun steckte. Sie erfuhr, dass die Gestalt den Palast immer zur Dämmerung verließ, wenn die untergehende Sonne sowohl den Himmel als auch die Erde rot färbte. Da die Gestalt es bestimmt bemerkt hätte, wenn sie ihr vom Palast aus gefolgt wäre, versteckte sie sich schon im Vorfeld in der Stadt. Tatsächlich rauschte sie nach einer Weile vorbei. In gebührendem Abstand folgte sie ihm über den Markt, wohl darauf bedachte, immer ein paar Stände zwischen ihr und dem Wesen zu lassen. Sie folgte ihr, bis sie die Stadtmauern erreichten. Zuerst dachte die Prinzessin, hier könne sie das Wesen nicht weiter verfolgen, da die Stadt von Steppen und Bergen umgeben war. Doch dann fiel ihr auf, dass die Gestalt ihre Schritte nun beschleunigte und sich kaum noch umsah, nicht so wie in der Stadt. Also konnte sie ihr folgen ohne in Gefahr zu laufen, gesehen zu werden. Im Gegenteil, das Wesen rannte nun fast und die Prinzessin hatte Mühe ihr zu folgen. Es ging ins Gebirge. Zielstrebig kletterte die Gestalt die Klippen hinauf. Dabei achtete sie darauf, dass sie sich nur in den schattigen Felsen aufhielt. Das kam der Prinzessin gerade recht. So konnte sie ihm folgen ohne entdeckt zu werden. Als sie die Hälfte des Berges erklommen hatten, war es bereits stockfinster. Es fiel der Prinzessin immer schwerer, auf den schwarzen Vorsprüngen Halt zu finden. Schon mehrfach war sie abgerutscht und hatte sich Hände und Knie aufgeschürft. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie ins Gebirge gehen würden. Daher trug sie nur ein einfaches Lederkleid. Sie hatte nichts, mit dem sie das Blut abwaschen konnte. Daher kletterte sie einfach weiter. Ganz oben, fast am Gipfel befand sich eine Höhle. Die Gestalt verweilte kurz davor und sah sich um. Schnell presste sich die Prinzessin an eine Felswand, so dass die Gestalt für eine Weile aus ihrem Blickfeld verschwand. Als sie sich wieder traute, einen Blick zu riskieren, war die Gestalt verschwunden. Sie zögerte. Vielleicht lebte es einfach in der Höhle. Aber selbst wenn. Das alles war höchst verdächtig. Leise schlich sie zum Höhleneingang. Drinnen war es stockduster. Die Gestalt konnte eine Handbreit vor ihr stehen und sie würde es nicht bemerken. Aber wenn das Wesen sie zuvor nicht bemerkt hatte, würde es jetzt nicht mit ihr rechnen. Also war sie gewiss schon weit hinten in der Höhle. Entschlossen ging sie hinein. Sie ertastete mehrere verzweigte Gänge. Was nun? Daheim in den Palastgärten hatte sie ein gigantisches Heckenlabyrinth. Mittlerweile kannte sie es natürlich auswendig. Aber früher als sie noch ganz klein war, hatte sie sich einmal darin verlaufen. Sie war eine Weile darin herumgeirrt und hatte weinend um Hilfe gerufen. Ihr Vater war es, der sie schließlich fand. Er gab ihr einen Rat. Hör zu, sagte er, wenn du dich immer an eine Richtung hältst, kannst du irgendwann wieder zurück. Halte dich stets an eine Himmelsrichtung. Also brauchte sie nur eine Hand an der Felswand zu lassen. Dann würde sie irgendwann zurückkehren und dabei keine Stelle auslassen. Und wenn sie auf die Gestalt traf… Nun, sie war die Prinzessin dieses Reiches. Damit hatte sie das Recht sich überall darin aufhalten zu dürfen. Uneingeschränkt. Das würde das Wesen auch wissen. Aber würde es das auch akzeptieren? Bisher war es noch nicht gewalttätig gewesen. Aber es war in jeglicher Hinsicht unberechenbar. Inzwischen war sie so tief in der Höhle, dass sie auch das schwache Licht des Mondes nicht mehr erreichen konnte. Dafür wurde dies bald durch ein anderes Licht ersetzt. Ein rotes pulsierendes Licht fiel durch die Gänge. Erst schwach, dann immer stärker. Irgendwann war es so grell, dass sie für eine Weile die Augen zusammenkneifen musste, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Dann, bog sie um eine Ecke und… Schnellte wieder zurück hinter die Felswand. Da war etwas. Sie sank schwer atmend auf die Knie. Was hatte sie gesehen? Es war nur ein Augenblick gewesen. Doch hatte der sich bis aufs kleinste Detail in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es war eine riesige Halle. Alles erstrahlte im gleißenden Rot und die Quelle davon befand sich in der Mitte der Halle. Es war etwas organisch Pulsierendes. So etwas wie ein Herz. Es befand sich mitten auf dem Altar. Und davor befand sich die dunkle Gestalt. Eine zeitlang musste sie diesen Anblick verdauen bevor sie einen zweiten Blick riskierte. Es schien, als würde das Wesen durch Gedankenübertragung mit dem Herzen kommunizieren. Und dann geschah es. Etwas quoll aus dem Herzen heraus. Etwas Dunkelrotes. Fast schwarz. Doch bevor es auf die Erde tropfte, ging mit dieser Flüssigkeit eine seltsame Wandlung vonstatten. Sie wurde zu fester Materie. Wurde zu Dornen. Die gleichen purpurschwarzen Dornen, die ihre Mutter und ihren Bruder in solch seelenlose Gestalten verwandelt hatte. Es war nun ganz offensichtlich, dass dieses Wesen etwas damit zu tun hatte. Aber irgendetwas sagte ihr, dass die Gestalt nur der Mittelsmann war. Dieses dornige Ding schien ihn zu befehligen. Ihre Ahnung wurde schon bald bestätigt. Eine der Dornenranken schlang sich um den Hals der Gestalt und hob sie in die Luft. Sie winselte und röchelte. Das war das erste Mal, dass das Wesen eine menschliche Regung zeigte. Die stachelige Ranke zog sich straffer und straffer um seinen Hals. Endlich, als sich das Wesen nicht mehr rührte, ließ es sie fallen. Dort rollte sie sich zusammen, fasste sich an den Hals und hustete. Dann… erlosch das rote Licht in Sekundenschnelle und es wurde wieder stockfinster. Stille. Nichts war zu hörten. Das Pochen hatte aufgehört. Das Herz schlief wieder. Nur noch der rasselnde Atem der Kreatur war zu hören. Nun war sie mit dem Wesen allein. Sie wurde von Panik erfasst. Es war so still, dass man sie bestimmt hören konnte, wenn sie sich bewegte. Der Prinzessin wurde klar: Sie hatte nur eine Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Sie musste verschwinden, bevor das Wesen sich erholt hatte. So lange es noch so heftig atmete, bestand die Möglichkeit, dass es ihre Schritte nicht hören konnte. Zitternd richtete sie sich auf. Innerlich zählte sie bis drei. Dann rannte sie los. Zuerst wäre sie fast gegen eine Felswand geprallt, federte aber noch im letzten Moment ab und strauchelte weiter. Sie schrammte sich den Arm auf, vergaß den Rat ihres Vaters und irrte halb besinnungslos durch das Höhlenlabyrinth. Schließlich ließ sie sich erschöpft zu Boden sinken und lehnte schwer atmend gegen eine Wand. Stille und Dunkelheit. Sie wusste nicht in welche Richtung sie gehen sollte. Egal, welchen Weg sie nehmen würde, am Ende konnte sich wieder diese Halle befinden. Aber hier sitzen zu bleiben, das würde auch keinem helfen. Wahrscheinlich war das Wesen ohnehin längst draußen. Sie wartete, bis ihr Herz nicht mehr so laut pochte und versuchte sich ein wenig aufzurichten. Etwas presste sich auf ihren Kiefer, wie eine Zange. Es fühlte sich an wie ein Bündel aus kräftigen Ästen. Mit aufkeimendem Ekel stellte sie fest, dass es eine Hand war. Sie wollte schreien, doch die dürre Hand presste ihr erbarmungslos den Mund zu. Es bedurfte kein Licht um zu wissen, was sie da gefunden hatte. Sie schlug entsetzt um sich. Traf jedoch ins Leere. Es bestand kein Zweifel mehr daran, dass die Kreatur im Dunkeln sehen konnte. Dann war es über ihr. Sie lag auf dem Bauch und das Wesen hielt ihr weiterhin den Mund zu und die Arme über dem Rücken. Sie saß in der Falle. Immer, wenn sie versuchte, sich aufzubäumen, zog es an ihren Armen, so dass sie fast auskugelten. Eine unmissverständliche Drohung. Was sollte sie tun? Wenn sie nichts unternahm, würde das Wesen sie vielleicht sogar diesem Ding zum Fraß vorwerfen. Ihr kam eine Idee. Sie war so ekelhaft, dass sie bei dem bloßen Gedanken daran schon würgen musste. Aber es war ihre letzte Hoffnung. Sie nahm alle Kraft zusammen und biss zu. Ein heiseres Zischen entwich der Gestalt. Die Prinzessin fühlte, wie ihr das Blut der Kreatur in den Mund floss. Angewidert spie sie die kalte Klaue aus und schrie so laut sie konnte. Wieder zischte die Kreatur, diesmal jedoch eher ärgerlich als überrascht. Wieder presste sich die blutende Hand auf ihren Mund. Diesmal zog die Gestalt sie an sich und umschlang sie fest. Sie hielt sie fest in den Mantel gehüllt, als das Pochen des Herzens wieder einsetzte. Auch das rote Licht tauchte nach und nach wieder auf. Es kroch um die Ecken und erfüllte die Luft. Die Prinzessin hatte nicht mehr die Kraft sich zu befreien. Sie schloss die Augen und vergrub das Gesicht an der Brust des Wesens. Sie hörte nichts außer dem Pochen beider Herzen und dem rasselnden Atem der Kreatur. Dann wurde es still um sie. Und sie verlor das Bewusstsein. Als sie wieder erwachte, war sie allein in der Dunkelheit. Um sie herum war nichts, weder der Kreatur noch… Doch da war etwas. Erschrocken zog sie die Hand zurück. Dornen. Überall um sie herum waren sie. Sie konnte sich kaum bewegen. Sie stieß mit dem Fuß gegen etwas Weiches. Sie hob es auf und ließ es gleich darauf wieder fallen. Es war ein Fetzen vom schwarzen Ledermantel der Kreatur. Wohin war sie verschwunden? Und wie sollte sie jetzt hier herausfinden? Sie kroch und kletterte durch die Höhle bis endlich Licht in Sicht kam. Ihre Kleidung war zerrissen und sie blutete stark aus vielen Wunden. Draußen bot sich ihr ein entsetzlicher Anblick. Es war bereits hell geworden. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Der Himmel war blutrot. Sie konnte das gesamte Reich überblicken. Alles war voller rotschwarzer Dornen. Wie ein Spinnennetz verliefen sie über die Stadt und das Schloss. Hatte es ihr zunächst noch vor dem Abstieg gegraut, konnte es ihr jetzt gar nicht schnell genug gehen. Sie musste sich beherrschen, dass sie behutsam kletterte und nicht halsbrecherisch von Klippe zu Klippe sprang. Trotz blutender Wunden bewerkstelligte sie den Abstieg schnell. Auf wunden Füßen rannte sie zur Stadt zurück. Grauen erfasste sie. Da standen Menschen. Jedenfalls waren es mal Menschen. Jetzt waren es Steinstatuen. Es war ein Moment der schaurigen Erkenntnis. Genau wie bei ihrem Vater. Sie hastete durch die Straßen. Um zum Schloss zu gelangen musste sie einige Umwege in Kauf nehmen. Einige Straßen waren von herabgefallenem Mauerwerk unpassierbar geworden. Die Dornen mussten mit voller Wucht in die Mauer geschlagen sein. Auch die Straßen selbst waren aufgerissen. Es war ein Netz aus Dornen. Und das Zentrum bildete das Gebirge. Auch das Schloss war von Dornen regelrecht zerfetzt wurden. Alle Bediensteten waren erstarrt. Schließlich fand sie auch die Königin und den Prinzen. Sie befanden sich im Thronsaal. Auch sie waren versteinert. Doch damit hatte sie bereits gerechnet. Daher war der Schock nicht allzu groß. Im Grunde war sie für etwas ganz anderes ins Schloss zurückgekehrt. Schnell suchte sie die Abstellkammer ab. Sie fand eine Laterne und ein paar Kerzen, die sie in einen Beutel steckte. Dann wechselte sie ihre Kleidung und zog sich robusteres Schuhwerk an. Schließlich ging sie in das Gemach ihres Vaters. Dort nahm sie das Schwert samt Scheide, das über seinem Bett hing und schnallte es sich um. Im Bad wusch sie sich notdürftig das Blut ab. Dann ging sie hinaus und kehrte den ganzen Weg zur Höhle zurück. Ehe sie hinein ging, zündete sie eine Kerze an und stellte sie in die Laterne. Sofort begannen die schwarzen Dornen rötlich zu glitzern. Aber es war ein totes Glitzern. Von diesen Dornen ging keine Gefahr mehr aus. Dennoch musste sie nach Hinweisen suchen. Sie fasste sich ein Herz und betrat die Höhle erneut. Trotz des Lichts konnte man sich kaum zurechtfinden. Die Dornen versperrten den Weg. Entschlossen zog sie ihr Schwert und hackte sie nieder. Diesmal würde sie wieder dem Rat ihres Vaters folgen. Also hielt sie eine Hand an der Felswand und folgte den Tunneln im Uhrzeigersinn. Unterwegs fand sie weitere Fetzen des schwarzen Umhangs. Doch diesmal fürchtete sie sich nicht. Das lag nicht nur an dem Schwert, das sie mit sich führte. Sie trug eine gigantische Wut im Bauch und ein unbezähmbares Verlangen nach Antworten im Herzen. Allein ihr Verstand war klar und frei. Das erlaubte ihr im höchsten Maße rational zu denken. Sie hob die Fetzen auf und schob sie in ihren Beutel. Alles was die Gestalt zurückgelassen hatte, musste sie noch eingehend untersuchen. Schließlich näherte sie sich der Kammer. Das merkte sie daran, dass die Dornen dichter wuchsen. Wenn man überhaupt von wachsen sprechen konnte. Die Kammer war so dicht bewachsen, dass sie sich durch den kompletten Raum hacken musste. Schließlich gelangte sie an die Stelle, an der sich das Herz befunden hatte. Dort befand sich ein großer Knoten aus Dornenranken. Sie musste eine Weile mit dem Schwert darauf einschlagen, bis er sich löste. Mit einem letzten Aufschrei spaltete sie ihn schließlich. Es klirrte. Sie hielt inne. Damit hatte sie nicht gerechnet. Vorsichtig trat sie zurück. Sie holte die Laterne, die sie am Eingang der Kammer stehen gelassen hatte. Irgendetwas lag da zwischen den toten Dornenresten am Boden verborgen. Es glitzerte ähnlich wie die Dornen. Doch etwas fehlte. Es war der rötliche Schlimmer, der auf den Dornen rings herum lag. Entschlossen stach sie mit der Klinge rein und fegte den Gegenstand heraus. Es war eine Kette. Schwarz, schimmernd, stumpf. Anfassen wollte sie die trotzdem nicht. Sie zog ein Stück vom schwarzen Leder aus dem Beutel und wickelte es um ihre Hand. Dann erst hob sie die Kette auf. Sie hatte einen schweren Anhänger. Sie sah aus wie ein schwarzer Apfel. Nein. Eher wie ein Herz. Zumindest der obere Abschnitt. Unten sah es seltsam rund aus. Wie eine Halbkugel, auf die man ein halbes Herz gesetzt hatte. Sie wickelte es in mehrere Lederfetzen. Dann erst steckte sie es in ihren Beutel und machte sich an den Abstieg. Sie kehrte noch einmal ins Schloss zurück. Dort schneiderte sie sich aus den Lederfetzen ein Gewand, das sie mit den Dornen aus den Ranken ausstattete. Dann ging sie ins Gemach ihres Vaters. In der Faust ihres Vaters waren noch die Seiten die sie aus dem Buch hatte. Die nahm sie mit. Sie verließ das Land der Ruinen ohne sich noch einmal umzusehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)