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Wassereis-Mikado

Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Dates
von

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„Was soll das heißen?“

Genjis biotisch restaurierte Stimme klang noch eine Spur blecherner als sonst.

„Welche Funktionseinschränkung liegt bei mir vor, dass ich keine Missionsfreigabe erhalte?“

Die meisten Menschen zuckten unter diesem Tonfall zusammen – Doktor Angela Ziegler nicht, und sie zeigte auch keine Überraschung; allenfalls einen Hauch Verlegenheit unter seinem bohrenden Blick.

„Körperlich ist alles in Ordnung,“ Genji wusste nie, wie er darüber denken sollte, wenn sie von seinem körperlichen Zustand sprach, „nur... dein emotionaler Zustand macht mir Sorgen.“

Genji mochte zum Großteil aus Metall, Kabeln und Kühlflüssigkeit bestehen, aber für Angela war er aus Glas. Sowohl hinsichtlich seiner Durchsichtigkeit als auch einer angeblichen Zerbrechlichkeit.

„Dein Hirnstoffwechsel zeigt einen geringen Fluss von Serotonin und Dopamin. Deine Netzhäute sind gereizt und deine Ruhephasen zu kurz. Du bist zu angespannt, als dass ich es verantworten kann, dich arbeiten zu lassen.“

Gegen nichts davon konnte man logisch argumentieren, denn seine Körperfunktionen waren erfreulich... offensichtlich, und Genji hasste es. Hasste es auch, dass Angela zwar mitfühlend, aber auch absolut unnachgiebig klang.

Blieb nur noch eine Option.

„Commander Reyes hat meinen Einsatz nicht bemängelt.“

Angelas Augenbrauen wanderten geziert ein wenig nach oben, während sie sich zu Unterhaltungszwecken vielleicht gerade ausmalte, was so übel sein könnte, dass Reyes deswegen zugab, nicht damit arbeiten zu können. „Ich bin deine zuständige Ärztin. Ich tue das nicht zum Spaß, Genji, und ich weiß, dass du nicht spontan Freude empfinden kannst, nur weil ich dich darum bitte. Aber meine einzige Alternative besteht darin, dich medikamentös einzustellen, und das wollen wir beide nicht.“

Die Medikamente machten ihn stumpf und langsam. Und manchmal bösartig. Genji ließ die zwei Sekunden verstreichen, die es brauchte, um Letzteres nicht trotzdem auszuspucken und erwiderte Angelas Blick starr.

„Und was wollen Sie dann?“ Wenn Ihnen schon klar ist, dass ich nicht jäh in Freude ausbreche, bloß weil mein Hirn dann bunter wird.

Angela seufzte und schob sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. Das tat sie oft, um ihre Hände zu beschäftigen, während sie sonst seine Schulter gedrückt hätte. Körperkontakt mit einer verdammten Ruine.

„Du solltest ein bisschen... raus aus dem Ganzen. Den Quartieren. Unter Menschen. Damit meine ich keine Zielübungen mit Reyes und McCree in einem lichtlosen Bunker, ich meine eigentlich überhaupt keine Militärs, sondern draußen unter echter Sonne. Normale Gesellschaft.“

„Ich bin nicht normal.“ Es kam bitterer heraus als gewollt.

Angela ließ sich nicht darauf ein.

„Ich will gar keine weiteren Neuronalscans von dir, um dich zu kontrollieren. Mir reicht es, wenn du mir versprichst, dass du einen Tag außerhalb der Basis bist. Mit normalen Menschen und normalen Themen und größtenteils normalen Körpern – entschuldige, Athena.“

'Es ist zutreffend, Doktor Ziegler,' erwiderte die KI nüchtern.

Für einen Moment schien Angela unsicher, ob das ausreichend war, dann konzentrierte sie sich auf ihr unmittelbares Ziel und verschränkte die Finger vor dem Bauch. „Ein Tag draußen,“ wiederholte sie. „Bitte.“

Genji hätte sie darauf hinweisen können, wie schwierig es war, nicht bemerkt und angestarrt zu werden, wie wichtig es für seine Position als Black-Ops-Agent war, auf keinen Überwachungs- und Handyvideos aufzutauchen, und Zivilisten fotografierten sein Gesicht ständig-

Aber dann würde er zugeben, dass er es nicht konnte. Dass die 'Normalität' sich nicht nur falsch anfühlte, sondern auch eine Spur beängstigend geworden war. Und man sollte meinen, dass er schon alles hinter sich hatte, vor dem Menschen meist Angst hatten – Verrat und Tod.

Genji schloss für einen Moment die Augen; sie brannten dabei tatsächlich, doch das war ihm bisher nicht aufgefallen. „Meinetwegen.“ Bevor sich dieses blühende Lächeln auf Angelas Gesicht ausbreitete, das es schwer machte, ihr noch beizukommen, fügte er hinzu: „Danach erteilen Sie mir eine Freigabe.“

Angelas Mund zog sich widerwillig zusammen bei diesem Blanko-Scheck, aber sie nickte. „Ich verlasse mich auf deine Ehrlichkeit.“

Von jedem anderen klang das wie ein mittelmäßiger Witz. Genji untersagte sich jede Bemerkung und beugte den Oberkörper vor Angela, bevor er das Labor verließ.

Wo er bereits erwartet wurde.

„So.“ Jesse McCree ließ seinen lächerlichen Cowboyhut um seinen Zeigefinger wirbeln und schnippte ihn dann zurück auf seinen Kopf. „Hausarrest?“

Wenn die Wände und Türen nicht allesamt schalldicht wären, hätte Genji vermutet, dass er gelauscht hatte. Jetzt warf er McCree einen gereizten Blick zu. „Was willst du?“

Der Cowboy schnaubte. „Boy Howdy, jemand hat wieder 'ne Scheißlaune.“ Er zog einen Zigarrenstumpen aus seinem Gürtel und klemmte ihn in den Mundwinkel, doch sobald er einen Streichholzbrief zückte, richteten sich summend die Deckensprinkler auf ihn aus.

McCree brummte. „Dein Ernst, Athena?“

'Es herrscht Rauchverbot, Agent McCree,' erinnerte die KI ihn einen Hauch süffisant (wenn man so wollte). 'Zigarrenrauch reizt außerdem Schleim- und Netzhäute.'

„Genji sieht immer so aus,“ erwiderte McCree in dem unbeirrbaren Glauben, dass es nie falsch war, Widerworte zu geben, vor allem vor Autoritäten.

Außerdem war diese Indiskretion kein Zufall, und Genji hatte fast gehofft, sie werde überhört. Natürlich nicht.

„Der Doc hat dich krankgeschrieben?“ McCree pfiff leise durch die Zähne. „Wegen roter Augen?“

Genji war im Begriff, ihn darauf hinzuweisen, wie wenig ihn das anging, doch dann zögerte er. McCree war, bei all seinen zweifelhaften Kompetenzen, sehr gut darin, Regeln zu verbiegen, ohne sie zu brechen. Wenn er die Demütigung hinnahm, ihm von Angelas Bedingung zu erzählen, würde McCree mit minimalem Zeitaufwand den einfachsten Weg finden, die Anforderungen zu erfüllen. Auf keine elegante Art und Weise, aber das war Genji egal; in gewisser Hinsicht wollte er es sogar. Das kam dabei heraus, wenn man ihn zwang zu sozialisieren.

„Nicht direkt.“ Er setzte McCree möglichst knapp Angelas Befund auseinander und verwendete aus niederer Gehässigkeit das Wort 'Serotonin-Insuffizienz' – doch der Kern kam dennoch beim Cowboy an.

McCree kratzte sich nachdenklich das rebellische Gestrüpp, das er als Bart bezeichnete und zuckte dann ärgerlicherweise einfach mit den Schultern. „Dann schnapp' dir 'ne Missy und lad' sie irgendwohin ein.“

Genjis Brauen zogen sich noch etwas düsterer zusammen. „Das ist alles, was dir einfällt.“

„Mit 'ner Frau auszugehen is' unauffällig und, wie nennst du's doch gleich, normal. Raus in die Stadt, erledigt.“

„Welche Frau ohne militärische Anbindung,“ Genji sprach langsam und deutlich, damit es durch McCrees von den Revolverschüssen anscheinend beschädigte Ohren drang, „könnte einem Cyborg normal gegenübertreten?“

Keine. Sie starrten immer. Ängstlich oder mitleidig oder beides.

„Hm.“ McCree wirkte tatsächlich nachdenklich. „Nicht so schwer, denk' ich, aber du hast's verdammt eilig, also brauchen wir wen, der abgehärtet ist. Und wenn der Doc flach fällt und in der Tech-Abteilung...“

Er brach ab, und auf seinem Gesicht erschien dieser kalkulierende Ausdruck, den Genji nicht mochte. Und noch weniger mochte, als McCree langsam die Hutkrempe aus der Stirn schob und beiläufig nach oben sah. „Athena?“

'Agent McCree?'

„Welche weiblichen Anwesenden innerhalb dieser Basis erfüllen die folgenden Kriterien: single, Zivilist, mit Overwatch verbunden und alle Sandwiches im Picknickkorb? Moment, streich' das letzte, muss nich'.“

Genji hatte keinen besonders intelligenten Vorschlag erwartet, aber das hier übertraf seine kühnsten Erwartungen. „McCree, selbst für deine Verhältnisse-“

'Diese Kriterien werden aktuell erfüllt,' erwiderte Athena ungerührt, 'von Doktor Angela Ziegler, Fareeha Amari und Brigitte Lindholm.'

In diesem Moment konnte Genji nicht ganz fassen, dass man ihn – ihn! – für vermindert zurechnungsfähig hielt. „Es muss einen anderen Weg geben.“

„Ja?“ McCree hob eine Braue. „Der Schutzengel ist tabu, die hatte die Idee. Und wenn du Pharah anbaggerst, wird man deine Leiche nie finden.“

„Sie ist zehn,“ Rationalität war die letzte Zuflucht, bevor Genji sich gezwungen sah, zu Gewalt zu greifen, „und deswegen entbehrt dieser Vorschlag schon jeden Anstands.“

Die Erwähnung von Anstand schlug McCree für ganze zwei Sekunden in (mehr oder eher weniger) schamhaftes Schweigen. Dann neigte er den Kopf wieder leicht zur Seite. „Wo is' Brigitte?“

'Miss Lindholm befindet sich auf dem Weg zur östlichen Schleuse.'

Wie alt war dieses Mädchen überhaupt? Überhaupt schon ein Teenager? Genji konnte sich kaum an sie erinnern, bis vorhin hatte er nicht einmal gewusst, dass sie auch in der Basis war. Mädchen in diesem Alter waren anstrengend und hysterisch.

Doch auch leicht zu täuschen. Seine Aufmerksamkeit würde ihr schmeicheln und sie davon abhalten, Fragen zu stellen. In einem anderen Leben hatte er Mädchen wie sie mühelos nach seiner Pfeife tanzen lassen.

McCree musterte ihn mit diesem seltsamen Ausdruck, als würde er an rein gar nichts denken. „Fünfzehn,“ sagte er, also dachte er offenbar durchaus, „und bevor du sie einholst... Zieh dir was an, Tiger.“

 

Es war keine gute Idee, aber die einfachste. Nach der Logik von Ockhams Rasiermesser also immer noch die am ehesten geeignete.

Genji erreichte den Fahrstuhl gerade noch rechtzeitig, bevor die Drucktüren sich vor Brigitte schlossen – zum Glück, denn für menschliche Begriffe war er offenbar so schnell aufgetaucht, dass sie zu verdutzt war, um die Tür aufzuhalten.

„Verdammt, hast du mich erschreckt!“

Mit ihren fünfzehn Jahren steckte Brigitte noch im Limbo zwischen Kind und Erwachsenem fest, und sie hatte offensichtlich niemanden erwartet: ihre Haut war etwas fleckig und unrein, ihr strähniges Haar steckte in einem filzigen Knoten im Nacken, und sie trug ein formloses T-Shirt und Jeans mit dunklen Ölspritzern und einem blumenförmigen Schokoladenfleck. Über ihrer Schulter hing ein leerer, zerbeulter Seesack.

Der Agent in Genji las ab, dass sie vorhatte, eine Lieferung von einer zivilen Abholstation anzunehmen, deren Größe sie bereits kannte, und sich dafür nicht umgezogen hatte. Aber sie würde eine Weile unterwegs sein – draußen – und das war alles, was er brauchte.

„Ich begleite dich.“

Brigitte zog die Augenbrauen hoch, während der Fahrstuhl sich schloss. Der Babyspeck ihres Gesichts verlieh ihr damit etwas von einem Plattpfirsich. „Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

Genji schob die mechanische Hand in die Tasche seines Hoodies. Je weiter der Fahrstuhl nach unten sauste, desto näher kam er Menschen, die darauf starren würden, und es störte ihn. Auf rein professioneller Basis.

„Blackwatch-Business.“

Der Joker für alle Situationen. Bisher hatte Genji ihn noch nie missbraucht. McCree sagte, es klänge cool. Tatsächlich fühlte es sich eher schäbig an, als Brigitte unbehaglich den Gurt ihres Seesacks herumschob. „Routine,“ fügte Genji hinzu, und Brigittes Ausdruck wechselte zurück zur verhaltenen Skepsis. „Also sollst du doch auf mich aufpassen.“

Würde das jetzt die ganze Zeit so gehen? „Es ist eine Vorsichtsmaßnahme.“ Damit er nicht hier festsaß, sollte er gebraucht werden.

„Wenn ihr keinen beunruhigen wollt, macht ihr das echt super.“ Brigitte verdrehte die Augen, schob aber verstohlen ein paar krause Haare hinter ihr Ohr, wo diese prompt wieder hervorschossen. „Ich will was abholen und was kaufen. Brauchst du auch was?“

Die Frage war so unerwartet – und so sinnlos – dass Genji blinzeln musste, als sie aus dem Fahrstuhl traten. Und dann noch mal. Die Sonne von Naxos war so seltsam grell und weiß, das musste eine Eigenheit der Insel sein. Es hatte nichts damit zu tun, dass Genji die Sonne in letzter Zeit nicht viel gesehen hatte.

„Ich kann dir nämlich sagen, was du unbedingt brauchst.“ Brigitte schien die Sonne überhaupt nichts auszumachen, als sie breitbeinig durch die Schleusen marschierte und tief die salzige Luft einatmete. „Rüstung!“

Weil noch nicht genug von ihm Metall war? Genji biss die Zähne zusammen, während er ihr folgte. „Nicht nötig. Ich werde nicht getroffen.“

„Das hat Papa auch gesagt, und dann war der Arm weg.“ Brigitte klopfte Genji fast kumpelhaft auf den Arm, merkte dann, dass es der mechanische war, und errötete fleckig. „Ich sag' ja nur, der Arm – der... andere – ist ganz ungeschützt.“

Ungeschützt bis auf einen körperlosen Drachen aus wütender, fluider Energie; und Genji hätte beinahe etwas in dieser Richtung gesagt, bis ihm einfiel, dass er mit einer Zivilistin sprach. Brigitte durfte davon offiziell gar nichts wissen.

Also sagte er: „Rüstung schränkt ein.“

„Nicht, wenn sie von mir kommt!“ Die Heftigkeit ihres Ausrufs drehte ein paar Köpfe zu ihnen um, Aufmerksamkeit, die Genji sofort zuwider war. Und Brigitte schien gar nicht zu merken, wie laut ihre Stimme war, während sie nachdrücklich gestikulierte. „Meine Rüstung verzichtet auf Scharniere zugunsten von Magnetkraft, sie besteht aus Ultraleichtmetall und ihre Lackierung absorbiert Energieschaden, weil-“

„Sie funktioniert nicht, oder?“

Brigitte errötete etwas tiefer, dabei war Genji sich sicher, dass er keinen Spott in seine Stimme gelegt hatte. Aber sie sah ihm in die Augen und reckte trotzig das Kinn, anstatt den Kopf einzuziehen. „Noch nicht. Ich arbeite dran. Dumbom.“

Aus der Zusammenarbeit mit Leuten, die öfter Worte in ihrer Muttersprache murmelten, weil sie wussten, dass man sie nicht verstand, konnte Genji ahnen, dass es eine Beleidigung war. So, wenn sie das wollte...

Am Rand seines Blickfelds zischte etwas entlang, das zu schnell für einen Vogel und zu schwungvoll für einen fallenden Gegenstand war. Genji wirbelte herum und brachte sich mit einem halben Schritt zwischen Brigitte und den Flugkörper. Er hatte sein Katana nicht bei sich, aber ein Ninja war niemals wirklich unbewaffnet... Nur wo war es verschwunden?

Brigitte berührte seinen Ellbogen, den organischen diesmal. „Genji? Lass das, die starren alle.“

Sie hatte recht – ein paar zumindest. An so einem warmen, sonnigen Tag fiel Genjis deckende Kleidung auf, und wenn man deswegen einen Blick in die Kapuze warf... Die Alternative war, Brigitte von dem Objekt zu erzählen und sie zu beunruhigen. Dann würde sie zur Basis zurückrennen wie eine gute Zivilistin.

Personenschutz war nie Genjis Stärke gewesen: sie schienen immer zu weich, zu verletzlich.

„Komm jetzt.“ Mit überraschend viel Kraft für so ein weiches Wesen hakte Brigitte sich bei ihm unter und zog ihn mit sich. „Du weißt es nicht, und eigentlich wollte ich das auch allein machen, aber wir sind hier grad auf 'ner wichtigen Mission und du versaust mir nicht die Tour.“

Widerwillig ließ Genji sich vom Fleck bewegen. Brigitte hatte immer noch seinen Arm, und nach kurzer Überlegung schob er auch die Fleischhand in die Tasche des Hoodies, damit es weniger ungelenk aussah. Es war... erstaunlich, wie die Passanten das Interesse an ihm zu verlieren schienen, sobald er so normal wirkte. Obwohl sein unteres Gesicht immer noch unter einem Metallvisier steckte.

„Welche Mission?“ Wurde Brigitte etwa doch rekrutiert? Wusste Reinhardt das?

„Weißt du,“ machte Brigitte gedehnt und trommelte mit den Fingern auf Genjis Armbeuge; sie war viel zappeliger, seit sie ihn berührte, „es gibt Sachen, die ich zu Hause nicht machen kann, weil ich einen Arsch voll Geschwister habe, irgendwer ist immer da, und sie nerven.“ Sie rollte auf sehr altersangemessene Art mit den Augen, und Genji hätte fast gegrinst. „Sie haben eine Meinung zu allem, wissen alles besser, die Jüngste zu sein ist scheiße. Hast du ältere Geschwister?“

Der Wunsch zu grinsen löste sich auf. „Nein.“

„Ugh, du Glücklicher.“ Brigitte schien nichts zu bemerken. „Jedenfalls müssen wir deswegen wo vorbei. Kommentier' das nicht. Du wolltest ja mitkommen.“

Sie sagte es mit einer gewissen Verwunderung, als könnte sie es selbst nicht völlig glauben, würde ihm aber zutrauen, gute Gründe zu haben. Was seltsam war, immerhin war das eine Einladung, sich begehrenswert zu fühlen. Er war davon ausgegangen, dass sie das sofort tun würde.

Das Stechen der Sonne hörte langsam auf und ließ Genji die Farben weniger wässrig sehen, doch sie tat immer noch in den Augen weh. Brigitte hatte immer noch seinen Arm und benutzte ihn, um die Richtung vorzugeben, und die Schattigkeit einer Seitengasse voller weiß gekalkter Fassaden tat gut: sie war sowohl weniger direkt sonnenbeschienen als auch deutlich leerer. Allerdings...

„Das ist nicht der direkte Weg zum Hafen.“

„Ach was.“ Brigitte schnaufte. „Hab ich nie gesagt. Hier ist einfach weniger los.“

In der Öffentlichkeit waren sie sicherer, wenn sie tatsächlich verfolgt wurden, auf der Einkaufsmeile hätte Genji sich ohne Probleme in eine erhöhte Position bringen können. In einer Gasse... Sie waren auf dem Präsentierteller.

„Lass uns umkehren.“

„Nein.“

Warum war ihm das hier je wie eine gute Idee erschienen?

Genji durchbohrte Brigitte mit einem durchdringenden Blick, und sie straffte die Schultern und ließ die Hand aus seiner Armbeuge gleiten, als hätte sie sich gerade erst daran erinnert. „Ich fühl' mich angestarrt, wenn wir da langgeh'n.“

Sie fühlte sich angestarrt?! Obwohl er sich dagegen sträubte, brodelte Scham in Genji hoch, die giftige Sorte davon, die in Selbstekel umschlug und dann in Wut. Er hatte nicht darum gebeten, als ein Wrack aufzuerstehen, was berechtigte Menschen deswegen-

Brigitte schien zugleich blass und rot zu werden, ihre noch kindlich runden Wangen wurden wieder fleckig. „Ich weiß, ich hab' gesagt, wir können gehen, aber na schön, jetzt isses mir doch peinlich. Ich seh' aus wie Sau.“ Sie deutete auf ihre stellenweise schmutzige Kleidung und ihr fettiges Haar. „Ich mein', jeder, und absolut jeder, der sich umdreht, um dir auf den Arsch zu schielen, sieht mich daneben und meinen... Ich meine... Neben dir...“ Sie presste die Knöchel energisch gegen ihre mittlerweile einheitlich glühenden Wangen und verdrehte die Augen. „Vergiss das! Aber wir gehen jetzt hier lang! Los!“

Genji starrte sie an. Brigitte fletschte die Zähne und griff wieder nach seinem Arm, um ihn diesmal mit körperlicher Gewalt weiterzuzerren. Ihre Hand war heiß und klebrig, ihre Ohren stachen rot aus ihrem Vogelnest von Haar hervor.

Genji war dieser Blickwinkel nie in den Sinn gekommen. Glauben konnte er ihn nicht. Aber da war auch nichts an Brigittes Reaktion, das aufgesetzt wirkte. Im Gegensatz, sie schien sich gerade intensiv zu wünschen, nichts davon wäre passiert.

„Mein Gesicht ist der Grund, warum ich angestarrt werde.“ Das zumindest wusste er mit Sicherheit.

Brigitte warf ihm einen sengenden Blick zu. „Jung', dein Gesicht ist nicht hinten. Jeder guckt auf deinen... nach hinten. Na ja, nicht dass ich... Vergiss alles.“

Bestimmt nicht. Doch bevor Genji herausfinden konnte, warum sein Hintern interessanter sein sollte als sein zerstörtes Gesicht mit den roten Augen, fingen seine Ohren ein schwaches, arrhythmisches Rauschen auf. Auf der Einkaufsmeile hatte er es nicht gehört, doch die Hausfassaden der Gasse bildeten einen Schalltunnel. Der Ton, zusammen mit den leichter zu ertragenden Lichtverhältnissen, ermöglichten Genji die richtige Reaktion: er wirbelte einen halben Schritt um die eigene Achse und zog Shuriken aus der Bauchtasche seines Hoodies, während er Brigittes Griff um seinen Arm benutzte, um sie in den Schutz seiner Seite zu hebeln. Sein organischer Arm war besser zum Werfen und der metallische zum Blocken, aber zum Wechseln müsste er Brigitte ungedeckt lassen. Es würde so gehen.

Genji schleuderte den Shuriken, der lautlos durch die Luft schoss und sich mit einem leisen Knirschen in eine Plastikabdeckung bohrte und den kleinen Flugkörper dabei zurückwarf.

Eine Drohne. Zischend sauste sie auf Abstand und begann zu summen, wahrscheinlich ein automatischer Schadensberechner.

„Uuh... Das ist eine von Papas Überwachungsdrohnen.“ Brigitte beäugte den kleinen Flugkörper verdrossen. „Die folgen mir manchmal, wenn's nicht sicher ist.“

Das musste einfach Karma sein.

„Dein Vater beobachtet uns?“

Er musste so entsetzt geklungen haben, wie er sich fühlte, denn Brigitte zog eine Grimasse. „Nicht er, Papa ist grad in Amerika wegen irgendwas. Aber die Drohnen sind auf seine Kinder programmiert, und wenn die wer eingeschaltet hat... Ich bring' meine Schwestern um.“

Das erweiterte den Kreis der Verdächtigen leider enorm, mehr als Brigitte ahnte. McCree und Angela wussten Bescheid, Athena verhielt sich indiskret, Reyes bekam alles mit, Reinhardt hatte ein beunruhigendes Gespür für Dinge. Und das waren nur die Personen, die Genji auf Anhieb einfielen.

„Oh, aber sie repariert sich!“ Brigitte griff wie selbstverständlich wieder nach seinem Ellbogen und grinste. „Lass sie uns abhängen!“

Genji war enorm schnell, einer der schnellsten Agenten von Overwatch. Auf maximaler Leistung konnte er nicht nur einer lächerlichen Drohne davonlaufen, sondern auch einem Helikopter.

Aber der Pulsrate und dem Summen von Energie in seinem Kreislauf nach fühlte das Wegrennen vor diesem Spielzeug genauso an.

 

Brigitte holte ihre Warenbestellung ab und bestand darauf, sie selbst zu tragen. Danach ging sie in ein Eisenwarengeschäft, kaufte dort ein scheinbar wahlloses Sortiment von Materialien und Ersatzteilen und schob das ebenfalls in den Seesack. Und im Geschäft daneben erstand sie eine Packung Tonerde und Gipspulver.

Dem dumpfen Pochen nach, mit dem sie ihr Gepäck absetzte, war das ziemlich schwer. Genji sah ihr zu und war sich unangenehm bewusst, dass sie wieder in einer belebten Fußgängerzone waren, zu seiner Linken spannte sich die Strandpromenade und dahinter glitzerte das Meer. Die Lichtreflexionen und der helle Quarzstein taten in den Augen weh.

„Ich hab' dich ziemlich lang aufgehalten.“ Brigitte musterte ihn forschend. „Musst du nicht los? Ich meine, du hast kein Mal auf dein Komm-Pad geguckt.“

Sie hatte Recht, und er hatte auch nicht daran gedacht. In einem tatsächlichen Einsatz musste er sich selbstständig informieren und die Zeit im Blick behalten. Er hatte nicht erwartet, dass Brigitte das auffiel, doch sie war damit aufgewachsen, dass Menschen so getaktet wurden.

Es gab allerdings keinen Einsatz. Es war schwierig, Brigittes Blick zu erwidern. „Nein.“

„Ich will nicht, dass du Ärger mit deinem Boss kriegst. Wenn es wegen der Drohne ist – du kannst ja sagen, dass ich mich irre erschrocken hab und du hast dich drum gekümmert, ist ja nicht gelogen.“

Es war gut möglich, dass Brigitte ihn taktvoll loswerden wollte; musste nicht mal persönlich sein, es gab Einkäufe, die wollte ein Mädchen in ihrem Alter allein erledigen. Doch Genji fand es schwer, sich vorzustellen, dass sie das nicht einfach sagen würde – sie schien immer zu sagen, was gerade in ihrem Kopf vorging.

„Nein.“

Brigitte runzelte die Stirn und ballte in einer Hand den Saum ihres T-Shirts zusammen, kratzte an einem Pickel an ihrem Nasenflügel. Dann schüttelte sie sich. „Also,“ es klang fast aggressiv, „ich will jetzt was essen. Willst du auch was? Ich lad' dich ein. Du bist meinen Stalker losgeworden.“

Essen. Obwohl er wusste, dass da nichts war, fühlte Genji einen kalten, hässlichen Schauer seinen Rücken hinabfahren. „Nicht nötig.“

„Na ja...“ Brigitte warf einen flüchtigen, aber nicht unbemerkten Blick auf sein unteres Gesicht. „Kannst du eigentlich...?“

„Ich will nichts von dir.“

Er wollte nicht mit ihr essen, doch etwas Bösartiges in ihm hatte die letzten zwei Worte hinzugefügt, wissend, dass sie noch mehr implizierten. Wie verletzend sie für ein Mädchen in Brigittes Alter waren, so robust sie sein mochte.

„Schön.“ Brigittes Kiefer arbeiteten, und sie war wieder fleckig rot geworden, nicht die umfassende, glühende Röte vorhin. „Ich wollte nur... Ist ja auch egal. Dann tut's mir leid, dass du das aussitzen musst, aber ich lass mir das nicht nehmen.“

Sie reckte das Kinn. Genji konnte sehen, dass seine Bemerkung wehgetan hatte, trotzdem war da etwas Resolutes, Unnachgiebiges, das nichts von einem Kind oder einem launischen Teenager hatte – Brigitte akzeptierte seine Weigerung, sie war jetzt wütend auf ihn, doch sie arbeitete damit. Und all das derart offen und durchsichtig, als sähe sie nicht ein, sich zu verbergen.

In seinem alten Leben hätte Genji so ein Mädchen gemieden. Zu renitent, zu forsch, zu wenig Spaß. Jetzt sah er ihr zu, wie sie ihren Seesack aufhob und die Muskeln ihrer täuschend weich wirkenden Oberarme hervortraten.

„Pass mal drauf auf.“

Schien, als steckte sie seinen Umgangston gut weg. Es gab keinen Grund, ebenfalls wütend zu sein, als Brigitte ihn stehen ließ. Genji hielt ihre Einkäufe fest und fühlte sich in der belebten Straße zornig und fehl am Platz.

 

Die Minuten dehnten sich, bis Brigitte zurückkehrte. Ihr rotbraunes Haar war rings um ihr Gesicht dunkler, als hätte sie sich Wasser ins Gesicht gespritzt, und sie trug eine Plastiktüte mit dünnen Pappkartons. Gebäck wahrscheinlich.

Der alte Genji hätte genau gewusst, wie man mit einem Mädchen via Süßigkeiten flirtete. War praktisch das beste Vehikel. Der Cyborg schob nur den Gurt des Seesacks über seine mechanische Schulter. „Strand?“

Jeder wollte die Füße im Sand vergraben und auf das Meer hinausschauen. Wenn man sensorisch aktive Füße hatte und das Meer nicht blendete.

„Ne.“ Brigitte sah sich suchend um, als bräuchte sie dringend eine Alternative. Das reizte Genji schon wieder.

„Sand gelangt nicht in mein Getriebe.“

Sie war Mechanikerin, natürlich würde sie daran denken.

Brigitte zog die Nase hoch. Es klang verdächtig feucht und schleimig. „Aber in mein Essen.“

Genji machte sich nicht die Mühe, seine Skepsis zu verbergen. Brigitte funkelte ihn herausfordernd an. „Außerdem findet die Drohne uns da wieder.“

„Und das stört dich, weil...?“

Sein kühler Tonfall ließ Brigittes Gesicht erstarren, doch diesmal wurde sie nicht rot.

Genji kannte diese plötzliche Starre von Moira. Sie war ein ausgesprochen schlechtes Zeichen.

„Du...“ Brigitte verschränkte die Arme samt Plastiktüte vor der Brust. „... bist ein Arsch, weißt du das?“

Etwas an ihrem flachen Tonfall stieß etwas in Genji an, das sich träge regte. „Das macht der Job.“

„Nein, das machst du.“

„Nette Agenten sind nicht effektiv.“

Brigittes Mundwinkel zuckten, doch Genji konnte sehen, wie sie dagegen ankämpfte.

„Wow. Red' mit Doktor Ziegler, ob sie dir vielleicht 'nen Ghettoblaster implantieren kann, der zu deinen Sprüchen Dubstep spielt.“

Genji schnippte gegen seine metallene Unterkiefer-Platte. „Du denkst, die Sprüche sind live? Die sind vom Band.“

„Und dann sind die nicht besser?“

„Wenn ich meine Muttersprache spreche, merkt es keiner.“

Der frühere, der tote Genji hatte jedes Mädchen zum Lachen gebracht. Deswegen war es fast ein Schock, wie die Grübchen um Brigittes Mund immer tiefer wurden. „Hast du eine Tondatei mit 'Ich bin ein Arsch'?“

„So etwas sagen Agenten nicht.“ Und er war ja ein Agent auf einer Mission, richtig? Brigitte hatte Recht. Sie sollte nur nicht wissen, wie sehr.

Er sagte es. Auf Japanisch. Brigitte gluckste leise.

„Du hast jetzt irgendetwas gesagt, oder?“

Noch während sie ihn fragte, spürte Genji, dass es ihr egal war. Selbst wenn er wirklich nur gesagt hätte, dass gerade die Sonne schien.

„Du kannst mir glauben,“ erwiderte er schlicht.

Brigitte schmunzelte – sie sollte ihm nicht so einfach verzeihen, aber nichtsdestotrotz...

„Okay, Mr. Ninja, such' uns ein Plätzchen mit Sonnenschirm.“

 

Der Himmel war riesig und blau und drohnenfrei. Und überhaupt taten sie ja nichts Verbotenes – niemand brauchte aktuell den ruhigen Hinterhof voller stacheliger Bromelien, niemand vermisste den Sonnenschirm und die verblichenen Plastikstühle, die irgendwann zwischen den Blumentöpfen abgestellt worden waren.

Es war kein besonders romantischer Platz, aber Brigitte schien das nichts zu machen. Sie hatte ihren weißen Karton auf dem Schoß, eine Flasche mit Eistee zwischen ihnen und die Tüte zu ihren Füßen, mit einem schob sie deren Inhalt zu Genji herüber.

„Du musst ja nicht,“ brummte sie und beschäftigte sich mehr mit der Papplasche an ihrem Karton, als es nötig gewesen wäre – war nicht kompliziert. „Wegen des Geschmacks und... vielleicht ist noch nicht alles geschmolzen.“

Eher aus Höflichkeit als aus Interesse griff Genji nach der Plastiktüte und holte den zweiten, kleineren Karton heraus.

Es war eine klamme, blaue Schachtel mit einem Sortiment Wassereis.

Es gab keinen Magen, der sich zusammenziehen konnte, kein dumpf pochendes Herz. Genji sah aus den Augenwinkeln, wie Brigitte sich vorbeugte und in sein Gesicht zu schauen versuchte. „Wenn du nicht magst, gib's mir.“

Mechanisch öffnete Genji die Schachtel und sah auf die durcheinandergewühlten Eisstäbe in Plastikhülle herunter. Manche waren halb geschmolzen, andere noch weiß überzogen.

Wassereis war wie Splittereis, bloß in anderer Form: geschorenes Eis mit Sirup. Er erinnerte sich an das Knirschen auf der Zunge, die plötzliche Kälte am Gaumen, doch noch mehr erinnerte er sich an Hanzos verlegene Miene, die nach einer gefühlten Nanosekunde in trotzige Feindseligkeit umschlug. Genji hatte es nicht lassen können, ihn deswegen aufzuziehen. Wegen, was, Süßigkeiten? Er wusste es nicht mehr. Er wusste nur, dass er nicht aufgehört hatte.

„Genji?“

Brigitte hatte Zitronencreme am Kinn und an den Mundwinkeln, an einer ihrer losen Haarsträhnen schaukelte ein Krümel Glasur. Jetzt sah sie ihn ernst an. Genji registrierte vage, dass sie nicht dabei gesehen werden wollte, weil es keinen Weg gab, ein Eclair (oder mehrere) würdevoll zu essen. Nicht direkt versteckt, aber heimlich. Auch wenn es keinen Grund gab, sich zu schämen.

Genji griff wahllos nach einem Wassereis – es knickte in seiner Hand ab, wenn er es öffnete, floss es ihm über die Finger.

Und wenn schon.

Die Thermosensoren an seinen Fingern meldeten ihm Kälte, aber wie immer fühlte es sich an, als wäre seine 'Haut' betäubt und teigig. Das Plastik quietschte leise, als er es aufriss und den hydraulischen Verschluss seines Metallvisiers lockerte, um ihn ein Stück vom Gesicht anheben zu können.

Es war nicht so, als könnte er nicht essen, es war sogar nötig, dass er es manchmal tat: der kleine Teil von ihm, der noch organisch war, brauchte die Nutzung von Mund- und Rachenraum, um ausreichend versorgt zu werden. Aufgenommene Nahrung wurde gefiltert und vom Energiekern verbrannt, die Inhaltsstoffe tatsächlich ins Blut zu leiten war zu störanfällig.

Nach der... Konstruktionsphase war es Genji schwer gefallen, etwas zu essen. Als Konsequenz an eine entsprechende Maschine angeschlossen zu werden war relativ unangenehm.

Auch jetzt war sein Mund trocken, das Stück gefrorenes Wasser mit Zucker und Farbstoff in den Mund zu stecken schien so abwegig wie es mit dem Brennstab eines Atomkraftwerks zu tun. Passenderweise war das Eis auch grün.

Brigitte beobachtete ihn. Wahrscheinlich wollte sie ihn nicht anstarren, konnte sich aber nicht helfen.

Genji würgte das Gefühl von Appetitlosigkeit ab und zwang sich, das Eis in den Mund zu nehmen – verschmierte dabei halbgefrorenen grünen Matsch an der Innenseite des Visiers und kratzte mit dem Plastikrand der Verpackung über vernarbtes Gewebe, doch es war drin. Klebriges, künstliches Kiwi-Aroma und den Eindruck, dass Kühlflüssigkeit auslief.

Genji kniff für einen Moment die Augen zusammen und kämpfte gegen den Drang, es wieder auszuhusten. Zu ungewohnt. Zu... kalt.

Und dann traf ihn Brigittes Hand so fest am Rücken, dass seine Zähne aufeinanderschlugen – und er den Eismatsch verschluckte.

„Bist du okay? Muss ich Doktor Ziegler anrufen? Commander Reyes? Oder... oder meinen Vater?!“

Brigitte hatte die Hand noch erhoben, um ihm einen weiteren hilfreichen 'Klaps' zu geben, und Genji fing sie gerade noch ab: für einen Moment hatte er vergessen, wie stark sie war, und beim nächsten Schlag hämmerte sie ihm womöglich noch den Energiekern raus.

„Nicht... nötig.“ War das jetzt der viel beschworene Hirnfrost oder ein Schleudertrauma?

Brigitte zog die Brauen fast in den Haaransatz. „Sicher? Du siehst aus, als bräuchtest du 'ne Heilung.“

Ihre Hand zuckte klebrig und angespannt in seinem Griff – in der andere hielt sie das halbe Eclair, das sie vor Schreck zerdrückt hatte. Nach einem Moment der Sammlung stellte Genji fest, dass er das Eis seinerseits zerquetscht hatte und dass wahrscheinlich Glasur an seinem Rücken klebte.

„Bitte ruf' nicht deinen Vater,“ keuchte er.

Sie lachte laut und schallend. Der kleine Innenhof warf es zurück und ließ das Geräusch dröhnen. „Ich hab' auch mein Werkzeug dabei, um dein Visier aufzubrechen und dich zu beatmen, aber...“ Sie schmunzelte etwas verkrampft, „ich seh' ein, warum du es lieber hättest, wenn Angela das macht.“

Genji hatte heute schon so oft gelogen, dass es irgendwann ein Ende haben musste.

„Mir geht’s gut.“

Erst als er es sagte, stellte er fest, dass es eigentlich keine Lüge war. Was auch immer vorhin aus den Tiefen seines Gehirns gekrochen war, Brigitte hatte es versehentlich in den Abgrund zurückgeprügelt.

Sie zog die Augenbrauen schon wieder hoch. „Echt?“

Es war nicht... alles gut, es würde nie alles gut sein. Auch wenn Angela dagegen anredete wie eine Gebetsmühle.

Aber für den Moment war es schon mal viel besser, als es sein sollte.

„Ja.“

Brigitte grinste und stieß ihn mit dem Ellbogen an. „Irre. Mir auch.“

Ihre Grübchen umgaben sich wieder mit dem Rot ihrer Wangen, ihre Augen funkelten. Sie mochte noch jung sein, aber Genji konnte sehen, dass sich das nie an ihr ändern würde. Brigitte war so... hell.

Plötzlich war ihr Gesicht vor seinem, fleckig und strahlend. „Okay, isst du das noch?“

 

Wie gute Hausbesetzer nahmen sie ihren selbstproduzierten Müll mit und entsorgten ihn, minus der Handvoll Wassereis, die Brigitte nicht geschafft hatte. Immerhin hatte sie sich überzeugen lassen, Genji ihren Seesack zu geben, während sie an einem Brunnen Gesicht und Hände wusch und danach geringfügig ordentlicher aussah. Immer noch nicht wie das durchschnittliche Pärchen, das in der späten Nachmittagssonne flanierte, aber... wer wollte heutzutage schon normal sein.

Genji für seinen Teil wäre gern etwas normaler, doch er gab sich nicht viel Mühe. Es war vermutlich nicht normal, Mädchen dazu zu zwingen, mit einem auszugehen. Klassisch-

„Zeigst du mir deinen Drachen?“

Im selben Moment schien Brigitte ihren eigenen Subtext zu hören, und Genji reagierte bewundernswert neutral. Für jemanden, der durch McCrees Wortwitze schon abgehärtet war. „Er ist kein Spielzeug.“

„Das sagen'se alle.“

„Feinsinnig.“

„Hinter deinem Visier lachst du doch!“

„Ich lache niemals über meinen Drachen.“

Brigitte verlor den professionellen Ernst augenblicklich und lachte.

Der alte Genji hätte es wohl nicht nötig gehabt, auf diese Ebene abzusinken, um ein Mädchen zum Lachen zu bringen. Und hätte niemals mit einem Mädchen Eis gegessen, ohne dabei eine Chance für Körperkontakt zu nutzen.

Aber...

Genji beobachtete Brigitte nüchtern und wartete, bis sie sich wieder gefasst hatte. „Außerdem ist er kleiner, als die meisten ihn sich vorstellen.“

„Du machst das absichtlich!“ Brigitte schlug sich fest auf die Oberschenkel, doch ihre Augen glitzerten verräterisch. „Denkst du, man könnte Rüstung für den Drachen-“

„Nein.“

„Und eine Zweitwaffe neben deinem Katana?“

Genji wusste nicht, ob es der Umriss des Quartiers oder die Erinnerung war, die das Rot der untergehenden Sonne aggressiv und auf unangenehme Art lebendig wirken ließ. „Nein.“

„Du bist gemein,“ stellte Brigitte leichthin fest und blieb stehen, um nach dem Seesack zu greifen. „So hab' ich keine Gründe, mich bei dir vorzustellen. Ah – so, gib mir das, ich muss Kalorien verbrennen.“

Genji ließ den Gurt des Seesacks nicht los, auch wenn es ihm nicht gelang, sich ebenso leicht von den rot beschienenen Wänden zu trennen. „Du würdest das noch mal machen?“

Selbst unter den gegebenen Umständen war es kein gelungener Tag gewesen. Er hatte gelogen, dann hatte er sie auflaufen lassen, sie hatten Organisationseigentum beschädigt und Genji hatte sich nicht mal für Wassereis bedankt. Objektiv... war das kein gutes Date. Nicht für normale Menschen. Und wenn man fair war, auch für das gros der Unnormalen nicht.

Brigitte hörte auf, an dem Gurt zu ziehen, und sah Genji an. Ihr Blick war bohrend und klar.

„Weil etwas scheiße beginnt, muss es nicht scheiße bleiben,“ sagte sie knapp. „Und für mich war's nicht mal scheiße. Aber du musst wissen, was du willst.“ Ihre Faust ballte sich um den Gurt, ihre Knöchel traten weiß hervor. „Hörst du, du musst. Sonst gehst du kaputt.“

Genji hatte die vage Ahnung, dass es eine himmelschreiende Verschwendung wäre, wenn Brigitte Lindholm wirklich nur im Innendienst für ihren Vater übernahm.

Aber was er sagte, war nur ein trockenes: „Kann ich mir den Spruch aufnehmen?“

„Hey, Jung' – du kannst nicht meine Sprüche nehmen und meine Rüstung liegen lassen.“ Brigitte gab dem Seesackgurt einen ungeduldigen Ruck. „Nun gib schon her, ich schaff' das.“

„Willst du das?“

Sie war ein normales Mädchen, sie würde normale Dinge wollen, ob ihr das nun klar war oder nicht. Normale Jungs, normale Dates, organische Normalität. Und das waren nur die Dinge, die Genji nicht konnte. Da waren noch... die anderen Sachen, seine Tätigkeit und der Sumpf von 'Faktoren', von dem Brigitte nicht mal etwas ahnte. Die sie nicht einschätzen konnte, in die sie nicht hineingezogen werden sollte.

Der alte Genji hätte vielleicht so viel Verantwortungsgefühl gehabt, sie davon fernzuhalten.

Brigittes Mundwinkel kräuselten sich aufwärts.

„Frag' mich halt nächstes Mal, wenn du willst.“

Er ließ den Gurt los, und Brigitte marschierte mit ihrem Seesack in die Schleuse und auf den Fahrstuhl zu – um sich dabei um die eigene Achse zu ihm umzudrehen und dabei fast elegant auszusehen, hätte sie das schwere Pendel nicht aus dem Gleichgewicht gebracht und stolpern lassen. „Kommst du?!“

Genji kam, immer noch halbherzig auf der Suche nach Gewissensbissen, während er die Kapuze herunterzog und Brigitte ihn angrinste, während der Fahrstuhl sich schloss. Er fand nicht recht welche. Also-

'Miss Lindholm?'

Brigitte zuckte bei Athenas Stimme beinahe ertappt zusammen. „Hm?“

'Agent Wilhelm ist soeben an Hangar 2 eingetroffen.'

Brigittes Gesicht leuchtete auf eine Weise auf, von der Genji amüsiert feststellte, dass man durchaus darauf eifersüchtig werden könnte. „Reinhardt ist schon da? Sorry,“ sie hämmerte kräftig auf den Panik-Knopf des Fahrstuhls, um diesen sofort beim nächsten Stockwerk anhalten zu lassen, „da muss ich hin, du meldest dich, oder auch nicht, denk' über die Rüstung nach und auch über die Schlagwaffe, grüß' deinen Boss, danke für's Aufpassen – auch wenn ich das echt nicht gebraucht hätte, sicherheitstechnisch, ah, wir sehen uns!“

Sobald die Türen sich öffneten, schoss Brigitte aus dem Fahrstuhl und fetzte den Flur hinunter; man konnte den Eindruck haben, dass es sie schneller zum Hangar gebracht hätte, den Fahrstuhl umkehren zu lassen, anstatt Treppen zu rennen, doch dann hätte sie vermutlich etwas über Kalorienverbrennung in ihrem Wortschwall untergebracht.

Genji sah ihr nach und fragte sich, was erst aus ihr werden würde, wenn sie älter war – der nächste Strike Commander oder eine Ikone metalltragender Mode oder-

'Agent Shimada?'

Er hatte nicht erwartet, dass Athena noch da war: es gab keine wichtigen Nachrichten, die wären direkt an ihn gegangen, und offiziell war er noch nicht wieder einsatzfähig.

„Ja?“

'Das gehört Ihnen.'

Neben der Konsole der Fahrstuhlkabine öffnete sich ein schmales Paneel, harmlos und scheinbar überflüssig, wenn man vergaß, dass dieser Ort im Notfall als militärischer Bunker dienen würde, von dem aus Omnic-Angriffe zurückgeschlagen wurden – und dann waren analoge Warentransporte wichtig gegen einen mechanischen Feind.

Diesmal spuckte der röhrenförmige Innenraum nur einen Shuriken aus. Genji nahm ihn heraus und ließ ihn wieder in das schmale Fach gleiten, das in seinen Unterarm eingebettet war.

„Warum?“

Es war nicht möglich, dass eine hochentwickelte KI zögerte, bevor sie antwortete, aber im Grunde war Genji die Bedeutung dieser Pause auch egal.

'Sie sind uns wichtiger, als Sie denken.'

Er hob den Kopf, auch wenn Athena an der Decke ebenso wenig zu sehen war wie sonst irgendwo, nur der Lautsprecher, aus dem ihre Stimme erklang. „Was soll das heißen?“

Stellen Sie die Selbstgespräche ein, bevor Sie jemand dabei sieht, das heißt es.“

Genjis Komm-Pad war wohl kaum von selbst angesprungen und hatte sich auf Lautsprecher gestellt, doch es gab keine Möglichkeit, mit Athena zu sprechen, wenn sie sich ausklinkte. Mit einer Mischung aus Gereiztheit, Resignation und einem Sud matschiger Gefühle zog Genji das Gerät aus der Tasche seines Hoodies und öffnete den Holoscreen, um von dem ewig mürrischen Gesicht seines Vorgesetzten empfangen zu werden.

„Commander.“ Er rang sich ein zweites Nicken ab. „Und Doktor.“

Moira lächelte ihm auf neurotoxische Art zu. „Ihre Sperre wurde aufgehoben. Ein Wort des Rates – beim nächsten Befund dieser Art werde ich Sie bestrahlen und spritze Ihnen Dopamin.“

Dann stand sie auf, um sich von der Kamera zu entfernen, und McCree lehnte sich in den frei gewordenen Platz im Bild. „Falls das nich' klar war, krieg' deine Gehirnchemie bloß von selbst innen Griff. Du willst nich', dass sie's macht.“

Ich dagegen will das sogar nur zu gern, McCree,“ erwiderte Moira abseits des Lautsprechers, aber hörbar.

Reyes sah aus, als müsste er ein Augenrollen unterdrücken, als er sich an Genji richtete. „Wir warten in der Frachtmaschine auf Hangar 1. Holen Sie, was immer Sie brauchen.“

Es wäre reizend zu wissen, wofür Genji etwas brauchen konnte, doch er hatte mittlerweile gelernt, dass Reyes nur unklare Aussagen traf und die spezifische Ausrüstung selbst besorgte.

Was es seltsam machte, dass er Genji anwies, etwas zu holen. Sein Katana und Reserve-Shuriken sowie Energiekerne waren vermutlich längst an Bord.

McCree zwinkerte in die Kamera. „Wenn ich raten müsste, würd' ich das übersetzen als... 'Willkommen in der Welt des existenten Privatlebens'.“

Diesmal verdrehte Reyes tatsächlich die Augen, während Genji selbst noch unsicher war, ob er sich jetzt innerlich wand oder noch starr vor Entsetzen war.

Bullshit, Jesse. Okay, wir warten höchstens zehn Minuten auf Sie.“

Dankenswerterweise beendete er die Übertragung, sodass es Genji erspart blieb, rituellen Selbstmord in Erwägung zu ziehen.

Dann rannte er. Hangar 2 war etliche Treppenfluchten entfernt... doch dafür war er Overwatchs schnellster Agent.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Toshi
2018-11-02T01:40:02+00:00 02.11.2018 02:40
Hej,
ich muss zugeben, an Genji und Brigitte hab ich nie gedacht, aber irgendwo ergibt's Sinn? /D Jetzt mag ich das Paar, menno xD
Anyways, ich fand Genji besonders zu Anfang zwar n bisschen nervig mit seinem Selbsthass, aber ich mein, ist ja legitim, und im Laufe der Story hat"s mich gar nicht mehr gestört.
Ich liebe, wie du Brigitte darstellst, meine Süße, es kam einfach alles sehr natürlich rüber.
Ich hab echt oft schmunzeln müssen, ach die beiden *drückt ihnen einen fetten schmatzer auf*
Deine Fanfic war so von der Sorte, die am liebsten einfach nie endet und die ich immer weiterlesen möchte, weil es so Spaß macht. qwq
So, keine Ahnung, wie ich das hier jetzt beende, außer mich dafür zu bedanken, dass du diese Geschichte geschrieben hast! >w<
(und sorry, wenn ich etwas verwirrt klinge, man sehe es mir angesichts der uhrzeit nach :'D)
Von:  Kerstin-san
2018-11-01T09:22:31+00:00 01.11.2018 10:22
Hallo,
 
Overwatch kenne ich nicht, aber ich mochte deine Darstellung von Genji, der eigentlich keine Lust auf Gesellschaft hat und nur widerwillig den Anweisungen seiner Ärztin folgt und Brigitte, die sehr selbstbewusst und typisch Teenagermäßig rüberkommt. Besonders unterhaltsam fand ich die Stellen, an denen sie sich um Kopf und Kragen redet und Genji so gar nichts versteht.
 
Ich fand auch den Gegensatz zwischen Brigittes Unbekümmertheit und ihrer Offenheit und Genjis Agentenmentalität, verbunden mit einer gewissen Schweigsamkeiit, gut dargestellt. Er behält alles um sich herum im Auge, ist immer und überall kampfbereit und ständig in Alarmbereitschaft, während Brigitte einfach sehr direkt und forsch ist. Das es da unweigerlich zu Reibereien kommt, ist natürlich vorprogrammiert, aber gerade das empfand ich als sehr passend.
 
Die Szene mit dem Wassereis hat mir super gefallen, weil da bei Genji so viele Emotionen und Erinnerungen mitgeschwungen sind, was Brigitte natürlich gar nicht wissen konnte, als sie es ihm angeboten hat, aber da ging mir richtig das Herz auf. Und ich mag das Ende, als Genji hinter Brigitte hersaust, um sie mit zu Hangar 1 zu nehmen. Ich kann mir vorstellen, dass Brigitte ordentlich Leben in Genjis Alltag bringen wird. Wirklich ein schöner One-Shot.
 
Liebe Grüße
Kerstin


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