The show must go on von yamimaru ================================================================================ Kapitel 6: Klappe, die Sechste ------------------------------   Tatsuro nahm dankend den Teller voller kleiner Köstlichkeiten entgegen, den der in die Jahre gekommene Kellner gerade an ihren Tisch gebracht hatte. Wohlwollend und ziemlich hungrig betrachtete er erst die Speisenauswahl und dann sein Gegenüber mit einem kleinen, zufriedenen Lächeln im Gesicht. Mit gutem Essen hatte man ihn schon immer locken können und daraus machte er gerade auch keinen Hehl, als er beide Hände aneinanderlegte und Yukke einen guten Appetit wünschte. Er hatte es ganz seinem Drehpartner überlassen, wohin sie nach getaner Arbeit gehen würden und er musste zugeben, dass Yukke mit der Wahl dieses kleinen, gemütlichen Izakaya genau ins Schwarze getroffen hatte.   „Und, gefällt es dir hier?“, erkundigte sich der andere genau in diesem Moment, als hätte er seine Gedanken gelesen, und Tatsuro nickte fürs Erste nur, weil sein Mund zum Antworten dann doch ein wenig zu voll war.   „Wir fallen zwar auf wie bunte Hunde, aber das Essen ist auf jeden Fall so gut wie du sagtest.“ Er grinste und nahm gleich noch einen Bissen, bevor er sich noch einmal ein wenig umsah. Wie schon erwartet tummelten sich hauptsächlich förmlich gekleidete Geschäftsmänner hier, die ihren wohlverdienten Feierabend ausklingen ließen oder einen erfolgreichen Businessdeal begossen. Beste Voraussetzungen also, dass Yukke und er schon allein ihrer legeren Kleidung und unüblichen Frisuren wegen den ein oder anderen irritierten Blick kassierten.   „Aber ich würde doch mal behaupten, dass die drei Mädels hinter mir doch deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“ Yukke zwinkerte ihm zu und er nickte, während er es den meisten anwesenden Männern gleichtat und die drei jungen Frauen für einen Moment musterte, die es sich an einem runden Tisch in der hintersten Ecke des kleinen Lokals gemütlich gemacht hatten und sich köstlich zu amüsieren schienen.   „Ein sehr angenehmer Umstand, wenn du mich fragst. Darauf mich vermummen oder stattdessen Autogramme geben zu müssen, hätte ich nun wirklich keine Lust.“ Der alte Herr schlurfte erneut an ihren Tisch heran und Tatsuro nahm sich die Freiheit heraus, erst Yukke, dann sich selbst mit Sake zu versorgen. „Mit dir kann man tatsächlich weggehen, ich bin beeindruckt.“ Er grinste und hob den kleinen Tonbecher an, um mit seinem Gegenüber anzustoßen.   „Was soll das denn heißen?“ Gespielt empört blies Yukke die Wangen auf und leerte den ersten Sake des Abends. „Du dachtest nicht wirklich, dass das heute ein Reinfall werden würde?“ Tatsuro zuckte mit den Schultern, musste sich jedoch ein weiteres Grinsen verkneifen, während auch er seinen Becher leerte.   „Tja, ich dachte mir halt, irgendwas muss faul an der Sache sein, wenn du schon immer so hartnäckig bist.“   „Mach nur so weiter, mein Lieber, und ich frage nie wieder. Dann lasse ich dich zukünftig in der BLP versauern, während alle anderen wissen, wie sie ihren Feierabend genießen können.“     „Oh nein.“ Tatsuro riss theatralisch die Augen auf und presste seine rechte Hand gegen die Brust. „Mein armes Herz, wie soll ich es nur überleben zukünftig von dir verschmäht zu werden?“   „Tja, das hättest du dir vorher überlegen sollen.“ Yukke lachte los und er stimmte mit ein, was ihnen natürlich wieder verwunderte und irritierte Blicke einbrachte. Aber Tatsuro ignorierte diese ebenso geflissentlich, wie auch Yukke dies tat und gemeinsam machten sie sich mit gesundem Appetit über die Speisen her.   ~*~   Es war wirklich unverschämt angenehm mit Yukke hier zu sitzen, sich zu unterhalten und der Sake trug auch nur noch dazu bei, dass er sich von Stunde zu Stunde wohler fühlte. Er hatte längst sein Zeitgefühl verloren und merkte nur, dass es schon ziemlich spät geworden sein musste, als die Tische um sie herum immer leerer wurden.   „Du, Tatsuro?“, unterbrach Yukke die durchaus angenehme Stille, die sich in den letzten Minuten über sie gelegt hatte. „Erzählst du mir jetzt, was …“   „Oh wie förmlich.“ Tatsuro grinste und unterdrückte ein Gähnen. „Ich dachte, wir wären schon bei den Spitznamen angekommen, Yu-chan.“   „Den Ausrutscher darf ich mir noch öfter anhören, oder?“   „Bis an dein Lebensende.“   Yukke schüttelte den Kopf und rieb sich etwas beschämt wirkend über den Nacken.   „Du liebst es mich in Verlegenheit zu bringen.“   „Immer.“ Er nickte übertrieben und verteilte den letzten Rest Sake auf ihre Becher. „Also, was genau wolltest du eben wissen?“   „Darf ich dich denn Tatsue nennen?“   „Klar, hast du doch eh schon.“ Tatsuro zwinkerte seinem Gegenüber zu. „Aber das war es nicht, was du mich fragen wolltest.“   „Nein.“ Yukke spielte mit seinem Becher und wirkte beinahe etwas unsicher, als er den Blick wieder auf ihn richtete. „Erzählst du mir, was passiert ist? Mit deiner Wange, meine ich.“   Reflexartig hob Tatsuro die Hand und strich mit zwei Fingern kaum spürbar über das Pflaster, welches Yumiko ihm nach dem Dreh wieder auf die Wunde geklebt hatte. Die letzten Stunden über hatte er tatsächlich verdrängen können, was passiert war, aber jetzt, da ihn Yukke erneut daran erinnert hatte, breitete sich wieder die altbekannte Kälte in seinen Gliedern aus, die ihn seit Samstag nun schon verfolgte.   „Entschuldige.“ Yukkes warme Finger legten sich wie selbstverständlich auf seine Hand, die er eben wieder hatte sinken lassen und mit der er eigentlich nach seinem Becher hatte greifen wollen. Die Berührung zuckte wie ein Blitz durch seinen Körper und er musste sich einen überraschten Laut verkneifen, als ihm ein wohliger Schauer über den Rücken rann. „Du musst nicht antworten, es geht mich schließlich nichts an.“ Zu allem Überfluss hinterließ Yukkes schiefes Lächeln auch noch ein angenehmes Kribbeln in seinem Magen und in einer anderen Situation hätte er sich vermutlich innerlich eine Kopfnuss verpasst, weil er es zuließ, dass der andere eine derart starke Wirkung auf ihn hatte. Aber jetzt wollte er dieses Gefühl der Nähe und Wärme einfach nur ein wenig genießen und ja, auch Kraft daraus schöpfen, denn sehnte er sich nicht schon den ganzen Tag danach sich irgendjemandem anvertrauen zu können?   „Das ist es nicht.“ Tatsuro schüttelte langsam den Kopf, drehte seine Hand und wie auch schon am Samstag im Café war er wie gebannt von dem Bild ihrer Hände. Sanft streichelte er über Yukkes Finger, scherte sich nicht wirklich darum, dass sie hier keineswegs alleine waren. Aber die letzten Gäste saßen ohnehin vor der kurzen Bar, unterhielten sich mittlerweile laut und ausgelassen und schenkten ihnen keinerlei Beachtung. „Aber dafür brauch ich definitiv noch mehr Alkohol.“   „Na, das lässt sich doch einrichten.“ Yukke drückte seine Finger leicht und zog seine Hand dann zurück, um dem Kellner zu bedeuten ihnen noch eine letzte Runde zu bringen, bevor sie vermutlich aus der Tür gekehrt wurden.   Tatsue indes ließ seinen Worten Taten folgen, leerte erneut seinen Becher und atmete tief durch. Wenn er Yukke jetzt alles erzählen würde, würde er ihnen vermutlich den schönen Abend verderben – ob der andere sich dessen eigentlich bewusst war? Aber war nicht genau das der Grund, weshalb er heute überhaupt mit Yukke hierhergekommen war? Er musste einfach über den ganzen Mist reden, der ihm in den letzten Monaten wiederfahren war, sonst würde er noch verrückt werden. Sato gegenüber konnte er sich nicht öffnen, nicht, wenn er sich jedes Mal hundeelend fühlte, wenn er wieder einmal mit ansehen musste, wie viel Kraft seinem Bruder schon allein die alltäglichsten Dinge kosteten, seit der Unfall ihn gezeichnet hatte. Wie könnte er ihn da auch noch mit seinem Seelenmüll belasten? Die Vorstellung mit Miya darüber zu reden, war schlichtweg lächerlich. Er vertraute dem seltsamen Regisseur nicht, wusste ihn nicht einzuschätzen und außerdem war der Kerl sein gottverdammter Boss. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Miya in den letzten Tagen ausnahmslos für ihn, aber besonders für Satochi, dagewesen war. Und Gara würde, genau wie Yumiko, nur weiterhin wie ein aufgescheuchtes Huhn um ihn herumhüpfen und versuchen ihm Ratschläge zu geben, die fraglos gut gemeint waren, ihm aber auch nicht halfen.    Nein, er wollte sich Yukke anvertrauen, niemandem sonst, warum auch immer; und so hatte er bereits zu reden begonnen, bevor er sich bewusst dazu entschieden hatte. Er erzählte von den vielen Briefen, die er über Monate immer wieder vor seiner Haustür gefunden hatte und deren Tonfall erst bewundernd und schmeichelnd gewesen war, mit der Zeit jedoch immer fordernder und bedrohlicher wurde. Von Satochis tragischem Unfall, der keiner gewesen war, weil die Polizei später herausfand, dass man seinen Wagen manipuliert hatte. Er berichtete von dem Päckchen, das auf ihn gewartet hatte, als er von ihrem spontanen Treffen im Café nach Hause zurückgekommen war und ließ auch keine Details aus, auch nicht dann, als sein Gegenüber bei der Erwähnung des verwesten Leibs des kleinen Kätzchens merklich blasser um die Nase wurde.   „Fuck“, keuchte Yukke ehrlich betroffen, nachdem er geendet hatte. „Das hört sich an wie das Drehbuch zu einem Psychothriller.“ Tatsuro schnaubte und fuhr sich durch die Haare, bevor er nach seinem Becher griff, der während seines Monologs von Yukke immer wieder aufgefüllt worden war. Wofür er ihm wirklich dankbar war, auch wenn sich mittlerweile ein deutlicher Nebel in seinem Hirn breitgemacht hatte.   „Ich wünschte, es wäre nur ein Drehbuch oder ein schlechter Scherz, aber das ist es nicht, nie gewesen. “ Tatsuros Stimme versagte kurz ihren Dienst und er räusperte sich, als würde er so verbergen können, wie angeschlagen er gerade wirklich war. Er fühlte sich seltsam leer, auch wenn er nicht leugnen konnte, dass es gut getan hatte alles einfach einmal ungefiltert herauslassen zu können.   „Und die Polizei tut nichts?“ Die Empörung war so deutlich aus Yukkes Stimme herauszuhören, dass tatsächlich ein kleines Schmunzeln an Tatsuros Lippen zupfte.   „Sagen wir es mal so. Sie haben am Sonntag zwar meine Bude auf den Kopf gestellt und sämtliche Hausbewohner befragt, derer sie habhaft werden konnten, aber natürlich haben sie noch rein gar keine Ahnung davon, wer hinter der ganzen Sache steckt.“   „Pfff, in den Filmen wollen sie uns immer weißmachen, dass es das Einfachste der Welt ist einen Stalker zu überführen und in Wirklichkeit kriegen sie mal wieder nichts auf die Reihe.“ Tatsuro musste zugeben, dass er es gerade ziemlich niedlich fand, wie Yukke sich seinetwegen aufregte. „Kein Wunder, dass dein Manager und die anderen dich heute kaum eine Minute lang aus den Augen gelassen haben.“   „Erinnere mich nicht daran, wenn es nach Gara geht, würde er mir einen Personenschützer aufs Auge drücken.“ Tatsuro seufzte. „Auch wenn ich weiß, dass er in gewissem Maße recht hat. Ich hätte die Sache schon viel früher ernster nehmen müssen, dann wäre Satochi vielleicht nichts passiert.“    „Gib dir nicht die Schuld an dem, was geschehen ist.“ Tatsuro schaute von seinen Fingern auf, die die letzten Minuten über gedankenverloren mit seinem Becher gespielt hatten. „An allem, was passiert ist, ist ein einziger Mensch schuld und der bist gewiss nicht du.“ Yukke lächelte ihn an und Tatsuro war froh, dass sie gerade in einem Lokal – in der Öffentlichkeit – saßen, sonst hätte er den anderen womöglich einfach an sich gezogen und sich in seinen Armen verborgen. So jedoch versuchte er sich an einem zittrigen Lächeln und nickte leicht. „Versteh mich nicht falsch, Tatsue, aber ich für meinen Teil bin froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Hättest du den Unfall gehabt …“ Sein gegenüber verstummte und senkte den Blick, aber er glaubte zu wissen, was Yukke hatte sagen wollen. Wäre er statt Satochi an dem Tag im Auto gesessen, hätten Yukke und er sich womöglich nie kennengelernt.   „Es wäre eine wahre Schande gewesen, dir nicht über den Weg gelaufen zu sein.“ Diesmal war sein Lächeln ehrlich und auch, wenn sich an seiner Situation noch rein gar nichts verbessert hatte, fühlte er sich doch auf eine seltsame Art und Weise befreiter.   „Genau, da hättest du definitiv was verpasst. Außerdem bist du mir nicht über den Weg gelaufen, sondern hast mich umgerannt, das ist ein Unterschied.“   „Wie? Nur ich? Na das nenne ich mal überschäumendes Selbstbewusstsein. Und was heißt hier, ich hätte dich umgerannt. Du hattest doch die Nase in diesem Ordner und hast nicht geschaut, wo du hinläufst.“   „Du doch auch nicht. Du warst doch viel zu sehr damit beschäftigt, deinen armen Manager anzumotzen.“   „Stimmt auch wieder.“ Sie lachten leise, ohne diesmal irritierte Blicke zu kassieren, denn die beiden Männer, die außer ihnen noch anwesend waren, waren mittlerweile so betrunken, dass der Inhaber ihnen wohl ein Taxi würde rufen müssen.   „Versprich mir vorsichtig zu sein, ja? Garas Vorhaben, dir einen Bodyguard engagieren zu wollen, mag etwas übertrieben sein, aber sei in Zukunft skeptisch, gerade was Geschenke von Fans oder Bewunderern anbelangt.“   „Du machst dir Sorgen um mich?“   „Mh, sieht fast so aus.“   „O… okay“, murmelte er mangels einer Idee, was er darauf hätte antworten können und rieb sich tatsächlich ein wenig gerührt über die Nase. „Meine Paranoia läuft seit Samstag ohnehin auf Hochtouren.“   „Sehr gut“, scherzte Yukke, wurde im nächsten Moment jedoch wieder ernster. „Tatsue …“  Er räusperte sich und spielte nervös mit seinen Fingern, bevor er sie auf dem Tisch ineinander verschränkte. „Willst … ich meine.“ er schüttelte den Kopf, atmete einmal tief durch und Tatsuro beschlich das dumpfe Gefühl, als würde es Yukke unglaublich schwerfallen das, was auch immer er ihn fragen wollte, nun auch wirklich über die Lippen zu bringen.   „Was denn?“ Er versuchte die seltsame Stimmung mit einem schiefen Lächeln aufzulockern, was ihm jedoch nicht wirklich zu gelingen schien.   „Du meintest vorhin, du würdest ins Hotel gehen?“, begann Yukke noch immer etwas unsicher und als Tatsuro nickte, fuhr er fort. „Also … wenn’s dir nur darum geht, nicht zu Hause zu sein … ich meine …“ Wieder atmete Yukke tief durch und knurrte dann leise, eindeutig frustriert, während seine Hände ein überaus ansehnliches Chaos in seinen sonst so akkuraten Topfschnitt brachten. Ein sehr ansprechender Anblick, wenn man Tatsuro fragte, und einer, der seine Finger verräterisch zucken ließ, wollten sie es doch Yukke gleichtun und durch diese, wie er wusste, so verdammt weichen Strähnen fahren. Er blinzelte und wandte den Blick ab.   „Kann doch nicht so schwer sein“, murrte Yukke in diesem Moment und obwohl sich Tatsuro innerlich gerade noch einen Dummkopf schimpfte, weil er schon wieder so deutlich auf den anderen reagiert hatte, zupfte ein kleines Schmunzeln an seinen Mundwinkeln.   „Lass es raus, Yu-chan“, scherzte er, „danach fühlst du dich besser.“   „Haha.“ Überaus erwachsen streckte Yukke ihm die Zunge heraus, faltete dann seine Hände aber wieder auf der Tischplatte und suchte seinen Blick. „Ich wollte dich nur fragen, ob du noch zu mir kommen willst? Meine Wohnung ist deutlich gemütlicher als ein steriles Hotelzimmer.“ Tatsuros Mund klappte einen kleinen Spalt breit auf – mit diesem Angebot hätte er nun wirklich nicht gerechnet und sein erster Impuls war es, dieses auch anzunehmen. Nur zu gerne sogar, denn Yukke hatte recht, er mochte die unpersönliche Atmosphäre der meisten Hotelzimmer wirklich nicht und alles war besser, als nach Hause zu fahren oder sich doch wieder bei Miya einzunisten. Dann jedoch siegte seine Vernunft und er schüttelte den Kopf.   „Das ist wirklich nett von dir, aber … Sagen wir es so, ich wäre heute gewiss nicht mehr die Gesellschaft, die du dir wünschst.“   „Mh, unterstellst du mir Hintergedanken?“ Yukkes Augenbraue wanderte ein kleines Stück nach oben und trotz der Ablehnung, die ihm Tatsuro gerade deutlich entgegengebracht hatte, wirkte der andere weder verärgert noch gekränkt.   „Wäre es nicht naiv zu denken, dass keiner von uns Hintergedanken dabei hätte?“   „Touché.“ Wieder lachten sie und die kleinen Tonbecher gaben ein dumpfes Geräusch von sich, als sie sie aneinander stoßen ließen. „Aber dann lass mich dich wenigstens noch begleiten, ja? Nicht, dass mir Miya am Freitag den Kopf abreißt, weil ich seinen Shootingstar verloren habe.“   „Das könnte ich nie verantworten, ohne Kopf spielt es sich doch etwas schwer, zumindest in unserem Drama, außer wir machen einen Horrorfilm draus.“   „Ohne mich.“   „Och, wieso denn?“   „Mit Horrorfilmen und allem, was auch nur in die Richtung geht, kannst du mich jagen.“   „Mmh, so so.“   „Warum beschleicht mich das dumpfe Gefühl, ich hätte dir das lieber nicht sagen sollen?“   Gänzlich unschuldig zuckte Tatsuro mit den Schultern, auch wenn er sich das leicht hinterhältige Lächeln einfach nicht hatte verkneifen können.   „Keine Ahnung, vielleicht hat meine Paranoia schon auf dich abgefärbt? Aber warum eigentlich erst Freitag?“, erkundigte er sich dann, als ihm wieder einfiel, dass Yukke eben davon gesprochen hatte, Miya würde ihm am Freitag den Kopf abreißen.“   „Wie? Oh, ja. Ich hab morgen einen kleinen Auftritt bei Radio Ishioka. Als Kind der Stadt bin ich quasi so eine Art Lokalheld, weil ich’s im großen Tokyo einigermaßen zu was gebracht hab.“ Yukke schmunzelte, während Tatsuros Augen mit jedem Wort größer geworden waren. „Na ja, und danach besuche ich noch für ein paar Tage meine Eltern. Muss es ja schließlich ausnutzen, wenn ich mal wieder zu Hause bin, kommt ja selten genug vor.“   „Ist nicht wahr.“   „Na ja, den Boys Love Teil übergehen die meisten, aber so ein bisschen bekannt bin ich schon.“   „Nein, quatsch, das meinte ich nicht.“ Tatsuro winkte ab. „Du kommst tatsächlich aus Ishioka?“   „Ja, geboren und aufgewachsen, wieso?“   „Ich komm ursprünglich aus Mito.“   „Was? Ehrlich jetzt? Das ist ja gleich um die Ecke.“   Tatsuro grinste und schüttelte ein wenig fassungslos den Kopf.   „Ja, wir waren quasi Nachbarn.“ Sie lachten und binnen Sekunden waren sie in einer hitzigen Debatte gefangen, welche Stadt denn nun die bessere sei. Bei der letzten Runde Sake blieb es daher nicht, denn so ein hochemotionales Thema musste natürlich ausführlich begossen werden und wenn der Inhaber des Izakayas insgeheim die Hände über dem Kopf zusammenschlug, weil er eigentlich nur noch nach Hause wollte, dann musste man leider sagen, dass dieser Umstand die beiden gerade ziemlich kalt ließ.   ~*~   Tatsuro hatte zwar mitbekommen, dass Yukke den Abend über deutlich weniger getrunken hatte als er, aber dass es doch gleich um so vieles weniger war, hätte er nun nicht gedacht. Allerdings begrüßte er diesen Umstand gerade doch ziemlich, denn Yukkes stützender Arm um seine Mitte war mehr als nötig, während sie über den dicken Teppich des Hotelflurs schlurften. Oder vielmehr er schlurfte, Yukke neben ihm ging ganz normal, schien ihre Situation aber überaus amüsant zu finden, denn hin und wieder hörte er ihn leise kichern.   „Was genau ist eigentlich so lustig?“ Hey, seine Stimme klang wenigstens noch ziemlich nüchtern, das war doch schon mal durchaus positiv.   „Du hast nicht bemerkt, wie dich die Dame am Empfang gemustert hat, oder?“ Tatsuro schüttelte den Kopf und hätte sogleich einen recht uneleganten Ausfallschritt hingelegt, hätte sich Yukkes Griff nicht wie automatisch verstärkt. Nun lehnte er wirklich komplett gegen den kleineren Mann und verdammte Schande, das fühlte sich ungemein gut an. „Ich glaube, sie hat dich erkannt“, redete Yukke weiter und Tatsuro brauchte eine Sekunde oder auch fünf, um sich wieder daran zu erinnern, worüber sie gerade gesprochen hatten.   „Echt?“, nuschelte er, wobei er sich gedanklich eher davon abhalten musste sein Gesicht zu drehen, um es in Yukkes Halsbeuge zu vergraben. Was musste der aber auch so gut riechen, verdammt?   „Ganz sicher. Sie ist erst weiß wie eine Wand geworden, dann so rot, dass ich schon befürchtet hab, sie kippt von ihrem Stuhl und dann hat sie bestimmt noch fünf Minuten gebraucht, bis sie die Chipkarte ins Lesegerät gepfriemelt bekommen hat. Die hat dich eindeutig erkannt … mh … wo müssen wir eigentlich hin?“ Yukke blieb stehen und Tatsuro tat es ihm mit etwas Verzögerung gleich, weil er um ehrlich zu sein gar nicht richtig zugehört hatte, worüber der andere die ganze Zeit redete.   „Hm? Wohin wir müssen? Ehm …“ Er schielte auf die Karte, die er samt eines kleinen Flyers von der Rezeptionistin überreicht bekommen hatte. „Zimmer 212.“   „Ah.“ Yukke reckte den Hals und blickte sich um. „Da drüben ist die 211, dann müssen wir vermutlich nur noch hier um die Ecke.“ Tatsuro nickte nur wieder und kämpfte gegen die Müdigkeit an, die sich gerade mit einem lauten Gähnen bemerkbar machte. „Und da sind wir. Ich bin gut, oder?“   „Der Beste.“ Er grinste schief und gab Yukke die Schlüsselkarte, wusste er doch, dass er sich in seinem angetrunkenen Zustand mit dem Mechanismus der Tür wohl genauso ungeschickt anstellen würde, wie die Dame an der Rezeption eben. Mit einem leisen Klicken entriegelte das Schloss und Yukke bugsierte ihn in das Innere des Hotelzimmers. Noch einigermaßen koordiniert schaffte er es sich der Schuhe und seiner Jacke zu entledigen, schlurfte die wenigen Schritte in Richtung Bett, während er hörte, wie hinter ihm die Tür zugezogen wurde. Seine Umhängetasche landete auf dem Bett und sein Hintern tat es der Tasche gleich, gefolgt von seinem Rücken, als er sich mit einem leisen Seufzen auf der relativ weichen Matratze ausstreckte. Leise Schritte näherten sich ihm, dann spürte er eine Bewegung neben sich, als sich Yukke ebenfalls setzte.   „Danke fürs Bringen“, nuschelte er und drehte schwerfällig den Kopf. Für einen kurzen Moment sah er Yukkes Schmunzeln, dann fielen ihm die Augen zu, als die Finger des anderen begannen zärtlich über seine Stirn zu kosen.   „Kommst du alleine klar?“ Yukkes Stimme war sanft, vielleicht sogar ein bisschen besorgt und zauberte Tatsuro ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen.   „Würdest du bleiben, wenn ich dich darum bitte?“ Er blinzelte und suchte Yukkes Blick, der ihm näher war, als er angenommen hatte.   „Kommt darauf an, ob du mich das fragst oder der Alkohol.“ Wieder spürte er erst eine hauchzarte Berührung an seiner Schläfe, dann Finger, die vorsichtig durch sein Haar kämmten.   „Mh …“ Tatsuro brummte genießend und drehte sich der angenehmen Berührung noch ein bisschen mehr entgegen. „Wirklich zurechnungsfähig bin ich wohl nicht mehr, befürchte ich.“   „Dachte ich mir.“ Yukke beugte sich noch weiter über ihn und drückte ihm einen kleinen Kuss auf die unverletzte Wange.   „Dann verschieben wir das, was auch immer heute noch passieren könnte, lieber auf Freitag.“   „Wieso, was ist am Freitag?“   „Da werde ich dich wieder fragen, ob du mit mir ausgehen willst.“ Yukke lachte leise und er tat es ihm gleich, während er eine Hand hob und sie etwas ungeschickt in den Nacken seines Gegenübers legte.   „Du bist ja ein wahrer Gentleman“, er grinste und spielte mit den feinen Härchen unter seinen Fingerspitzen. „Aber einen Abschiedskuss bekomme ich noch, oder?“   „Tatsue …“, hauchte Yukke und schloss für einen Moment die Augen. „Du machst es mir aber auch echt nicht leicht.“   „Nein …“ Tatsuro drückte auffordernd gegen Yukkes Nacken, konnte seinen warmen Atem bereits an seinen Lippen spüren. „Leicht ist langweilig, findest du nicht?“   „Ja …“ Ein Flüstern, kaum hörbar, und dann volle Lippen, die sich auf seine eigenen legten. Himmel, erst jetzt, da er sie wieder spüren durfte, fiel Tatsuro auf, wie sehr er sie vermisst hatte. Ein leiser Laut entrang sich seiner Kehle, während er seinen Griff in Yukkes Haar verstärkte, den anderen so noch näher drängte. Er wollte noch so viel mehr, öffnete einladend seinen Mund und Yukke ließ sich nicht lange bitten. Oh ja, genau so sollte das doch sein, oder? Sein Herz hämmerte wie wild gegen seinen Brustkorb, in seinem Kopf drehte sich alles – und er war sich sicher, dass dies nicht allein vom Alkohol kam. Dieser Kuss hatte nichts mit dem gemein, den sie heute am Set geteilt hatten. Dieser hier war wild und leidenschaftlich und ganz und gar zügellos. Yukke lehnte über ihm, ein Teil seines Gewichts drückte ihn auf unglaublich angenehme Weise in die Matratze und er selbst hatte beide Hände in den brünetten Haaren vergraben, machte dort das ohnehin schon vorherrschende Chaos komplett. Ihre Zungen umschmeichelten einander, ihre Münder, selbst um Atem zu holen, nur Millimeter voneinander entfernt, bevor sie sich wiederfanden, als könnten sie ohne den jeweils anderen nicht mehr existieren.   „Yukke“, keuchte er, als er die Hand des anderen über seinen Oberkörper streicheln fühlte. Als hätte sein Name ihn aus einer Art Trance geweckt, löste sich Yukke von seinen Lippen, setzte sich auf und blinzelte auf ihn herab. Tatsuro murrte, versuchte jedoch nicht den anderen wieder näher zu locken, sondern erwiderte lediglich den Blick aus ein wenig glasig wirkenden Augen. Langsam hoben sich seine Mundwinkel erneut zu einem zufriedenen Lächeln, während er seinen Drehpartner interessiert musterte. „Du siehst so durch den Wind aus, alles in Ordnung?“ Yukke schnaubte, aber auch auf seine Züge schlich sich ein kleines Grinsen, bevor er sich noch einmal über ihn beugte.   „Sagt der Mann, der wie eine verführerische Einladung auf dem Bett liegt.“   „Mh“, brummte Tatsuro und haschte mit den Zähnen nach Yukkes Unterlippe, zupfte spielerisch an ihr, bevor er seine Zunge über sie kitzeln ließ. „Und? Nimmst du die Einladung an?“   „Nicht heute.“   „Du bist zu gut für diese Welt.“   „Ich weiß.“ Ein weiteres Mal fanden sich ihre Münder, aber wo eben noch die Leidenschaft vorgeherrscht hatte, fühlte sich diese Berührung nun vielmehr zärtlich, beinahe liebevoll an. „Pass auf dich auf, Tatsue, okay?“   „Klar doch“, nuschelte er halb gähnend, „schließlich haben wir am Freitag ein Date.“   „Ganz genau.“   Er lächelte und schloss die Augen, als Yukkes Finger seine Gesichtszüge nachzeichneten.   „Schlaf gut.“   Der Kuss, der diesmal auf seiner Stirn landete, ließ ihn schmunzeln und als die Wärme verschwand, nachdem Yukke aufgestanden war, rollte er sich auf dem Bett zusammen.   „Gute Nacht, Yukke.“ Er spürte noch, wie der andere die Bettdecke, so gut wie es ihm möglich war, über ihn zog und hörte, wie sich seine leisen Schritte entfernten. Aber noch bevor die Tür wieder ins Schloss gefallen war, war Tatsuro auch schon eingeschlafen.   ~*~   Without even a destination, I just reached out my hand. Hiding my loneliness, I grope my way along. This night without you was the first time I felt it- This pain within my heart   „Kann es sein, dass du nicht ganz bei der Sache bist?“ Der ruhige Klang der Gitarre verstummte, als Ami ihn mit gerunzelter Stirn ansah. Auch Tatsuro hörte abrupt zu singen auf und blickte vom Songtext hoch.   „Wieso denn?“, fragte er mit absolut unschuldigem Tonfall und schief gelegtem Kopf, auch wenn er genau wusste, was Ami meinte. Schön und gut, dass Miya begeistert von seinem Gesang war und daher wollte, dass er einen weiteren Song für den Abspann des Films einstudierte, aber verdammt, er konnte sich heute einfach nicht Konzentrieren.   „Ach, ich weiß nicht. Vielleicht, weil du nun schon zum dritten Mal dieselbe Strophe gesungen hast?“, schnitt Amis Stimme erneut durch das Chaos in seinem Kopf.   „Oh …“, entkam es ihm kleinlaut und er richtete seinen Blick wieder auf den Text. Sie hatte ja recht, er war tatsächlich bei der zweiten Strophe hängengeblieben und hatte es nicht einmal bemerkt.   „Wo bist du heute nur mit deinen Gedanken, Tatsuro.“   Tatsuro zuckte lediglich mit den Schultern und zauberte ein schiefes Lächeln auf seine Lippen. Er wusste genau, wo oder besser bei wem er mit seinen Gedanken war, aber das würde er Ami gewiss nicht auf die Nase binden. Leise seufzend, als eben jene Gedanken erneut abdriften wollten, faltete er den Text zusammen und verstaute ihn in der Hosentasche seiner Bluejeans.   „Vielleicht sollten wir für heute einfach Schluss-machen? Dein Liebster ist bestimmt auch nicht traurig, wenn er dich mal früher zu Gesicht bekommt.“ Tatsuro grinste, als sich Amis Wangen bei dem Wort Liebster dezent röteten.   „Hau schon ab, du schrecklicher Mensch“, schnappte sie gutmütig und verstaute ihre Gitarre in der Tasche.   „Du liebst mich.“   „Träum weiter, Tatsuro.“ Ami streckte ihm die Zunge heraus und schob sich dann als erste durch die Tür. „Schönen Feierabend.“   „Dir auch, Schätzchen.“ Den erhobenen Mittelfinger seiner Gesangslehrerin ignorierte er mal geflissentlich, statt jedoch seine Garderobe aufzusuchen und seine Sachen zu packen, um nach Hause zu fahren, schlug er den Weg in Richtung des Aufenthaltsraums ein.   Aber kaum war das Geräusch von Amis schnellen Schritten verklungen, blieb auch er stehen und knabberte unschlüssig auf seiner Unterlippe herum. Langsam zog er das gefaltete Papier wieder aus seiner Hosentasche und blickte darauf.   If I can light the undying light powered by the gentle warmth of your hands. It will illuminate every corner of this faded world, vividly Sadness will set, look, the dawn is breaking. I will search for your warmth. Search worlds unseen.   Die letzten beiden Strophen lasen sich, als hätte – wer auch immer den Text verfasst hatte – direkt in seine Seele geblickt und das Chaos dort in Worte gefasst. Es war doch einfach nicht zu fassen, oder? Da verbrachte er einen einzigen – wenn auch wirklich angenehmen – Abend in Yukkes Gesellschaft und nun ertappte er sich dabei, wie er seit Tagen komplett unkonzentriert war, nur weil er es kaum erwarten konnte, dass es endlich Freitag wurde. Und jetzt war es endlich Freitag, Freitagabend um genau zu sein, und Yukke hatte sich noch immer nicht blicken lassen. Himmel, wie er es hasste nervös zu sein. Er sollte nach Hause fahren und dem Spuk ein Ende bereiten, aber das konnte er einfach nicht über sich bringen. Warum auch musste Yukke so … so … nett sein? Jeder andere hätte Tatsuros angetrunkenen Zustand mit Sicherheit ausgenutzt, verdammt sogar er selbst hätte es ausgenutzt, aber nein, Yukke hatte sich ja als perfekter Gentleman entpuppen müssen, der zwar keinerlei Skrupel hatte ihm den Kopf zu verdrehen, aber wohl nichts von betrunkenem Sex zu halten schien.   Die feinen Härchen an seinen Unterarmen richteten sich auf, als ihn ein Schauer durchfuhr und reflexartig überkreuzte er die Arme vor der Brust, zerknitterte das Papier in seiner Hand.   Erneut schrie ihn sein rationaler Verstand an, dass er gefälligst nach Hause fahren und einfach vergessen sollte, wie schön der Abend mit Yukke gewesen war und wiewohl er sich gefühlt hatte. Yukke war ein Kollege, verdammt noch mal, und das hatte ihm schon in der Vergangenheit nichts als Ärger eingebracht. Aber ein fiel größerer Teil in ihm wollte das noch einmal haben, stampfte wie ein kleines, verzogenes Kind mit dem Fuß auf und verstand einfach nicht, wo das Problem lag. Und verdammt, er konnte dem Kind nur zustimmen. Energisch faltete er das Papier wieder zusammen und stopfte es im Gehen in die Hosentasche zurück. Wie hieß es so schön? Wenn der Prophet nicht zum Berg kam, musste er eben zu Yukke gehen, oder so ähnlich.   Als er wenig später jedoch die Tür zum Aufenthaltsraum aufstieß, wurde er von gähnender Leere begrüßt – auf den ersten Blick zumindest. Auf den zweiten Blick entdeckte er Kaisuke, der vollkommen in sein Tun versunken am großen Tisch in der Mitte des Raumes saß. Tatsuros Stirn legte sich in Falten, als er leise die Tür hinter sich schloss und auf den jungen Mann zuging.   „Kaisuke“, stellte er in normaler Lautstärke fest, aber der andere zuckte derart heftig zusammen, dass man glauben konnte, er hätte ihn aus vollem Hals angeschrien.   „Ta… Tatsuro-san. Habe ich …? Ich meine, Gara-san meinte, Sie würden heute den neuen Song proben und bräuchten mich daher nicht und ich … ehm.“ Hektische Flecke waren auf Kaisukes Wangen erschienen, die Augen hinter der dicken Brille waren kugelrund und alles in allem machte sein Gegenüber gerade den Eindruck am liebsten die Flucht ergreifen zu wollen.   „Ich bin nicht deinetwegen hier.“ Tatsuro musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht lauthals loszulachen. Kaisukes Gesichtsausdruck und sein Gestammel waren aber auch zu göttlich. „Ich bin auf der Suche nach Yukke, hast du ihn gesehen?“   „Yu… Yukke-san? J… Ja. Miya-san hat ihn ungefähr vor einer halben Stunde zu sich gebeten. Irgendwas wegen den heutigen Aufnahmen, glaube ich.“ Kaisuke knetete die Hände und hatte den Kopf leicht zwischen die Schultern gezogen, ganz so, als würde er jeden Moment damit rechnen, dass Tatsuro austickte. Er jedoch hob nur verwundert eine Augenbraue und fragte sich, ob er seine schlechte Laune in letzter Zeit vielleicht einmal zu oft an Garas Laufburschen ausgelassen hatte, dass dies eine solch heftige Reaktion rechtfertigte. Eigentlich ja nicht, dachte er sich, zuckte innerlich dann aber mit den Schultern. Vielleicht war der andere heute auch nur besonders empfindlich, konnte man bei diesem Nervenbündel ja nie wissen. Was ihn im Moment jedoch deutlich mehr ärgerte, war die Tatsache, dass Yukke wohl schon seit einer halben Stunde bei Miya saß und es um die Aufnahmen ging. Das konnte also dauern und sein Magen hing ihm doch jetzt schon in den Kniekehlen. Wieder meldete sich ein Stimmchen, welches aufs Heftigste verlangte, dass er gefälligst nach Hause fahren und es füttern sollte, immerhin wusste er doch genau, dass Yukke auf lange Sicht nur Ärger bedeuten würde. Und er musste dem Stimmchen leider recht geben, dennoch ging er weiter in den Raum hinein, bis er schließlich am Tisch stehen blieb und sich Kaisuke schräg gegenüber setzte.   „Woran arbeitest du denn hier so konzentriert?“, erkundigte er sich ehrlich neugierig und versuchte etwas von dem auf dem Kopf stehenden Text zu entziffern. Dialoge, wenn er sich nicht ganz täuschte. „Ist das ein Skript?“ Kaisuke glubschte ihn noch immer wie eine Erscheinung an, aber Tatsuro hatte heute wohl seinen geduldigen Tag, was bei Gott nicht oft vorkam. Sollte also genutzt werden und alles war besser, als hier nun nichts tuend herumzusitzen. „Sag schon oder hast du deine Zunge verschluckt.“ Okay, so geduldig war er nun doch nicht, aber zumindest hatte er bislang davon abgesehen, die Blätter einfach zu sich heranzuziehen, auch wenn seine Finger schon verdächtig zuckten.   „Ja … eh, nein … ich.“ Kaisuke schluckte hörbar und Tatsuro beschlich das komische Gefühl, dass der andere die Blätter am liebsten an sich genommen und schützend gegen seine Brust gedrückt hätte, nur damit er keinen weiteren Blick darauf werfen konnte. Dann jedoch schien sich der andere doch noch an seine gute Kinderstube zu erinnern und schob ihm die Papiere zögerlich entgegen.   „WORLD OF DECEPTION – Season 3“, las er vor und spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Seine Lippen kribbelten, als er den Titel des Drehbuches noch einmal stumm wiederholte und wie in einem Zeitraffer tauchten verschwommene Bilder in rasendem Tempo vor seinem inneren Auge auf. Das war seine Serie. Die Serie, die sein Durchbruch hätte sein sollen und die dieser Mistkerl Nobu zum größten Misserfolg seiner Karriere gemacht hatte. Mit zitternden Fingern nahm er das Drehbuch an sich, blätterte es durch und überflog die Zeilen. Tatsächlich, das war der Auszug einer Folge, vermutlich einer der Ersten und einige wenige Passagen waren mit gelbem Leuchtmarker hervorgehoben worden. „Willst du dich für eine Rolle bewerben?“, hörte er sich fragen, auch wenn sein Mund sich staubtrocken anfühlte und er es noch nicht über sich brachte seinem Gegenüber wieder ins Gesicht zu sehen.   „Die Castings starten nächste Woche und ich … Ich dachte, ich versuche mein Glück“, nuschelte Kaisuke und spielte erneut mit seinen Fingern. Tatsuro hingegen versuchte sich nicht noch mehr seiner inneren Unruhe anmerken zu lassen, erhob sich und ging zur Kaffeemaschine hinüber, wo er vorhin beim Hereinkommen auch mehrere Flaschen Wasser hatte stehen sehen. Zischend öffnete er eine von ihnen und leerte sie erst einmal zur Hälfte, obwohl das Wasser Zimmertemperatur hatte und er eigentlich nichts mehr verabscheute, als lauwarme Getränke. Er könnte jetzt einfach gehen, dachte er sich, während er die Flasche wieder zuschraubte und gedankenverloren auf das hellblaue Etikett starrte. Damit hätte er gleich zwei Probleme auf einmal gelöst. Er wäre Yukke aus dem Weg gegangen und könnte vergessen, dass er das Drehbuch überhaupt gesehen hatte. Dumm nur, dass er das Eine nicht wollte und zu stur war, um nun einfach wegzulaufen. Also hockte er sich wieder an den Tisch, wo Kaisuke ihn noch immer wie etwas Hochexplosives musterte und räusperte sich.   „Willst du einen Rat von mir?“   „Ich?“, fiepte Kaisuke und nun konnte Tatsuro doch nicht mehr an sich halten. Leise lachte er in sich hinein und schüttelte den Kopf.   „Nein, der andere Kaisuke, der sich für eine Rolle bewerben will.“   „Oh.“ Einen langen Moment war dies die einzige Reaktion auf seine Worte, dann ein zögerliches Nicken. Tatsuro lächelte und spielte mit der Wasserflasche.   „Bewirb dich nicht auf diese drittklassige Nebenrolle. Du hast kaum fünf Sätze in einem über vierzig seitigem Skript und keiner der Sätze ist länger als ein paar Worte. Damit kannst du weder beweisen, dass du auch längere Passagen auswendig lernen kannst, noch, dass du Talent hast.“   „Aber … das ist mein aller erstes Casting.“   „Ganz genau. Und darum musst du auch groß denken. Such dir eine der Hauptrollen raus. Eine mit viel Text, die dir auch die Möglichkeit zur Improvisation gibt, sollte das von dir verlangt werden. Sie werden dich natürlich nicht für eine Hauptrolle nehmen, die stehen meist schon vor den Castings fest, aber so kannst du Eindruck schinden und sie erinnern sich an dich.“   „Meinen Sie das wirklich Ernst, Tatsuro-san?“ Kaisukes Augen waren, wenn möglich, noch größer geworden, während er wie gebannt auf der Kannte seines Stuhls saß und jedes einzelne von Tatsuros Worten wie ein Schwamm aufzusaugen schien.   „So habe ich meine alle erste Rolle bekommen und die Verantwortlichen haben mir hinterher gesagt, dass sie genau dieses Engagement bei Nachwuchsschauspielern suchen. Wir sind hier zwar nicht in Hollywood, aber in Tokyo gibt es mehr als genug Talente. Da musst du schon irgendwie aus der Masse hervorstechen, um eine Chance zu haben.“ Tatsuro lächelte etwas versonnen und ließ die Plastikflasche über den Tisch kreiseln. „Und wenn wir schon davon reden, dass du aus der Masse hervorstechen musst … Ich hoffe, du hast Kontaktlinsen und Klamotten, die dir auch passen.“ Kaisukes Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ihm ein Laut über die Lippen kam, dann röteten sich seine Wangen erneut.   „Ich … j… ja hab ich.“   „Sehr gut, dann musst du dir also nur noch eine Rolle heraussuchen, die deutlich anspruchsvoller als das hier ist …“ Tatsuro tippte auf einen der markierten Sätze im Drehbuch. „…den Text lernen und dich ein bisschen herausputzen, dann wird das schon.“   „Warum? Ich meine … Warum helfen Sie mir?“ Tatsuro zuckte mit den Schultern und blickte dann auf, als sich die Tür öffnete.   „Vielleicht, weil du mich ein wenig an mich selbst erinnerst, als ich in deinem Alter war“, murmelte Tatsuro gedankenverloren, während ihn Yukkes warme Augen gefangen hielten.   „Tatsue.“ Das Lächeln, welches ihm sein Drehpartner zur Begrüßung schenkte, ließ seinen Magen rumoren und gleichzeitig war es unverschämt ansteckend. „Wartest du auf mich?“   „Nein“, hörte er sich sagen und löste sich endlich aus dem Bann, in den Yukke ihn gezogen hatte. „Ich unterhalte mich gerade mit Kaisuke-kun hier.“ Er legte Garas perplexem Laufburschen einen Arm um die knochigen Schultern und grinste Yukke frech an.   „Schade. Und da dachte ich, ich könnte dich vielleicht mit der guten Hausmannskost meiner Mutter dazu überreden, den Abend heute wieder mit mir zu verbringen.“   „Hausmannskost?“   „Ja, ich glaube, meine liebe Frau Mama hat Sorge, ich würde in der großen Stadt verhungern. Oder sie hat einfach nur mal wieder zu viel gekocht. Auf alle Fälle kann ich gefühlt eine ganze Kompanie mit dem Essen versorgen, das momentan in meinem Kühlschrank lagert.“   „Mh, es bestünde also die rein hypothetische Möglichkeit, dass das arme Essen verdirbt, wenn ich mich seiner nicht erbarme?“   „Könnte durchaus passieren.“   „DAS können wir nicht verantworten.“   „Sehr gut. Ich hab noch ein paar Flaschen Bier in den Kühlschrank gequetscht bekommen, falls das noch ein zusätzlicher Anreiz wäre.“   „Worauf warten wir noch?“ Sie lachten, während er Kaisuke einmal fest auf die Schultern klopfte und sich erhob. „Schönen Abend, Kaisuke und viel Erfolg beim Casting.“ Er schenkte dem Jüngsten der Runde nur noch halbherzige Beachtung, während er auf Yukke zuging. „Ich folge auf dem Fuße.“   Hätte sich Tatsuro in diesem Moment selbst beobachten können, hätte er vermutlich genervt die Augen verdreht und sich als liebeskranken Idioten beschimpft. So jedoch gelang es ihm kaum, das breite Grinsen von seinem Gesicht zu wischen oder sich davon abzuhalten Yukke einfach in eine stürmische Umarmung zu ziehen. Er hörte noch, wie sich auch sein Drehpartner kurz von Kaisuke verabschiedete, dann war er auch schon voll und ganz damit beschäftigt, Yukke wie ein übereifriges Plappermaul über all das unwichtige zu informieren, das sich in seiner Abwesenheit in der BLP zugetragen hatte.   ~*~   Kaisuke starrte auf die weiß gestrichene Holztür des Aufenthaltsraums, von der ihm Heath Ledger als der Joker irre entgegen grinste. Er fühlte sich wie in einem Traum oder vielleicht hatte er auch nur den Verstand verloren, ähnlich wie Ledger, der seine Paraderolle nicht überlebt hatte. Langsam sengte er seinen Blick auf das Drehbuch, versuchte die Wörter zu erkennen, die jedoch wie eigenständige Wesen über die weißen Seiten hüpften. Er sollte sich also engagieren, sich hohe Ziele stecken, groß denken. Er schnaubte. Wie denn, wenn sein Selbstbewusstsein vermutlich nicht einmal dazu ausreichen würde das Casting nächste Woche tatsächlich zu besuchen. Hätte er Tatsuro-sans Auftreten, vielleicht auch nur einen Teil seines Charismas, das einen ganzen Raum voller Menschen in den Bann schlagen konnte, dann würde er sich seinen Ratschlag vielleicht zu Herzen nehmen können, aber so? Wer war er denn? Ein dürres Mauerblümchen, das davon träumte es irgendwann einmal auf die große Leinwand zu schaffen, das war er.   Kaisuke zuckte zusammen, als sein Handy plötzlich zu läuten begann und suchte hektisch in seiner überquellenden Tasche danach.   „Oh nein“, murmelte er, als er erkannte, wer ihn anrief. „Ha… Hallo.“   „Und?“, erkundigte sich die Stimme am anderen Ende, ohne ihn überhaupt begrüßt zu haben. „Hast du es ihm gegeben?“ Kaisuke wurde blass und ein grünlicher Schimmer legte sich über seine Nase. Verdammt, er hatte doch gewusst, dass er etwas vergessen hatte. Sein panischer Blick flackerte zu der flachen, rechteckigen Schachtel, deren violettes Hochglanzgeschenkpapier zwischen Büchern, Zeitschriften und losen Zetteln hervorblitzte, die sich in seiner Tasche tummelten.   „Klar, du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst“, hörte er sich sagen und hoffte, dass sein Gesprächspartner nicht hören würde, wie sehr seine Stimme zitterte. „Er hatte sich zwar gewundert, weil Valentinstag schon lange vorbei ist, aber hat es angenommen, genau wie du gesagt hast.“   „Na siehst du. Ich weiß doch, dass er ein Schleckermaul ist.“   „Ja.“ Kaisuke lachte angestrengt und wischte sich über die schweißfeuchte Stirn.   „Bist du schon zu Hause?“   „N… Nein, ich bin noch in der BLP. Hier hab ich mehr Ruhe um zu üben.“   „Du willst dich also wirklich für die Rolle bewerben?“   „Ja.“   „Kaisuke, ehrlich mal, du verschwendest deine Zeit, die nehmen dich eh nicht.“   „Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie wissen. Außerdem werde ich mich nicht für die Rolle bewerben, die du ausgesucht hast, sondern für eine Hauptrolle.“ Kaisuke verzog das Gesicht, als vom anderen Ende der Leitung nur gehässiges Lachen zur Antwort kam. „Vielleicht kann ich sie ja damit überzeugen, dass ich mir auch lange Texte merken kann und engagiert bin“, erklärte er energisch und wurde immer lauter, als das Lachen einfach nicht aufhören wollte. Unter dem festen Griff seiner Hand knirschte das Handy bedrohlich und erschrocken über seinen Ausbruch, der so gar nicht seine Art war, lockerte er seine Finger wieder und bemühte sich tief und ruhig durchzuatmen.   „Du bist ein Traumtänzer, Kaisuke“, ertönte nun wieder die Stimme aus dem Telefon und er biss die Zähne aufeinander, um darauf ja nichts zu sagen. „Aber mir soll es recht sein, vergeude deine Zeit, wenn es dir Spaß macht, ich bin da, wenn du dich ausheulen musst.“   „Ich muss jetzt weitermachen, Gara-san hat nach mir gerufen.“   „Na dann, viel Spaß noch und warte nicht auf mich, kann später werden.“   Noch bevor Kaisuke sich hätte verabschieden können, hatte der andere schon aufgelegt. Ein paar Sekunden lauschte er noch dem Freizeichen, bevor er das Handy mit unendlich langsamen und kontrollierten Bewegungen wieder in seine Tasche zurücksteckte. Für einen langen Moment blieb er ganz still, hatte die Augen geschlossen und atmete derart flach, dass man glauben konnte, er wäre eine lebensechte Statue, aber kein Mensch. Dann sprang er plötzlich auf, griff nach der Geschenkschachtel, eilte aus dem Raum und bog in den Flur ein, der zu Tatsuros Garderobe führte.     -_-_-_-   Oh Mann, das Kapitel hat sich gezogen wie Kaugummi und sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt von mir geschrieben zu werden. *lacht* Dafür ist es doch recht lang geworden, aber als der Knoten erst mal geplatzt war, kam irgendwie immer mehr, was hier noch rein wollte. XD Ich hoffe sehr, dass euch das Kapitel gefällt und wenn dem so ist, würde ich mich wie immer über Feedback jeder Art freuen. Das Lied, welches Tatsuro in diesem Kapitel singt bzw. liest ist Nirvana von MUCC und die Übersetzung habe ich mir wieder einmal von https://www.jpopasia.com/mucc/videos/35224/nirvana/ ausgeliehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)