The show must go on von yamimaru ================================================================================ Kapitel 3: Klappe, die Dritte ----------------------------- „Tetochi? Tetochi!“   Tatsuro gähnte herzhaft und nahm seine überkreuzten Beine von der lehne des Stuhls, auf die er sie eben erst drapiert hatte, um es bequemer zu haben. Es war echt immer das Gleiche, kaum hatte er es sich mal gemütlich gemacht, wollte jemand was von ihm. Okay, in diesem Fall wollte die Dame, die sich gerade die Lunge aus dem Hals rief, zugegebenermaßen nicht direkt etwas von ihm, sondern von der Katzendame, die es sich vor einer ganzen Weile bereits schnurrend auf seinem Schoß bequem gemacht  hatte, aber das änderte auch nichts daran, dass er sich nun erheben musste.   „Na komm Süße.“ Tatsuro seufzte leise und wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht, damit man nicht auf den ersten Blick bemerken würde, dass er gerade am Einschlafen gewesen war. „Wir sollten dich zu deinem Frauchen bringen, bevor sie noch einen Herzinfarkt bekommt.“ Die kleine blinzelte ihn nur an und murrte leise, als er sie hochhob, um aufstehen zu können. „Ich weiß, nie hat man hier seine Ruhe, aber du weißt ja, wie das im Showbiz so ist.“ Er lächelte, als die Mieze ihre Nase an seiner Wange rieb und dann Anstalten machte einfach gegen seine Schulter gelehnt weiterschlafen zu wollen. Hach ja, Katze müsste man sein.   „Ishida-san?“ Er winkte der in die Jahre gekommenen Tiertrainerin zu, nachdem er auf den Flur getreten war. „Die Ausreißerin hat es sich bei mir gemütlich gemacht.“   „Dem Himmel sei Dank.“ Schneller, als er es ihr zugetraut hätte, kam sie auf ihn zugeeilt und streckte die Arme nach der dreifarbigen Glückskatze aus, die Tatsuro ihr breit grinsend entgegenhielt.  „Sie scheint wirklich einen Narren an Ihnen gefressen zu haben, Tatsuro-kun.“ Ishida-san lächelte ihn mütterlich an, was die Lachfältchen um ihre Augen noch tiefer werden ließ.   „Ja, das scheint wirklich so zu sein. Aber das beruht definitiv auf Gegenseitigkeit.“ Er kraulte Tetochi übers Köpfchen, nachdem diese es sich wieder sicher in den Armen ihres Frauchens gemütlich gemacht hatte und rieb sich dann schelmisch schmunzelnd über den Nacken. „Ich hätte Ihnen bescheid geben sollen, tut mir leid. Es war nur gerade so gemütlich und ich hatte Pause und …“   „Ach was, nächstes Mal, wenn die Kleine wieder ausbüxt, weiß ich ja, wo ich zu suchen habe. So, dann machen wir uns mal auf den Nachhauseweg, was Tetochi? Und Ihnen einen schönen Abend, Tatsuro-kun. Wir sehen uns am Montag wieder.“   „Ihnen auch Ishida-san, bis Montag.“ Tatsuro schaute den beiden noch einen Moment hinterher und hätte dann bald selbst einen Herzinfarkt erlitten, als er sich umdrehte und kein anderer als Yukke direkt hinter ihm stand. „Verdammt, Yukke! Wie kannst du mich so erschrecken?“   „Sorry, ich dachte, du hättest mich gehört.“ Yukke grinste und sah überhaupt nicht so aus, als täte es ihm auch nur im Ansatz leid, Tatsuro soeben einen gehörigen Schrecken eingejagt zu haben. „Man sollte dir ein Glöckchen umbinden, damit man auch weiß, dass du da bist.“   „Wenn es noch ein passendes Halsband dazu gibt, trag ich auch ein Glöckchen für dich.“ Täuschte er sich oder war ihre Unterhaltung binnen einer Sekunde von harmlos in eine ganz andere Richtung abgedriftet? Bemüht ausdruckslos schaute er Yukke noch immer ins Gesicht und nein, das hatte rein gar nichts damit zu tun, dass seine Augen irgendwie gerne zum Hals des anderen wandern wollten, um sich besagtes Halsband dort besser vorstellen zu können. Nein, nie. „Eine wirklich süße Verehrerin hast du dir da angelacht.“ Yukkes Grinsen war ungebrochen, auch wenn er glaubte, ein seltsam interessiertes Flackern in den warmen Augen erkennen zu können.   „Neidisch?“   „Immer. Besonders auf den Yeti-Look, den sie dir verpasst hat.“   „Mh?“ Tatsuros Stirn legte sich in Falten, als er erst nicht verstand, was sein Gegenüber meinte, so lange zumindest, bis er Yukkes Fingerzeig folgte und die vielen Katzenhaare bemerkte, die nun seinen schwarzen Kapuzenpullover und die ebenso schwarze Jeans zierten. „Ach du Schande, Yumiko macht mich einen Kopf kürzer und Miya hilft ihr dabei, wenn ich so zum Dreh erscheine.“ Vergebens versuchte er die Haare mit den Händen von seiner Kleidung zu klopfen, machte die Sache damit jedoch eher schlimmer statt besser. Yukke schaute ihm nur amüsiert dabei zu und lachte leise in sich hinein.   „Quatsch. Dafür brauchst du weder deine Stylistin, noch muss Miya das überhaupt mitbekommen. Und nun hör auf, an deiner Jeans herumzureiben, du verteilst die Haare so nur noch mehr.“ Plötzlich lag Yukkes Hand auf seiner Rechten, stoppte damit seine wirklich sinnlosen Säuberungsversuche, bevor sich warme Finger locker um sein Handgelenk schlossen. „Komm mit.“ und ohne auch nur die Chance auf ein Widerwort zu bekommen, zog ihn der andere hinter sich her. Eigentlich mochte er es nicht, wenn andere Leute über sein Leben bestimmten, selbst dann nicht, wenn es solch eine Kleinigkeit war, wie von seinem Kollegen über den Flur dirigiert zu werden. Aber der Unmut, mit dem er schon gerechnet hatte, wollte sich irgendwie gerade nicht einstellen. Nicht einmal ein dummer Spruch kam ihm in den Sinn, vielmehr genoss er die Wärme, die noch immer von Yukkes Hand ausging. Ohne sich darüber jedoch großartig Gedanken zu machen, schob er diese unübliche Gelassenheit darauf, dass es ihn einfach so entspannt hatte Tetochi streicheln zu können und dass er müde von einem langen Drehtag war. Das musste es sein.   „So, hier sind wir.“ Die Wärme verschwand und Tatsuro fand sich im Aufenthaltsraum der BLP wieder. In dem großen, aber fensterlosen Raum roch es unangenehm nach abgestandenem Zigarettenrauch und Kaffee, der schon viel zu lange auf der Wärmeplatte stand. Er rümpfte die Nase und blickte sich um, aber viel gab es nicht zu sehen. Die Wände waren mit zahllosen Filmplakaten förmlich tapeziert worden, die der sonst eher in tristen Grautönen gehaltenen Einrichtung wenigstens ein bisschen Farbe verliehen. Auf dem großen Tisch in der Mitte tummelten sich allerlei Zeitschriften, Skripte und lose Blätter und dazwischen machten benutzte Kaffeetassen, Zigarettenschachteln und ein überquellender Aschenbecher das Chaos komplett.   „Nett.“ Tatsuro lehnte sich mit dem Hintern gegen ein freies Eck des Tischs und verzog den Mund. „Ich weiß schon, warum ich meine Pausen lieber in meiner Garderobe verbringe“, murmelte er alles andere als angetan von seiner Umgebung und schaute sich nach Yukke um, der auf einem abgenutzten Sofa, das wohl von so ziemlich allen Mitarbeitern der BLP als Ablage für ihre Taschen und Jacken benutzt wurde, nach etwas zu suchen schien. Kurz darauf begann er in einer, vermutlich seiner, Umhängetasche zu kramen, bevor er mit einem lauten „Ha!“ einen kleinen Plastikzylinder hervorzog.   „Ich wusste doch, dass ich sie dabei habe.“   Tatsuro sparte sich jetzt einfach mal die Frage, was genau Yukke mit sie meinte, denn im nächsten Moment hatte er das Plastikteil eh schon unter der Nase. Etwas überfordert mit der Situation blieb er reglos stehen und wartete. Auch Yukke wartete, wohl auf eine Reaktion seinerseits und als diese ausblieb, schnaubte der kleinere Mann nur amüsiert, klappte den Zylinder auf und begann damit Tetochis Katzenhaare von seinem Pullover zu entfernen.   „Ehm“, machte er wenig intelligent und blinzelte sein Gegenüber nur weiterhin fragend an. „Du hast eine Fusselrolle in deiner Tasche.“   „Klar.“   „Und du findest das nicht irgendwie … seltsam?“   „Nö, du siehst doch, dass es nützlich sein kann eine dabei zu haben.“   „Du bist ein sehr, sehr eigenartiger Mensch“, stellte Tatsuro trocken fest, worauf der andere nur leise lachte, bevor er ihn im nächsten Moment von oben bis unten zu mustern schien. Sie standen sich plötzlich so nahe, dass ihr Größenunterschied, den Tatsuro normalerweise gar nicht wirklich bemerkte, nun umso deutlicher war. Derart deutlich sogar, dass er sich einbildete, Yukkes Atem an seinem Hals spüren zu können.   „Ich bin gern ein wenig eigenartig … normal ist langweilig, findest du nicht auch?“ Yukke glitt noch immer mit der Fusselrolle über sein Oberteil, auch wenn seine Bewegungen bei weitem nicht mehr so gezielt wirkten, wie gerade eben noch. Tatsuro hingegen schluckte nur und fühlte sich, wie im falschen Film. Täuschte er sich oder kam Yukkes Gesicht seinem eigenen immer näher?   Yukke hatte lange Wimpern, dichte, lange Wimpern. Ob seine Stylistin die für den Dreh wohl auch getuscht hatte? Yumiko tat das bei ihm immer, wirkte besser vor der Kamera, behauptete sie. Die Fusselrolle glitt tiefer, erst über seinen linken Oberschenkel, dann über den Rechten. Yukkes Haare sahen heute so … flauschig aus, weil sie mal nicht mit Gel in Form gebracht worden waren. Ob sie sich wohl auch so weich anfühlen würden, wenn er jetzt mit den Fingern hindurch kämmen würde? Die Fusselrolle kam seinem Schoß immer näher … Schluss jetzt!   Tatsuro blinzelte, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht und trat einen Schritt von Yukke zurück, nur um im selben Moment nach dieser dämlichen Fusselrolle zu greifen.    „Den Rest mach ich lieber selbst.“ Er zauberte ein verschmitztes Grinsen auf seine Lippen, obwohl er noch immer nicht verstand, was gerade eben eigentlich passiert war.   „Wie du meinst.“ Yukke zuckte mit den Schultern, überließ ihm das Plastikteil und ging zu dem niedrigen Sideboard an der gegenüberliegenden Wand, auf dem die Kaffeemaschine stand. Ganz so, als wäre gerade rein gar nichts Ungewöhnliches passiert, nahm er sich eine frische Tasse und goss sich den letzten, zähen Rest des verkochten Kaffees ein, bevor ein Schuss Milch und Zucker folgten. Unwillkürlich verzog Tatsuro erneut den Mund, ob nun wegen Yukkes Getränkewahl oder, weil er den anderen einfach nicht einschätzen konnte, war ihm selbst nicht so ganz klar.   „Du solltest dich beeilen“, stellte Yukke nach einem Blick auf seine Armbanduhr fest und leerte seine Tasse in einem Zug. Tatsuro schüttelte es bei diesem Anblick, bevor er sich mit schnellen Bewegungen auch noch der letzten Haare entledigte. Schließlich sollte man Miya besser nicht warten lassen – diese Lektion hatte er mittlerweile gelernt.     „Die Firma dankt.“ Mit einem kleinen Schmunzeln hielt er Yukke wenig später den Plastikzylinder entgegen und zuckte dann tatsächlich leicht zusammen, als sich die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete.   „Steht’s zu Diensten“, hatte Yukke noch erwidert und wollte wohl gerade wieder zu seiner Umhängetasche gehen, hielt dann aber inne und drehte sich neugierig herum.   Ein junger Mann trat ein, den Blick konzentriert auf die Blätter gerichtet, die er nah an sein Gesicht hielt. Das verwaschene, vormals wohl schwarze BUCK-TICK Band-Shirt hing wie ein Sack an seiner schmächtigen  Gestalt herab und die dunkle Jeans, die eigentlich hauteng sitzen sollte, an ihm jedoch mindestens zwei Nummern zu groß wirkte, verstärkte den Eindruck nur noch, dass er sich heute Morgen wohl im Kleiderschrank vergriffen haben musste.   „Kaisuke!“, stieß Tatsuro lauter hervor, als es nötig gewesen wäre, aber mit dem Bürschchen hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen. Der Neuankömmling zuckte so heftig zusammen, dass die Blätter unschöne Knitterfalten davontrugen und schaute Tatsuro hinter seinen Brillengläsern aus kugelrunden Augen an. „Hatte ich dich nicht schon vor über einer halben Stunde gebeten, mir noch einen Kaffee zu bringen?“   „Ta… Tatsuro-san. Ich … tut mir leid, das habe ich vergessen.“   „Das hab ich bemerkt“, murrte er und ging auf Kaisuke zu, der ihn noch immer wie ein Reh anstarrte und sich nicht von der Stelle rührte. „Ich begreife nicht, warum Gara dich nicht endlich rausschmeißt.“   „Tatsuro-san, bitte. Es war so viel zu tun und da hab ich …“   „Was?“ Tatsuro griff nach den Blättern, die Kaisuke noch immer umklammerte und riss sie ihm aus den Händen. „Lieber wieder die Nase in Drehbücher gesteckt, als das zu tun, was man dir aufgetragen hat? Aus dir wird nie mehr als Garas Laufbursche, wenn du nicht endlich lernst bei der Sache zu bleiben.“ Tatsuro rollte die Blätter zusammen und ließ sie nicht gerade sanft auf Kaisukes Kopf hernieder fahren, bevor er ihm die Rolle gegen die Brust drückte und sich schnaubend an ihm vorbeischob, um energisch auf den Flur hinauszutreten.   „Tatsuro, warte“, rief Yukke ihm hinterher und ganz automatisch verlangsamte er seine Schritte, sodass der andere aufholen konnte. Es wunderte ihn nicht einmal, dass ihn sein Kollege nun strafend von der Seite her anschaute, irgendwie hätte er von ihm in so einer Situation auch nichts anderes erwartet. „War das wirklich nötig gewesen?“   „Vermutlich nicht“, gab er also leise zu und seufzte, „aber der Kerl treibt mich einfach zur Weißglut.“   „Warum?“   „Keine Ahnung.“ Tatsuro zuckte mit den Schultern und stopfte die Hände in die Taschen seines Kapuzenpullovers. „Wenn er sich wenigstens etwas anstrengen würde, würde er es bestimmt auf die Schauspielschule schaffen. Aber stattdessen lungert er lieber hier herum, steckt die Nase in Skripts und träumt davon groß rauszukommen.“   „Warst du denn nie so?“   „Nie.“   „Glaub ich dir nicht.“ Yukkes so typisches, schiefes Grinsen gehörte wirklich verboten, dachte er sich, als sein Magen mal wieder verrücktspielte. „Vielleicht nervt er dich ja nur so, weil er dich an dich selbst erinnert.“   „Wie kommst du denn auf den Blödsinn?“   „Die langen Haare, die Klamotten …“   „So ein Quatsch … wobei, ich glaub, das Band-Shirt hab ich sogar auch.“   „Siehst du, sag ich doch.“   „Idiot.“   „Gehst du mit mir heut Abend einen trinken?“, erkundigte sich Yukke aus heiterem Himmel und er brauchte tatsächlich ein paar Sekunden, bis er begriffen hatte, was der andere ihn gerade gefragt hatte. Kopfschüttelnd blieb er stehen und schaute Yukke belustigt an.   „und wo bitte sehr kam jetzt dieser Themenwechsel her?“   „Keine Ahnung, ich dachte mir, ich versuch es mal, wenn du gerade mit anderen Gedanken beschäftigt bist. Hat es funktioniert?“   „Nö. Ich hab dir schon die letzten acht Mal gesagt, dass ich mit Kollegen keinen Trinken gehe.“   „Neunmal.“   „Hm?“   „Ich hab dich jetzt schon neunmal gefragt …“ Tatsuros Lachen hallte über den Flur, dann waren die Stimmen der beiden nur noch gedämpft zu hören.   Kaisuke stand noch immer mitten im Aufenthaltsraum, die Papiere, die Tatsuro ihm so unsanft gegen die Brust gedrückt hatte, in zitternden Händen haltend. Seine Augen waren hinter der spiegelnden Brille kaum zu sehen, aber dennoch hätte vermutlich jeder, der in diesem Moment an ihm vorbeigegangen wäre bemerkt, dass er vor Wut kochte. Mit steifen Schritten ging er auf den Tisch zu, legte das Drehbuch darauf ab und strich es mit harschen Bewegungen glatt. „Ich werde es dir schon noch zeigen, Tatsuro“, zischte er, „ich werde es euch allen zeigen.“ Für einen Moment noch stützte er beide Hände auf die Tischplatte, ließ den Kopf hängen und atmete einige Male tief durch. Erst dann straffte er die Schultern wieder und verließ schnellen Schrittes den Raum.   World of deception - Season3 - stand auf dem Skript, das nun gänzlich unbeachtet zwischen all den anderen Blättern dalag und dessen Ränder sich langsam wieder einrollten, bis es, als hätte ein Luftzug es erfasst, auf den Boden fiel.   ~*~   „Miya ist echt ein alter Sklaventreiber“, motzte Tatsuro, als er einige Stunden später die Tür seiner Garderobe aufdrückte. „Es geht schon auf zehn und das an einem Freitag. Hat der Kerl noch nie was von Feierabend gehört?“ Mit einem mürrischen Schnauben ließ er sich vor dem großen Spiegel auf einen Stuhl fallen und begann damit sich sein Make-up aus dem Gesicht zu wischen. Seine Schimpftirade hatte natürlich mal wieder niemand mitbekommen, denn Yumiko hatte sich schon vor einer halben Stunde verabschiedet und Satochi war noch damit beschäftigt sein Equipment für den nächsten Drehtag herzurichten. Irgendwie war es ein seltsames Gefühl nach so  langer Zeit wieder einmal mit Sato zusammenzuarbeiten und nun sogar auf seinen Bruder warten zu müssen, bis sie nach Hause fahren konnten. Aber über Letzteres würde er sich ganz gewiss nicht beschweren, denn er war mehr als nur ein bisschen froh darüber, dass Satochi endlich eingesehen hatte, dass es doch keine so schlechte Idee war bei ihm einzuziehen. Tatsuros Wohnung war ohnehin so groß, dass er einige Räume bislang nicht einmal in Benutzung gehabt hatte und sein Bruder konnte nach seinem langen Krankenhausaufenthalt auch wirklich jeden gesparten Yen gut gebrauchen. Außerdem hatte er Satochi auf diese Weise wenigstens ein bisschen im Blick und konnte darauf achten, dass sich der Herr nicht wieder einmal mehr zumutete, als er sollte. Nicht, dass er Sato das jemals gesagt hätte, aber wenn er sich jetzt etwas um ihn kümmern konnte, würde sein schlechtes Gewissen vielleicht endlich Ruhe geben, das hoffte er zumindest. Endlich vom Make-up befreit erhob er sich wieder und streckte sich erst einmal ausgiebig. Himmel, wie sehr er sich doch auf sein freies Wochenende freute, das erste seit einer gefühlten Ewigkeit. Zwei ganze Tage einfach nur nichts tun. Gerade wollte er sich Akehikos Kleidung entledigen, um wieder in seine eigenen Klamotten schlüpfen zu können, da bemerkte er ein kleines, gefaltetes Stück Papier, das sich in der Bauchtasche des Kapuzenpullovers verborgen hatte.   „Mh?“, brummte er fragend und klappte den Zettel auf, welcher sich als Kassenbon für zwei Dosen Red Bull entpuppte. Wie kam ein Kassenzettel in die Tasche seines Drehoutfits und noch dazu einer für Energydrinks? Er mochte das Zeug doch nicht einmal. Stirnrunzelnd drehte er das Papier herum und musste dann unwillkürlich schmunzeln, als ihm aufging, wer ihm dieses untergejubelt haben musste.   „Hey, diesen Gesichtsausdruck habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.“ Satochi stand in der Tür seiner Garderobe und strahlte ihn derart atomar an, dass er nicht anders konnte als leise zu Lachen.   „Du tust ja gerade so, als würde ich ständig mit einer miesepetrigen Grimasse im Gesicht herumlaufen.“   „Fast.“ Satochi kam langsam auf ihn zu, jeder zweite Schritt von dem mittlerweile fast schon altbekannten Klacken seines Gehstocks begleitet und hob die Hand. „Zeig doch mal.“ Schneller, als Tatsuro hätte reagieren können, hatte ihm sein Bruder den Zettel schon aus den Fingern gezupft und die wenigen Zeichen überflogen, die auf der Rückseite geschrieben standen. „Falls du es dir doch noch anders überlegst“, las Satochi vor. „Dann eine Telefonnummer und … Ich hab auch Katzenvideos, die ich dir zur Aufmunterung schicken könnte. Y.“ Satochi hob fragend eine Augenbraue, aber Tatsuro dachte ja nicht einmal daran hierzu etwas zu sagen.   „Wenn du noch breiter grinst, fallen dir die Ohren ab“, murrte er stattdessen und versuchte nach dem Zettel zu greifen, den Satochi allerdings wohlweißlich außer Reichweite hielt.   „Katzenvideos, hu? Und wer ist Y? Eine Verehrerin? Oder … vielleicht ein Verehrer?“   „Red keinen Dünnschiss, Satochi, und gib mir den Zettel wieder.“   „Was denn?“ Satochi rollte mit den Augen, streckte ihm jedoch den Kassenzettel entgegen, den Tatsuro auch sogleich in der Hosentasche verschwinden ließ. „Es würde dir echt mal guttun, wenn du mal wieder rauskommst. So ein kleiner Flirt schadet doch nicht? Seit der Sache mit …“   „Untersteh dich, seinen Namen zu sagen.“   „Ich mein ja nur. Die Sache ist jetzt über ein Jahr her und …“   „Ja, die Sache ist über ein Jahr her und hat mich fast alles gekostet, was mir wichtig gewesen ist. Hätte ich nicht mehr Geld bezahlt, als die Presse diesem Dreckskerl für seine exklusiven Insiderinformationen über mich geboten hat, hätte er mich vermutlich komplett ruiniert. So hab ich nur den besten Job verloren, den ich je hatte, weil der Produktionsleiter ein homophobes Arschloch ist!“ Tatsuro blinzelte und rieb sich über die Stirn. Himmel, selbst nach all den Monaten geriet er noch immer in Rage, wenn er an Nobu und daran erinnert wurde, was der Kerl alles abgezogen hatte. Und er hatte wirklich einmal geglaubt, verliebt in ihn zu sein … „Scheiße!“   „Tut mir leid, Tatsuro. Ich meinte doch nur, dass du endlich wieder zu leben anfangen solltest. Die Sache ist jetzt so lange her, keiner erinnert sich noch daran.“   „Ich hatte damals Glück, dass er ein Idiot ist, der nicht mehr als das schnelle Geld gesehen hat. Mit etwas mehr Weitsicht und ohne Garas Anwalt hätte er mich ruinieren können, Sato. So etwas steckt man nicht so einfach weg und geht wieder zur Normalität über. Ich hab mir geschworen, nie wieder etwas mit einem Kollegen anzufangen und daran werde ich mich auch halten.“   „Aber nicht jeder ist wie er.“   „Nein, vielleicht nicht, aber das Risiko ist mir einfach zu hoch.“ Tatsuro wandte sich ab und entledigte sich nun endlich seines Outfits. Wieder kam ihm dabei der Kassenzettel unter und für einen Moment war er versucht ihn einfach im Papierkorb zu entsorgen. Dann aber steckte er ihn in seinen Geldbeutel und hoffte insgeheim, dass er ihn dort einfach vergessen würde.   „Was hältst du von einer großen Familienpizza?“ Satochis Hand landete auf seiner Schulter und Tatsuro erkannte die Geste als das, was sie war – ein Friedensangebot.   „Hört sich fantastisch an, mir hängt mein Magen schon seit Stunden in den Kniekehlen“, gab er also versöhnlich zur Antwort und zauberte sogar wieder ein kleines Lächeln auf seine Lippen.     „Na dann, ich lad dich ein.“ Satochi drehte sich herum und ging schon einmal langsam voraus, während Tatsuro noch seine letzten Sachen zusammenpackte und seinem Bruder dann hinterher joggte.   „Wochenende!“, trällerte er und bemühte sich, seine schlechte Laune und die Erinnerungen an Nobu einfach hinter sich zu lassen. „Hast du was geplant?“, erkundigte er sich, während er nun deutlich langsamer neben seinem Bruder herging. „Ich bin ja dafür einfach nichts weiter zu tun, als endlich die ganzen Serien aufzuholen, die ich in den letzten Wochen verpasst hab.“   „Ja~“, machte Sato langgezogen und schaute ihn schelmisch grinsend von der Seite her an. „Weil du es gerade ansprichst … also … morgen spielt ja Japan gegen Uruguay, weißt schon, die Vorrunde der Fußball WM?“ Tatsuros Stirn legte sich in Falten, zum einen, da er sich echt zu erinnern versuchte, ob er in den letzten Tagen was von der Fußball WM mitbekommen hatte und zum anderen, weil er sich ehrlich wunderte, weshalb Sato so herumdruckste. Gut, Tatsuro hatte mit Fußball nun eher weniger am Hut, aber das sollte Satochi ja nicht weiter stören.“   „Ja und?“   „Na ja, es könnte rein theoretisch sein, dass ich Miya eingeladen hab das Spiel bei uns zu gucken?“   ~‘*~   Mit einer Sonnenbrille auf der Nase, die Haare unter einer Wollmütze versteckt und einem praktischen Mundschutz, der die Hälfte seines Gesichts verbarg und so seine Vermummung perfekt machte, schlängelte sich Tatsuro durch den nachmittäglichen Menschenansturm in Tokyos Elektronikmeile Akihabara. Ein Gutes hatte es, dass er vor Satochis Gast und der geballten Fußballlaune geflüchtet war, so hatte er sich nämlich endlich neue Kopfhörer besorgen können. Außerdem war das Wetter fast zu schön, um in der Bude zu hocken, auch wenn er sich  eigentlich genau darauf gefreut hatte. Aber was tat man nicht alles, um nicht mit seinem derzeitigen Boss Fußball schauen zu müssen. Was sich sein Bruder dabei gedacht hatte ausgerechnet Miya einzuladen, verstand Tatsuro noch immer nicht. Aber ihm sollte es recht sein, solange er sich dieses Schauspiel nicht geben musste. Umringt von Jugendlichen, Technikfreaks und der ein oder anderen Hausfrau, die hier irgendwie ziemlich fehl am Platz wirkte, wartete er an einer der vielen Kreuzungen darauf die Straße überqueren zu können. Gerade, als die Ampel auf Grün schaltete, fiel sein Blick auf eine Sendung, die über den Bildschirm im Schaufenster eines Ladens für Second Hand Spielekonsolen und DVDs flimmerte. Die Menschen um ihn herum setzten sich in Bewegung, aber Tatsuro blieb wie erstarrt stehen, nur seine linke Hand, in der er die kleine Plastiktüte mit seinem Einkauf hielt, ballte sich zur Faust. Über das allgegenwärtige Stimmengewirr, den Straßenlärm und den lautstarken Reklamen, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, konnte er zwar kaum etwas verstehen, aber das musste er auch gar nicht. Die Szene, die gerade gezeigt wurde, konnte er auch nach all der Zeit noch immer selbst im Schlaf mitsprechen. Mit traumwandlerisch anmutenden Bewegungen bahnte er sich seinen Weg durch die Leute, bis er direkt vor dem Schaufenster stehen blieb. Gerade sah man einen Mann, ihn, dessen Lippen sich nur noch angestrengt bewegten, während seine Geliebte die Hand auf die Schusswunde in seiner Brust presste.   „Kamui, verlass mich nicht“, hörte er sie nun schluchzen, auch wenn er tatsächlich nicht hätte sagen können, ob ihre Stimme vielleicht doch nur in seinem Kopf existierte.   Himmel, das letzte Mal, als er diese Bilder gesehen hatte, war das Staffelfinale noch nicht einmal komplett abgedreht gewesen … und einige Stunden später hatte man seiner vielversprechenden Karriere einen Riegel vorgeschoben. Er glaubte beinahe wieder das hochrote Gesicht des Produktionsleiters vor seinem inneren Auge sehen zu können, nachdem dieser ihn in sein Büro zitiert hatte. Selbst heute noch wusste Tatsuro nicht genau, was der andere ihm alles vorgeworfen hatte, aber der Grundtenor war der gewesen, dass Tatsuro mit seiner fragwürdigen Orientierung für die Firma nicht mehr tragbar wäre. Nobu war an diesem Tag nicht am Set gewesen, aber Tatsuro vermutete stark, dass dieser sich die gleiche Tirade hatte anhören dürfen, bevor er gefeuert worden war. Wobei er sich bis heute fragte, ob Nobu sie beide nicht vielleicht sogar selbst verpfiffen hatte, um ihm nicht nur das Herz zu brechen und ihn wie eine Weihnachtsgans auszunehmen, sondern um ihm auch beruflich einen Tiefschlag zu verpassen.   „… Und das war das Finale der zweiten Staffel von World of deception!“, drang die quirlige Stimme einer sehr jungen Fernsehmoderatorin durch den Nebel seiner Erinnerungen. Tatsuro blinzelte, als würde er aus einem schlechten Traum erwachen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. „Über ein Jahr mussten die Fans auf eine Fortsetzung warten, doch nun ist ein Ende der Durststrecke absehbar.“ Die Moderatorin kicherte verschämt und legte sich für einen Moment die Hand vor den Mund, als müsste sie ein vorfreudiges Grinsen verbergen. „United Pictures gab heute bekannt, dass mit dem Dreh der dritten Staffel bereits im Herbst dieses Jahres begonnen wird. Die Gerüchte, Serienliebling Iwakami, Tatsuro würde sein großes Comeback feiern, wurden von U.P. jedoch dementiert …“   Tatsuro wandte sich ab und verschwand in einer Seitenstraße. Ziellos ging er voran, achtete weder auf seine Umgebung, noch auf die Leute, die ihm entgegenkamen. Er wollte einfach nur weg. Weg von den Menschenmassen und weg von seinen Erinnerungen, die er einfach nicht länger ertragen konnte. Nach Hause wollte er nun allerdings auch nicht. Nicht, wenn ihn dort nur ekelhaft gute Laune erwartete. Er brauchte jetzt Ablenkung, irgendetwas, das seine Nerven beruhigen würde und die Übelkeit vertrieb, die sich in seinem Magen angesammelt hatte. Erst, als sich die Geräusche um ihn herum veränderten, hob er den Blick, den er die ganze Zeit über stur auf seine eigenen Füße gerichtet hatte. Vor ihm lag ein freier Platz, der von einigen hohen Bäumen eingefasst wurde, die ihre langen Schatten über den kopfsteingepflasterten Boden warfen. Das kleine Café ihm direkt gegenüber schien heute einen wirklich guten Umsatz zu machen, denn fast keiner der Tische, die im Freien aufgestellt worden waren, war unbesetzt. Das muntere Stimmengewirr der Gäste, die an diesem schönen Nachmittag die Frühlingssonne genossen, drang an seine Ohren und eine schwarze Kreidetafel vor dem Eingang des Cafés machte die Besucher darauf aufmerksam, dass der Matcha Latte heute im Sonderangebot zu erhalten war. Einen Moment zögerte er noch, dann aber ging er entschlossen auf die Ansammlung von Stühlen und Tischen zu. Vielleicht war Zucker ja jetzt genau das, was er brauchte.   Eigentlich hatte er nach drinnen gehen wollen, in der Hoffnung dort etwas mehr Ruhe zu finden, aber als er sich durch die Tischreihen schlängelte, fiel ihm ein junger Mann auf, der konzentriert auf seinem Handy tippte. Seine Lippen verzogen sich unter dem Mundschutz zu einem seichten lächeln, als er sich näher heranpirschte und dem anderen dann einfach frech von hinten über die Schulter schaute.   „Der beste Mango-Frappuccino, den ich je getrunken habe“, las er die Nachricht und grinste dann doch breit, als der kleinere Mann heftig zusammenzuckte. „Eine uninteressante Information, nach der sich deine Fans dennoch die Lippen lecken werden, was?“ Für eine ganze Weile wurde er nur aus großen Augen angeguckt, bevor sich so etwas wie Erkennen in sie schlich.   „Ta…, Tatsuro?“   „Der einzig Wahre“, erwiderte er und deutete auf einen der freien Stühle. „Darf ich mich zu dir setzen?“   „Klar, bitte.“ Yukke wirkte noch immer etwas durch den Wind, auch wenn er ihm nun, da er es sich ihm gegenüber gemütlich gemacht hatte, eines seiner strahlenden Lächeln schenkte. „Das nenne ich mal einen Zufall, mit dir hätte ich nun absolut nicht gerechnet.“   „Ich hatte heute auch nicht wirklich vor in ein Café zu gehen, aber hey, da bin ich.“ Tatsuro zog den Mundschutz nach unten, bevor er bei der Bedienung, die gerade an ihren Tisch herangetreten war, seine Bestellung aufgab.   „Was soll eigentlich deine Vermummung? So kalt ist es doch gar nicht?“, fragte Yukke, nachdem die junge Frau wieder verschwunden war.     „Hu?“, Tatsuro blickte fragend auf und nahm die Hand von seiner Wollmütze. Gerade hatte er noch überlegt sie abzunehmen, entschied aber, dass das wohl eher keine so gute Idee war. „Ich will nur nicht von Fans erkannt werden, das ist alles.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du scheinst damit eher keine Probleme zu haben?“   „Ich? Nein. Das ist ein Vorteil, wenn man nur Rollen in Boys Love Filmen bekommt, die Leute kennen mich zwar, aber die meisten sind diskret genug, um mich nicht in der Öffentlichkeit anzusprechen, wenn du verstehst, was ich meine.“ Yukke zwinkerte ihm zu und wieder sammelte sich bei diesem Anblick eine ganz bestimmte Hitze in Tatsuros Magen. Er nickte verstehend, auch wenn ihm mehr der Sinn danach stand den Kopf zu schütteln, nur um ihn wieder frei zu bekommen. Würde er sich in Yukkes Gegenwart nicht immer seltsam wohlfühlen, wäre es beinahe erschreckend, welche Wirkung er auf ihn hatte. Um sich selbst von seinen komischen Gedanken abzulenken, ließ er seinen Blick erneut über die Gäste und den Platz schweifen und lächelte, als er in etwas Entfernung eine Handvoll Kinder entdeckte, die sich über den sandbedeckten Untergrund eines kleinen Spielplatzes jagten.   „Das ist ein wirklich schönes Plätzchen hier, kommst du öfter her?“   „Nein, ist heute das erste Mal.“ Yukke zog am Strohhalm seines Frappuccinos und gab ein leises, genießendes Brummen von sich. „Aber ich gehe mal schwer davon aus, dass ich in Zukunft öfter hier sein werde, das Zeug schmeckt echt verboten gut. Willst du probieren?“ Tatsuro schüttelte den Kopf und hob abwehrend beide Hände.   „Lass mal, danke, aber ich mag keine Mango.“   „Was?“ Yukkes Empörung war beinahe greifbar und es hätte ihn nicht gewundert, hätte er nun sein Glas umklammert, um dem armen, verschmähten Getränk darin zuzuflüstern, dass es bloß nichts auf Tatsuros Worte geben sollte. Ein amüsiertes Lachen entrang sich seiner Kehle, welches erst von der Ankunft seines eigenen Getränks unterbrochen wurde.   „Nun schau doch nicht so, als hätte ich dich persönlich beleidigt.“   „Hast du aber, wie kann man nur keine Mango mögen?“   „Das geht, glaub mir, und es tut nicht einmal weh.“ Tatsuro gluckste noch immer albern, bevor er einen vorsichtigen Schluck seines Lattes trank. „Aber ich muss echt zugeben, die wissen hier, wie sie ihre Getränke machen müssen.“ Er hob den Blick und sah sich Yukkes warmen Augen gegenüber, die ihn beinahe forschend betrachteten. „Was?“, fragte er, seine aufwallende Unsicherheit hinter einem Lächeln verborgen.   „Ich mag dein Lachen“, murmelte Yukke und schob seine Hand über den Tisch, bis seine Fingerspitzen Tatsuros eigene ganz sacht berührten. Tatsuro schluckte, als ihn die warmen Augen regelrecht gefangen nahmen. Das Stimmengewirr rückte in den Hintergrund und er hatte das eigenartige Gefühl, als würden sie beide plötzlich gänzlich alleine unter den hohen Bäumen sitzen, deren Blätter diffuse Schatten auf Yukkes Gesicht zeichneten. Er öffnete seinen Mund und schloss ihn dann doch wieder, als sich alles, was er auf Yukkes Worte hätte erwidern können, in Rauch auflöste.   „Ich …“, brachte er dann doch noch hervor, aber noch bevor er hätte weitersprechen können brach der Zauber, als er von einer heiteren Stimme unterbrochen wurde.   „Yusuke! Tut mir leid, dass du warten musstest.“ Ein hochgewachsener, schlanker Kerl mit mehr Metall im Gesicht als gesund sein konnte, ließ sich in den freien Stuhl an ihrem Tisch fallen. „Der Verkehr war mal wieder mörderisch, aber was will man an einem Samstagnachmittag auch erwarten.“   Tatsuro hatte seine Hand längst zurückgezogen und sie nun sicherheitshalber um sein Glas gelegt, während Yukke noch immer etwas verwirrt aus der Wäsche guckte.   „Ehm, ja, hey“, sagte er schließlich lahm und zauberte für den Neuankömmling ein Lächeln auf seine Lippen. „Schön, dass du da bist, darf ich dir Tatsuro vorstellen? Tatsuro, das ist Shiramizu, Takuma … ein … Freund.“   „Nenn mich einfach Seek.“ Tatsuro blinzelte und ergriff die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Waren die Haare des Kerls tatsächlich hellgrün? Sein Blick wanderte zu seinem Matcha Latte, dann wieder zur Haarpracht des anderen. Tatsächlich, die Ähnlichkeit war frappierend.   „Freut mich“, presste er hervor, auch wenn ihm viel eher der Sinn danach stand, den Neuankömmling für sein wirklich mieses Timing zu verwünschen. Andererseits war es vermutlich, nein, ganz sicher war es besser, dass er nicht die Chance bekommen hatte, auf Yukkes Aussage zu antworten. Dabei wäre bestimmt nichts Gutes herausgekommen.   Für einen Moment schwiegen sie sich betreten an, bis es schließlich Yukke war, der das Wort an seinen … Freund richtete, um sich zu erkundigen, wie es auf der Technikmesse denn so gewesen war, die dieser heute wohl besucht hatte. Tatsuro begnügte sich damit stumm sein Getränk zu leeren, welches glücklicherweise nicht mehr besonders heiß war, während sich seine Gedanken nur um eine ganz bestimmte Frage drehten. Warum hatte Yukke eben gezögert, als er Seek als einen Freund vorgestellt hatte?   ~*~   Obwohl er sich nach Seeks Ankunft ziemlich zügig aus dem Staub gemacht hatte, dämmerte es bereits, als er den Fahrstuhl seines Appartementgebäudes verließ. Aus der Küche drangen Stimmen an sein Ohr, nachdem er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte und am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre wieder gegangen. Miya war also noch hier, großartig. Nicht, dass er direkt etwas gegen seinen Boss hatte – Miya konnte ein Sklaventreiber sein und war schrecklich penibel, dennoch schätzte Tatsuro seine ehrliche Art – was aber noch lange nicht hieß, dass er auch seine Freizeit mit ihm verbringen wollte. Da ihm sein lieber Bruder jedoch augenscheinlich keine andere Wahl ließ, seufzte er nur leise und ergab sich seinem Schicksal. Er wuschelte sich gerade durch die Haare, die von der Wollmütze komplett zerzaust worden waren, während er der Unterhaltung lauschte, die zu ihm in den Flur drang.   „Du musst mir nicht helfen, Miya. Schließlich bist du Gast und ich nur ein halber Invalide.“   „Selbst, wenn du ein ganzer Invalide wärest, würde ich dir helfen.“   „Das … macht keinen Sinn.“ Sein Bruder Lachte und Tatsuro konnte sich das Augenrollen förmlich vorstellen, mit dem Miya nun vermutlich bedacht wurde.   „Ganz genau. Und weil es keinen Sinn macht, hab ich recht. Also lass dir gefälligst helfen, du sturer Esel.“   „Ach du Schande“, wisperte Tatsuro und schüttelte den Kopf. „Ich muss in der Twilight Zone gelandet sein.“ Ohne hinzusehen, legte er seine Sonnenbrille und den Mundschutz auf das niedrige Sideboard im Flur und räusperte sich dann vernehmlich. „Ich bin wieder da.“ Versucht gutgelaunt streckte er den Kopf zur Küche herein, wo Satochi gerade damit beschäftigt war irgendeine Art von Auflauf aus dem Ofen zu holen, während Miya neben ihm stand und den Eindruck machte, heldenhaft eingreifen zu wollen, sollte Satochi das Gleichgewicht verlieren. Irgendwie … machte ihn diese Geste in Tatsuros Augen wieder ein stückweit sympathischer, immerhin trug Sato den Gehstock nicht zur Zierde mit sich herum.   „Hey Tatsue, willst du mitessen?“ Kurz überlegte er, schüttelte dann aber den Kopf.   „Danke, ich hab in der Stadt schon was gegessen.“ War zwar gelogen, aber irgendwie war ihm nach allem, was heute schon wieder vorgefallen war, der Appetit vergangen. „Ich bin in meinem Arbeitszimmer.“   Er fühlte sich seltsam erschöpft, als er die Plastiktüte mit seinen Kopfhörern auf den Schreibtisch legte und sich in seinem Drehstuhl zurücklehnte, ohne den PC angeschaltet zu haben. Vielleicht sollte er einfach schon ins Bett gehen und hoffen, dass sich die Erholung, die er doch so dringend nötig hatte, wenigstens über Nacht noch einstellen würde. Oder vielleicht sollte er Yukke schreiben? Wenn er ihm erzählte, dass sein Bruder gerade mit ihrem gemeinsamen Boss flirtete, hätte der bestimmt Mitleid mit ihm. Und so ein lustiges Katzenvideo würde ihn ganz sicher ein wenig aufmuntern können, auch wenn er sich dann wieder nur fragen würde, ob Yukke wohl auch den Abend mit diesem Seek verbrachte.   Gerade hatte er sich für die vernünftigere Variante entschieden und sich erhoben, um nun doch ins Bett zu gehen, da klopfte es an der Tür.   „Tatsue? Das ist für dich abgegeben worden, während du weg warst.“ Sato trat ein, den Gehstock wieder in der rechten Hand, während er in der Linken ein Päckchen balancierte. Verwundert erhob sich Tatsuro von seinem Stuhl und ging Sato entgegen. Das Päckchen war erstaunlich schwer und mit rotem Klebeband verpackt, was darauf hindeutete, dass der Inhalt wohl zerbrechlich sein musste.   „Komisch, ich hab doch gar nichts bestellt.“ Ein wenig beunruhigt betrachtete er den Karton, der jedoch einen ganz legitimen Eindruck machte. Das Label war von der Post und auch den Absender erkannte er wieder –ein Onlineshop, bei dem er regelmäßig seine Computerspiele bestellte.   „Willst du es lieber nicht aufmachen?“ Tatsuro erwiderte Satochis Blick, der nun nicht minder verunsichert wirkte, als er sich fühlte. Dann jedoch gab er sich einen Ruck, öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs und holte eine Schere heraus, mit der er das Paketklebeband aufschnitt.   „Quatsch, ich hab bestimmt nur vergessen, dass ich was bestellt hab.“ Eine rote Metallbox kam zum Vorschein und wieder stockte er kurz. „Ob das das Steelbook vom neuen Tomb Raider ist? Wenn ja, werden die Dinger aber auch immer größer.“   „Kommt das nicht erst nächste Woche raus?“ Wohl neugierig geworden kam Satochi näher, während Tatsuro den Deckel der Metallbox anhob.   Im nächsten Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig.   Aus der Box war eine Melodie zu hören, die Tatsuro später als Pop goes the weasel* erkennen würde, während etwas Silbernes ganz knapp an seinem Gesicht vorbei sauste und klirrend hinter ihm auf den Boden fiel. In einer grauenhaften Parodie eines Schachtelteufels baumelte der halb verweste Körper einer kleinen Glückskatze an der Sprungfeder, die normalerweise einen lachenden Clownskopf trug. Der widerliche Gestank ließ ihn würgen und einen schwankenden Schritt zurücktreten, bevor er wie vom Donner gerührt erstarrte, als eine verzerrte Stimme zu sprechen begann.   „Du dachtest wohl, ich hätte aufgegeben? Nein, Tatsuro, ich gebe niemals auf. Ich kriege dich und wenn ich dich erst einmal habe, werde ich der ganzen Welt zeigen, was für ein mieser Heuchler du doch bist. Lass dir die Sache mit deinem Bruder eine Lehre sein, Tatsuro. Ich habe die Macht dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist.“   Die Stimme verstummte, dann wurde auch die Melodie immer leiser, bis auch sie schließlich nicht mehr zu hören war. Tatsuros Knie schlugen hart auf dem Parkettboden auf, aber er registrierte den Schmerz gar nicht …   Und in der dröhnenden Stille kam es einem Donnerschlag gleich, als das erste Blut auf den Boden tropfte.   -_-_-_-   *) https://www.youtube.com/watch?v=oUqcaAocZ7s   Wow. Dieses Kapitel hat mich regelrecht überfallen und mich so lange nicht in Ruhe gelassen, bis ich es geschrieben habe. Aber ich muss zugeben, dass mir das bei weitem lieber ist, als wenn sich alles so schrecklich zieht. Von daher hoffe ich wie immer, dass euch das Kapitel gefallen wird und würde mich riesig über Feedback jeder Art freuen. 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