Siren's Call von rumwolf ================================================================================ 1 - Die entfernten Strahlen des Mondes waren die einzige Lichtquelle, als Mao sich seinen Weg aus der Tiefe hinauf bahnte. Mit Schwung durchbrach er die Oberfläche und atmete tief ein. Zwar konnte er auch unter Wasser ohne Probleme atmen, doch es war ein vollkommen anderes Gefühl die kühle Nachtluft in seinen Lungen zu spüren. Die Nacht über der Wasseroberfläche war dunkel, aber es war ein anderes Dunkel als das in seiner Heimat, den Meeresgräben. Es war nicht ganz so erstickend, nicht ganz so alles verschlingend. Und da war das silberne Glitzern des Mondlichts auf der samtschwarzen Decke des Wassers. Wie lange war er schon nicht mehr hier oben gewesen? Er kannte keine wirklichen Zeiteinheiten außer Monden. Einen ganzen Mond war es noch nicht her, doch einige Phasen sicherlich. Erst jetzt merkte er wieder, wie sehr er es vermisst hatte. Mao ließ sich auf dem Rücken treiben, die Arme einfach von sich gestreckt, während die lange grauschwarze Flosse ihn mit minimalen Bewegungen auf einer Stelle hielt. Die Stille tat gut und er bildete sich ein, sogar ein bisschen Wärme von den Mondstrahlen zu spüren, auch wenn er wusste, das Mondlicht keine Wärme abgab. Das Licht der Nacht war kalt. Er fragte sich, wie sich die Sonne wohl anfühlen musste, doch seit er denken konnte, hatte man ihm eingetrichtert, dass das Sonnenlicht ihn austrocknen würde. So sehr hing er zwar nicht unbedingt an seinem Dasein als Sirene, doch ausprobieren wollte er es trotzdem nicht. Also kam er nachts an die Wasseroberfläche, wenn er wieder an der Reihe war. Manchmal auch einfach nur so. Und er genoss die Stille. Das ewige Gluckern des Wassers, was sonst immer seine Ohren füllte, verschwand hier und wurde durch so viele andere Geräusche ersetzt. Da waren der Wind, der um die Felsen an der Küste pfiff und das Krachen der Wellen gegen den Stein. Am liebsten mochte er stürmische Nächte, wenn Regen auf die Meeresoberfläche niederprasselte und das Grollen des Donners alles übertönte. Sich aus seiner Trance lösend schwamm Mao durch die großen, schwarzen Felsen in Richtung des Strandes. Es war Zeit, dass er seine Jagd begann. Hoffentlich hatte er Glück und jemand war dort. Im Sommer war es immer ein leichtes Spiel, jemanden zu finden. Sommernächte brachten unzählige Strandbesucher mit sich, weswegen sie zu dieser Zeit des Jahres auch nur in Schwärmen jagen konnten. Im Winter hingegen verirrten sich nur vereinzelte Menschen an den Strand, sodass sie auch allein losziehen konnten. Zugegebenermaßen war es Mao so lieber. Manchmal beobachtete er seine Opfer eine Weile, bevor er sie anlockte, was nicht möglich war, wenn er mit den anderen unterwegs war. Dann wurde die Aufgabe erfüllt und wieder an den Boden des Meeres zurückgekehrt. Er war einer der Wenigen, die es genossen hier oben zu sein. Der dunkle Streifen der Küste war bereits in Sicht. Mao verlangsamte sein Tempo, darauf bedacht im Schutz der Felsen zu bleiben. Noch etwas dichter und seine Augen würden in der Lage sein, jegliche Gestalt am Strand zu erblicken. Selbst als er in Sichtweite war, konnte er jedoch niemanden erkennen. Er war noch nicht zu spät dran, es konnte noch jemand kommen. Alles was er brauchte waren Geduld und etwas Glück. Mao schwamm den Küstenstreifen auf und ab, um sicher zu sein, dass er auch niemanden übersehen hatte, doch der Strand blieb weiterhin leer. Mit einem Seufzer ließ die Sirene sich von einer großen Welle auf den Sand treiben. Er mochte es am Strand zu liegen, wenn die Wellen sich zurückzogen, nur um ihn erneut zu überspülen. Näher würde er dem Leben außerhalb des Wassers niemals kommen. Als er noch klein gewesen war, hatte man ihm eine Geschichte von einer Sirene erzählt, die ebenfalls gerne im Sand am Strand gelegen hatte und einmal bei der Jagd eingeschlafen war. Der Tag war hereingebrochen, ohne dass sie es gemerkt hatte und sie war fast ausgetrocknet. Zwar hatte sie es noch zurückgeschafft, war jedoch wenige Tage später der inneren Trockenheit erlegen. Mao wusste nicht, ob diese Geschichte wahr war oder ebenfalls nur ein Ammenmärchen, das die Mütter ihren Kindern erzählten, um diese vom Land fernzuhalten, auf jeden Fall erfüllte sie ihre Wirkung. Lange Jahre hatte er das flache Wasser ebenfalls gemieden, doch während eines Sturmes hatte ihn eine Welle an den Strand gespült und zum ersten Mal hatte er gespürt, wie es war nicht im Wasser zu sein. Auf eine seltsame Art und Weise hatte es ihm gefallen. Zwar fühlte er sich auch immer ein wenig ausgeliefert, aber er entfernte sich ja nicht so weit vom Meer, dass er nicht schnell wieder in die Tiefen abtauchen könnte. Seinen Blick zum Nachthimmel gerichtet, wartete er. Auch die Sterne faszinierten ihn. Vielleicht, weil es sie unter Wasser nicht gab. Er fragte sich, was dort draußen wohl für Leben existierte. Gab es auch Meere auf Sternen? Seine Gedanken wurden von knirschenden Schritten im Sand unterbrochen. Sofort machte Mao sich so flach wie es nur ging und ließ sich von der nächsten Welle wieder weiter ins Meer hinaus ziehen. In sicherer Entfernung ließ er sich einfach treiben und beobachtete den Menschen, der gerade den Strand betreten hatte. Er war nicht besonders groß und sah eher jung aus. Blonde Haare lugten unter einer schwarzen Mütze hervor. Er trug einen schwarzen Mantel und in der Hand hielt er einen seltsam geformten Koffer. Mao konnte sich nicht erinnern so etwas schon einmal gesehen zu haben. Was das wohl war? Theoretisch hatte er gelernt sofort anzugreifen, sobald sich eine Möglichkeit dazu ergab, doch aus irgendeinem Grund faszinierte dieser Mann ihn. Also verharrte Mao regungslos im Wasser und wartete ab, was der Mensch tun würde. Er lief dicht ans Meer heran, blieb aber doch auf dem trockenen Sand. Dort stellte er seinen Koffer ab und ließ sich daneben nieder. Eine Weile saß er dort einfach so und blickte auf den Ozean hinaus, dann machte er sich jedoch an dem Koffer zu schaffen, öffnete ihn und holte etwas heraus, was Mao schon öfter gesehen hatte. Was genau es war, wusste er nicht, doch im Sommer hatten es viele Leute mit am Strand. Sie nutzten es als Instrument um Töne zu erzeugen, so wie Mizukis Schwester Korallenflöte spielte. Der blonde Mann zupfte an den Seiten herum, ehe er begann eine sanfte Melodie zu spielen. Sie war angenehm und Mao schwamm lautlos etwas näher an den Strand. Sein Opfer war so in das Spiel vertieft, den Blick auf das Instrument in seinen Händen gerichtet, dass es die Sirene gar nicht wahrnahm, auch als dieser fast schon in Sichtweite war. Dann schloss der Mann die Augen und begann zu singen. Bereits mit dem ersten Ton, der seine Lippen verließ, raubte es Mao den Atem. Er war wie verzaubert von dieser Stimme. Sie war rau aber so unglaublich sanft und gefühlvoll zugleich, anders als jede, die er bis jetzt gehört hatte und Sirenen waren ja schließlich bekannt dafür wunderschöne Singstimmen zu haben. Aber nicht einmal die besten Sänger unter ihnen kamen an das Talent dieses Menschen heran. Gebannt lag er im Wasser und wagte kaum auch nur einen Muskel zu rühren, aus Angst, dass der andere ihn bemerken könnte und aufhören würde zu singen. Dieser Stimme könnte er ewig lauschen. Er wollte noch ein bisschen dichter an den Mann am Strand, um besser zuhören zu können. So geräuschlos wie nur möglich schwamm er etwas näher. Mittlerweile konnte er mit seinen Händen, wenn er die Arme ausstreckte, den Sand berühren, so weit war er wieder im flachen Wasser. Er war sich bewusst, dass er ein gefährliches Spiel spielte. Wenn der andere ihn sehen würde, müsste er schnell handeln, wenn er Erfolg haben wollte. Das Lied berührte etwas in ihm, von dem er nicht gewusst hatte, dass es da war. Die Traurigkeit, von der der blonde Mann sang, drohte ihn ebenfalls zu übermannen, dabei kannte er nicht einmal ihren Ursprung. Konnte das eigene Herz für einen Fremden brechen? Mao konnte nicht anders als den Mann anzusehen und auch als dieser verstummte, seine Augen wieder öffnete und den Blick auf das Meer richtete, wandte er sich nicht ab. Auch nicht, als sich ihre Blicke trafen und der Blonde zusammenzuckte und mit einem schiefen Ton sein Spiel abbrach. Sichtlich erschrocken erstarrte der Mensch und starrte ihn an. Auch in Mao breitete sich für einen Moment Panik aus. Was sollte er jetzt tun? Sollte er selbst singen, um den anderen vom Fliehen abzuhalten? Wenn er singen würde, wäre der Mann verloren und er würde nie wieder die Möglichkeit haben diese Stimme zu hören. Scheinbar hatte sich der Fremde von seinem ersten Schock erholt und legte mit zitternder Hand das Instrument beiseite. „Hey Mann, du hast mich vielleicht erschreckt. Hättest ruhig sagen können, dass hier wer ist. Ich hab dich gar nicht gesehen, als ich gekommen bin“, begann er mit lauter, jedoch leicht zittriger, Stimme zu sprechen. Antworten, Mao musste antworten. Doch was? Er hatte noch nie mit einem Menschen gesprochen. „Verzeihung, ich wollte nicht dein Lied unterbrechen“, entgegnete er schließlich. Er war sich nicht einmal sicher, ob Menschen ihn überhaupt verstehen konnten, doch der Blonde entspannte sich bei den Worten. „Kein Ding. Aber sag mal, ist es nicht viel zu kalt um im Meer zu schwimmen? Es ist Winter und an Land und angezogen ist es ja schon arschkalt.“ „Ich friere nicht.“ Offensichtlich nicht überzeugt von der Aussage, erhob sich der Mensch aus seiner Sitzposition und machte ein paar Schritte auf Mao zu, der wie gelähmt war. Alles in ihm schrie danach zurück in die Tiefen des Meeres zu fliehen oder verdammt noch mal endlich anzufangen zu singen. Sobald der Mann sehen würde, was er wirklich war, würde es nur Probleme geben. Der Blonde musste sterben, so oder so. Niemals könnte Mao es zulassen, dass ein Mensch von der Existenz der Sirenen erfuhr. Er wollte nicht verantwortlich dafür sein, dass sein Schwarm an einen neuen Ort ziehen musste. Seit Jahren waren sie jetzt schon an dieser Küste und laut seiner Mutter war es der erste Ort, an dem sie so lange verweilt hatten. „Ernsthaft jetzt. Das kann echt gesundheitliche Folgen haben. Du unterkühlst und im schlimmsten Fall kriegst du ‚ne Erfrierung und dir muss irgendwas amputiert werden.“ Mit gleichmäßigen Schritten kam der Fremde näher. Er kniff die Augen zusammen, um im Dunkeln besser sehen zu können. Mao wusste, dass Menschen schlechte Nachtsicht hatten und er hoffte, dass er die Schwanzflosse im Wasser nicht erkennen konnte. „Ich gehe immer nachts schwimmen. Ich bin nicht so kälteempfindlich“, versuchte er erneut zu erklären. Noch nie hatte er von jemandem in seinem Schwarm gehört, dass er mit einem Menschen geredet hatte. Für eine Situation wie diese war er gänzlich unvorbereitet. Mittlerweile war der Fremde so dicht an ihn herangetreten, dass er ihn bestimmt genau sehen konnte. „Das Lied. Du hast wunderschön gesungen. Aber warum war es so traurig?“ Es war ein erbärmlicher Versuch das Gespräch von der Richtung, in die es abzurutschen drohte, fortzulenken. Irritiert von dem plötzlichen Themenwechsel runzelte der Mensch die Stirn. „Weil die Welt traurig ist. Da schreiben sich traurige Lieder ganz von allein.“ Eine Wolke, die sich vor den Mond geschoben hatte, ohne dass Mao es bemerkt hatte, verzog sich und das silberne Licht der zunehmenden runden Scheibe fiel auf den Ozean. Der Mann sah den Umriss des Fischschwanzes im flachen Wasser. Mao konnte es daran erkennen, dass ihm sämtliche Gesichtszüge für einen Moment entgleisten, ehe er ungläubig den Kopf schüttelte, als wolle er sich selbst einreden, dass das, was er gerade gesehen hatte, nicht sein konnte. „Ist das eine dieser Meerjungfrauen-Schwimmflossen?“ Meerjungfrauen-Schwimmflossen? Mao hatte keine Ahnung, was das sein sollte, also schwieg er. Sein Kopf arbeitete auf Hochtouren und er versuchte etwas zu finden, was er sagen könnte, dass den anderen nicht gleich dazu bringen würde wegzurennen. Er wollte diesen Mann nicht töten, zum ersten Mal seit er alt genug war auf die Jagd zu gehen, wollte er einen Menschen nicht ins Wasser locken und mit in die Tiefe nehmen. Doch hatte er überhaupt eine Wahl? Schließlich war es der Lauf der Dinge, dass Sirenen Menschen töteten. „Das Ding kann ja nicht echt sein, oder? Meerjungfrauen gibt es nicht. Und ich habe heute auch nicht gekifft“, brach der Blonde erneut die Stille. Mao fragte sich, was in seinem Kopf vorging. Wie würde er reagieren, wenn er einfach die Wahrheit sagen würde? „Doch. Ich bin eine Sirene, kein Mensch.“ Die Worte hatten seinen Mund verlassen, bevor Mao sich zügeln konnte. Erschrocken über sich selbst und darüber, wie leicht dieses Geständnis doch über seine Lippen gekommen war, schlug er sich eine Hand vor den Mund. Der Blick des Mannes wanderte zu den langen, spitz zulaufenden Fingernägeln, den Schwimmhäuten und der leicht schuppigen Haut. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als in seinem Kopf langsam der Groschen zu fallen schien. Er öffnete und schloss den Mund mehrere Male sprachlos. Sein Blick wanderte erneut über Maos ganzen Körper und zum ersten Mal schien er ihn wirklich zu sehen, was der Sirene einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Jemand sah ihn. „Keine Angst, ich tue dir nichts.“ Offensichtlich nicht wirklich beruhigt, machte der Mensch zwei wackelige Schritte zurück, wobei er beinahe über seine eigenen Füße stolperte. Doch er rannte nicht davon, wofür Mao dankbar war. „Mein Name ist Mao. Wie heißt du?“, fragte er weiter und wartete geduldig, bis der andere sich dazu durchringen konnte, ihm zu antworten. „R.. Ruki“ Mao konnte nicht sagen, wie lange sie einander noch anstarrten. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Seine Gefühle fuhren währenddessen Achterbahn. Er wollte dem Blonden versichern, dass er keine Gefahr darstellte, wollte ihn fragen, warum er die Welt als so traurig empfand, wollte ihn noch einmal singen hören. Er wollte so vieles. Doch er gab Ruki Zeit zu verdauen, was er gerade erfahren hatte. Er erinnerte sich noch daran, als er von der Existenz der Menschen erfahren hatte. Damals hatte es ihn verstört, dass es Leben außerhalb des Meeres gab, wo er doch nur die Kreaturen der tiefen See gekannt hatte. Wahrscheinlich musste sich der Andere gerade genau so fühlen. „Ich dachte immer, dass es Meerjungfrauen nur in Märchen geben würde“, murmelte Ruki ungläubig, halb zu sich selbst. „Ich bin keine Meerjungfrau, sondern eine Sirene. Wir leben im Meer und locken mit unserem Gesang Menschen an, die wir dann mit in die Tiefe nehmen“, erklärt Mao geduldig. Man hatte ihm in der Schule gelehrt, dass die meisten Menschen Sirenen für sogenannte Meerjungfrauen oder Meermänner hielten. „Hast du das mit mir vor?“ „Nein. Ich bin zwar an die Wasseroberfläche gekommen, um zu jagen, doch nachdem ich dein Lied gehört habe, glaube ich nicht, dass ich dich töten kann. Dann würde ich deine Stimme nie wieder hören können.“ Als Ruki nichts weiter entgegnete, stellte er die Frage, die er schon die ganze Zeit auf der Zunge lag. „Kannst du noch ein Lied singen?“ Zögerlich nickte der junge Mann und ging zurück zu seiner Gitarre. Er setzte sich wieder in den Sand und nahm das Instrument zur Hand. Dann begann er eine neue, gleichermaßen sanfte Melodie zu spielen. Mao schwamm weiter ins flachere Wasser, bis er schließlich mit dem ganzen Körper im Sand lag. Ohne zu spielen aufzuhören, begutachtete Ruki den ausgestreckten Sirenenkörper im fahlen Mondlicht. Als er zu Singen begann ließ sein Blick Maos Augen nicht einen Moment lang los. Das Lied war ebenso traurig, wie das Erste und könnten Sirenen weinen, so hätte es Mao eine Träne entlockt. Doch Sirenen konnten nicht weinen und seine Augen blieben trocken. Nachdem das Stück beendet war, stimmte Ruki direkt die nächste Melodie an. So verging die Zeit, bis der Mond tiefer am Himmel hing und Mao wusste, dass es Zeit war zu gehen. Er war schon zu lange an der Oberfläche. Nachdem der Blonde ein weiteres Lied beendet hatte, durchbrach er die Stille. „Ich muss gehen. Vielen Dank für die Musik. Noch nie zuvor habe ich etwas so schönes gehört.“ Ein Rotschimmer legte sich auf Rukis Wangen und Nacken und er nickte stumm. „Ich werde nächste Nacht wieder zum Strand kommen. Ich würde dich gerne noch einmal singen hören.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ Mao sich in die nächste Welle gleiten und trat seinen Weg zurück in die Tiefe des Meeres an, das traurige Lied des Menschen noch immer im Kopf. - Mao hatte seine Arme auf einem kleinen Vorsprung an den Felsen abgelegt, während er wartete. Er wusste nicht, ob Ruki heute schon zurück zum Strand kommen würde, doch er hatte das Risiko den anderen zu verpassen nicht eingehen wollen. Also hatte er sich bereit erklärt wieder an die Oberfläche zu schwimmen. Missmutig hatten die Schwarmältesten ihn gelassen. Es herrschte immer angespannte Stimmung, wenn kein Mensch mitgebracht wurde. Noch war es kein Problem, doch sollte er mehrere Tage ohne Beute zurückkehren, würde das anders aussehen. Sie brauchten Menschen, um sich die wahren Monster der Tiefsee vom Leib zu halten. Mizuki, Maos bester Freund, hatte angeboten mit nach oben zu kommen, doch die Sirene hatte abgewinkt. Er wusste, dass Mizuki sich an der Luft nicht wirklich wohlfühlte, sondern das Meer bevorzugte, wie die meisten ihrer Art. Außerdem wusste er nicht, wie er sich erklären sollte, falls Ruki wieder am Strand sein würde. Gott, er wollte den Sänger unbedingt wiedersehen. Er hatte den Tag von ihm geträumt, von den blonden Haaren und der herzerweichenden Stimme. Ob Ruki wohl wieder ein Lied für ihn singen würde? Die Sehnsucht danach, diese Stimme erneut zu hören, überraschte ihn selbst. Fühlte es sich so für die Menschen an, wenn sie eine Sirene singen hörten? Als die sanften Noten von der Stimme, die er eben noch versucht hatte in seinem Kopf heraufzubeschwören, an seine Ohren drang, ließ die Sirene sich hastig von seinem Platz an dem Felsen ins Wasser gleiten. Mit nur wenigen kräftigen Bewegungen seiner Schwanzflosse schoss er durch das dunkle Meer und schon konnte er die Gestalt des Mannes am Strand sehen. Er saß wieder genau an der gleichen Stelle, wie letzte Nacht auch, das Instrument wieder in seinem Schoß. Er spielte eine der Melodien, die Mao nun schon kannte. Nachdem die Sirene sich versichert hatte, dass sonst kein Mensch am Strand war, ließ er sich wieder ins flache Wasser treiben und kam im Sand zum Liegen. Ruki musterte ihn, noch immer leicht ungläubig. „Ich war mir nicht sicher, ob ich das letzte Nacht nur geträumt habe, aber anscheinend bist du wirklich real.“ Mao konnte den Blick des anderen auf jedem Zentimeter seines Körpers fühlen. Auf der Schwanzflosse, den hervorstehenden Flossen, die aus seiner Hüfte und Wirbelsäule hervortraten, der schuppigen, nackten Haut des Oberkörpers, den Kiemen an den Seiten des Halses und den dunklen Augen. Mao erschauderte unter dem Blick, der von anderer Natur war als letzte Nacht. Noch nie hatte ihn jemand so voller Wunder und Ehrfurcht angesehen. „Du bist wunderschön.“ Fast hätte er Rukis Worte nicht gehört, vielleicht hatte er sie auch nicht hören sollen. Er versuchte, was er schon so viele Menschen hatte tun sehen, er zog seine Mundwinkel hoch und entblößte seine Zähne im Versuch zu lächeln. Er beobachtete, wie der blonde Mann ihm ebenfalls ein Lächeln schenkte, das wesentlich schöner als sein eigenes sein musste, und aufstand. Mit noch immer etwas zurückhaltenden Schritten ging er auf die Sirene zu. Seine Stiefel knirschten im Sand und Mao hielt den Atem an. Dann war Ruki plötzlich nur noch eine Armlänge entfernt und wie von alleine streckte er eine Hand aus. Die offene Handfläche nach oben haltend wartete er. Nach kurzem Zögern spürte er eine warme Berührung und es war, als würde ihn ein Blitz durchfahren. Fast wäre er zurück gezuckt, doch er riss sich zusammen. Gott, Ruki’s Hand war so warm. Nie zuvor hatte er so eine Wärme gespürt. Sie brannte sich in die Kälte seines Körpers ein, fraß sich bis in sein tiefstes Inneres hinein. Er wollte mehr von dieser Wärme, brauchte mehr davon. Er wollte wissen, wie es sich anfühlte warm zu sein. Mit geisterhaften Bewegungen sanfter Fingerkuppen erkundete der Blonde die Hand der Sirene. Sichtlich fasziniert fuhr er die langen, scharfen Fingernägel entlang, berührte kurz die grauen Schwimmhäute und dann die grauen Schuppen am Übergang von der Hand zum Handgelenk. Als er fertig war mit der Erkundung, schloss er seine warmen Finger behutsam um die kalte Klaue. „Sind alle Menschen so warm?“ Maos Stimme war kaum mehr als ein Seufzen, als er die Geste erwiderte und Rukis Finger ebenfalls umschloss, darauf bedacht ihn mit den langen Fingernägeln nicht zu verletzen. „Sind alle Sirenen so kalt?“, entgegnete der Blonde nur. Sie hielten einander in dieser unschuldigen Berührung, bis die Wärme und die Kälte für den jeweils anderen zu viel wurde. Ruki löste sich zuerst und steckte seine Hand in die Manteltasche, um sie wieder aufzuwärmen. Mit seiner Berührung verschwand auch die Wärme in Maos Hand augenblicklich, so als hätte sein Körper kein bisschen davon gespeichert. Sie hinterließ eine gähnende Leere und Kälte in ihm, die zwar schon immer dort gewesen, ihm jedoch nie so schmerzlich bewusst gewesen war. „Sing für mich.“ Ruki ging nicht zu seinem Instrument zurück, sondern ließ sich auf dem nassen Sand nieder. Mit geschlossenen Augen stimmte er das gleiche Lied an, das er letzte Nacht bereits gesungen hatte, als Mao ihn zum ersten Mal gehört hatte. Nicht in der Lage seinen Blick abzuwenden, beobachtete Mao die feinen Gesichtszüge, jede noch so kleine Bewegung der Kiefermuskulatur, wie die Lippen die Worte formten, die blonden Haarsträhnen, die vom Wind in sein Gesicht geweht wurden und wie eine von ihnen an seiner Lippe hängen blieb. Sogar der Anblick der Korallenriffe und der Fische, die sie bewohnten, im entfernten Licht der Sonne, das durch das Wasser drang, verblasste angesichts dieser Schönheit. „Ich muss leider wieder gehen. Die nächsten zwei Tage muss ich in eine andere Stadt fahren, aber dann kann ich wieder kommen“, erklärte Ruki mit einem entschuldigenden Lächeln, als auch dieses Lied verstummt war. Mao versuchte die Enttäuschung, die er bei diesen Worten plötzlich verspürte, zu verbergen, doch an der Miene des anderen konnte er erkennen, dass es ihm nicht so wirklich gelang. So, als ob er es dadurch besser machen könnte, hielt der Blonde der Sirene noch einmal seine Hand hin. Mao drückte seine Handfläche gegen die des Mannes und genoss noch einmal das pulsierende Gefühl der Wärme. „Dann sehen wir uns in zwei Tagen.“ Dieses Mal war es Mao, der wartete, bis der andere seine Gitarre eingepackt hatte und den Strand hinter sich ließ. Bevor er hinter den Dünen verschwand, drehte Ruki sich noch einmal um und hob die Hand als Andeutung eines Winkens. - Die zwei Nächte, in denen Mao am Meeresboden blieb, zogen sich endlos in die Länge. Er ging wie immer mit Mizuki schwimmen und so sehr es ihm auch auf der Zunge brannte, konnte er seinem besten Freund nicht von dem Mann erzählen, der seinen Verstand vollkommen eingenommen hatte. Er hörte Rukis Stimme in dem Gluckern des Meeres, dem Grollen der Tiefen, dem sanften Rauschen der Algenwälder. Wenn er seine Augen schloss, war da das Gesicht, nach dem er sich so sehnte und wenn er träumte, glaubte er für einen winzigen Augenblick noch einmal die Wärme seiner Hand spüren zu können. War es eine Sünde, dass er sich so nach etwas verzehrte, dass für immer außerhalb seiner Reichweite sein würde? Mizuki brachte eine alte Frau als Beute, als er am ersten Tag von Rukis Abwesenheit jagen ging. Die Älteren des Schwarms atmeten erleichtert auf, doch die missbilligenden Blicke, die sie Mao zuwarfen, verschwanden nicht. Es würde wieder Gras über sein Versagen bei der Jagd wachsen, aber das würde noch einige Zeit dauern. Die Älteren waren schon immer nachtragend gewesen, vor allem wenn durch erfolglose Jagden das Dasein des Schwarms gefährdet wurde. Zwar konnten sie einige Tage ohne Beute überleben, doch spätestens dann wurden die Tiefseemonster unruhig und hungrig und wenn das Essen ihnen dann nicht vorgetragen wurde, machten sie sich irgendwann selbst auf die weiter ausschweifende Suche und nahmen, was sie finden könnten. Irgendwann würden sie dabei zwangsläufig auf den Schwarm stoßen. „Was ist eigentlich mit dir los? Du warst die letzten Tage super abwesend“, hakte Mizuki schließlich nach, als Mao wieder einmal träumend ins Leere starrte, während er in seinem Kopf Rukis Gesang heraufbeschworen hatte. Aus seinen Gedanken gerissen, drehte er sich zu seinem besten Freund. „Nichts. Was sollte sein? Ich bin nur etwas frustriert, dass die letzten Male, wo ich am Strand war, niemand da war und deswegen jetzt alle so genervt sind. Kann ich doch nichts für, wenn sich die ganze Nacht einfach niemand blicken lässt.“ Er war sich nicht einmal sicher, warum er Mizuki nicht die Wahrheit sagte. Sie waren befreundet seit sie auf der Welt waren, da würde der andere ihn wohl kaum wegen so etwas beim Schwarm verraten. Doch aus irgendeinem Grund wehrte sich etwas in seinem Inneren dagegen, von dem blonden Mann, der ihm bereits so den Kopf verdreht hatte, zu erzählen. Solange er schwieg, bestand einfach weniger Risiko, egal wie sehr er Mizuki vertraute. Ruki war immer noch ein Mensch und das erste, was sie beigebracht bekamen war, dass man sich nie einem Menschen offenbaren, geschweige denn mit ihnen Kontakt haben durfte. Er hatte die oberste Regel ihres Schwarmes, die oberste Regel aller Sirenenschwärme, gebrochen. „Ja okay, das kann ich verstehen. Aber mach dir keine Gedanken. Du gehst ja morgen Nacht wieder und da ist bestimmt jemand da. Manchmal hat man einfach Pech, da kann keiner von den anderen was gegen machen. Die kommen im Winter ja auch manchmal mit leeren Händen zurück“, redete Mizuki ihm gut zu und Mao schenkte ihm im Gegenzug ein Lächeln. „Du hast recht. Ich sollte mir deswegen keine Vorwürfe machen. Aber lass uns nicht weiter drüber reden. Tut mir leid, dass meine Laune deswegen so angeschlagen ist.“ „Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen und schon gar nicht bei mir. Ich wäre auch nicht gerade die Stimmungskanone, wenn ich in deiner Flosse stecken würde.“ Schweigend schwammen sie den Rest des Weges nebeneinander her. Wie fast jeden Tag machten sie eine kleine Runde zu den Schiffswracks, um nicht den ganzen Tag in der Siedlung des Schwarms zu verbringen, bevor sie schlafen gingen. Wie von alleine begann Mao die Melodie von Rukis Lied vor sich hin zu summen, was Mizuki kurz innehalten ließ. Die Sirenen hatten ein eigenes Repertoire an Liedern, die sie von klein auf lernten. Von Schwarm zu Schwarm konnte es variieren, aber dieses Lied hatte die junge Sirene noch nie gehört. Wo hatte Mao es gelernt? Doch als er sich das lächelnde Gesicht seines Freundes ansah, beschloss er die Frage erst einmal für sich zu behalten. Vielleicht hatte Mao sich die Melodie ja auch nur ausgedacht. - Ruki saß bereits am Strand und sah geduldig aufs Meer hinaus, als Mao die Wasseroberfläche durchbrach. Als er den Blonden die Hand heben sah, schwamm er mit kräftigen Bewegungen seiner Schwanzflosse zum flachen Wasser. Er war leicht außer Atem, als er im Sand liegen blieb. Seine Mutter hatte ihm noch von ihrem Plan für den neuen Korallengarten am Rand der Siedlung erzählt. Um Ruki nicht zu lange warten zu lassen, war er so schnell geschwommen, wie er konnte. „Hey. Schön dich zu sehen“, begrüßte ihn der Sänger mit einem ehrlichen Lächeln, das Mao ein Kribbeln durch die Adern jagte. Gott, er hatte dieses Gesicht und diese raue Stimme schon vermisst, obwohl er den anderen kaum kannte. Es war kaum eine Minute vergangen, in der er nicht daran gedacht hatte. „Ich freue mich auch. Ich habe dich vermisst“, gestand er. Ruki lachte leise. „Ich dich auch, wenn ich ehrlich bin. Aber ich habe dir ein neues Lied geschrieben. Möchtest du es hören?“ Mao zog seine Mundwinkel im Versuch ein Lächeln zurückzuschenken nach oben, doch er war sich nicht sicher, ob es funktionierte. Es schien den Anderen nicht zu stören. „Ja bitte.“ Love without shape changing day by day 深く重ねる 二人は一つ 流れ星になって Long road which leads to the calm hill 光を灯すように 明日を照らす - Zitat am Ende aus den Lyrics zu Last Heaven von the GazettE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)