Dreams of Gold von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 10: Kettei ------------------ 10. Kettei - Entscheidung(6278)     Nachdem die ersten Minuten ihrer Gespräche eher stockend verlaufen waren, musste Ataru zugeben, dass der Abend weniger verspannt war, als sie befürchtet hatte. Zu einem nicht unerheblichen Teil war dies sicher der Tatsache geschuldet, dass Toshiya und Die sich aufrichtig für ihre Familie zu interessieren schienen – und zu einem weiteren daran, dass sie die Austern und den Barsch nicht nur einfach mitgebracht, sondern auch bei ihrer Zubereitung geholfen hatten. Dass sie dabei offensichtlich wussten, was sie taten, ließ sie im Ansehen ihres Großvaters automatisch aufsteigen, selbst nachdem sie das Bier, das er ihnen angeboten hatte, ablehnten. Und mit dem Meer hatten sie mit dem älteren Mann natürlich ein Thema gemeinsam, das viele Gesprächspausen überbrücken konnte. Für Ataru war es anfangs seltsam gewesen, zu sehen und zu hören, wie die beiden über sich und ihr Leben sprachen. Soweit sie es beurteilen konnte, logen sie nicht, gaben aber lediglich so viel Preis, wie sie konnten, ohne sich in konkreten Details zu verlieren. Es stimmte, dass sie an der Küste wohnten, nur eben nicht an Land. Es stimmte, dass sie auf einer der vielen Inseln südlich von Kyushu aufgewachsen waren, nur eben auf keiner, die offiziell bewohnt war. Es stimmte, dass sie sich von klein auf kannten, nur hatten sie sich eben nicht im Kindergarten kennengelernt, sondern lebten seit jeher im gleichen Schwarm. Ataru fragte sich, ob sie auch würde lernen müssen, in solchen Halbwahrheiten zu sprechen. Vermutlich würde es sich nicht vermeiden lassen, wenn sie länger zusammen waren und sie ihrer Familie überhaupt von ihrem Leben erzählen wollte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Freunde sie dabei unterstützen würden.   Gerade herrschte eine kurze, zufriedene Stille, nachdem ihr Großvater eine Geschichte aus seinen Tagen als Hochseefischer zum Besten gegeben hatte. Ataru blickte gedankenverloren in den warmen Schein des Feuers, ließ Teile des Abends gedanklich Revue passieren, als Toshiya sich neben ihr leise räusperte.   „Ataru hat uns erzählt, dass Sie einen Fischer kennen, der schon einmal Nixen gesehen hat?“, fragte er und schaffte es dabei gleichermaßen unbeteiligt wie neugierig zu klingen. Ataru sah ihn mit geweiteten Augen an. Sie hatte ihren Freunden nie von dieser Geschichte erzählt, aber vielleicht war das auch wieder eines dieser Dinge, die er einfach wusste. Und auch wenn sie das ‚warum‘ nicht verstand, vielleicht war es ja wichtig, genau diese Frage zu stellen. Ihr Großvater zuckte seinerseits nur mit den Schultern, ehe er sich etwas umständlich eine Zigarette ansteckte.   „Er hatte behauptet, dass sich eine Nixe in seinem Netz verfangen hatte“, bestätigte er dann. „Und zum Dank für ihre Befreiung hat sie ihm eine Schuppe geschenkt.“ Dies war zwar wesentlich weniger ausführlich, als ihr Großvater Ataru erzählt hatte, aber das wunderte sie nicht wirklich. Schließlich konnte er die Reaktion ihrer Freunde nicht einschätzen. Er konnte nicht wissen, dass die beiden ihm wohl eher Glauben schenken würden als die meisten anderen Küstenbewohner.   „Das ist ein Glücksbringer, oder?“ Auch jetzt schwang offene Neugier in Toshiyas Stimme mit, die nur dazu führte, dass Ataru sich mit jeder Sekunde mehr fragte, wohin das hier führen sollte.   „Zumindest erzählt man sich das.“ Atarus Großvater nickte, sah dann seinerseits für einige schweigende Sekunden in das Lagerfeuer, das zwischen ihnen brannte.   „Aber Fischer erzählen sich viel, wenn sie die Zeit dazu haben“, warf ihre Großmutter, die bisher geschwiegen hatte, ein, tätschelte ihrem Mann liebevoll das Knie.   „Und manchmal haben sie vielleicht recht.“   Ataru konnte es nicht erklären, aber mehr als je zuvor jagten ihr Dies Worte einen Schauer über den Rücken, brachten sie dazu, sich ihm ganz automatisch zuzuwenden und ihn erwartungsvoll anzusehen.   „Was meinst du?“, fragte sie leise, obwohl die Worte, die ihr durch den Kopf gingen, gänzlich andere waren. Obwohl sie wusste, dass es nicht ihre Entscheidung war, wem sie ihr Geheimnis anvertrauten, war ihr doch klar, dass sie diese keinesfalls leichtfertig treffen konnten. Dass sie, nach allem, was die beiden ihr bisher erzählt hatten, weitreichende Konsequenzen haben konnte.   „Es gibt viele Geschichten über Nixen. Über Meerjungfrauen und Sirenen und Nereiden – überall auf der Welt. Da liegt es fast nahe, dass irgendetwas davon wahr ist, oder?“ Die warf ein Lächeln in die Runde und irgendetwas daran war anders als sonst. Es war weniger offen und warm als sie von ihm gewohnt war, verbarg stattdessen eine gewisse Ernsthaftigkeit in sich, die beinahe schon einen berechnenden Zug zu haben schien. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, fuhr er fort, zog sie mit seinen Worten mehr in seinen Bann, als sie für möglich gehalten hätte.   „Die meisten Erzählungen, die es hier gibt, haben ihren Ursprung in der Zeit, als die japanischen Inseln noch jung waren und die Menschen, die sie bewohnten, weit jünger. Sie waren sich ihrer gerade erst bewusst geworden. Sie hatten eben erst damit begonnen, ihre Heime und Zivilisationen zu bauen, und die Götter wagten es noch nicht, sie vollkommen sich selbst zu überlassen. Ein Gott, dem sie am Herzen lagen, obwohl sie sich nicht in seinem Reich bewegten, war Ryuujin, der Drache der Meere. Obwohl er sie nur aus der Ferne beobachten konnte, bewunderte er, was sie mit ihren einfachen Mitteln zu schaffen vermochten und wie sie sich das Land um sie herum zu Eigen machten. Man sagt, dass er hin und wieder selbst in eine menschliche Gestalt schlüpfte und den Weg an Land suchte, um einen genaueren Blick auf das zu erhaschen, was sie erbauten. Vielleicht war er es, der sie dazu ermutigte, Boote zu bauen, der ihnen zeigte, dass der Ozean vieles bereithielt, was ihnen ihr Überleben sichern konnte. Schätze, von denen sie bisher nur geträumt hatten. Und auch auf See wachte er über die Menschen, die sich in sein Refugium hervorwagten, weil er ihren Mut bewunderte, sich ihm so vollkommen auszuliefern. Es heißt sogar, dass er Ertrinkende wieder an Land gebracht habe, ehe sie vollends in seinen Fluten verschwinden konnten.“   An dieser Stelle hielt Die kurz inne, als wollte er ihnen einen Moment zum Durchatmen gewähren. Ataru sah sich um, bemerkte erst jetzt, dass auch ihre Großeltern wie gebannt an seinen Lippen hingen, während Toshiya sie mit einem leisen Lächeln beobachtete. Sie wollte etwas fragen, vielleicht um zu verstehen, warum Die gerade heute diese Geschichte erzählte, die – so fühlte es sich zumindest an – wohl unter den Nixen von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ataru öffnete den Mund, aber ehe auch nur eine Silbe ihre Lippen verlassen konnte, fing Die ihren Blick mit einem Lächeln ein, das sie nicht richtig deuten konnte.   „Aber auch Götter sind nicht allmächtig, selbst wenn sie uns gern das Gegenteil glauben machen wollen“, fuhr er leise, aber bestimmt fort. „Und deswegen musste früher oder später der Tag kommen, an dem Ryuujin es nicht schaffte, einen der Fischer zu retten, der sich im Sturm auf das Meer hinausgewagt hatte. Erst am Morgen fand die Familie des jungen Mannes seinen leblosen Körper, den die Wellen an Land gespült hatten. Ryuujin trauerte mit ihnen um das Leben des Fischers, machte sich Vorwürfe, dass er ihn nicht hatte beschützen können. Man sagt, dass die Tränen, die er an diesem Tag in seiner Trauer vergoss, zu goldenen Perlen wurden, die er in seinen Händen auffing und als Drache mit sich in die Tiefen seines Reiches trug. Er dachte lange Zeiten, endlos scheinende Zyklen von Ebbe und Flut, darüber nach, wie er verhindern konnte, dass sich ein solches Unglück noch einmal zutragen konnte. Er wusste, dass selbst er nicht immer zur Stelle sein konnte, um die Menschen vor Unglück zu bewahren. Oder vor ihrem eigenen Leichtsinn, der sie stets weiter auf das offene Meer fahren und größere Wellen bezwingen ließ. Dennoch wollte er nicht untätig bleiben, wollte eine Möglichkeit finden, ihnen ein Ertrinken in den Wogen seines Meeres zu ersparen, wenn er es irgendwie vermochte.“ Ein versonnener Ausdruck hatte sich über Dies Gesicht gelegt, wurde vom Flackern des Feuers zwischen ihnen auf fast unheimliche – oder unmenschliche – Art und Weise beleuchtet. Er seufzte leise, ehe er fortfuhr. „Glücklicherweise waren die Götter und die Welt noch jung und voller Träume und Magie, die heute verloren gegangen sind. Ryuujin betrachtete die Perlen, die aus seinen salzigen Tränen entstanden waren und entschloss sich dazu, sie zu etwas Besonderem zu machen. Als Geschenk für die, die furchtlos genug waren, sich in sein Reich hervorzuwagen. Er wollte denen, die die unendlichen Weiten und Tiefes des Meeres ebenso liebten wie er selbst, die für ihn ohnehin wie Kinder waren, die Fähigkeit geben, sich dort gefahrlos bewegen zu können. Er wollte, dass sie ein Teil davon werden konnten. Also gab er jeder Einzelnen der Tränen einen winzigen Teil seiner Magie, machte sie beinahe schon lebendig mit dem Potenzial, das sie in sich trugen. Wer ihrer würdig war, würde die Fähigkeit erhalten, unter Wasser ebenso leicht zu atmen wie an Land. Die Perlen würden ihre Körper in die gleichen schützenden Schuppen einhüllen, die auch Ryuujins Drachenform bedeckten. Sie würden den Menschen, die sie verdienten, die Kraft und Anmut schenken, die sie wahrlich zu einem Teil seines Reiches machen würden.“   Selbst wenn Ataru gewollte hätte, sie hatte das Gefühl, sich den Bildern, die Dies Worte vor ihrem geistigen Auge malten, nicht verwehren zu können. Es war, als könnte sie sehen, was in diesen Urzeiten geschehen war. Zittrig schloss sie ihre Hand um die Perle, die an ihrem Hals baumelte. Auch wenn Die und Toshiya ihr bereits vor einigen Tagen erzählt hatte, welche Kräfte der kleine Anhänger in sich bergen sollte, erst jetzt und hier, wo ihr die Worte ihres Freundes Gänsehaut über den Körper jagten, konnte sie beginnen zu begreifen, wie wertvoll Shioris Geschenk tatsächlich war.   „Hat es funktioniert?“ Die Frage verließ ihren Mund, ohne dass sie sich bewusst dazu entschieden hatte. Mit großen Augen sah sie Die an, spürte wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, als sie weitersprach: „Konnte er die Menschen zu sich holen?“   „Ja und nein.“ Die verschränkte seine Arme und sah für einen Moment nach oben in den Sternenhimmel, der sich wolkenlos über ihnen spannte. „Wie schon gesagt, auch die Götter sind nicht allmächtig und Magie ist ein wankelmütiges Ding, das sich oftmals seine eigenen Wege sucht, statt denen zu folgen, die ihr vorgegeben werden. Ryuujin hatte die Hoffnung, dass seine Perlen die Ertrinkenden retten konnten, aber womit er nicht gerechnet hatte, war, wie der Wille der Menschen, die er retten wollte, die Magie der Perlen beeinflusste. Wenn sie nicht in sein Reich kommen wollten oder bereits das Bewusstsein verloren hatten, konnte er aller Macht und Zauberei zum trotz nichts mehr für sie tun. Andere wiederum überlebten die Wandlung, die er ihnen anbot … nur nicht so, wie es hätte geschehen sollen. Sie wurden zu etwas, was in den dunkelsten Tiefen des Ozeans hauste. Sie rächten ihren Groll darüber, dass er ihnen ihre Menschlichkeit genommen hatte, indem sie Menschen mit ihren Stimmen ins Meer lockten und in den sicheren Tod hinab zerrten.“   Es hatte sich eine tiefe Falte zwischen Dies zusammengezogenen Augenbrauen gebildet und auf seinem Gesicht lag ein so widersprüchlicher Ausdruck irgendwo zwischen Apathie und Abscheu, dass Ataru sich unweigerlich fragte, ob er mit diesen anderen Wesen persönliche Erfahrungen hatte.   Ehe sie diesen Gedanken laut aussprechen konnte, sprach Die weiter: „Ryuujin war unglücklich darüber, dass sein Geschenk so missachtet und verdreht wurde und entschloss sich deswegen, einen anderen Weg zu wählen. Wie schon so oft in den letzten Jahrhunderten nahm er eine menschliche Gestalt an, um die Fischer zu besuchen, über die er seit Generationen gewacht hatte. Sie liebten ihn genauso wie er sie. Sie wuchsen gleichermaßen mit Geschichten über ihn wie über ihre eigenen Vorfahren auf. Er bat sie, sein Geschenk anzunehmen und ihm in sein Reich zu folgen, doch die Menschen zögerten. Denn auch wenn sie ihren Gott liebten, wollten sie ihre Heimat und ihre Wurzeln an Land nicht gänzlich zurücklassen, die ihnen bisher ebenso ein gutes Leben ermöglicht hatten wie Ryuujin und die See. Sie wollten, dass ihre Kinder beide Welten ebenso lieben und nutzen lernen konnten, wie sie selbst es taten. Deswegen baten sie den Drachen, sie nicht zu einer Entscheidung zu zwingen. Es heißt, auf diese Bitte hin habe Ryuujin lange Zeit geschwiegen. Tagelang sei das Meer vollkommen unbewegt gewesen. Kein Wind schaffte es, Wellen aufzutürmen, nicht einmal der Mond konnte es mit Ebbe und Flut bewegen, bis seine Entscheidung gefallen war.“   Das plötzliche Knacken eines Holzscheits im Lagerfeuer ließ Ataru zusammenschrecken und einen Blick in die Runde werfen. Wenn sie selbst sich fühlte, als könnte sie sich Dies Stimme nicht entziehen, wirkten ihre Großeltern beinahe wie hypnotisiert. Oder wie in tiefen, verloren geglaubten Erinnerungen versunken, von denen sie bisher nicht gewusst hatten, dass sie existierten. Irgendwann während der Erzählung hatten sich ihre Hände gefunden, hielten einander jetzt, als wären sie ein Rettungsanker füreinander.   „Und die Entscheidung war letztlich eine einfache, denn Götter neigen wohl immer ein wenig zur Sentimentalität.“ Ataru wandte ihren Blick Die zu und zum ersten Mal in den letzten Minuten wirkte er wieder eher wie die Person, die sie kannte. „Also entschied Ryuujin sich dafür, seinen geliebten Menschen noch etwas mehr seiner Magie zuteilwerden zu lassen und ihnen seine Fähigkeit zu geben, frei zwischen seinen Gestalten zu wechseln, selbst wenn es hieß, dass er selbst sie verlor. Diese Menschen, die ihm so am Herzen lagen, wurden zu den ersten Nixen, denn erst durch sein Opfer konnten die Perlen, die aus seinen Tränen entstanden waren, ihre wirkliche Kraft entfalten. Erst jetzt waren sie eine wirkliche göttliche Gabe und nicht nur ein Geschenk, das er aus Selbstsucht machte. Diejenigen, die mit ihm ins Meer gingen, spürten, wie die Wellen sie liebevoll umfingen und sie willkommen hießen. Sie konnten unter Wasser ebenso atmen wie an seiner Oberfläche und ihre Beine wurden zu agilen Fischschwänzen bedeckt von Schuppen, die ebenso golden waren wie die Perlen, die ihr Gott ihnen vermacht hatte.“   Noch während Dies letzte Worte in der Luft hingen, räusperte Toshiya sich leise. In seinen Händen hielt er etwas, das in hellen, grob wirkenden Stoff eingeschlagen war, ohne dass Ataru hätte sagen können, woher das kleine Päckchen plötzlich kam.   „Man sagt, dass es Glück bringt, wenn eine Nixe eine ihrer Schuppen verschenkt und das ist richtig. Jede Schuppe birgt einen winzigen Funken der Magie, die sie in den alten Zeiten vom Drachen der Meere geschenkt bekommen haben. Genug, um das Schicksal freundlicher auf diejenigen blicken zu lassen, die dieses Geschenk erhalten. Aber vielmehr noch ist es ein Versprechen, das Nixen so geben.“   Hatten ihre Großeltern bisher vollkommen in Bann von Dies Erzählung gestanden, kam nun langsam wieder Leben in sie. Doch während ihr Großvater sich lediglich etwas in seinem Stuhl aufrichtete, schweiften die Augen ihrer Großmutter mit einer gewissen Vorsicht zwischen Ataru und ihren beiden Gästen hin und her. Sie runzelte die Stirn und ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst, als sie schließlich Toshiya fixierte.   „Und was für ein Versprechen wäre das?“, wollte sie wissen, überraschte Ataru mit dieser Frage vollkommen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie eher damit gerechnet, dass ihre Oma alles, was sie gehört hatte, als Ammenmärchen abtun würde. Doch ganz offensichtlich waren die letzten Minuten auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen.   „Nun“, auf Toshiyas Lippen lag ein fast unmerkliches Lächeln. Er blickte auf seine Hände hinunter, die vorsichtig den Stoff zurückschlugen, bis dieser zwei im Feuerschein wie Rotgold schimmernde Fischschuppen freigab, jede so groß wie Atarus Handteller. „Es wäre ein Versprechen, dass sie niemals leichtfertig geben würden.“ Er hob den Kopf und erwiderte offen den Blick der älteren Frau. „Es wäre ein Versprechen von Sicherheit. Es wäre das Versprechen bei ihr zu sein, so lange sie es sich wünscht. Ihr die Freiheit zu geben Orte zu besuchen, die sie sonst nie würde sehen können. Ihr alles zu geben, was wir können, damit sie glücklich ist.“   Nur zu gerne hätte Ataru etwas gesagt, irgendwas, was sie selbst in diesem Moment weniger passiv erscheinen lassen würde – aber wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht, wie sie je die angemessenen Worte für das finden sollte, was Toshiya hier anbot.   „Ataru hat ein sehr besonderes Geschenk erhalten“, begann Die erneut. „Wir würden ihr gern die Chance geben, es auch zu nutzen.“   Und ganz offensichtlich wollten sie dies mit dem Segen ihrer Großeltern, was das alles noch unwirklicher erscheinen ließ. Natürlich hatte Ataru nicht vorgehabt, sich einfach klammheimlich aus dem Staub zu machen, aber mit so viel Offenheit oder besser so vielen Offenbarungen in so kurzer Zeit hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet.   „Wir sollen unsere einzige Enkelin also einfach mit zwei jungen Kerlen mitgehen lassen, die sie gerade mal einen Sommer lang kennt?“, wollte ihr Großvater an dieser Stelle wissen. Welche Wirkung Dies Stimme auch immer auf ihn gehabt haben mochte, sie war definitiv verflogen. Er saß mit verschränkten Armen in seinem Campingstuhl und wirkte dennoch gerade viel mehr wie das stereotyp strenge Familienoberhaupt, als Ataru es gewohnt war.   „Wenn sie das möchte.“ Toshiyas Antwort wurde von einem Lächeln begleitet. „Es ist ihre Entscheidung, nicht unsere.“   „Ich–“ Für einen Moment sank sie in sich zusammen, zwang sich dazu, tief durchzuatmen, ehe sie weitersprach. Sie sah ihre Großeltern so aufrichtig an, wie sie es in diesem Augenblick vermochte. „Ich würde das wirklich gern“, gab sie zu. „Aber ich will euch nicht verlieren. Und ich weiß, dass sich das alles furchtbar“, sie machte mit ihrer linken Hand eine flatternde Geste, „unglaublich anhört. Ich konnte es auch erst nicht glauben.“   „Weniger unglaublich, als du vielleicht denkst.“ In den Worten ihrer Großmutter schwang eine gewisse Belustigung mit. „Es ist sicher nicht das erste Mal, dass sich jemand in dieser Stadt von Nixen bezirzen lässt.“ Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen, dass man dies schließlich auch niemandem verübeln konnte. „Allerdings habe ich noch nie davon gehört, dass jemand eurer Art so weit gehen würde“, fügte sie mit einem Fingerzeig auf die Schuppen hinzu.   „Es sind eben … besondere Umstände.“   Toshiyas Äußerung brachte ihre Großmutter lediglich zum Seufzen, ehe sie ihrem Mann einen langen Blick zuwarf, aus dem er wohl mehr lesen konnte, als es Ataru möglich war.   „Und wie wollt ihr garantieren, dass ihr nichts passiert?“, wollte er nun wissen, klang dabei aber weniger ablehnend als bisher.   „Könnten Sie das garantieren?“, stellte Die die Gegenfrage, ehe er sich erhob. „Garantien kann niemand geben. Aber wir können versprechen, dass wir unser Möglichstes dafür tun, dass es Ataru gut geht. Und es ist nicht so, dass wir allein wären.“ Er trat näher zu Toshiya, der ebenfalls aufgestanden war und ihm nun eine der goldenen Schuppen überreichte. „Sie wissen so gut wie wir, dass Ataru am Ende ihre eigenen Entscheidungen treffen muss, wir wollten Ihnen lediglich zeigen, dass wir es ernst meinen.“   Als hätten sie es abgesprochen, drehten ihre beiden Freunde sich zu ihr um, sodass sie gar nicht anders konnte, als ihrem Beispiel zu folgen und in ihre Mitte zu treten. Ganz automatisch verschränkte sie ihre Finger mit ihren freien Händen.   „Es ist meine Entscheidung“, sagte sie dann, war darüber erstaunt, wie fest und voller Überzeugung ihrer Stimme war, obwohl sie das Gefühl hatte, am ganzen Leib zu zittern. „Vielleicht ist sie ein Fehler, auch wenn ich das nicht glaube. Und wenn doch, dann werde ich damit leben müssen. Aber ich kann sie nicht einfach gehen lassen. Ich will sie nicht gehen lassen.“ Sie warf ihren Großeltern einen bittenden Blick zu, während sich für einen Moment lang Schweigen über den Strand legte.    Auch dieses Mal war es ihre Großmutter, die zuerst reagierte: „Ataru, erinnerst du dich noch an unser Gespräch vor ein paar Tagen? Daran, was ich dir gesagt habe?“   „Dass … ihr mich nie im Stich lassen werdet?“   „Genau.“ Ein nachsichtiges Lächeln schlich sich auf die Lippen ihrer Großmutter, als sie sich an die drei jungen Menschen wandte, die alle gleichermaßen nervös wirkten. „Es ist nicht unsere Entscheidung, damit habt ihr Recht. Selbst wenn wir nicht glücklich darüber sind. Selbst wenn ich nicht sicher bin, ob dir die Tragweite deiner Entscheidung wirklich bewusst ist, Ataru, am Ende bist du es, die sich entscheiden muss.“ Ihr wacher Blick fixierte erneut ihre Enkelin. „Das können wir dir nicht abnehmen, selbst wenn wir das vielleicht wollen.“   Sie war sich nicht sicher, ob die Worte ihrer Großmutter neue Ängste und Bedenken in ihr entstehen ließen oder einfach nur die wieder in den Vordergrund drängten, die ohnehin da waren, aber sie riefen in ihr ein Unwohlsein hervor, gegen das sie sich nicht wehren konnte.   „Müsste ich für immer gehen?“, fragte sie Toshiya leise und sah ihn unsicher von unten herauf an. Sie hoffte, dass er ihre Frage richtig verstehen und vor allem beantworten konnte, klammerte sich förmlich an ihre Hand, bis er kaum merklich den Kopf schüttelte.   „Ich bin sicher, dass ihr euch wiedersehen werdet. Egal, wie du dich entscheidest, sie sind Teil deiner Zukunft.“   „Wir würden dich nie von deiner Familie fernhalten“, stimmte Die zu. Und auch wenn er nicht über die hellseherischen Fähigkeiten Toshiyas verfügte, so hatten seine Worte ein ganz eigenes, beruhigendes Gewicht.   Beide Aussagen zusammen halfen ihr, ein wenig freier atmen zu können, gaben ihr die Zuversicht, ihre Großeltern jetzt mit einem Lächeln anzusehen.   „Ich möchte bei ihnen sein“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Ich möchte das Meer so kennen, wie sie es tun. Und ich möchte genauso wieder zu euch zurückkehren können, wenn ich euch zu sehr vermisse.“   ~*~   Die Nacht war bereits so weit fortgeschritten, dass der weite Himmel über ihnen langsam wieder heller wurde und dennoch konnte Ataru keine wirkliche Müdigkeit in sich finden. Zu sehr zehrte sie noch davon, wie positiv der Abend verlaufen war. Besser, als sie je zu hoffen gewagt hatte, wenn sie ehrlich war. Vermutlich weil sie gar nicht erst überhaupt zu hoffen gewagt hatte, dass es ihn auf diese Art geben würde. Das sollte natürlich nicht heißen, dass ihre Familie sich plötzlich nicht mehr um sie sorgte, dahingehend machte sie sich keinerlei Illusionen, aber vielleicht verstanden sie nun die Bindung zwischen ihr und den beiden Nixen zumindest ein kleines bisschen besser. Und vermutlich half es, dass ihre Entscheidung nicht bedeutete, dass sie sofort etwas ändern oder sofort gehen musste. Im Gegenteil: Jetzt hatte sie die Zeit, sich wirklich auf den Gedanken einzulassen, dass ihr Leben sich verändern würde. Und das auf eine Art und Weise für die ‚sagenhaft‘ das einzig passende Wort zu sein schien.   Mit einem kleinen Seufzen streckte Ataru sich, schmiegte sich dann ein Stück tiefer in ihren weiten Pullover und Dies Arme, die um ihre Mitte lagen. Von ihrem Lagerfeuer war mittlerweile nur noch die Glut übrig, die jedoch nicht mehr vermochte, als den nächtlichen Strand in schwaches orange-rotes Licht zu tauchen. Und auch wenn Spätsommer war, die kühlere Luft, die vom Meer hereinzog, ließ sie frösteln, sodass sie dankbar für die Körperwärme war, die ihre Freunde ihr zuteilwerden ließen. Ihre Finger strichen langsam durch Toshiyas dunkles Haar, das ihm mittlerweile leicht wellig bis fast auf die Schultern fiel. Wie so oft hatte er seinen Kopf in ihren Schoß gebettet und sah schon seit geraumer Zeit einfach schweigend aufs Meer hinaus.   „Darf ich euch etwas fragen?“, brach Ataru schließlich die Stille, die sie umgab, ohne ihre eigenen Blicke von der Glut des Lagerfeuers zu lösen.   „Sicher.“   Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte sich für eine der gefühlt tausend Fragen zu entscheiden, die ihr in den letzten Stunden durch den Kopf gegangen waren. Und auch wenn andere Dinge vielleicht dringender gewesen wären, am Ende kam sie immer wieder zu einem Punkt zurück:   „Was war das vorhin?“ Sie wandte ihren Kopf zur Seite, um Die zumindest aus den Augenwinkeln ansehen zu können. „Als du diese Geschichte erzählt hast.“   Zunächst spürte sie nur sein unverbindliches Schulterzucken, ehe er ein tiefes Seufzen ausstieß.   „Ich wollte sichergehen, dass sie mir bis zum Ende zuhören.“   „Also eine Art Hypnose?“, wollte sie wissen, runzelte nachdenklich die Stirn, als Die ein humorloses Lachen ausstieß.   „So in der Art.“ Er griff an ihr vorbei nach Toshiya, der, als hätte er die Geste erwartet, eine Hand nach ihm ausgestreckt hatte und verschränkte ihre Finger miteinander. „Auch wenn Nixen keine ‚Raubtiere‘ sind“ – er malte mit seiner freien Hand Anführungszeichen in die Luft – „Wir sind auf eine Art geschaffen, die Menschen anziehend finden. Vielleicht, weil es so weniger wahrscheinlich ist, dass sie uns etwas antun oder uns als Gefahr für sie wahrnehmen.“   „Nicht, dass es nicht genügend Menschen geben, die darüber ziemlich gut hinwegsehen können“, mischte Toshiya sich ein. „Wäre das anders, müssten wir vermutlich weniger versteckt leben.“ Für einen Moment hielt er inne. „Vielleicht war es früher anders. Wenn ich ehrlich bin, hoffe ich das irgendwie.“   Ataru hätte dazu gern etwas gesagt oder versucht, die beiden zu trösten, denn diese Gedanken schienen ihnen verständlicherweise zuzusetzen. Vermutlich würde sie das Gefühl schnell nachvollziehen können, wenn sie ihr jetziges Leben hinter sich gelassen hatte. Sie versuchte nicht daran zu denken.   „Aber es war anders als sonst“, sagte sie deswegen, während sie eine Strähne von Toshiyas Haar um ihren Finger wickelte. „Ich meine, das ist mir schon öfter aufgefallen. Dass ich euch ansehen will, euch zuhören will–“ Sie musste unwillkürlich lächeln, als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte. „Aber das heute … es war wie an dem Tag, als ihr mir gesagt habt, dass ihr Nixen seid. Da war etwas in deiner Stimme, dem ich mich nicht hätte entziehen können, selbst wenn ich das gewollt hätte. Meinen Großeltern schien es heute auch so zu gehen. Oder sogar noch mehr.“   „Ich habe ja bisher auch nur von Nixen gesprochen.“   „Aber?“   „Aber bei Sirenen sieht das anders aus.“ Die Worte verließen Dies Mund in einem Schwall, als würde er befürchten, sie nicht aussprechen zu können, wenn er ein Zögern zuließ. „Sirenen sind Jäger. Sie sind Raubtiere. Ich habe vorhin nicht übertrieben, als ich gesagt habe, dass sie ihre Stimmen nutzen, um Menschen zu sich ins Meer zu locken.“   „Das verstehe ich, aber was hat das mit dir zu tun?“   „Sirenen und Nixen halten sich normalerweise voneinander fern“, erklärte Toshyia. Ataru bekam mehr und mehr das Gefühl, dass er versuchte Die dieses Gespräch zu erleichtern. „Wir sind … du würdest vielleicht sagen, wie Hunde und Katzen. Wir sind zu verschieden. Nixen lehnen die Art, wie Sirenen leben ab und Sirenen ... Ich glaube, sie hassen uns dafür, dass wir nicht wie sie an die Tiefen gebunden sind. Dass wir eine Wahl haben, die ihnen verwehrt ist. Nicht, dass man ihnen das wirklich verübeln könnte.“   „Aber wir sind ja der beste Beweis dafür, dass sich manchmal Dinge finden, die nicht wirklich zusammengehören.“ Sie konnte spüren, wie Die noch einmal einen tiefen Atemzug nahm. „Mein Großvater war eine Sirene. Deswegen kann ich mit meinen Worten Menschen beeinflussen. Nicht ansatzweise so stark, wie eine richtige Sirene, ich kann niemanden willenlos machen. Aber … jemanden davon zu überzeugen, mir zuhören zu wollen, ist einfacher, als es sein sollte.“   „Okay.“ Ataru ließ sich das, was sie gehört hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Nach allem, was sie an diesem Abend bereits an neuen Informationen bekommen hatte, schien ihr Hirn gerade keine Kapazität mehr dafür zu haben, das, was Die sagte, irgendwie infrage zu stellen. „Gut zu wissen“, fügte sie deshalb hinzu, ehe sie sich vorsichtig ein bisschen aufrichtete, um ihren Freund ansehen zu können. „Ich mag deine Stimme.“   Mit einem Lächeln lehnte sie sich weiter zu ihm, um Die einen Kuss auf die Wange zu geben. Für einen Moment hielt sie seinen Blick, ehe sie sich wieder entspannt in seine Umarmung schmiegte und damit fortfuhr, durch Toshiyas Haar zu kraulen.   „Hast du noch mehr Fragen?“, wollte der einige Minuten später wissen, nachdem erneut Stille geherrscht hatte, in der sie alle ihren eigenen Gedanken nachgehangen waren.   „Dutzende vermutlich.“ Ataru ließ ihre Fingerspitzen über seine Schläfe geistern, folgte mit der Berührung der Linie seines Kiefers. „Aber vermutlich fallen sie mir erst dann ein, wenn ich später aufwache und wirklich verstehe, was ihr getan habt.“ Sie hielt für einen Moment inne. „Werdet ihr deswegen Probleme bekommen?“   „Wer weiß.“ Toshiyas Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Rückgängig machen kann es so oder so niemand mehr. Und wenn sie erst mal den Grund dafür kennen“, er drehte sich auf den Rücken, sodass er zu ihr nach oben sehen konnte. „Wenn sie dich kennenlernen, werden sie verstehen müssen, dass es der beste Weg war. Familie ist etwas sehr Wichtiges für uns.“   „Okay.“ Mit dem Zeigefinger stippte sie sacht seine Nasenspitze an.   Sie wollte ihm glauben, hoffte in diesem Moment, dass er ihr nichts vorenthielt. Sei es, um sie zu schützen oder aus einem anderen, ähnlich unnötigen Grund. Alles, was mit dem Schwarm der Nixen zu tun hatte, war für sie schließlich weiterhin eine einzige große Unbekannte. Auch wenn Die und Toshiya ihr schon einiges erzählt hatten, sie wusste im Grunde genommen kaum etwas über ihre Gesellschaft, über ihre Gepflogenheiten. Über all die Dinge, die in ihrem menschlichen Leben für sie selbstverständlich waren.   „Eine Frage fällt mir noch ein“, setzte sie erneut an, kaum dass sie diesen Gedanken zu Ende geführt hatte.   „Mh?“   „Die Schuppen, die ihr meinen Großeltern geschenkt habt … tat das nicht furchtbar weh?“   Die stieß ein leises Schnauben aus, verstärkte für einen Moment seine Umarmung.   „Es gibt mit Sicherheit Dinge, die wesentlich angenehmer sind“, sagte er dann schlicht.   „Aber es ist auszuhalten.“ Toshiyas Ergänzung wurde von einem Schulterzucken begleitet. „Ich denke, dass es vielleicht schmerzen muss.“   „Weil es etwas Besonderes ist? Ein Opfer?“   „Ja, genau. Es ist nichts, was wir leichtfertig verschenken würden oder sollten. Ganz unabhängig davon, ob wir daran glauben, dass es nur ein Symbol unserer Dankbarkeit ist oder tatsächlich etwas, das ein Quäntchen unserer Essenz in sich trägt."   „Ich bin sicher, meine Großeltern wissen das zu schätzen.“   ~*~   Die Wellen schwappten dem Strand gemächlich entgegen, ließen Atarus Zehen mit jedem Mal, das sie nach ihr griffen, ein kleines Stück mehr im feinen Sand versinken. Sie wünschte sich, dass ihr Herzschlag sich dem eigentlich so beruhigenden Wogen anpassen würde, aber immer, wenn sie versuchte, im Einklang mit dem Meer zu atmen, schien sich ihr Puls noch zu beschleunigen. Angestrengt schluckte sie gegen die Trockenheit in ihrer Kehle an und hob den Kopf. Am Horizont trieben vereinzelte Federwolken, die schon jetzt vom zarten Rosa des anbrechenden Tages eingerahmt wurden. Dort, wo sich Himmel und Meer trafen, kündigte ein goldenes Glimmen den Sonnenaufgang an. Ataru spürte, wie ein Zittern durch ihren Körper ging und versuchte sich einzureden, dass es an der kühlen Morgenluft lag.   „Ich habe Angst“, sagte sie leise, hoffte halb, dass ihre Worte im Rauschen der Wellen untergehen würden. Vielleicht, weil sie nicht wusste, wie eine gute Antwort auf diese Aussage aussehen sollte. Es war nichts, was sie nicht schon eher zugegeben hätte.   Statt leerer Worte trösteten sie zwei Hände, sie sich mit ihren verschränkten als Toshiya und Die noch ein Stück näher zu ihr traten. Was hätten sie auch sagen sollen? Ataru wusste, dass es ihre Entscheidung war, dass die beiden es ihr aller Enttäuschung zum Trotz wohl nicht übel nehmen würden, sollte sie sich gegen ein Leben im Meer entscheiden. Selbst nach allen Gesprächen die sie in den letzten Tagen darüber geführt hatten. Es war ihre Entscheidung, dessen waren sie sich bewusst. Und bisher hatte sie gedacht, dass sie diesen Entschluss schon lang getroffen hatte – vielleicht sogar, bevor Shiori ihr die Möglichkeit geschenkt hatte, sie tatsächlich umzusetzen. Das alles änderte jedoch nichts daran, dass sie sich hier und jetzt am liebsten auf der Stelle umgedreht hätte, um zurück in ihr Zimmer zu flüchten. Dass sich all die Ängste und Befürchtungen, die sie bisher erfolgreich verdrängt hatte, nun umso hartnäckiger in ihr Bewusstsein drängten.   „Was ist, wenn es nicht funktioniert?“ Ihre Stimme klang rau, als hätte sie sie überbeansprucht, dabei hatten sie die größten Teile der Nacht ebenso wie die letzten Minuten in gemeinschaftlichem Schweigen verbracht. Irgendwann hatte keiner von ihnen noch gewusst, wie sie ihre Gefühle zu Worten formen sollten, also hatten sie einfach eng aneinandergeschmiegt auf den Futons gelegen und vergeblich versucht, Schlaf zu finden.   „Es wird funktionieren.“ Toshiyas Worte waren ebenso leise wie ihre eigenen und dennoch voller Überzeugung. Natürlich, er konnte ja auch überzeugt sein, er hatte sie gesehen.   „Das meine ich nicht.“ Ataru biss sich auf die Unterlippe, zwang sich dazu, den Gedanken auszusprechen, der in den letzten Stunden immer heftiger an ihr genagt hatte. „Was … wenn es nicht so funktioniert, wie es soll?“   „Was meinst du?“ Dies Daumen strich beruhigend über ihren Handrücken, aber sie schaffte es nicht, seinen besorgten Blick zu erwidern, so deutlich sie ihn auch auf sich spüren konnte.   „Was ist, wenn euer Drachengott Menschen wie mich nicht bedacht hat bei seiner Magie?“ Ihre Worte glichen einem heiseren Flüstern. „Was, wenn ich … nicht so sein werde wie ich jetzt bin?“ Die Worte laut auszusprechen, ließ die Möglichkeit, dass ihre Befürchtungen wahr werden könnten, in greifbare Nähe rücken. „Oder, was, wenn es meinen menschlichen Körper verändert?“ Allein der Gedanke daran ließ heftige Wellen der Übelkeit in ihr aufsteigen. Sie wäre für nichts in der Welt in der Lage, das auf sich zu nehmen. Sie konnte nicht noch einmal in einem Äußeren feststecken, das nicht sie war und noch viel weniger jetzt, wo sie erwachsen war.   Ataru bemerkte ihr eigenes Zittern erst, als ihre beiden Nixen die Arme um sie schlangen, sie in ihrer Mitte verbargen, als müssten sie sie vor etwas beschützen. Vielleicht vor sich selbst.   „Ich kann nicht dahin zurück“, brachte sie erstickt hervor, hoffte auch jetzt, dass ihre Worte sich irgendwo zwischen ihnen verlieren würden. „Nicht einmal für euch.“   „Das wissen wir doch.“ Dies Worte streiften ihre Wahrnehmung wie eine beruhigende Geste. „Das würden wir auch nie von dir verlangen.“   „Aber ihr wisst nicht sicher, was passieren wird.“ Sie hielt ihre Augen geschlossen, versuchte sich in die Nähe zu ihren Freunden fallen zu lassen und wieder ruhiger zu atmen. „Vermutlich weiß das niemand.“   „Ich habe dich so gesehen, wie du bist“, sagte Toshiya, nachdem wieder ein Moment lang Stille geherrscht hatte. „Nichts in den Bildern hat darauf hingedeutet, dass sich dahingehend etwas verändert. Du warst immer du selbst.“   „Was ist, wenn du dich irrst?“   „Wenn ich sage, dass das unwahrscheinlich ist, klingt das eingebildet, oder?“   Beinahe gegen ihren Willen musste Ataru lächeln, schüttelte den Kopf.   „Das ist es nicht. Es fällt mir nur schwer, daran zu glauben. Nicht, weil ich dir nicht glauben will … es fühlt sich einfach an, als müsste da noch irgendwo ein Haken sein. Und es gibt kaum etwas, wovor ich größere Angst habe als davor, dass ich irgendwann aufwache und alles, was ich durchmachen musste, umsonst war. Da ist es schwer, es einfach darauf ankommen zu lassen und Erzählungen zu vertrauen, bei denen niemand weiß, ob sie so tatsächlich stimmen. Wer sagt denn, dass euer Gott so mächtig ist, dass bei einem … Sonderfall … wie mir nicht irgendetwas schiefgehen kann?“   „Ich wünschte, wir könnten ihn fragen.“ Die klang ehrlich zerknirscht, als wäre es im Normalfall schlicht die naheliegendste Strategie, einen Drachen nach seiner Magie zu fragen, wenn man nur wüsste, wo man ihn denn finden könnte. Es führte Ataru einmal mehr die Absurdität ihrer Situation vor Augen. Sie zwang sich Die weiter zuzuhören, statt diesen nutzlosen Gedankengang zu verfolgen: „Aber keine der Erzählungen spricht davon, dass Ryuujins Geschenk die Essenz oder das Wesen der Menschen verändert hätte.“   Sie konnte nicht anders, als zu seufzen. Nach allem, was Die bisher erzählt hatte, lag er damit richtig. Allerdings änderte auch dies nichts an der Frage, ob sie bereit war, dieses Risiko einzugehen. Bis gerade eben hatte sie gedacht, dass ihre Entscheidung längst gefallen war, aber jetzt schienen die Wellen jegliche Sicherheit hinweggespült zu haben.   „Vermutlich wäre es auch zu einfach, irgendwo eine Aufzeichnung zu finden, die erklärt, dass es gar kein Problem ist, wenn trans Personen so eine Perle bekommen, weil alles so bleibt, wie es sein soll“, meinte sie schließlich selbstironisch. Vorsichtig befreite sie sich aus der Umarmung, die sie immer noch vor der restlichen Welt schützte. Mit dem Rücken zum Meer blieb sie stehen und sah Toshiya und Die ernst an. „Könntet ihr mir verzeihen, wenn ich es nicht annehmen kann?“   Die Reaktionen der beiden waren subtil und dennoch unterschiedlich. Während Toshiya sie nur mit einem warmen Lächeln ansah, konnte sie die Anspannung in Die deutlich sehen. Seine Hand suchte automatisch nach der seines Freundes und er musste schlucken, bevor er antwortete.   „Natürlich.“ Sein Lächeln wirkte ebenso verkrampft wie der Rest von ihm, war aber ehrlich. „Es gäbe ja gar nichts zu verzeihen. Es wäre traurig, aber–“ Er sah etwas hilflos zu Toshiya, der seinerseits mit den Schultern zuckte.   „Es wäre traurig, aber es ist deine Entscheidung. Und es würde ja nicht heißen, dass wir uns deswegen verlieren würden. Zumindest hoffe ich das.“   „Niemals.“ Sie konnte die beiden nur mit großen Augen ansehen. „Das …“ Ataru schüttelte den Kopf. „Das sind schließlich zwei ganz verschiedene Sachen. Für mich jedenfalls.“ Sie wagte es kaum, sich diese Tatsache einzugestehen, aber sie fühlte sich schon jetzt etwas leichter. „Ich will euch auf keinen Fall verlieren. Auch wenn ich weiß, dass das alles so … nicht gerade einfacher werden wird. Aber ich kann das nicht so einfach über den Zaun brechen, selbst wenn ich mir eingeredet hab, dass das ginge …“ Ihre Stimme war mit jedem Wort leider geworden, während sie das Gefühl hatte, sich im Kreis zu drehen, ohne tatsächlich etwas zu sagen. Letztlich musste sie sich zwingen, noch einmal neu anzusetzen. „Das alles ändert nichts an meinen Gefühlen für euch.“   Sie ging langsam an den beiden vorbei in Richtung Land, bis ihre Füße sich in den weichen, von der Nacht kühlen Sand graben konnten. Einen Augenblick lang verharrte sie, seltsam dankbar dafür, festen Boden unter den Füßen zu haben, ehe sie sich wieder zum Meer und zu ihren Freunden umdrehte.   Die Sonne hatte es mittlerweile geschafft, über den Horizont zu klettern und das Licht des frühen Tages tauchte die Küste in einen warmgoldenen Glanz, ließ die Wellen wie Feuer erstrahlen. Es wirkte ein wenig, als hätte die Welt für einen Moment innegehalten, vielleicht den Atem angehalten, um Atarus Entscheidung zu verstehen. Und jetzt fühlte sie sich, auch wenn sich nichts verändert hatte, als hätte gerade etwas neu begonnen. Sie atmete tief durch und ließ die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete, auf sich wirken, ehe sie es war, die nun ihre Hände nach Die und Toshiya ausstreckte.   „Ich könnte euch ja im Winter besuchen kommen.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)