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DEAN CORVIN: 02. Brennpunkt Mars

von

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Emotio versus Ratio


 

1.
 

Emotio versus Ratio
 

Dean Everett Corvin beugte sich nach vorne über, legte seine Hände auf die Knie, und stemmte sich mit gestreckten Armen ab. Dabei versuchte er keuchend wieder zu Atem zu kommen. Nach einigen Atemzügen sah er zur Seite und blickte in das feixende Gesicht von Oberstleutnant Vara Kiryn, die aufrecht neben Ihm stand und abwechselnd, mal den rechten mal den linken Fuß in die Hand nahm, und nach hinten, bis zu ihrem Po, anzog. Sie erweckte nicht den Anschein, gerade zehn Kilometer, gemeinsam mit dem Kanadier, gelaufen zu sein.

Als der dunkelblonde Kanadier wieder einigermaßen Luft bekam, fragte er mürrisch: „Was ist mit Ihnen los, Oberstleutnant? Sind Sie ein verdammter Roboter, oder warum sind Sie kaum aus der Puste, während ich kaum noch lebe?“

Die Mittdreißigerin lachte vergnügt und fuhr sich mit der Linken durch das kurze, schwarze Haar. Ihre intelligenten, grau-grünen Augen funkelten belustigt, als sie entgegnete: „Hören Sie auf zu jammern, Major. Sie haben sich an die höhere Schwerkraft und den etwas geringeren Sauerstoffanteil, auf Farradeen, noch nicht gewöhnt. Das wäre auch ein Wunder, in nur drei Monaten. Falls es Ihnen entgangen sein sollte: Mittlerweile laufen Sie die Strecke immerhin in einer sehr guten Zeit. Das, was Sie in den ersten zwei Wochen angeboten haben war, gelinde gesagt, sehr bescheiden. Das bedeutet, Sie machen gute Fortschritte.“

Corvin massierte seine Wadenmuskeln und sah die hochgewachsene Frau von unten herauf an. Grinsend erklärte er: „Vielen Dank für die Blumen. Dabei sollte ich viel eher Ihnen welche mitbringen. Ihre Leute haben die NOVA SOLARIS wirklich hervorragend in Schuss gebracht, in den letzten drei Monaten.“

Die Augenbrauen der Frau zuckten nach oben, während sie mit dem rechten Zeigefinger den Rücken ihrer etwas zu großen, leicht gebogenen, Nase rieb. „In Was haben meine Leute Ihren Leichten Kreuzer gebracht?“

Corvin grinste schief. „Entschuldigen Sie bitte. Das war so eine archaische Redewendung meines Freundes Jayden Kerr, mit denen er mich und meine Kameraden nur zu oft traktiert hat, während unserer Zeit an der Akademie. Es bedeutet, dass Ihre Leute sehr gute Arbeit geleistet haben.“

„Ah, verstehe“, gab Vara Kiryn zurück und fragte ablenkend: „Wie weit hat Generalmajor Traren mit Ihnen bereits den Einsatz durchgesprochen, auf den Sie in zwei Wochen gehen werden, wie Sie mir gestern sagten, Major?“

Der athletische Mann richtete sich langsam auf und meinte ernst: „Netter Versuch, Oberstleutnant. Aber Sie müssen mich nicht davon ablenken, dass ich meine Kameraden nun seit Monaten nicht mehr gesehen habe, sie vermisse, und ich mir ein klitzkleines Bisschen Sorgen um sie mache. Ich komme damit zurecht.“

Vara Kiryn setzte eine entschuldigende Miene auf. „Das bezweifle ich nicht. Im Übrigen, und nicht um erneut das Thema zu wechseln, würde ich mich freuen, wenn wir uns nicht mehr so unpersönlich, mit unseren Rängen, sondern mit unseren Vornamen anreden würden. Wir kennen uns jetzt immerhin mehr als drei Standard-Monate. Außerdem gehöre ich nicht zu Ihren direkten Vorgesetzten.“

Die Lippen des Kanadiers verzogen sich zu einem Lächeln. „Sehr gerne, Vara.“

Die über zehn Jahre ältere Frau nickte zufrieden. „Dann wäre das geklärt… Dean.“

Nebeneinander schritten sie den gewundenen Waldweg hinunter, der einen halben Kilometer weiter auf die befestigte Straße mündete, die sie zurück zu dem Randgebiet von Xorolan führen würde. Auch nach mehreren Monaten auf diesem Planeten entdeckte Dean Corvin immer noch etwas Neues, wenn er diesen Weg nahm. Für ihn fremde Düfte, Tiere die er noch nie gesehen hatte, und Geräusche die sie verursachten. Aber auch die Pflanzen des Waldes hatte er noch immer nicht zur Gänze wahrgenommen.

Nach einer Weile, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, spürte Corvin auch wieder die Feuchte und die Kühle des leichten Morgennebels, der im Begriff war sich aufzulösen. Xorolan erwartete ein sonniger Tag, wie es schien.

Im Grunde war Xorolan keine gewöhnliche Stadt, sondern eher die größte Militärbasis auf diesem Planet. Denn mehr, als 80 Prozent, der rund 500.000, Einwohner von Xorolan dienten in der Kriegsflotte von Farradeen. So war es wenig verwunderlich, dass sich der größte, rein militärisch genutzte, Raumhafen, der Stadt unmittelbar anschloss. Hinter den weiten Landepisten erhoben sich, im Westen, die grünen Hügel, hinter denen am Abend Venkara, die Sonne des Systems, unterging.

Der Planet Farradeen war im Jahr 2502, also direkt zu Beginn der Ersten großen Expansionsphase der Menschheit, entdeckt und besiedelt worden, da er für menschliches Leben ideale Bedingungen aufwies. Farradeen, und seine Sonne, nach seinem Entdecker Urs Farradeen, und dessen Frau Venkara benannt, lagen beinahe im Zentrum der Plejaden, einem offenen Sternenhaufen 444 Lichtjahre vom Sol-System entfernt, im Sternbild des Stier.

Dabei bildeten die Sonne Venkara und ihre sieben Planeten quasi Fremdkörper, denn sie existierten bereits weitaus länger und waren erst nach der Entstehung der Plejaden, gravitatorisch von den überwiegend jungen, bläulich-weißen Sternen des Sternenhaufens eingefangen worden. So wie zahlreiche weitere Hauptreihensterne der G- und K-Klasse.

All das war Dean Everett Corvin bekannt gewesen, bevor er zum ersten Mal seinen Fuß auf diesen Planeten gesetzt hatte. Doch hier zu leben war eine ganz andere Erfahrung, als lediglich die reinen Fakten zu kennen. Die höhere Gravitation des Planeten zu spüren, seine andersartige Flora und Fauna zu erleben; bisher unbekannte Gerüche wahrzunehmen – das war zu Beginn seines Hierseins geradezu atemberaubend gewesen. Selbst der Stern Venkara sorgte, durch sein andersartiges Spektrum, für eine andere optische Wahrnehmung. Gleichzeitig war all das zu Anfang, bis zu einem gewissen Grad, auch beängstigend gewesen. Mittlerweile war nur noch die Andersartigkeit geblieben – doch auch sie wurde allmählich zur Normalität. Ähnliches hatte Corvin erlebt, als er, im Sommer des Jahres 3214, seine Ausbildung an der Sektion-Venus begonnen hatte, und wie damals auf der Venus gewöhnte er sich nun auch an seine neue Heimat, Farradeen.

Damals wie heute waren es andere Menschen gewesen, die ihm bei dieser Umstellung geholfen hatten. Waren es an der Sektion-Venus seine Freunde, die ihm geholfen hatten, so waren es hier seine Kameraden von der NOVA SOLARIS, seine direkten Vorgesetzten, und nicht zuletzt auch Vara Kiryn, die neben ihrer Funktion als Kommandantin eines Werftkomplexes, auch eine ausgezeichnete Psychologin war.

Als sie den befestigten Teil des Weges erreichten, bemerkte Corvin die fragenden Seitenblicke seiner Begleiterin. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er in der Erinnerung gelächelt hatte, und er sagte bei ihrer unausgesprochenen Frage nachdenklich: „Ich musste eben daran denken, wie ich mein Leben zum ersten Mal auf einen neuen Planeten umgestellt habe. Zu Beginn meiner Ausbildung, an der Akademie der Terranischen Raumflotte. Mittlerweile ist so viel geschehen, dass es mir vorkommt, wie aus einem anderen Leben.“

Vara Kiryn, die mittlerweile recht gut zu erkennen wusste, was Dean Corvin jeweils bewegte, wenn sie zusammen waren, erwiderte leise: „Sie werden sie wiedersehen, Dean.“

Corvin seufzte leise. „Das hoffe ich. Meine Freunde sind mir...“

„Das meinte ich nicht“, unterbrach ihn die Frau.

Überrascht sah Dean Corvin seine Begleiterin an. „Was meinten Sie dann?“

Vara Kiryn nahm ihre Hände hinter den Kopf und machte ein paar Dehnübungen. „Nun, Sie sprechen sehr oft von dieser, etwas hitzigen, jungen Frau, der Sie auf Luna begegneten. Dieser junge Feldwebel der Ihnen dort auf die Nerven gegangen ist, wie Sie bereits häufiger betonten. Ihr Name ist Rian Onoro, oder irre ich mich?“

Corvin schüttelte bedächtig den Kopf. „Sie irren sich nicht. Ich war dazu gezwungen, sie, während unserer Flucht von Luna, zurückzulassen. Obwohl mir bewusst ist, dass es keine andere Möglichkeit gab um die NOVA SOLARIS dem Zugriff des Feindes zu entziehen, lässt mir das keine Ruhe mehr, seit wir das Sonnensystem verlassen haben. Verstehen Sie, ich kann das Gefühl nicht abschütteln, sie im Stich gelassen zu haben, Vara.“

Die Schuldgefühle des Kanadier waren für Vara Kiryn fast greifbar, als er sie ansah. Spontan legte sie ihre Linke auf seinen Oberarm und sagte ernst: „Sie hatten keine andere Wahl, Dean. Außer sie wären alle auf Luna geblieben und hätten den Experimentalkreuzer den Truppen der Konföderation Deneb überlassen. Ich weiß, dass man keine Menschenleben gegeneinander aufrechnen kann, aber manchmal läuft es leider genau darauf hinaus. Sie hat das gewusst, Dean, und Sie selbst wissen das auch. Tief in ihrem Herzen. Dieser Krieg wird uns noch weitaus fürchterlichere Entscheidungen abverlangen, befürchte ich.“

Die Schwarzhaarige dankbar ansehend, legte Corvin, für einen kurzen Augenblick, seine Hand auf ihre. „Ja, das weiß ich, Vara. Doch ich werde mich niemals damit abfinden.“

Unmerklich ihre Hand zurückziehend nickte die Frau. „Das erwarte ich gar nicht. Im Gegenteil, es wäre schlimm, wenn Sie so schnell dazu bereit wären. Bewahren Sie sich diese Einstellung, bei allem was vor uns liegt, bitte so lange wie möglich.“

Corvin nickte. „Ich werde mein Bestes geben.“

Vara Kiryn lächelte unmerklich. „Dann kommen Sie, Dean. Wenn ich richtig informiert bin, dann erwartetet Sie Generalmajor Arolic Traren in einer Stunde zu einem Treffen, um den Plan, für den bevorstehenden Einsatz der NOVA SOLARIS, weiter auszuarbeiten. Und Traren hasst Unpünktlichkeit.“

Dean Corvin erlaubte sich ein breites Grinsen. „Anfangs fand ich es reichlich gewöhnungsbedürftig, dass der Generalmajor seine Untergebenen mit ihren Vornamen anspricht. Nachdem ich erkannt hatte, dass er das nicht aus einer Art Respektlosigkeit heraus macht, fand ich es in Ordnung. Der Mann ist ein echtes Original, wie mein Freund Jayden sagen würde. Was seine Art betrifft erinnert er mich etwas an meine Kameradin, Andrea.“

Vara Kiryn horchte bei den letzten Worten des jungen Offiziers auf. „Sie bezeichnen Jayden und Kimi stets als Freunde, nur bei dieser Andrea verwenden Sie den Begriff Kameradin, so als würden Sie sich scheuen, sie als Freundin zu bezeichnen. Dabei hatte ich von Beginn an den Eindruck, dass sie gerade ihr besonders zugetan sind. Oder täusche ich mich in dieser Hinsicht?“

„Verstummt die Stimme der Psychologin auch einmal in Ihnen?“, gab Corvin unwillig zurück. „Manchmal ist ein Begriff nur ein Begriff.“

„Und manchmal ist eine Kameradin wesentlich mehr, als nur eine Kameradin“, hielt ihm Vara Kiryn ruhig entgegen, ohne auf seine Frage einzugehen. „Ich denke, dass Sie mir bisher, in Bezug auf diese junge Frau, nicht die ganze Wahrheit gesagt haben, Dean. Da ist, oder war vielleicht, mehr zwischen Ihnen beiden?“

Dean sah in die Augen seiner Begleiterin. Was sie gesagt hatte verursachte einen Magendruck, der im nur allzu deutlich sagte, dass sie Recht hatte. Dabei verriet ihm der Ausdruck ihrer sphinxhaften Augen, dass sie ihn, in Bezug auf Andrea und seine Gefühle für sie, gerade vollkommen durchschaute.

Etwas langsamer gehend sah er die Frau an seiner Seite mit unstetem Blick an und gab nach einem Moment zu: „Sie haben Recht, Vara. Andrea ist mehr für mich. Viel mehr sogar. Das war bereits zu Akademietagen so. Als ich ihr, vor mehr als vier Jahren, meine Gefühle gestanden habe, da hat sie mich jedoch recht unmissverständlich abblitzen lassen. Sie liebt meinen Freund Jayden, und seit Weihnachten sind beide nun miteinander verlobt.“

Bei dem fragenden Blick der Frau, fügte Dean Corvin zögerlich hinzu: „Na ja, ich hatte geglaubt, dass ich mich damit abgefunden habe. Doch als ich ihr, zu Beginn des Jahres, die Nachricht vom Tod ihrer gesamten Familie überbrachte, und sie in meinen Armen ihren gesamten Schmerz herausgelassen hat, da waren all die längst überwunden geglaubten Gefühle für sie wieder da. Aber das ist ausschließlich mein Problem.“

„Vielleicht ist es nicht gut, wenn Sie sich zu stark an diese Gefühle klammern“, riet Vara Kiryn, mit bedauerndem und dennoch eindringlichen Tonfall. „Sonst wird daraus leicht eine fixe Idee. So schwer es Ihnen fällt, aber Sie müssen Andrea loslassen.“

Der Blick Corvins sprach Bände als er auf sich selbst deutete. „Und wenn ich das nicht schaffe? Ich meine, wenn sie viel zu tief da drinnen ist?“

Vara Kiryn lächelte schmerzlich. „Dann ist die einzige Alternative die, um sie zu kämpfen. Doch Sie werden am besten beurteilen können ob ein solcher Kampf irgendeine Aussicht auf Erfolg hätte, oder nicht.“

„Gar keine Aussicht“, brummte der Major düster und im Moment deprimiert.

Die schwarzhaarige Frau an Corvins Seite schwieg für einige Herzschläge lang. Schließlich sagte sie leise und mitfühlend: „Dann bleibt Ihnen keine andere Wahl, als loszulassen, und das so schnell wie möglich. Denn bei dem Einsatz, der Ihnen bevorsteht, können Sie sich solche emotionalen Kapriolen nicht erlauben, Dean.“

Der Dunkelblonde atmete tief durch und lächelte schwach. „Wenn das Unternehmen erst einmal abrollt, dann werde ich gar keine Zeit haben, an etwas anderes zu denken, als an das Ziel der Mission. Vielleicht ist es ja auch besser ungebunden zu sein, wenn man an solchen Risikoeinsätzen teilnimmt.“

Sein plötzlicher Fatalismus verärgerte die Frau etwas und grob gab sie zurück: „Diese Einstellung ist blöd, denn woher nehmen Sie Ihre Motivation zu kämpfen, wenn Sie nichts haben, für das sich das Kämpfen lohnt! Erklären Sie mir das mal! Wie wollen sie Ihre Untergebenen anführen, wenn Sie denken, das alles wäre am Ende sinnlos?“

Mit gelinder Überraschung sah Corvin in das Gesicht seiner Begleiterin. Seufzend meinte er. „Sie machen es einem wirklich nicht leicht. Als ob Sie nicht wüssten, dass ich das eben nur so in einer emotionalen Aufwallung gesagt habe.“

Vara Kiryn grinste verschmitzt. „Vielleicht bin ich ja deshalb wütend geworden, weil ich das weiß. Sie sind doch viel zu intelligent, für solche Aufwallungen.“

Corvin nickte schmunzelnd. Dabei spürte er, dass sich seine innere Anspannung löste und nach einer Weile erwiderte er ernsthaft: „Sie machen das wirklich sehr gut, Vara. Ich bin froh darüber, dass ich mit Ihnen über all das reden kann. Ich darf nicht vergessen, mich gelegentlich bei General Ty-Verrin zu bedanken, weil sie mich Ihnen anvertraut hat.“

Die Frau erwiderte spöttisch seinen Blick. „Wenn Sie jetzt anfangen, mit mir Süßholz zu raspeln, dann ist es ganz schnell aus damit, das kann ich Ihnen versichern. Und noch eins kann ich Ihnen versichern: General Ty-Verrin steht darauf so gar nicht.“

Sie lachten befreit, und Dean Corvin schlug vor: „Laufen wir das letzte Stück lieber, sonst komme ich am Ende wirklich noch zu spät zur Besprechung, mit dem Generalmajor.“

Sie beschleunigten ihr Tempo, wobei Corvin die Worte seiner Begleiterin nicht aus dem Kopf gingen. Dabei dachte er sowohl an Andrea, als auch an jene junge Technikerin, im Rang eines Feldwebel, die er auf Luna hatte zurücklassen müssen.
 

* * *
 

Als Diana Elodie Spencer durch die hell erleuchteten, blass-grauen Gänge des Flotten-Hautquartiers, am Rande des großen Raumhafens der Hauptstadt Tiraleen gelegen, schritt, fragte sie sich insgeheim, was sie angestellt haben mochte, dass Generalmajor Arolic Traren sie persönlich zu sehen wünschte. Dabei fuhr sie sich gedankenverloren mit der Rechten durch das weißblonde Haar. Eine unangenehme Angewohnheit, die dafür sorgte, dass ihr, an jedem Morgen sorgsam frisiertes, Haar schon nach einer Stunde Dienst, regelmäßig nach Sturmfrisur aussah. Was ihrem Gesicht mitunter eine wild-verwegene Note verlieh.

Hatte Diana Spencer diese Angewohnheit am Anfang ihrer militärischen Karriere noch gestört, so achtete sie mittlerweile kaum noch darauf, was wohl auch darin begründet lag, dass ihre Vorgesetzten sie, aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen, noch nie deswegen gerügt hatten. Zumindest nicht, seit sie die Akademie, im Jahr 3213, erfolgreich abgeschlossen hatte.

Bis heute hatte sie es bis zum Rang eines Hauptmanns, beim Militär der Farradeen-Allianz, gebracht, wovon die Rangsymbole am Kragen ihrer schwarzen Uniform zeugten. Ein silberner Querbalken, mit abgeschrägten Schmalkanten, der von drei nebeneinander befindlichen, goldenen Balken gekreuzt wurde. Die grünen Streifen an Schultern, Ärmeln und Hosennähten, und das goldene Abzeichen auf der linken Brustseite der Uniform, verrieten, dass sie nicht dem Fliegenden Personal angehörte. Diana Spencer gehörte den Raumlandtruppen an, und die kleine, dreistellige Zahl im Symbol ihrer Truppengattung besagte, dass es sich dabei um die 501. Raumlandeeinheit handelte.

Das wild-verwegene Aussehen der Frau war indessen durchaus nicht an der Realität vorbei, was ihren grundsätzlichen Charakter betraf. Denn auch wenn die schlanke Frau mit dem oftmals gewinnenden Lächeln sehr liebenswürdig wirkte – sie hatte es mitunter faustdick hinter den Ohren. Etwas, das sich gelegentlich auch im Ausdruck ihrer intelligenten, grün-grauen Augen wiederfand.

Diana Elodie Spencer liebte das Leben, und sie lebte es unbeschwert. Eine Reihe von Männern, und auch die ein oder andere Frau, hatten sie bereits für sich allein gewinnen wollen, doch den Einen oder die Eine hatte es für sie bisher nicht gegeben, sondern stets nur Einen oder Eine mehr. In grauer Vorzeit hätte man sie vermutlich, und das auch nur bestenfalls, als ziemlich flatterhaft bezeichnet. Doch das kümmerte Diana Spencer nicht. Sie wusste was sie wollte, und sie nahm es sich auch, ohne lange zu fackeln oder Irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen, oder danach, was andere Leute davon hielten. Schließlich schrieb man das 33. Jahrhundert, und, anders als vor tausend Jahren, war Persönliche Freiheit mehr, als nur ein Begriff.

Sie betrat schwungvoll, wie es eben ihre Art war, das Vorzimmer zu Arolic Trarens Büro und ließ sich von der Adjutantin, im Rang eines Majors, bei ihm anmelden. Während sie wartete, wippte sie ungeduldig auf den Zehenspitzen. Sie hasste es, nicht genau zu wissen woran sie war. So, wie in diesem Moment.

Schneller, als Diana Spencer damit gerechnet hatte, wandte sich die Adjutantin des Generals wieder an sie und sagte auffordernd: „Bitte gehen Sie hinein, Hauptmann, der Generalmajor erwartet Sie bereits.“

Diana Spencer quittierte die Worte des Majors mit einem freundlichen Lächeln und folgte ihrer Aufforderung. Zu ihrer Überraschung war außer dem General noch niemand anwesend und fragend sah sie in Richtung des Flaggoffiziers.

Die dunklen Augen des Generalmajors, die in eigenartigem Kontrast zu seinen bereits grauen Haaren standen, schienen wie glühende Kohlen zu funkeln, als er die junge Frau ansah. Sie verrieten, mehr noch als seine Mimik und seine Gesten, dass er nicht gerade zu den geduldigen Menschen gehörte. Dabei war Arolic Traren ein breitschultriger, kräftiger Mann von bald fünfundfünfzig Jahren, nach Terra-Standard gerechnet. Doch von einer Ruhe des Alters war er noch Lichtjahre weit entfernt.

Traren erhob sich beim Eintreten der Frau hinter seinem Schreibtisch und erwiderte den vorbildlichen militärischen Gruß des Hauptmanns. Danach umrundete das ausladende, modern geschwungene, Möbelstück, wies er mit der rechten Hand auf die Sitzgruppe, an der Fensterfront seiner Büroflucht und sagte: „Bitte nehmen Sie Platz, Diana. Ich habe Sie etwas früher zu mir kommen lassen, als die beiden Offiziere der NOVA SOLARIS, weil ich Sie zuvor unter vier Augen sprechen möchte.“

Traren wartete ab, bis sich die Frau auf eine der beiden, über Eck stehenden, dunklen Leder-Couchen gesetzt hatte, bevor er in einem der beiden Sessel Platz nahm. Eine schnelle Analyse ihrer Reaktion auf seine Worte ließ ihn erahnen, dass sie um seine Marotte, alle seine Untergebenen mit Vornamen anzureden, wusste. Dabei bemerkte der erfahrene Flaggoffizier gleichfalls die Neugier in ihrem Blick.

Darum kam Traren rasch zur Sache, indem er sich im Sessel leicht nach vorne beugte und sagte: „Normalerweise ist es nicht meine Art, über Personen zu sprechen, die nicht anwesend sind. Doch in diesem Fall mache ich eine Ausnahme, da die beiden Offiziere, die bald zu uns stoßen werden, einerseits um einige Jahre zu jung für ihre momentanen Ränge sind und sie andererseits erst kürzlich die Staatsbürgerschaft der Allianz angenommen haben. Der Major, der die NOVA SOLARIS kommandiert und sein Erster Offizier, eine Frau im Rang eines Hauptmanns, gehörten bis vor drei Monaten zum Militär des Terranischen Imperiums. Wie sie wissen verweigert der Diktator von Deneb, nach der Annexion des Sol-Systems, aufgrund der Tatsache, dass sich die Terranische Regierung momentan nicht auf Terra befindet wie es nach der Gesetzgebung der Terraner zu sein hat, allen Angehörigen des Terranischen Militärs den Kombattanten-Status. Demzufolge würden bei Kämpfen, in Gefangenschaft geratene Terraner von den Konföderierten wie Spione behandelt, und nicht wie Kriegsgefangene. Was das für die Militärs des Terranischen Imperiums bedeutet, das muss ich Ihnen nicht sagen, Diana.“

Die blonde Frau nickte. „Erschießungskommando!“

„Das ist richtig“, bestätigte der Generalmajor. „Momentan wird von der Provisorischen Regierung, die vor einer Woche im System von Delta-Cephei vereidigt wurde, eine entsprechende Änderung der Terranischen Verfassung formuliert. Wenn diese Regierung eine entsprechende Verlautbarung herausgibt, dann sind die Argumente des Diktators im Grunde hinfällig.“

Diana Spencers Stirn legte sich in Falten. „Ihre Wortwahl, Generalmajor, lässt mich vermuten, dass da jetzt gleich ein Haken folgen wird.“

Traren machte ein grimmiges Gesicht. „Ich persönlich wette darauf, dass sich der Diktator von Deneb halsstarrig zeigen wird. Ich befürchte, dass er als Anführer der Konföderation die das Sol-System, wenn auch widerrechtlich, annektiert hat, behaupten wird, dass das Terranische Imperium de facto gar nicht mehr existiert. In diesem Fall wird die Imperiale Terranische Regierung vermutlich Verhandlungen mit der Allianz aufnehmen und einen Zusammenschluss unserer Nationen vorschlagen. In diesem Fall wäre jedes Argument der Konföderierten, in Bezug auf den politischen Status des Terranischen Imperiums hinfällig. Zumindest, was das Militärische angeht. Aber bis es, in einem solchen angenommenen Fall, tatsächlich dazu käme würden sicherlich Jahre vergehen. Doch so lange können wir nicht warten, um einen Stoßtrupp in das Sol-System zu entsenden, und für diesen Stoßtrupp brauchen wir Terraner, die sich vor Ort auskennen. Andererseits können wir auch nicht, ohne die Flotten des Imperiums, alleine gegen die Konföderation bestehen. Deshalb geschah, so zu sagen als erster Schritt, die Einbürgerung der besagten beiden Offiziere des Imperiums und der Crew der NOVA SOLARIS. Die Terranischen Regierung hat uns den Experimentalkreuzer überlassen. Nicht ganz freiwillig, wie ich betonen möchte, denn es handelt sich um den Prototyp einer neuen, schlagkräftigen Klasse von Leichten Kreuzern.“

Die blonde Frau fuhr sich mit den Fingern ihrer linken Hand durch das Haar und erkundigte sich dann: „So weit, so gut, aber was hat das mit dem Alter der beiden Führungsoffiziere dieses Experimentalkreuzers zu tun?“

„Das ist leicht erklärt“, gab Traren Auskunft. „Kurz vor der Intervention unserer Flotten, bei Delta-Cephei, hatte die Oberkommandierende der Imperialen Flotte diese beiden Offiziere, aufgrund ihrer Erfahrung im Umgang mit der NOVA SOLARIS, vorzeitig in den Rang eines Hauptmann ZBV beziehungsweise in den Rang eines Oberleutnant ZBV befördert, damit sie in ihrer Funktion auf dem Kreuzer verbleiben können, ohne dass es Querelen wegen der Flottenbestimmungen zum Führen von Großkampfschiffen gibt. Als diese beiden Offiziere kurze Zeit später in den Dienst der Farradeen-Allianz eintraten stand das Oberkommando unserer Flotte vor dem Problem, dass wir die beiden Offiziere nicht degradieren konnten, was aber quasi der Fall gewesen wäre, hätten wir sie in den Rängen Hauptmann und Oberleutnant übernommen, da unser Militär den Zusatz ZBV, also: Zur Besonderen Verwendung, nicht kennt. Darum blieb nur der Ausweg den Ersten Offizier der NOVA SOLARIS im Rang eines Hauptmanns zu übernehmen, und den Kommandanten des Kreuzers im Rang eines Majors. All das erkläre ich Ihnen deshalb, Hauptmann Spencer, weil Sie, und vierundfünfzig weitere Soldaten der Fünfhundertersten Raumlandeeinheit, schon in zwei Wochen auf der NOVA SOLARIS einsteigen, und an einem Kommandoeinsatz teilnehmen, werden. Eben unter dem Kommando des Majors.“

„Ich verstehe“, erwiderte Diana Elodie Spencer nachdenklich. „Wir haben also zwei viel zu junge Offiziere als Führungsgespann an Bord dieses Kreuzers. Darf ich fragen, wie alt diese beiden Offiziere sind?“

Der Generalmajor grinste humorlos. Die junge Frau, die den Posten des Ersten Offiziers bekleidet, hat vor wenigen Tagen erst ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Der Major wird, nach Terra-Standard, in einem Monat dreiundzwanzig Jahre alt.“

Die, nach terranischer Standard-Zeitrechnung, achtundzwanzig-jährige Frau fuhr ein Stück von der Couch hoch, bevor sie sich langsam wieder auf die Sitzfläche zurücksinken ließ. „Wie bitte, General? Das ist ja der reinste Kindergarten. Wie eine alte Frau werde ich mir gegen die vorkommen.“

Der General schmunzelte unmerklich. „Eben wegen dieser Reaktion habe ich Sie etwas früher zu mir gebeten. Mir ist klar, dass es nicht ganz leicht sein wird, sich unter das Kommando dieses jungen Majors zu stellen. Laut seiner ehemals höchsten Vorgesetzten, die große Stücke auf ihn hält, besitzt dieser junge Mann jedoch herausragende Anlagen. Ich vermute das gilt auch für seinen ersten Offizier. Als General Mbena die beiden Offiziere offiziell meiner Obhut übergab, da hatte ich den Eindruck, dass ihr dieser Entschluss in der Seele weh getan hat. Ich selbst hatte bereits persönlich mit dem Major zu tun und kann Ihnen versichern, dass er anders ist, als die meisten Offiziere seines Alters.“

Hinter der Stirn der blonden Frau arbeitete es und man konnte an ihrem Blick, den sie dem General zuwarf, deutlich erkennen, dass ihr seine Eröffnung gar nicht behagte. Andererseits war sie Profi und so beschloss sie abzuwarten und sich diese beiden Jungoffiziere erst einmal genau anzusehen.

„Da wäre aber noch etwas Anderes“, wurden die Gedankengängen der blonden Frau von ihrem Vorgesetzten unterbrochen. Aufmerksam sah sie in die dunklen Augen des Generalmajors und beugte ihren Oberkörper etwas nach vorne.

„Sie haben sich in der Vergangenheit bewährt und im Dienst stets Alles gegeben. Ich bin davon überzeugt, dass Sie die Richtige sind, um eine neue, eigene Raumlandeeinheit zu kommandieren. Darum werde ich Ihnen eine halbe Kompanie bestehend aus den besten Raumlandesoldaten der Fünfhundertersten unterstellen. Sobald Sie aus diesem Einsatz zurückgekehrt sind, werde ich diese Einheit offiziell der NOVA SOLARIS zuteilen und in die Fünfhundertsechste Raumlandeeinheit umbenennen.“

Diese Eröffnung kam unerwartet für Diana Spencer. Sie hatte sich insgeheim immer ein solches Kommando gewünscht. Sie wusste nur nicht, ob eine permanente Stationierung auf der NOVA SOLARIS ebenso wünschenswert war.

Noch während sie Traren zu nickte wurde sie abgelenkt, als die Ordonanz des Generals die Ankunft der beiden Offiziere ankündigte, von denen er eben noch geredet hatte.

Der Generalmajor erhob sich und Hauptmann Spencer tat es ihm nach, als sich das Schott öffnete ein junger, gut aussehender Mann und eine rothaarige Frau das Büro betraten.

Diana Spencer stellte bei einer ersten, kurzen Musterung der beiden fest, dass der Mann, mit den Insignien eines Majors am Kragen der schwarzen Uniform, etwa eine Handbreit höher gewachsen war, als sie. Seine Begleiterin trug die gleichen Insignien wie sie selbst und sie war annähernd ebenso groß, wie der junge, dunkelblonde Major.

Die beiden Offiziere grüßen vorbildlich und der Major meldete sich und seine Begleiterin bei Traren, so wie es militärisch Gepflogenheit war.

Vom Feuer geküsst, schoss es Diana Spencer beim Anblick der jungen Frau durch den Sinn, als Traren den Gruß erwiderte und auf die beiden Neuankömmlinge deutete.

„Diana, das sind Major Dean Everett Corvin und Hauptmann Irina Hayes, der Kommandant und der Erste Offizier der NOVA SOLARIS“, erklärte Arolic Traren, bevor er sich an die beiden Offiziere des Kreuzers wandte. „Und dies ist Hauptmann Diana Elodie Spencer, Angehörige der Fünfhundertersten Raumlandeeinheit.“

Sie erwiesen sich gegenseitig durch ein weiteres Grüßen den üblichen Respekt unter Soldaten und reichten sich anschließend die Hände. Dabei hielt Diana Spencer die Hand der Rothaarigen etwas länger fest, als es gemeinhin üblich war und ließ erst los, als sie fragend von Irina Hayes angesehen wurde.

Traren schien davon nichts bemerkt zu haben. Er deutete auf die Sitzgelegenheiten und sagte zwanglos: „Bitte nehmen Sie doch Platz.“

Sie setzten sich. Diana Spencer spürte die innere Anspannung der beiden jungen Offiziere ganz deutlich, und sie schmunzelte unmerklich. Dabei dachte sie, irgendwie zufrieden: Für eine gewisse, innere Gelassenheit, im Umgang mit eurem hochrangigen Vorgesetzten fehlen euch zwei wohl noch ein paar Jahre. Da ist es, allein mit einem Rang, der euch beiden noch nicht zukommen dürfte, offensichtlich nicht getan.

Arolic Traren warf der Raumlandesoldatin einen fragenden Blick zu, als sie in Gedanken zu lächeln begann und schnell mahnte sich die Frau innerlich zur Ordnung.

Sich zu Corvin wendend, erkundigte sich der Generalmajor: „Wie weit sind die Vorbereitungen an Bord der NOVA SOLARIS, Dean? Sind Schiff und Besatzung so weit, um mit der letzten Phase der Vorbereitungen zu beginnen?“

Etwas weniger befangen, als zum Zeitpunkt seiner Ankunft in diesem Büro, erwiderte der athletische junge Mann: „Ja, Generalmajor Traren. Die Besatzung ist darüber informiert, dass das angekündigte Raumlande-Kontingent an Bord kommt. Die Quartiere wurden vorbereitet und sind bezugsbereit. Darüber hinaus habe ich mit den Führungsoffizieren meines Kreuzers bereits mehrere Übungsszenarien durchgesprochen, die wir, im Verbund mit den Raumlandesoldaten, trainieren wollen.“

Nach seinem letzten Satz wandte sich Dean Corvin zu Diana Spencer. „Natürlich möchte ich dabei zuvor gerne Ihre Meinung zu diesen Szenarien hören, Hauptmann Spencer. Sie kennen sich in der Raumlandetaktik sicherlich länger und besser aus, und Sie werden mir sagen können, welche Szenarien sinnvoll sind, und welche eventuell weniger sinnvoll. Mir ist wichtig, dass wir uns, in dieser Hinsicht, gut abstimmen.“

Diana Spencer fuhr sich mit der Hand durch das Haar und gewann so einen Moment, um ihre gelinde Überraschung zu überwinden. Nach den Worten des Generals hatte sie mit einem jungen Überflieger gerechnet, und das schien sich nun als falsch zu erweisen.

„Sie haben Recht, Major Corvin. Ich halte eine enge Zusammenarbeit zwischen Besatzung und Raumlandetruppe ebenfalls für unabdingbar, um erfolgreich gegen den Feind zu operieren. Wie auch immer der Einsatz nun aussehen wird.“

Ihre letzten Worte waren indirekt an Arolic Traren gerichtet.

Der Generalmajor runzelte leicht die Stirn, erlaubte sich dabei aber gleichzeitig ein beinahe jungenhaftes Grinsen. „Nun, Diana, Sie kommen schnell auf den Punkt. Dann werde ich mal Ihre Neugier befriedigen, bevor sie überkocht. Es ist ein Einsatz geplant, bei dem die NOVA SOLARIS in das Sol-System eindringt. Der Experimentalkreuzer wird bis nach Eris vorstoßen. Dort gibt es einen Außenposten der Terranischen Flotte, der mittlerweile von der Konföderation Deneb kontrolliert werden dürfte. Seine Besatzung beträgt maximal zwanzig Personen und die Konföderierten werden diesen Posten kaum personell aufgestockt haben, da es dort keine nennenswerten Abwehranlagen gibt. Noch etwas anderes, das einen solchen Aufwand rechtfertigen würde. Für uns interessant hingegen ist, dass dieser Posten, sofern er in Betrieb ist, einmal die Woche von einem Transporter angeflogen wird. Er versorgt die kleine Basis mit dem nötigen Nachschub und nimmt gleichzeitig die Protokolle der beiden polaren Ortungs-Phalanxen an Bord, um sie zum Mars zu bringen. Diese Phalanxen besitzen, wegen der Störungen durch die erzhaltigen Schichten der Oberfläche von Eris jedoch einen toten Winkel, rund um den Äquator des Planeten, der sich erst zehntausend Kilometer von der Oberfläche entfernt lückenlos schließt. Es kommt also darauf an, mit der NOVA SOLARIS innerhalb dieser Zone aus dem Hyperraum zu fallen, und dann einen tangentiales Bremsmanöver durchzuführen. Sobald dies funktioniert hat, wird sich der Kreuzer im Tiefflug der Basis nähern und in einem Krater landen, der sich rund zehn Kilometer von der Basis entfernt befindet. Die Ablagerungen von verschiedenen Erzen in dieser Gegend sind ideal um den Anflug zu tarnen. Von dort aus wird dann ein Kommandotrupp die Basis stürmen und die Besatzung ausschalten. Ziel der Operation ist es dann, dort auf einen der Transporter zu warten, und ihn ebenfalls zu kapern, um mit ihm unbemerkt bis zum Mars vorzustoßen und von dort aus weiter zu den Luna-Werften. Dort werden wir, laut Major Corvin, am ehesten die Möglichkeit haben, einen der Störsender zu erbeuten, die von der Konföderation Deneb eingesetzt wurden, beim Angriff auf das System. Vorher ist an einen wirkungsvollen Gegenschlag gar nicht zu denken. Die NOVA SOLARIS ihrerseits würde, selbst wenn wir die Markierungen der Konföderation anbringen würden, niemals unbemerkt bis dorthin gelangen. Die Energiesignaturen der Imperialen Raumschiffe sind leider unverkennbar und sie erfolgreich zu ändern würde uns Zeit kosten, die wir nicht haben.“

Diana Spencers Augen hatten sich immer mehr geweitet, je weiter sich der Plan vor ihren Augen ausbreitete. Sie ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie sich von dem Generalmajor abwandte und sich bei Dean Corvin erkundigte: „Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, dass sie den wahnwitzigen Anflug auf Eris hin bekommen, von dem Generalmajor Traren eben gesprochen hat?“

„Etwas besser als fünfzig Prozent“, antwortete Corvin ehrlich.

„Was passiert bestenfalls?“

Es war Irina Hayes, die auf diese Frage antwortete. „Bestenfalls funktioniert der Anflug, wie geplant, auch wenn ein so nahes Herantasten an einen Planeten, im Hyperraum, die strukturelle Integrität des Kreuzer ziemlich auf die Probe stellen wird.“

Diana Spencer sah unbeirrt in die blauen Augen der rothaarigen Frau, die in ihren Augen, zumindest äußerlich, immer noch mehr einem Mädchen glich. „Und was passiert im schlimmsten vorstellbaren Fall?“

„Der Kreuzer wird, falls wir uns verrechnen und zu nah am Planeten aus dem Hyperraum fallen, von den gewaltigen Scherkräften zerrissen. Sollte dies wider Erwarten nicht geschehen, so werden wir uns, zusammen mit dem Leichten Kreuzer, unangespitzt in die Oberfläche des Planeten rammen. Mit etwas Glück bekommen wir die anschließende Explosion, die den Kreuzer zerreißen wird, nicht mehr mit.“

Diana Spencer sah Irina Hayes fassungslos an, ob der Ruhe, mit der sie über diese fatale Möglichkeit gesprochen hatte, und sarkastisch meinte sie: „Wenn Sie das Glück nennen dann will ich gar nicht wissen, was Sie als Pech bezeichnen würden.“

Es war Dean Corvin, der ruhig betonte: „Hauptmann Spencer, die NOVA SOLARIS ist das beste, jemals gebaute, Kriegsschiff. Mit anderen Worten, dieser Kahn hält etwas aus, und er ist sehr schnell zu beschleunigen. Zudem besitzt er zwei zusätzliche Komponenten, von denen besonders eine den, eben von General Traren erklärten, Einsatz überhaupt erst möglich macht. Die NOVA SOLARIS besitzt eine besondere Verbundpanzerung, die mit einem der beiden erwähnten Aggregate gekoppelt ist. Sie ist quasi in der Lage, die Farbe zu verändern und kann den Kreuzer somit gegen eine optische Entdeckung schützen. Allerdings funktioniert das nur bei abgeschaltetem Antrieb und bei deaktivierten Dual-Schilden. Der Kreuzer wird also nach der Landung auf Eris, optisch so gut wie nicht auszumachen sein. Mit einem anderen Kreuzer würde ich diesen Einsatz jedenfalls nicht versuchen. Außerdem habe ich selbst nicht vor, in naher Zukunft zu sterben. Meine Crew wird das schaffen.“

Diana Spencer bedachte den jungen Offizier mit einem langen Blick, bevor sie, das Thema wechselnd, fragte: „Welche Art von gemeinsamen Trainingsszenarien mit meinen Leuten schwebt Ihnen nun genau vor, Major Corvin?“

Dean Corvin, der seine anfängliche Befangenheit nun gänzlich abgelegt hatte, erwiderte den fragenden Blick der Raumlandesoldatin und führte aus: „Nun, ich dachte da an mehrere schnelle Annäherungsmanöver an einen der kleineren Planeten in diesem Sternensystem. Der äußerste Planet dieses Systems ähnelt in seinem Aufbau Eris sehr. Den Ausstieg aus dem Kreuzer, mit und ohne direkte Landung auf der Oberfläche, sollten wir so lange üben, bis sowohl Sie und Ihr Team, als auch meine Crew, dies im Schlaf beherrschen. Dabei ist mir persönlich wichtig, dass insbesondere die Kommunikation zwischen Landekommando und Schiffscrew reibungslos und unmissverständlich funktioniert. Darüber hinaus würde ich gerne selbst, während der Hälfte der Trainingszeit, gemeinsam mit Ihrer Einheit trainieren. Der Grund dafür ist, dass einer den Transporter fliegen wird, der uns zum Mars bringen soll, und das werde dann ich sein. Sobald wir auf Luna sind, werden wir nämlich darauf vorbereitet sein müssen, notfalls auch ein Kriegsschiff der Konföderation zu kapern um von dort heil wieder zu verschwinden, oder falls sich herausstellt, dass das die einzige Möglichkeit ist, an einen der Störsender zu gelangen. Neben den beiden Piloten meines Kreuzers bin ich einer derer, an Bord der NOVA SOLARIS, der im Notfall einen Kampfkreuzer zu steuern vermag Zudem kenne ich mich etwas aus auf der Luna-Werft, um die es bei dem Einsatz gehen wird. Der Proband für die zweite Woche ist mein Kommunikationsoffizier, Leutnant Moana Adamina. Sie gehörte bis vor Kurzem zu den Terranischen Kommandotruppen. Wie wir genau dieses Training aufbauen, das besprechen wir dann aber, wie bereits gesagt, am besten gemeinsam, an Bord des Kreuzers. Wann sind Sie und ihre Leute bereit an Bord zu kommen?“

Arolic Traren, der sich bewusst in den letzten Minuten zurückgenommen und nur beobachtet hatte, antwortete an Stelle der Frau. „Hauptmann Spencer wird, gemeinsam mit ihrem Team, heute Abend um 24:30 an Bord kommen. Zuvor gibt es noch einige letzte Vorbereitungen zu treffen.“

Dean Corvin lächelte verbindlich und wandte sich zu Diana Spencer. „Ich werde für diesen Zeitpunkt einen kleinen Empfang für Sie und ihre Offiziere vorbereiten lassen. Damit sich unsere Führungsoffiziere schon mal etwas miteinander bekanntmachen können.“

Arolic Traren machte ein zufriedenes Gesicht und sah in die Runde. „Wie ich sehe, werden Sie miteinander klarkommen. Wenn es sonst keine Fragen geben sollte, so können Sie wegtreten. Diana, meine Ordonanz wird Sie heute Nachmittag, bezüglich des Ihnen zugeteilten Teams, noch einmal kontaktieren und Ihnen den Zeitpunkt nennen, zu dem ich Sie nochmal bei mir, zu einem abschließenden Gespräch, erwarte.“

„Verstanden, General!“

Der Generalmajor gab den drei Offizieren Gelegenheit, sich vor ihm zu erheben. Nachdem sie sich abgemeldet hatten verließen sie hintereinander sein Büro.

Auf dem Gang begab sich Diana Spencer an die Seite von Irina Hayes und legte ihre Hand kurz auf den linken Oberarm der hochgewachsenen jungen Frau: „Haben Sie einen Moment für mich, Hauptmann Hayes?“

Dean Corvin, der die Frage mitbekam, sah zu Irina Hayes und meinte: „Wir sehen uns um 15:00 Uhr Lokalzeit an Bord.“

Die Rothaarige machte eine zustimmende Handbewegung und sah ihm nach, wie er davon schritt, bevor sie sich Diana Spencer zuwandte. „Worum geht es?“

Die blonde Frau deutete den Gang hinunter. „Ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen, die den General nicht unbedingt interessiert hätten. Gehen wir dabei ein Stück.“

Die beiden unterschiedlichen Frauen schritten den Gang entlang, und Diana Spencer sah ihre Begleiterin von der Seite an. „Mich würde interessieren, ob es der General war, der den Plan, auf Eris zu landen, ausgebrütet hat, oder der Major.“

Das Schmunzeln der rothaarigen Frau verwirrte Diana Spencer etwas, bis diese erklärte: „Weder noch. Der Plan ist mir eingefallen, und glauben Sie mir – Dean, ich meine der Major, hat ebenso geschaut, wie Sie vorhin, bei der Besprechung. Der Generalmajor hat es zwar besser versteckt, doch auch seine Reaktion fiel ganz ähnlich aus.“

„Ich verstehe. Dann sind Sie also der Wahnsinnsmensch, und nicht der Major.“

„Knapp vorbei“, grinste Irina Hayes. „Normalerweise ist tatsächlich er es, der sich die wahnsinnigen Pläne ausdenkt. Ich wollte ihm nur nicht länger nachstehen, darum habe ich mich auch einmal daran versucht. Vielleicht färbt aber auch nur seine Art auf mich ab.“

Die Rothaarige beobachtete die Reaktion der älteren Frau und sagte dann ernsthaft: „Der Major und ich haben sehr intensiv darüber diskutiert und danach die übrigen Führungsoffiziere der NOVA mit einbezogen, bevor wir dem Generalmajor diesen Vorschlag unterbreiteten. Hätte ich Dean Corvin nicht bereits im Einsatz erlebt, dann hätte ich vermutlich dieselben Bedenken, wie Sie, Hauptmann Spencer. Doch seit der Flucht von Luna, an Bord der NOVA, und im Anschluss aus dem Sonnensystem, und dem späteren Kampfeinsatz bei Delta-Cephei, vertraue ich ihm bedingungslos. Was er über die Fähigkeiten unseres Kreuzers sagte, das entspricht der Wahrheit. Die NOVA kann diesen Einsatz überstehen, Hauptmann Spencer. Eher, als jedes andere Kriegsschiff seiner Klasse.“

Diana Spencer spürte die unmerkliche Veränderung, die mit Irina Hayes vor sich ging, als sie ihren Blick auf sie richtete, und beruhigend meinte sie: „Ich wollte die militärischen Fähigkeiten des Majors nicht in Frage stellen, und auch die Ihren nicht. Dazu kenne ich Sie und den Major viel zu wenig.“

„Aber Sie halten uns beide für viel zu jung, um unsere Posten adäquat auszufüllen“, erwiderte Irina Hayes ohne sich darum zu bemühen diplomatisch zu sein. „Wissen Sie, mir selbst ging es zu Beginn ebenso, und bis zu einem gewissen Punkt haben Sie sogar Recht. Ich war absolut nicht darauf vorbereitet, meine Heimat hinter mir zu lassen und vor brutalen Eroberern aus dem Sonnensystem zu fliehen. So, wie ich nicht darauf vorbereitet war, an Bord dieses Experimentalkreuzers in einen Krieg zu ziehen, den ich noch vor wenigen Jahren für völlig absurd und unmöglich hielt. Oder darauf, Kameraden sterben zu sehen. Doch das alles haben wir erlebt – der Major und ich - und wir werden nicht die Einzigen bleiben, die für diesen Wahnsinn viel zu jung sind.“

Diana Spencer hatte Mühe, dem Blick der jüngeren Frau stand zu halten, deren Gesicht plötzlich so viel härter und entschlossener wirkte, als noch vor einem Augenblick. Nach einem kurzen Moment gab sie zu: „Sie haben ganz Recht, Hauptmann Hayes. Das habe ich vorhin wirklich gedacht. Vielleicht lag ich damit falsch. Es tut mir leid, wenn ich Sie damit beleidigt haben sollte.“

„Schon vergessen“, gab Irina Hayes zurück und lächelte schwach. „An Ihrer Stelle hätte ich vielleicht genauso gedacht.“

Diana Elodie Spencer schluckte und wechselte schnell das Thema. „Sie und der Major scheinen sich sehr gut zu verstehen? Zumindest nach dem, was ich beobachten konnte. Habe ich das richtig mitbekommen, dass Sie beide sich duzen?“

„Nur wenn wir unter uns sind“, wehrte Irina Hayes schnell ab. „Abseits dieser Ausnahme lassen wir beide so etwas nicht zu. Und nein, wir sind kein Paar, noch waren wir je eins. Wir sind lediglich gute Freunde und Kameraden. Nur um jede mögliche Quelle für wilde Spekulationen im Keim zu ersticken.“

„Na, dann wäre das ja auch geklärt“, gab Diana Spencer ironisch zurück. „Ich kann mir schon vorstellen, dass das, was Sie gemeinsam erlebt haben, sehr verbindet.“

„Das, und seine Art zu tanzen“, erwiderte Irina Hayes und amüsierte sich über den Blick der blonden Frau. „Das erkläre ich Ihnen vielleicht besser ein anderes Mal. Vielleicht heute Abend beim Empfang auf der NOVA. Sie entschuldigen mich nun, bitte, Hauptmann Spencer, ich habe noch einige Vorbereitungen zu treffen. Wir sehen uns dann.“

Damit schritt Irina Hayes schneller aus.

Diana Spencer, die ihr langsamer folgte, sah ihr sinnend nach, wobei ihr erst nach einer Weile auffiel, dass sie viel zu lange auf den knackigen Po der jungen Frau starrte. Sich innerlich zur Ordnung rufend dachte sie: Glückliche Jugend. Ich frage mich, wie lange sie noch in der Lage sein wird, Ärgernisse so schnell abzustreifen.
 

* * *
 

Am späten Nachmittag saßen Dean Corvin und Irina Hayes im Quartier des Kanadiers und unterhielten sich, bei einem Kaffee über das Gespräch bei Generalmajor Arolic Traren, an diesem Morgen.

Corvin, der seinen Kaffee schwarz trank, nahm vorsichtig einen Schluck von dem heißen Getränk, wobei er seine Kameradin über den Rand der Tasse hinweg neugierig ansah, bevor er die Tasse auf dem Tisch absetzte und fragte: „Worüber hat sich Diana Spencer eigentlich mit dir unterhalten, Irina? Ich hatte vorhin das Gefühl, als wärst du danach etwas aufgewühlt gewesen.“

Die junge Frau rührte abwesend mit dem Löffel in ihrem Milchkaffee und schien durch Dean Corvin hindurch zu sehen. Erst nach einer Weile sah sie Corvin in die Augen und erklärte: „Ich war weniger aufgewühlt, als rechtschaffen sauer. Na ja, diese Frau hat mehr oder weniger durchblicken lassen, dass sie uns für zu jung in unseren Rängen hält.“

„Aber das sind wir doch auch“, gab Corvin trocken zurück. „Das wissen wir beide aber, nicht wahr? Wo liegt denn da das eigentliche Problem?“

„Das Problem ist, dass sie uns offensichtlich für inkompetent hält!“, platzte Irina Hayes wütend heraus. „Was bildet sich diese alte Zicke überhaupt ein?“

Dean Corvin blieb ruhig in seinem Sessel sitzen, was Irina noch mehr in Fahrt brachte. Erneut einen Schluck von seinem Kaffee nehmend fragte er: „Hat sie das genau so formuliert, oder interpretierst du das lediglich in ihre Worte hinein?“

Irina Hayes funkelte Corvin aufgebracht an, umso mehr, da sie nicht wirklich mit Sicherheit behaupten konnte, dass sie es tatsächlich so gemeint hatte. Schließlich schnaubte sie: „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“

Der Major seufzte leise. „Was soll denn nun diese Frage, Irina? Ich habe dir nur eine simple Frage gestellt. Doch deine Reaktion darauf lässt tief blicken. Also was ist nun? Hat sie, oder hat sie nicht?“

„Sie hat nicht!“, fauchte Irina. „Aber das heißt nichts.“

Dean Corvin beugte sich im Sessel nach vorne, legte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und faltete seine Hände. Dabei sah er die Kameradin von unten herauf an und fragte eindringlich: „Jetzt mal ernsthaft, Irina, was ist wirklich los.“

Die Rothaarige wich seinem forschenden Blick aus und trank von ihrem Kaffee. Tief durchatmend sah sie schließlich zu Dean und Tränen glitzerten in ihren Augen, als sie leise antwortete. „Es ist… Sie ist… Dean, als ich gestern die neuesten Verlustlisten durchgegangen bin, die General Mbena der Allianz geschickt hat, da fand ich den Namen meiner Freundin darauf wieder. Ich hatte das bereits vor Monaten befürchtet, doch es zu wissen ist entsetzlich. Diese Diana Spencer… Sie ähnelt ihr. Sehr sogar.“

Corvin nickte ernst und fragte vorsichtig: „Wie gute Freundinnen wart ihr denn?“

Tränen rannen über Irinas Wangen. „Du verstehst nicht, Dean. Sie war nicht einfach eine Freundin. Sie war viel mehr für mich. Die Freundin eben.“

„So etwas, wie eine Schwester?“

Irina Hayes sprang fast aus dem Sessel. Sich die Tränen von den Wangen wischend fuhr sie den Kameraden an: „Verrate mir mal was, Dean. Gehen bei dir neuerdings nur noch die falschen Lampen an?“

Sie wandte sich ab und schlug die Hände vor das Gesicht, und erst jetzt dämmerte Corvin, was ihm Irina hatte sagen wollen. Er erhob sich und schritt langsam zu ihr. Wortlos drehte er die Frau an den Schultern zu sich herum und nahm sie in den Arm, wobei er leise sagte: „Tut mir leid, dass ich zu blöd war um zu verstehen worum es geht, Irina. Warum hast du vorher denn nie mit mir darüber gesprochen?“

Die junge Frau antwortete nicht sondern gab ihrem Schmerz nach, was Corvin nur allzu gut verstand. Dabei verwünschte er, nicht schneller erkannt zu haben, dass Irina und diese Freundin, von der sie erzählt hatte, sich offensichtlich geliebt hatten. Die Fragen, die ihm in diesem Moment durch seinen Kopf gingen unterdrückte er dabei, denn dafür war momentan ganz bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt. Später vielleicht.

Corvin wartete eine ganze Weile, während der er Irina einfach nur in seinen Armen hielt, bevor er leise sagte: „Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, aber falls du jetzt lieber allein sein willst, dann...“

„Nein“, schniefte die junge Frau leise. „Ich bin froh, dass ich nicht allein bin, und dass ich mit dir darüber reden kann, Dean. Es tut nur so weh.“

Dean Corvin streichelte sacht über ihr Haar. So, wie er es einmal bei der Schwester seines besten Freundes gemacht hatte, als sie noch Kinder gewesen waren. Damals hatte sich Famke beim Spielen fürchterlich weh getan, und niemand sonst war in der Nähe gewesen. Und so, wie heute, hatte es ihm damals fast das Herz zerrissen. Famke war, nach dem Tod seiner Eltern, fast so etwas wie eine Schwester für ihn geworden. Eine Schwester, die er nie gehabt hatte. Ganz ähnlich empfand er für Irina, seit einiger Zeit bereits. Doch von diesen geschwisterlichen Gefühlen für sie ahnte die junge Frau nichts. Irgendwann würde er mit ihr über all das reden. Doch ganz bestimmt nicht jetzt.

Erleichtert stellte Dean Corvin nach geraumer Weile fest, dass sich Irina langsam wieder beruhigte. Ihr Griff, mit dem sie ihn umklammert hielt lockerte sich und schließlich nahm sie ihre Wange von seiner und wischte sich die Tränen fort.

„Ich bin froh, dass wir uns so toll verstehen, Dean.“

Corvin, der die Kameradin langsam los ließ, lächelte aufmunternd. „Ja, ich auch, obwohl bei mir nur noch die falschen Lampen angehen. Geht es wieder einigermaßen?“

Irina Hayes nickte tapfer und gab ihm, ob seiner letzten Bemerkung einen Schlag mit der flachen Hand gegen die Brust. „Ja, das Ganze musste einfach erst einmal raus. Es wird dauern, bis ich wirklich darüber hinweg bin, doch ich werde es schaffen. Du musst dir deswegen keine Sorgen machen, Dean. In zwei Wochen werde ich voll da sein.“

„Das weiß ich“, erwiderte Corvin überzeugt. „Bis dahin werden wir uns aber, am besten nach den jeweiligen Trainingseinheiten, für mindestens eine Stunde zusammensetzen und über Gefühle reden. Du über deine und ich über meine, okay?“

Irina Hayes nickte dankbar. „Okay, Dean.“

Dean Corvin schluckte und atmete befreit auf. „So, und jetzt versprichst du mir noch, dass es mit dieser Diana Spencer keinerlei Probleme geben wird.“

„Du bist aber auch mit nichts zufrieden spöttelte Irina und nickte dabei seufzend. „Also schön, ich werde ihr eine faire Chance geben.“

Corvin machte eine ausladende Geste mit den Armen. „Mehr will ich doch gar nicht.“

Ihr Kerle seid ja so leicht zufriedenzustellen“, seufzte Irina Hayes ironisch und war innerlich froh darüber, allmählich wieder zurück in die Spur zu finden. Daran hatte Dean seinen Anteil und sie nahm sich fest vor, ihn nicht zu enttäuschen. Darum würde sie Wort halten, und dieser Diana Spencer beim nächsten Mal unvoreingenommen begegnen. Vielleicht war sie ja doch gar nicht so übel.

Gefangen auf dem Mars


 

2.
 

Gefangen auf dem Mars
 

Ein gequälter Schrei entfuhr Rian Onoro, als sie die Faust ihrer Peinigerin, zum wiederholten Mal, hart im Gesicht traf.

Gefesselt an einen unbequemen Stuhl aus Metall starrte Rian die Asiatin, die dicht vor ihr stand, aus blutunterlaufenen Augen, an. Im nächsten Moment glaubte sie, dass etwas in ihrem Gesicht explodieren würde, und ihr Kopf flog zur Seite, als Kim Tae Yeon sie erneut schlug. Die Verräterin, die den Truppen der Konföderation Deneb dabei geholfen hatte, das Sol-System zu überrennen, funkelte ihrerseits ihre Gefangene mit hasserfülltem Blick an. Sie quälte nun seit bereits einer Stunde die dunkelhäutige Technikerin, die Dean Corvin dabei geholfen hatte, sich ihrem Zugriff zu entziehen.

Dementsprechend mitgenommen sah die Technikerin des Terranischen Imperiums aus. Eine Blutfahne rann aus ihrer Nase und ihre Unterlippe war aufgeplatzt. Zudem spürte sie schmerzhaft, wie ihr rechtes Auge langsam zuschwoll. Als beinahe schlimmer noch empfand sie die Schmerzen verursacht durch die Fesseln an Händen und Füßen, die ihr langsam das Blut abschnürten. Dazu peinigte sie ein ziehender Schmerz im Rückenbereich, wegen der verkrampften, unnatürlichen Haltung. Tausender winziger Nadeln schienen in ihre Wirbelsäule, Arme und Beine zu stechen.

Die seit Monaten andauernde Folter und die Folgen der Mangelernährung hatten ihre Schmerzgrenze empfindlich herabgesetzt. So dass es Rian Onoro so vorkam als würde ihr jeder Schlag mindestens dreimal so weh tun. Doch trotzdem erwies sie sich als ziemlich zäh. Zäher als die meisten anderen Gefangenen, die bisher hier verhört worden waren.

Der Widerstand der Gefangenen brachte Kim Tae Yeon, seit dem Verrat am Terranischen Imperium im Rang eines Majors der Konföderation Deneb, nur noch mehr in Rage. Die Asiatin mit dem feingeschnittenen Gesichtszügen, die nun die perlnachtblaue Uniform der Konföderation trug, ohrfeigte Rian Onoro mehrmals kräftig rechts und links, bevor sie die Gefesselte anschrie: „Glaubst du, ich würde dich nicht brechen! Ich werde dich brechen, du verdammtes Miststück! Rede endlich! Was ist mit den Konstruktionsplänen der NOVA SOLARIS passiert? Wo sind sie? Sprich, ich werde es ja doch erfahren!“

Kraftlos spuckte Rian Onoro ihrer Peinigerin Blut auf die Schuhe. Dann hob sie mühsam den Kopf an und sah Kim Tae Yeon, von unten herauf, geradezu mörderisch an.

„Niemals!“, krächzte die Dunkelhäutige fast heiser.

Kims Hand zuckte nach der Kehle der Gefangenen. Wütend drückte sie immer fester zu, bis der Kopf der Gefesselten vornüber sank.

Schnell legte die Asiatin zwei Finger an die Halsschlagader der Bewusstlosen. Beruhigt stellte sie fest, dass Rian Onoro noch lebte. So schnell sollte sie sich nicht davonstehlen, denn sie war mit dieser Gefangenen noch nicht fertig.

Zwei Unteroffiziere der Konföderation, die wie sie selbst die violetten Bein- Schulter- und Ärmelstreifen des Geheimdienstes an den Uniformen trugen, näherten sich, als Kim ihnen einen Wink gab.

„Bringt dieses Miststück zurück in ihre Zelle. In vier Stunden setzen wir das Verhör fort.“ Damit wandte sie sich ab und verließ den Verhörraum, den sie sich im ehemaligen Strategischen Hauptquartier der Terranischen Raumflotte eingerichtet hatte. Bis zum Überfall der Armada von Deneb waren von hier aus alle militärischen Operationen der Terranischen Raumflotte geleitet worden. Nun lag ein Großteil des Komplexes in Schutt und Asche, denn die Angreifer waren kompromisslos gegen dieses Bollwerk vorgegangen, bis seine Verteidiger, nach hartem Kampf, schließlich kapitulierten.

Ebenfalls in Schutt und Asche lagen mehr als dreißig Prozent der nahegelegenen Stadt Red Sands. Ein unvermeidbarer Kollateralschaden, wie Kim befand. Eilig schritt sie durch die verlassen wirkenden Korridore des Komplexes zu einem der Aufzüge, der sie zu ihrem Büro bringen würde, dass sie sich im oberen Stockwerk eingerichtet hatte.

Kurz nachdem die Truppen der Konföderation die letzten Widerstandsnester auf der Erde, der Venus, dem Mars, und auf Titan zerschlagen hatten, war sie vom derzeitigen Militärgouverneur des Sol-Systems in den Flottendienst der Konföderation aufgenommen worden, so wie es abgemacht gewesen war. Sie hatte dabei auf eine Übernahme im Rang eines Majors bestanden, und so trug sie nun die entsprechenden Insignien am Kragen ihrer neuen, perlnachtblauen Uniform.

Als die Asiatin die Aufzugkabine betrat, rief sie sich ins Gedächtnis, dass die Frau, die sie eben gefoltert hatte, dabei half, den Experimentalkreuzer, NOVA SOLARIS, dem Zugriff der Truppen des Deneb zu entziehen. Sie trug gleichfalls dazu dabei, dass Dean Corvin die Flucht aus dem Sonnensystem hatte glücken können, an Bord des besagten Experimentalkreuzers.

Bei dem Gedanken an den Kanadier trat Kim Tae Yeon wütend, mit dem rechten Fuß, gegen eine der Kabinenwände. Ihre Hoffnung, ihn in die Finger zu kriegen, und im Anschluss daran ebenso foltern zu können wie diese närrische Technikerin, die seit drei Monaten verzweifelt versuchte sich ihr zu widersetzen, war nicht erfüllt worden. Lange aber würde zumindest diese kleine Närrin, die sich in ihren Händen befand, das nicht mehr durchhalten. Ihre Gedanken kehrten unwillkürlich zu dem Geflohenen zurück.

Dean Everett Corvin.

Die Überzeugung, ihn vernichten zu müssen, war bei Kim Tae Yeon, seit er ihre Liebe zurückgewiesen hatte, zu einer fixen Idee geworden. Dabei waren sie, ein Jahr nach dieser Schmach, doch noch zusammengekommen. Allerdings war dieses Zusammensein mit Corvin, zu diesem Zeitpunkt, bereits Teil eines umfassenden Rachefeldzuges gegen ihn gewesen, denn echte Liebe hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr für ihn empfunden. Obwohl es damals einen kurzen Moment der Schwäche gegeben hatte, in dem sie sich ernsthaft fragen musste, ob sie nicht zufrieden mit der Entwicklung sein, und auf die Rache, die sie ihm ein Jahr zuvor geschworen hatte, verzichten sollte.

Diesen Moment hätte sie am liebsten aus ihrer Erinnerung verbannt, doch das konnte sie nicht, worüber sie noch mehr in Wut geriet.

„Ich hasse dich, Dean Everett Corvin!“, schrie sie unbeherrscht. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie nur zu gut, dass das nicht die volle Wahrheit war. Tief in ihrem Innern, an einem Ort, an den sie nicht schauen wollte, regten sich auch andere Gefühle, wenn sie an Dean Corvin dachte. Und sie dachte sehr oft an ihn. Viel öfter, als es ihr lieb war.

Als sie der Lift im obersten Stockwerk entließ stürmte sie durch den Gang zum Schott ihres Büros, legte die Rechte auf den Öffnungskontakt und trat eilig ein, kaum dass sich die beiden Hälften vor ihr geteilt hatten. Leise zischend schloss es sich hinter ihr, doch darauf achtete die Asiatin nicht. Sie schritt eilig hinüber in ihren Arbeitsraum, warf sich in den Sessel, der hinter dem Schreibtisch stand und legte die Arme auf die Tischplatte. Dabei sah sie zum Fenster hinaus.

Draußen erstreckte sich ein teil jener roten Wüste, der diese Stadt ihren Namen verdankte. Sie war das letzte Relikt jener Zeit, als der Mars noch unwirtlich gewesen war. Vor dem Terraformen und der groß angelegten Besiedlung.

Ohne es zu bemerken, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nach einer Weile legte sie die Stirn auf ihre Arme. Rohe, helle Töne drangen aus ihrem Mund, und ihre Schultern zuckte merklich, als sie ihren unterdrückten Gefühlen nachgab.

Dabei jagten sich ihre Gedanken. Nach einem Ausweg aus diesem Gefühlschaos suchend, von dem sie wusste, dass es ihn nicht gab. Dean Corvin würde ihr niemals den Verrat an seiner Heimat verzeihen, dessen war sie sich völlig sicher. Ebenfalls nicht den Verrat an ihm selbst, nachdem sie ihn gezielt verführt und mit ihm geschlafen hatte. Nur um kurz darauf seine Karriere an der Akademie der Terranischen Raumflotte zu torpedieren und empfindlich zu beeinträchtigen. Zumindest bis zum Angriff auf das Sol-System.

Sich etwas zurück beugend, schlang sie Arme um ihren Körper. Ihr Schluchzen wurde eine Spur intensiver dabei, und ihr Oberkörper wiegte sich leicht vor und zurück. Nein, Dean würde ihr niemals verzeihen, und sie ihrerseits würde ihn nicht aus ihren Gedanken bannen können, solange er lebte. Deshalb gab es nur eine einzige Möglichkeit. Sie würde ihn aufspüren und töten müssen. Doch das war einfacher gedacht, als getan. Sie wusste ja nicht einmal, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte.

Gemeinsam mit seinen Freunden und einer Gruppe von Angehörigen der Terranischen Flotte war ihm die Flucht aus dem Sonnensystem gelungen. An Bord eines Experimentalkreuzers. Es gab zwar Hinweise darauf, dass er die NOVA SOLARIS, unter dem Schutz mehrerer terranischer Kreuzer, zum Wega-System gebracht hatte, doch das war bisher nicht vom Geheimdienst der Konföderation bestätigt worden. Er konnte sonst wo sein. Indes glaubte Kim auch nicht recht daran, dass das Imperium dumm genug war, den wertvollen Kreuzer in unmittelbarer Nähe des Sol-Systems zu belassen.

Bei diesem Gedanken straffte sich die Haltung der Asiatin etwas. Sich über die tränennassen Wangen wischend, überlegte sie, dass nach dem Wega-System, das Delta-Cephei-System das am stärksten befestigte terranische System war. Und es lag weitab. Sowohl von Sol, als auch von der Einflusssphäre der Konföderation.

Dort könntest du stecken, überlegte Kim nachdenklich. Sie fingerte dabei nach dem Taschentuch, in der Hosentasche ihrer Uniform, und trocknete ihr Gesicht ab. Danach schnäuzte sie sich und stopfte das Taschentuch wieder in ihre Hosentasche.

Sie besaß nicht genug Macht, Agenten der Föderation dorthin zu beordern.

Noch nicht.

Gedankenverloren spielten die Finger ihrer linken Hand mit dem Rangabzeichen an der linken Seite ihres Kragens. Ein nach innen zeigender, goldener Winkel mit einer kleinen, silbernen Raute im Innern des Winkels. Ein identisch aussehendes, spiegelverkehrtes Pendant prangte auf der rechten Seite des Uniformkragens.

Dabei fiel ihr ein, dass sie einen Mann kannte, der genug Macht besaß, das zu tun, was sie nicht tun konnte. Bei diesem Gedanken hellte sich ihr hübsches Gesicht, dessen glatte Haut an Porzellan erinnerte, zusehends auf. Ein zartes Lächeln huschte über die naturroten Lippen der Koreanerin. Dabei dachte sie: Ich sollte Larenan Farralen, so schnell es geht, einen Besuch abstatten.
 

* * *
 

Mit angezogenen Beinen lag Rian Onoro auf der Seite und betastete vorsichtig ihr Gesicht, wobei sie gelegentlich ein heiseres Seufzen von sich gab. Die Pritsche, auf der ihr geschundener Körper ruhte, war hart und unbequem. Doch das war gegenwärtig ihre geringste Sorge. Ihr gesamter Körper schien eine einzige Schmerzzone zu sein und in ihren Augen war es nur eine Frage der Zeit, bis Kim sie endgültig umbrachte.

Seit nun mehr ungefähr vier Monaten befand sie sich auf dem Mars. Zwar hatte sie längst, bedingt durch die permanente Folter durch diese koreanische Höllenbraut, jegliches Zeitgefühl verloren, doch als Frau besaß sie eine relativ zuverlässige Körperfunktion, durch die sie zumindest die ungefähre Länge eines Monats bestimmen konnte.

Um sich von ihren Schmerzen etwas abzulenken, versuchte sie an etwas zu denken, das sie ablenkte. Wie fast immer bei solchen Ablenkungen richteten sich ihre Gedanken auf Dean Corvin. Jener Offizier der Flotte, mit dem sie, unmittelbar nach ihrem ersten Zusammentreffen, heftig aneinander geraten war. Wie immer an dieser Stelle ihrer Überlegungen korrigierte sie sich in Gedanken. Denn sie waren sich nicht während der gemeinsamen Flucht, an Bord des Frachters KIROV, zum ersten Mal begegnet, sondern bereits über zwei Jahre früher. Beim Akademie-Ball, im Sommer 3218, in Casablanca.

Auf der großen Freitreppe der Festhalle hatte er sie versehentlich angerempelt und bevor er sich dafür bei ihr hatte entschuldigen können, war ein Trottel von Kamerad aus ihrer Einheit dazwischen gefahren. Sie hatte ihn später in einem Saal der Festhalle gefunden, in dem Moment, als eine andere Frau ihn zum Tanzen aufforderte und mit sich auf die Tanzfläche zog. Vermutlich wusste Dean Corvin bis heute nicht, dass sie genau dasselbe vorgehabt hatte. Vielleicht hatte er sie sogar bereits vergessen.

Dieser Gedanke beschäftigte sie, seit ihm und den übrigen Flüchtigen, an Bord der NOVA SOLARIS, die Flucht von Luna geglückt war. Sie hatte zurückbleiben müssen, um diese Flucht möglich machen zu können. Noch wichtiger: Um den Experimentalkreuzer dem Zugriff des Feindes zu entziehen. Dabei hatte sie Dean Corvin geradezu dazu zwingen müssen sie zurückzulassen.

In der Erinnerung an seinen brennenden Blick und an die Berührung seiner Hand an ihrem Oberarm, bevor er sich abwandte und davon eilte, traten Tränen in ihre Augen. Seit diesem Moment tobten widerstreitende Gefühle in ihrem Innern; jedesmal erneut und intensiver, wenn sie an Dean Corvin dachte.

„Dean Corvin, du verdammter Mistkerl!“, krächzte sie wütend, ohne zu wissen warum sie plötzlich diese namenlose Wut auf ihn empfand.

Aus der gegenüber liegenden Zelle, in der ein Techniker mittleren Alters eingesperrt war, kam die ironische Frage: „Ist heute wieder einmal das Verfluchen dieses ominösen Dean Corvin dran? War bereits überfällig, wenn du mich fragst, Rian.“

„Oh ja, dein unqualifizierter Kommentar dazu ist gerade das Letzte, was ich dazu brauche, Karambalos Papadopoulos“, schimpfte Rian Onoro erbost zurück. Im Grunde mochte sie den griechischen Hünen von fast zwei Metern Körpergröße. Während der letzten Wochen und Monate hatten sie sich, Im Zuge ihrer gemeinsamen Gefangenschaft, angefreundet. Was nicht so leicht gewesen war, denn wenn sie sich unterhielten beließen sie es bei Smalltalk oder rein persönlichen Dingen. Ihnen beiden war nämlich klar, dass diese Zellen rund um die Uhr abgehört wurden, und dem Feind irgendwelche Informationen zuzuspielen war das Letzte, was ihnen eingefallen wäre. Darum hatte Papadopoulos nie weitergehende Fragen zu ihrem emotionalen Verhältnis, in Bezug auf Corvin, oder ihre Familie, gestellt. So wenig, wie sie sich ihrerseits erkundigt hatte, ob er Familie besaß.

Auf diese Weise so etwas wie Vertrauen aufzubauen war schwierig. Doch dabei half es, sich auf den Klang der Stimme seines Gegenübers zu konzentrieren. Aus der Wortwahl und dem Tonfall konnte man eine ganze Menge ableiten, auch wenn man sein Gegenüber nicht sah. Vielleicht auch gerade deshalb. Zumindest bildete sich Rian Onoro ein, dass sich in dieser Hinsicht, während der Zeit ihrer Gefangenschaft, eine besondere Begabung dafür bei ihr herausgebildet hatte.

Sie war Karambalos Papadopoulos bisher dreimal kurz auf dem Gang begegnet, wenn man sie zum Verhör abgeholt, oder vom Verhör zurückgebracht hatte. Während ihrer Dienstzeit auf Luna hingegen war sie ihm nie begegnet, soweit sie sich erinnern konnte. Zu Beginn waren mehrere Mitgefangene in den umliegenden Zellen verteilt gewesen. Mit der Zeit waren immer weniger von ihnen zurückgekehrt.

Rian vermutete, dass sie selbst wohl auch längst nicht mehr da gewesen wäre, wenn ihr Körper nicht, aus einem Grund, den sie selbst nicht kannte, stark allergisch auf sämtliche Verhör-Drogen der Konföderierten reagiert hätte.

Beim ersten Verhör hatte man ihr welche verabreicht, und fast wäre sie elendig daran verreckt. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis sie außer Lebensgefahr gewesen, und wieder einigermaßen genesen war. Seitdem wurde sie von Kim Tae Yeon täglich gefoltert.

Major Kim Tae Yeon – die Überläuferin. Die Verräterin am Imperium.

Dean Corvin hatte, in der kurzen Zeit in der sie gemeinsam auf der Flucht vor den Truppen der Konföderation gewesen waren, von Kim gesprochen. Er hatte ihr verraten, dass er kurzzeitig mit der Koreanerin zusammen gewesen war. Während seiner Zeit an der Akademie der Terranischen Raumflotte. Eine Vorstellung die Rian umso mehr anwiderte, je öfter sie darüber nachdachte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ihre Gefühle in Bezug auf Dean Corvin immer wieder auf einen wilden Überlichtflug, mit unberechenbarem Kurs, mit ihr gingen. Sie fragte sich, ob sie ihm möglicherweise insgeheim die Schuld an der gesamten Misere gab, in der sie steckte. War sie vielleicht der Ansicht, dass das Alles nicht passiert wäre, wenn Dean sich Kim gegenüber seinerzeit anders verhalten hätte?

Wie immer an diesem Punkt ihrer Überlegungen verneinte sie. Dean Corvin die Schuld daran zu geben, dass die Konföderation Deneb, zu Beginn des Jahres 3221, in das Sol-System eingefallen war, wäre ziemlich schräg gewesen. Nein, Corvin war, so wie sie selbst, nur ein kleines Rädchen, in der Maschine der Geschichte dieses Universums.

Die dunkelhäutige Frau mit den kurzen Haaren, die jetzt allerdings etwas länger waren als üblich, gab ein leises Stöhnen von sich, als sie sich auf die andere Seite drehte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, die Gedanken an Corvin zu verbannen. Dabei stellte sie einmal mehr fest, dass sie stank. Und ihre Kleidung, die sie seit ihrer Gefangennahme nicht mehr hatte wechseln können, starrte vor Dreck. Man hielt sie wie ein Tier.

Zu Beginn ihrer Gefangenschaft waren Rian Onoro die Tränen gekommen und sie hatte sich jedesmal selbst bemitleidet, wenn sie diese Feststellung hatte treffen müssen. Mittlerweile war sie diesbezüglich weitgehend abgestumpft. Nichtsdestotrotz erschauderte sie bei dem Gedanken, dass sie vielleicht auf dem besten Wege war, diesen erniedrigenden Zustand als normal wahrzunehmen. Noch wehrte sie sich dagegen, doch sie hegte insgeheim die Befürchtung, dass sich das irgendwann änderte.

Tief durchatmend zwang die junge Frau ihre Gedanken in eine andere Richtung. Seit ihrer Gefangennahme hatte Kim Tae Yeon immer wieder von ihr erfahren wollen, was mit den Konstruktionsplänen der NOVA SOLARIS passiert war. Die Koreanerin hätte vermutlich Tränen gelacht, oder vielleicht eher getobt, wenn sie gewusst hätte, dass sie dem Verhör nur deshalb seit Monaten standgehalten hatte, weil sie die Antwort darauf wirklich nicht kannte. In diesem Fall wäre ihr Leben keinen Credit mehr wert gewesen weshalb sie Kim in dem Glauben ließ, sie wüsste es doch.

Rian Onoro wurde abgelenkt, als die Stimme des Griechen wieder über den Korridor hallte. „Schläfst du, oder hast du nur keine Lust auf ein Gespräch?“

„Dir ist schon klar, dass der erste Teil deiner Frage ziemlich blöd ist, weil du keine Antwort darauf bekämst, wenn es der Fall wäre?“

Ein langgezogenes Seufzen des Griechen war die Antwort. „Was mich wirklich brennend interessieren würde, Rian: Wer ist dieser Dean Corvin eigentlich, den du da regelmäßig verfluchst? Den hast du echt gefressen, wie es scheint?“

In ihrer Zelle runzelte Rian Onoro unwillig die Stirn. Karambalos musste doch klar sein, dass sie abgehört wurden. Auf gar keinen Fall würde sie ihm die Wahrheit sagen.

Nach einem Moment rief sie zurück: „Dieser Mistkerl ist die Wurzel allen Übels. Er war der Pilot des Frachters, der mir und einigen Anderen die Flucht aus dem Sol-System ermöglichen sollte. Doch zuerst hat der Kerl mit dem Hobel eine Bruchlandung der Oberfläche von Luna gemacht, und danach ließ er mich einfach zurück, als er mit den anderen floh. Kannst du dir so einen Scheißkerl vorstellen?“

In Gedanken bei Dean Corvin Abbitte leistend, ob dieser wilden Flunkerei, hoffte sie, in einem Anfall von schrägem Humor, seine Ohren würden nicht allzu sehr klingeln, in diesem Moment. Aber viel wahrscheinlicher schien es ihr, dass er stattdessen einen irreparablen Tinnitus bekommen würde.

„Scheint ein richtiger Gewinn für das Imperium zu sein!“, kam die giftige Antwort des Griechen. „Dem würde ich gerne mal im Dunkeln begegnen. Dann würde es aber mal Zack-Wumm gehen, sage ich dir.“

„Ja, das wünsche ich mir auch jeden Tag!“, gab Rian zurück, wobei sie in Gedanken hinzufügte: Aber wohl ganz anders, als du dir das jetzt ausmalst, Karambalos. Doch davon darf ich dir nichts erzählen, denn ich werde Kim ganz bestimmt keine Munition gegen mich in die Hände spielen.

Laut sagte Rian nach einer Weile, in der es still geblieben war: „Es heißt, dass man sich immer zweimal im Leben begegnet. Wenn das stimmt, dann werde ich meine Chance vielleicht noch erhalten, ihm in den Arsch zu treten.“

„Ich halte ihn fest“, versprach Karambalos Papadopoulos und Rian Onoro hielt sich die Hände vor das Gesicht, unter denen sie schmerzhaft das Gesicht verzog. Nicht auszudenken, dass sie das hier vielleicht nicht überlebte und Karambalos eines Tages zufällig auf Dean Corvin traf. Hoffentlich hatte sie da nichts angerichtet, was am Ende einen Unschuldigen traf.

„Du bist ein wahrer Freund“, gab sie schließlich ironisch zurück. „Aber meine Kämpfe erledige ich schon selbst. Du hältst dich da mal ganz raus. Und jetzt gib endlich mal Ruhe, ich will schlafen.“

„Melde mich ab“, spöttelte Karambalos und Rian glaubte so etwas, wie Bedauern, in der Stimme des Mitgefangenen herauszuhören. Aber vielleicht täuschte sie sich auch.

Dabei war gegenwärtig gar nicht an Schlaf zu denken. Einerseits hatte sie noch Schmerzen, die sie davon abhielten und andererseits hatte sie mit Dean Corvin ein Thema angefangen, das ihr für mindestens eine halbe Stunde nicht mehr aus dem Kopf gehen würde. Sie wollte die Gedanken an ihn auch gar nicht wegschieben, sondern mit ihnen für sich sein.

Anfangs, als sie in ihrer Zelle, nach den ersten paar Verhören, an den dunkelblonden Offizier gedacht hatte, da war es jedesmal nur für einen flüchtigen Moment gewesen. Doch je länger sie hier gefangengehalten wurde, desto mehr Einzelheiten an ihn waren in ihr Gedächtnis zurückgekehrt. Plötzlich hatte sie sich wieder an den traurigen Blick seiner blau-grauen Augen erinnert, als er sie zurücklassen musste. Sie hatte die Tränen darin bemerkt, als sie ihn fast hatte anschreien müssen, damit er endlich verschwand, um die übrigen Flüchtigen zu retten und einen Experimentalkreuzer der Terranischen Flotte dem Feind zu entziehen.

Sie hatte sich gleichfalls wieder an seine Sommersprossen erinnert, die sich von den Partien unter seinen Augen über seine markante Nase hinweg zogen. An die blutverkrustete Narbe, einen Finger breit unter seinem rechten Auge, die er sich beim Absturz des Frachters zugezogen hatte, und die ihn recht verwegen hatte erscheinen lassen.

Er war im Grunde, und das seit geraumer Zeit schon, immer bei ihr. In ihren Gedanken – in ihrem Herzen. Dabei waren sie beide, unmittelbar nach dem Absturz der KIROV, ziemlich heftig aneinandergeraten.

Eine Kameradin von Dean war bei dem Absturz gestorben. Sie ihrerseits hatte ihn dennoch, aufgrund der Dringlichkeit ihres Weiterkommens, zur Eile gemahnt. Wenig taktvoll, wie sie im Nachhinein zugeben musste. Doch es war notwendig gewesen.

Im weiteren Verlauf war es dann erneut zu einem kurzen Wortgefecht zwischen ihnen gekommen, jedoch gehörte Dean Corvin nicht zu den Personen, die Anderen lange etwas nachtrugen. Also hatten sie kurz darauf einen Waffenstillstand geschlossen.

Vielleicht hatte sie sein emotionaler Abschied von ihr deshalb so überrascht. Mindestens ebenso sehr überraschte es sie seitdem, dass sie selbst innerlich jedesmal förmlich vibrierte, wenn sie an Dean Corvin dachte.

Er ging ihr mittlerweile nicht mehr aus dem Kopf, und mehr noch: Diese Gedanken an den Kanadier hielten sie aufrecht. Die Gedanken an ihn gaben ihr die Kraft weiterzumachen. Darum versuchte sie schon längst nicht mehr, wie es zu Beginn ihrer Gefangenschaft der Fall gewesen war, die Gedanken an ihn zur Seite zu schieben. Im Gegenteil, sie versuchte sie, so wie in diesem Moment, sehr oft, geradezu krampfhaft, festzuhalten.

Was ihr dabei gleichzeitig jedesmal einen kleinen Stich versetzte war die Überlegung, dass Corvin sie möglicherweise längst aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte. Das konnte, nein das wollte, sie sich zwar nicht vorstelle, doch es wäre immerhin möglich gewesen. Darum kamen manche Flüche auf ihn auch aus tiefstem Herzen. In jenen schwachen Momenten, in denen sie fast verzweifelte, bei diesem Gedanken.

Doch bisher hatte dann die Erinnerung an seinen letzten Blick und an seine sanfte Berührung, bevor er in der hoch geheimen Luna-Werft fort gerannt war, ausgereicht, um diese dunklen Überlegungen in ihr nicht zu stark werden zu lassen.

Er hatte ihr vor vier Monaten versprochen wiederzukommen und sie abzuholen. Doch wie wollte er das bewerkstelligen? Er war nur ein kleiner Oberleutnant im Dienst der Flotte und er gehörte nicht einmal zum Fliegenden Personal. An Wunder glaubte sie nicht – und dennoch war da etwas in seinen Worten gewesen; eine Überzeugung, das was er ihr in dieser verzweifelten Situation versprochen hatte, einhalten zu können. Etwas, das sie unbedingt glauben wollte. Auch wenn sie wusste wie gering die Wahrscheinlichkeit dafür war. Viel wahrscheinlicher war es, dass sie einander niemals wiedersehen würden.

Dieser Gedanke schmerzte sie beinahe mehr, als die vorangegangene Folter.

Rian Onoro drehte sich wieder herum und biss die Zähne zusammen um das wehe Gefühl in ihrem Magen nicht nach oben steigen zu lassen. Die Beine leicht angezogen umschlang sie mit den Armen ihren Unterleib. Sie schloss ihre Augen und versuchte, an gar nichts zu denken. Bald schon würde man sie erneut zum Verhör abholen, so viel war sicher. Dabei galten ihre letzten bewussten Gedanken Dean Corvin, der sich momentan sicherlich viele hundert Lichtjahre von diesem Ort entfernt in Sicherheit befand, und zum ersten Mal seit Wochen rannen wieder heiße Tränen über ihre Wangen.

Sie wäre vermutlich ziemlich erstaunt gewesen, hätte sie gewusst, dass Dean Everett Corvin, in exakt diesem Moment, weniger als zwei Lichtjahr vom Sol-Systems entfernt war.

Aufbruchstimmung


 

3.
 

Aufbruchstimmung
 

Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck trat Hauptmann Kimi Korkonnen aus dem Quartier der Kommandantin der VESTERGAARD, auf den Gang hinaus. In Richtung des Kommandozentrums des Leichten Kreuzers schreitend, rief er sich nochmal ihre lobenden Worte in Erinnerung. Außerdem hatte er dabei endlich erfahren, wohin die Reise des Kreuzers ging. Bisher hatte die Kommandantin es für ratsam gehalten, das Ziel des Fluges nicht preiszugeben. Erst vor wenigen Minuten hatte sie ihn eingeweiht und ihm erlaubt, das Ziel auch der Besatzung der Zentrale bekanntgeben zu dürfen.

Seit nun knapp vier Monaten diente Kimi Korkonnen, als Erster Offizier, auf diesem Leichten Kreuzer der Neunten Terranischen Raumflotte. Noch vor dem Ende der Kämpfe mit der Konföderation Deneb um das Delta-Cephei-System, in dem die Neunte, die Vierte, und die Achte Flotte seitdem dauerhaft stationiert waren, war der Wechsel erfolgt.

Fast genauso lange hatte er seinen besten Freund, Dean Corvin, nicht mehr gesehen, und für eine Unterhaltung via Hyper-Kom waren die Plejaden zu weit von Delta-Cephei entfernt. Zumindest für die Funkanlage des Leichten Kreuzers. Größere planetare Anlagen überbrückten diese Entfernung leicht. Noch weiter von dort entfernt war das Wega-System, in dem sich vermutlich immer noch Andrea und Jayden, an Bord der SATURN, befanden.

Auf dem Gesicht des Finnen bildeten sich Sorgenfalten, als er an Miriam dachte. Miriam Rosenbaum, seine Freundin, die sich vermutlich ebenfalls im Wega-System aufhielt. Sie hatte, unmittelbar vor dem Angriff der Konföderation Deneb auf das Sol-System, jene Strahlung entdeckt, die für das Versagen sämtlicher Funkanlagen, Ortungsgeräte und Zielscanner der Imperialen, innerhalb des Systems, verantwortlich gewesen war. Doch diese Entdeckung war leider zu spät erfolgt, um das Sol-System retten zu können. Es befand sich nun in Feindeshand, und ein Gegenschlag kam nicht in Frage, bevor es keine Möglichkeit gab die neu entwickelte Störsender-Technologie zu neutralisieren.

Nun zu wissen, dass sich die VESTERGAARD dem Wega-System gegenwärtig mit jeder Stunde die verstrich um rund vier Lichtjahre annäherte, war der zweite Grund, weshalb sich auf dem Gesicht des Finnen Zufriedenheit abzeichnete.

Korkonnen bog in einen Seitengang ab, der direkt zum Kommandozentrum führte. Dabei mutmaßte er, anhand der Informationen seiner direkten Vorgesetzten, dass die VESTERGAARD für mindestens eine Woche auf einem der drei bewohnten Planeten des Wega-Systems zwischenlanden würde. Der Leichte Kreuzer der Neunten Flotte sollte nämlich nicht nur wichtige Depeschen zum Sektoren-Kommandanten des Systems bringen, sondern im Anschluss in Richtung des Sol-Systems vorstoßen, um dort einerseits Aufklärungsarbeit zu leisten, und andererseits einen Rückzug des geplanten Stoßtrupps der Farradeen-Allianz, in Richtung des Wega-Systems, zu decken.

Beim Gedanken daran, welches Kriegsschiff dieses geplante Kommandounternehmen durchführen würde, wusste Korkonnen nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Denn sein bester Freund war mit von der Partie und ihn in Gefahr zu wissen gefiel ihm nicht.

Kimi Korkonnen erreichte das Schott zur Zentrale des Leichten Kreuzers und legte seine Hand auf den Impulsgeber. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wurden seine Handabdrücke abgetastet, die Individualschwingung seiner Zellkerne gemessen, und diese Daten mit den im Bordcomputer gespeicherten Referenzdaten abgeglichen. Fast ohne Zeitverlust erkannte die Automatik, dass Korkonnen berechtigt war, das Kommandozentrum zu betreten. Mit leisem Zischen glitten die beiden Hälften des Panzerschotts zur Seite.

Für Korkonnen war das Ganze eine Routinehandlung, über die er sich keinerlei Gedanken machte. Ganz selbstverständlich betrat er das Kommandozentrum des Kreuzers und begab sich zum Sessel des Kommandanten, denn genau das war sein Platz wenn sich Major Ayasha Umm Qasr at-Tabari bint Amana Saif ad-Dīn nicht hier aufhielt.

Zuerst waren sich Korkonnen und Ayasha Saif ad-Dīn gegenseitig ziemlich fremd vorgekommen, doch inzwischen verstanden sie sich ganz gut. Während Korkonnen nach einigen Wochen erkannt hatte, dass die tief religiöse Araberin durchaus einen guten Blick für Realitäten besaß, hatte die Kommandantin der VESTERGAARD inzwischen herausfinden können, dass der Finne kein emotionsloser Eiswürfel war, wie sie zu Beginn seines Hierseins zunächst angenommen hatte.

Der Finne schmunzelte unmerklich bei diesem Gedanken, während er sich an den Navigator und gleichzeitig Zweiten Offizier der VESTERGAARD, Oberleutnant Gajus Lakarius, wandte. „Wie ist unsere momentane Position, Oberleutnant Lakarius?“

Der gerade einmal 1,67 Meter große, dürre Mann, der hinter dem Sessel seiner Navigations-Konsole stand, sah zu seinem Vorgesetzten und meldete mit heller Stimme: „Der Verband befindet sich gegenwärtig noch zwanzig Lichtjahre vom Wega-System entfernt. In guten fünf Stunden werden wir die Bahn des zweiundvierzigsten Planeten des Systems überfliegen, Hauptmann. Zumindest, wenn der Verband seinen Kurs beibehält.“

Kimi Korkonnen grinste schwach, bei der unausgesprochenen Frage des Zweiten Offiziers. Natürlich wollten alle an Bord wissen wohin ihre Reise führte.

„Danke, Oberleutnant Lakarius. Der Kurs wird nicht geändert werden, denn genau dort liegt unser vorläufiges Ziel. Bitte nehmen Sie wieder ihren Platz ein.“

Während der Kleinwüchsige Korkonnens Befehl Folge leistete, wobei er sich ein Lächeln erlaubte, setzte sich der Finne in den Sessel des Kommandanten. Etwas, dass andere Offiziere des Kreuzers vermieden, wenn sie stellvertretend das Kommando führten. Es gehörte, seit der offiziellen Gründung der Terranischen Raumflotte, im Jahr 2400, zum guten Ton der Flotte, dass sich nur der Kommandant und sein Erster Offizier im Sessel des Kommandanten niederließen.

Möglicherweise, so überlegte Korkonnen, hatte sich Irina Hayes deshalb so vehement dagegen gesträubt, im Kommandantensitz der NOVA SOLARIS Platz zu nehmen, als Dean sie damals nachdrücklich dazu aufgeforderte. Während unserer Flucht von Luna. Die Folge einer sehr verstaubten Tradition, die mehr als achthundert Jahre überdauert hat.

Kimi Korkonnen bemerkte die vielsagenden Blicke unter den Anwesenden in der Zentrale und er räusperte sich leicht. Dabei schweiften seine Gedanken ab. Er wusste, dass die NOVA SOLARIS in diesem Moment bereits ebenfalls unterwegs sein würde, und er konnte nur hoffen, dass sein Freund, und die Kameraden, die er auf dessen Kreuzer hatte, das ganze Unternehmen, von dem er nur einen Bruchteil kannte, gut überstehen würden.

Dabei war es nicht etwa so, dass er den Fähigkeiten seines besten Freundes, der im Grunde weit mehr für ihn war, als ein Freund, nicht vertraut hätte. Es war viel eher die Sorge um Dean, den er als eine Art Bruder ansah, und mit dem er sich mindestens ebenso verbunden fühlte, wie er sich seiner leiblichen Schwester, Famke, verbunden fühlte.

Famke weilte in diesem Moment vermutlich auf der Erde – einer Erde, die vor vier Monaten von der Konföderation Deneb erobert worden war. So, wie seine gesamte Familie, und die Familien von Jayden, Miriam und Rodrigo. Dean besaß keine lebenden Verwandten auf Terra und die gesamte Familie von Andrea war, durch den Absturz eines Schlachtkreuzer-Wracks, direkt in jene Gegend Europas in der sie gelebt hatte, umgekommen.

Terra war seit Beginn dieses Jahres vom Feind besetzt. Hauptsächlich wegen eines neuartigen Ortungs-Störsystems, gegen das es gegenwärtig für das Imperium und dessen Verbündete kein Mittel gab. Was letztlich der Grund für das Unternehmen war, bei dem die NOVA SOLARIS die Hauptrolle spielen sollte.

Kimi Korkonnen sah zwischenzeitlich auf, rief die Statusmeldungen der einzelnen Abteilungen des Raumschiffes ab und blickte dann auf den großen Bildschirm, der einige Meter vor den Kontrollkonsolen des Kommandozentrums beinahe die gesamte Stirnwand einnahm. Im Moment war darauf lediglich leicht wallendes Rot, durchzogen von einem etwas helleren, orangeroten, sehr filigranen Netzmuster zu sehen. Ein Zeichen dafür, dass der Hyperraum an dieser Stelle des Kosmos gefahrlos durchflogen werden konnte.

Gewisse Ereignisse oder kosmische Objekte im Normalraum wirkten sich hingegen unmittelbar auf den Zustand des Hyperraums aus. So war es eine allgemein bekannte Tatsache, dass Magnetstürme dafür sorgten, dass es im Hyperraum so etwas wie Wetterfronten gab. Diese Frontensysteme zeichneten sich im Hyperraum durch einen gelben Farbton aus. Objekte, wie Planeten oder Sterne beeinflussten den Hyperraum noch nachhaltiger. In ihrer näheren und weiteren Umgebung verfärbte sich der Hyperraum grün, blau, oder gar violett, wobei es nicht ratsam war, grüne oder blaue Zonen zu durchfliegen. In violetten Bereichen wurde ein Hyperraumflug so gut wie unmöglich. Dort verhinderten die auftretenden Scherkräfte nebenbei sogar den Übergang vom Einstein-Raum in den Hyperraum. Im Hyperraum selbst befindlich, konnte man zwar theoretisch in einen violetten Bereich einfliegen, doch das Leben der betreffenden Besatzung wäre in einem solchen Fall keinen Credit mehr wert gewesen.

Neben den Frontensystemen im Hyperraum gab es dort gleichfalls Bereiche, in denen es sogenannte Strömungen gab. Diese waren dazu in der Lage die maximale Überlicht-Geschwindigkeit von 4,23 Lichtjahren pro Stunde, trotz voller Beschleunigung, entweder herabzusetzen, oder aber, wenn man sich mit der Strömung bewegte, zu erhöhen.

Kimis Mundwinkel verzogen sich bei dem Gedanken daran. Während seiner Zeit an der Akademie waren er und seine Kameraden, im Simulator, diesen Verhältnissen ausgesetzt worden. Dabei hatte er gar nicht schlecht abgeschnitten. Doch es war Dean gewesen, der beinahe eine Art siebten Sinn für die Verhaltensweisen solcher Verhältnisse entwickelte. Mochte er auch in Mathematik seine Defizite haben, für das Fliegen von Raumschiffen war Dean geradezu wie geschaffen. Das hatten selbst seine Ausbilder zugeben müssen.

Kimi Korkonnen seufzte unterdrückt. Er fragte sich, wann er Dean wiedersehen würden. Aber zumindest hatte er demnächst vielleicht die Gelegenheit Miriam und vielleicht auch Andrea und Jayden zu sehen. Das hoffte er sehnsüchtig. Vielleicht sollte er Miriam, falls er sie tatsächlich zu sehen bekam, gleich einen Heiratsantrag machen. Auch wenn Sehnsucht keine Basis für eine Ehe war – das würde einem von ihnen beiden die Gelegenheit geben, sich zeitnah in die Nähe des Anderen versetzen zu lassen.

Für einen Moment grübelte Korkonnen über das Für und Wider. Zwar fand er den Gedanken fürchterlich, hauptsächlich aus diesem Grund eine solche Hau-Ruck-Aktion in Erwägung zu ziehen, doch andererseits liebten sie sich. Vermutlich würden sie es ohnehin irgendwann tun. Warum also nicht gleich, und dadurch einer längeren Trennung vorbeugen?

Korkonnen verwarf schließlich den Gedanken daran, denn immerhin hatte dabei Miriam auch noch ein Wörtchen mitzureden. Möglicherweise würde sie total ausflippen, wenn er ihr mit dieser Idee kam. Darüber hinaus gefiel ihm der Gedanke daran, dass Dean in diesem Fall möglicherweise nicht dabei sein konnte, ganz und gar nicht.

„Die verdammten Konföderierten Deneb soll der Teufel stückweise holen“, murmelte der Finne, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass die Besatzung der Zentrale ihm zuhörte.

„War das ein Befehl, Hauptmann?“, erkundigte sich Gajus Lakarius spitzfindig und sah über die Schulter hinweg amüsiert zu ihm.

Anfangs hatte ihm Korkonnen für ähnliche Bemerkungen einige lange Blicke zugeworfen. Bis er erkannte, dass das nicht böse gemeint, sondern einfach der Humor dieses körperlich so unscheinbaren Mannes war.

Weil Kimi Korkonnen dies also wusste, konterte er in demselben Tonfall: „Ja, Oberleutnant, und ich bin, offen gestanden, ernsthaft enttäuscht darüber, dass noch keiner meinen Befehl ausgeführt, und die Bande zum Teufel gejagt, hat.“

Die Crew ihrerseits kannte Korkonnen ihrerseits mittlerweile gut genug um zu wissen, wie diese Bemerkung zu bewerten war. Lakarius erlaubte sich ein Grinsen, der weibliche Leutnant an der Steuerung hustete verdächtig laut und zwei Feldwebel an der Ortung und den Maschinenkontrollen, sowie der Waffenoffizier, beherrschten sich so mustergültig, dass Korkonnen offen in deren Richtung grinste, bevor er sich wieder sammelte und übertrieben streng meinte: „Ich bitte um die nötige Disziplin, meine Damen und Herren.“

Dabei erhob sich Korkonnen aus dem Kommandantensitz und schritt langsam die einzelnen Konsolen ab. Er hielt es nie lange auf dem Sessel des Kommandanten aus und er hätte etwas dafür gegeben jetzt an Stelle von Gajus Lakarius zu sein. Dieses scheinbare Nichtstun als Stellvertretender Kommandant lag ihm nicht so sehr. Viel lieber war es ihm, wenn die Kommandantin anwesend war, und er den Kreuzer navigieren durfte. Doch diesen Luxus leisteten sie sich nur selten. Damit die Kommandantin und er nicht rund um die Uhr Dienst schieben mussten, wechselten sie sich zwangsläufig während der meisten Zeit dabei ab, den Kreuzer zu kommandieren.

Der Finne wusste dabei, wie ungerecht es gewesen wäre, sich über seinen momentanen Posten zu beschweren, denn er war immerhin der Flotte beigetreten um irgendwann ein eigenes Kommando zu haben. Jetzt tat er genau den Dienst, den ein Kommandant verrichtete, und er beschwerte sich in Gedanken. Das war schon etwas schräg.

Natürlich war Korkonnen klar, dass er sich im Grunde nicht über seinen momentanen Posten beschwerte, sondern darüber, von den Leuten getrennt zu sein die ihm etwas bedeuteten. Oder auch weit mehr, als nur etwas.

Hinter dem Zweiten Offizier blieb der hochgewachsene Blonde stehen und sah ihm eine Weile über die Schulter, bevor er so leise, dass nur der Oberleutnant ihn verstehen konnte, sagte: „Ich weiß es zwar nicht mit Sicherheit, aber die Kommandantin deutete vorhin an, dass die VESTERGAARD für rund eine Woche auf einem der Wega-Planeten zwischenlanden wird, bevor wir weiterfliegen. Vielleicht gibt es ja Urlaub.“

Ebenso leise raunte der dürre Mann zurück: „Das wäre etwas. Ich denke, dass wir in weniger als fünf Stunden erfahren werden, ob Sie Recht haben.“
 

* * *
 

„Natürlich habe ich Recht.“

Jayden Kerr sah seine Verlobte überzeugend an und fügte hinzu: „Ich habe die Information, dass ein Verband der Neunten Flotte schon bald hier eintreffen soll, nämlich von Major Saranya Yokida persönlich. Die war noch nie dafür bekannt, falsche Gerüchte in Umlauf zu bringen. Das weißt du.“

Andrea von Garding erwiderte den Blick des Jamaikaner forschend. Seine dunklen Augen mit ihrem Blick fixierend erkundigte sie sich dann, etwas mürrisch weil er sie aus dem Schlaf geweckt hatte: „Und was daran ist nun so weltbewegend?“

Der fast immer gut gelaunte, dunkelhäutige Mann genoss einen Moment lang die Spannung, bevor er antwortete: „Eigentlich nichts, wenn man von der Tatsache absieht, dass der Richtspruch, den der Leichte Kreuzer VESTERGAARD kürzlich abstrahlte, von einem gewissen Hauptmann Kimi Korkonnen aufgegeben wurde.“

Die blauen Augen der rotblonden Frau weiteten sich langsam immer mehr. Für eine ganze Weile sah sie ihren Verlobten nur an, bevor sie ungläubig erwiderte: „Du glaubst wirklich, dass das unser Kimi ist? Du hast doch eben selbst gesagt, es wäre ein Hauptmann Kimi Korkonnen. Aber unser Kimi kann doch unmöglich bereits Hauptmann sein. Bis vor Kurzem konnte er noch froh sein, dass man ihn überhaupt vom Leutnant zum Oberleutnant befördert hat. Hm, ob das vielleicht ein Namensvetter ist? Ich sage dir, das kann gar nicht unser Kimi sein, denn in dem Fall stimmt irgendwas in dieser Flotte nicht mehr. Außerdem sagte Dean, als er im Januar kurz hier war, er und Kimi wären auf der NOVA SOLARIS.“

Jayden Kerr, der neben Andrea auf der Bettkante, im Schlafraum ihres Gemeinschaftsquartiers, hockte das sie an Bord der SATURN bewohnten, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Nasenspitze. „Und du denkst, das hätte sich in den letzten vier Monaten nicht signifikant ändern können? Da wird die momentane Oberkommandierende, General Mbena, vielleicht andere Pläne gehabt haben, als den, Kimi und Dean auf demselben Kreuzer zu belassen.“

Andrea, die sich etwas beruhigte, gab besänftigend zurück: „Ich wünschte mir ja auch, dass er es ist. Ich will nur nicht, dass wir uns falsche Hoffnungen machen, und am Ende ist es ein ganz anderer Typ, der den Spruch abgeschickt hat.“

Jayden streichelte sanft die Wange der jungen Frau. „Das ist meine Andrea – immer dazu bereit den Sieg in eine Niederlage zu verwandeln. Komm schon, ich spüre einfach, dass es unser Kimi ist. Völlig unmöglich, dass innerhalb der Neunten Flotte noch irgendwer einen so abgedrehten Namen hat. Wie absurd wäre das denn?“

Andrea gab Jayden einen herzhaften Schlag mit der flachen Hand gegen die Brust. Dabei meinte sie kapitulierend: „Ich gebe es auf. Weißt du, dass du manchmal ziemlich auf die Nerven gehen kannst?“

„Früher hast du das geliebt.“

Die Augen der jungen Frau funkelten ironisch. „Wann war dieses Früher?

Jayden Kerr beugte sich zu Andrea hinab und gab ihr einen langen Kuss. Flüsternd sagte er, nach einer Weile: „Warum ich überhaupt hier bin habe ich dir noch gar nicht sagen können. Die SATURN ist auf Wega-IX gelandet. Für die gesamte nächste Woche wird sie auf dem Raumhafen der HARRISON-CROENEN-BASIS liegen, um Nachschubgüter und Ersatzteile an Bord zu nehmen. Wir zwei haben Urlaub. Eben vom Ersten Offizier genehmigt.

Mit einem Mal war Andrea hellwach. „Urlaub? Aber das ist ja toll. Wann hast du den denn für uns eingereicht?“

Jayden grinste breit. „Gleich, nachdem ich von der Landung erfuhr. Ich dachte mir, dass wir etwas natürliche Gravitation und etwas frische Luft gut gebrauchen könnten. Außerdem war ich noch nie auf Wega-IX.“

Der Jamaikaner legte schnell seine Uniform ab und schlüpfte zu seiner Verlobten unter die Bettdecke. Mit einem zufriedenen Brummen nahm er sie in seine Arme und sah, etwas ernster als zuvor, in ihre Augen. „Vielleicht kommst du dabei auf andere Gedanken. In den letzten Monaten warst du so in dich gekehrt und betrübt, wegen der Ereignisse auf der Erde. Ich wünschte, ich könnte dir in deinem Schmerz noch besser zur Seite stehen.“

Die energische Frau küsste ihn sanft auf die Wange und auf die Lippen. „Aber du tust bereits, was du kannst, Jayden. Du bist für mich da, und darüber bin ich sehr glücklich. Ohne deine Nähe, deine Liebe und deine Fürsorge wäre der Tod meiner Familie noch viel unerträglicher und ich wäre bestimmt daran zerbrochen.“

Sie küssten sich erneut.

Nachdem Andrea den Jamaikaner wieder freigegeben hatte, sah sie ihn entschlossen an und streichelte sanft seine Wange. „Lass uns heiraten, Jayden. Nicht gleich in der nächsten Woche, aber bitte noch in diesem Jahr.“

Unglaube stand im Gesicht des sonst stets heiter und unbekümmert wirkenden Mannes. Sie hatten sich zwar zu Weihnachten, letzten Jahres, verlobt, doch über eine Heirat noch nie wirklich gesprochen. Bisher zumindest. Nach der Hiobsnachricht, die Dean Corvin ihr zu Beginn dieses Jahres überbrachte hatte er das Thema auch nie ernsthaft in Betracht gezogen, denn zuerst einmal musste Andrea mit ihrer Trauer über den Verlust ihrer Verwandten klarkommen. So hatte er zumindest bisher gedacht. Er freute sich zwar darüber, dass Andrea dieses Thema nun ansprach, aber dennoch hatte er gleichzeitig auch Angst davor, dass das nur eine Gegenreaktion auf den erlittenen Verlust sein könnte. Darum schwieg er einen Moment lang und erkundigte sich dann vorsichtig: „Bist du dir, in Hinsicht auf deine momentane Gefühlslage, ganz sicher, dass du das möchtest?“

In den blauen Augen der Frau zeichnete sich Verstehen ab. Ihre Gesichtszüge wurden um eine Spur weicher, als sie leise erwiderte: „Ich weiß, welche Gedanken dir jetzt gerade durch den Kopf gehen und ich würde an deiner Stelle auch gewisse Vermutungen anstellen, Jayden. Aber das ist kein Wunsch, der erst nach der Botschaft von Dean in mir entstanden ist sondern bereits da war, als wir uns verlobten. Wir sind jetzt seit gut vier Jahren zusammen und ich bin mir ganz sicher, dass ich mein Leben an deiner Seite verbringen will. Mehr, als jemals zuvor.“

Jayden Kerr zog seine Verlobte, unter der Decke, ganz eng zu sich heran und strahlte glücklich. Heiser sagte er: „Das wünsche ich mir auch, mein Engel. Sehr sogar.“

Sie kuschelten miteinander, und erst nach einer Weile bemerkte Jayden, dass die Umarmung seiner Verlobten schwächer geworden war. Dafür ging ihr Atem nun langsam und gleichmäßig.

Eingeschlafen, dachte der Jamaikaner amüsiert. Er nahm es als gutes Zeichen, denn nur allzu oft war Andrea, während der letzten Monate, aus einem unruhigen Schlaf schreiend aufgewacht. Sie jetzt so friedlich in seinen Armen liegen zu sehen und so ruhig schlafend zu erleben erfüllte ihn mit einer gewissen Erleichterung.

Nachdem Andrea vom Tod ihrer Familie erfahren hatte, da hatte er sich ernsthafte Sorgen um den seelischen Zustand der Frau gemacht, die er über alles liebte. Zumal sie anfangs jede professionelle Hilfe abgelehnt hatte. Doch er hatte Andrea schließlich, beharrlich bleibend, davon überzeugen können, die Bord-Psychologin aufzusuchen. Danach, das hatte sie schnell selbst zugegeben, war es ihr leichter gefallen, mit dem Verlust umzugehen und sie hatte nach einer Weile damit angefangen, ihn innerlich zu verarbeiten. Dabei hatte er sie, wo immer es ging, unterstützt.

Aber nicht nur er, sondern gleichfalls seine Vorgesetzten, die ihre Dienstpläne so abgefasst hatten, dass sie gemeinsam Dienst taten. Bis vor einer Woche jedenfalls. Wofür Jayden seinen Vorgesetzten unendlich dankbar war. Vermutlich hatte der Erste Offizier auch deswegen die Urlaubsanträge so schnell durchgewunken.

Andrea beinahe übervorsichtig in seinen Armen haltend und ihren Kopf sanft auf seine Schulter bettend, schweiften seine Gedanken ab.

Es schien Jayden Kerr etwas bizarr, dass drei der ältesten und bedeutendsten Kolonial-Planeten niemals Eigennamen bekommen hatten. Man hatte sie schlicht durchnummeriert und sie Wega-VII, Wega-VIII und Wega-IX genannt.

Der neunte Planet des Wega-Systems umkreiste seinen bläulich-weißen Zentralstern dabei in einem mittleren Abstand von 8,1 Astronomischen Einheiten. Beginnend mit dem Jahr 2335 war Wega-IX, zeitgleich mit Wega-VII und Wega-VIII, von Terranern besiedelt worden. Mit einem Durchmesser von 11.893 Kilometern war Wega-IX der zweitgrößte der drei besiedelten Welten des Wega-Systems. Zu Beginn seiner Besiedlung, so wusste Jayden Kerr, hatte dieser Planet nur knapp 17 Prozent Sauerstoffanteil besessen. Im Laufe der nächsten einhundert Jahre war dieser Anteil, durch atmosphärisches Terraforming, langsam auf rund zwanzig Prozent angehoben worden. Diese lange Zeitspanne wurde seinerzeit deshalb gewählt, um der natürlichen Flora und Fauna des Planeten eine nicht zu abrupte Anpassung zu ermöglichen. Hier herrschten, für Menschen, sehr angenehme Lebensverhältnisse. Mit einer Eigenrotation von 25,2 Stunden Terra-Standard und einer mittleren Temperatur von zwanzig Grad Celsius ähnelte er sehr stark Terra.

Etwa 76 Prozent der planetaren Oberfläche bestanden aus Wasser. Die Landmassen verteilten sich auf einen großen, und vier deutlich kleinere, Kontinente. Nur etwas weniger als ein Prozent entfiel dabei auf die kleinen Inseln des Planeten.

Momentan lebten rund 3,9 Milliarden Menschen auf diesem Planet.

Die Sektion-Wega, eine der zwölf Sektionen der Terranischen Raumflotten-Akademie, lag auf einem der vier kleineren Kontinente, in der klimatisch gemäßigten Zone der planetaren Nordhalbkugel. Außerdem unterhielt die Terranische Raumflotte mehrere große Basen auf dem Hauptkontinent, auf dem auch die HARRISON-CROENEN-BASIS lag.

Die industrielle Kapazität dieses Planeten lag, seit etwa einhundert Jahren, sogar höher, als die von Terra. Allein dies zeigte die Wichtigkeit dieser Welt, innerhalb des Terranischen Imperiums, auf. Um die natürlich auch die Konföderation Deneb wusste. Deshalb galt dieses System auch als ein vordringliches strategisches Ziel, weshalb es kaum verwunderte, dass die Flottenkonzentration hier, seit dem Überfall auf das Sol-System, massiv zugenommen hatte.

Permanent flogen Kriegsschiffe an den Grenzen des Systems Patrouille und die Werften der Terranischen Flotte produzierten gegenwärtig mit einhundert Prozent Auslastung. Seit Monaten wurde dieses System zu einer Festung ersten Ranges ausgebaut und es war nur eine Frage der Zeit, nach Kerrs Ansicht, wann der Feind sie auch hier heimsuchte.

Das zweite strategisch wertvolle Ziel war das Delta-Cephei-System. Natürlich hatten er und Andrea mittlerweile davon gehört, dass dort, wenige Wochen nach dem Überfall auf die Erde, ebenfalls eine Raumschlacht, zwischen der Konföderation und dem Imperium, stattgefunden hatte. Gerüchten zufolge sollte die Farradeen-Allianz, auf Seiten des Imperiums ebenfalls daran beteiligt gewesen sein. Falls dies stimme, so war das ein Lichtblick in diesem Krieg, was Kerr betraf. Als Alliierte konnten beide Sternenreiche der Konföderation Deneb ganz bestimmt Paroli bieten. Zumindest seiner Einschätzung nach.

Er und Andrea hatten aufmerksam die nachfolgenden Verlustlisten studiert, doch die Namen ihrer Freunde waren zu ihrer Erleichterung nicht darauf zu finden gewesen. Also hatten sie die Freunde weiterhin bei Delta-Cephei vermutet. Doch nun schien es so, als befände sich mindestens einer von ihnen nicht dort, sondern bald schon in ihrer Nähe.

Hauptmann Kimi Korkonnen, sinnierte Jayden Kerr und fragte sich dabei, ob das wirklich der Freund sein konnte. Hauptmann. Sollte das wirklich unser Kimi sein, was zur Hölle ist dann bloß bei Delta-Cephei passiert?

Der Jamaikaner schüttelte diese fruchtlosen Grübeleien schnell ab. Vielleicht waren er und Andrea schon bald schlauer, sobald die VESTERGAARD im System eingetroffen war. Vorsichtig hob er seinen linken Arm und sah auf das Chrono-Feld seines MFA. Dabei gab Andrea ein schwaches Seufzen von sich und kuschelte sich, im Schlaf, enger an ihn.

Jayden sah in ihr entspanntes Gesicht und dachte dabei glücklich: Ja, ich will.
 

* * *
 

Zufrieden lächelnd sah Kimi Korkonnen, auf dem Bildschirm der Zentrale, wie sich die VESTERGAARD der Oberfläche des neunten Wega-Planeten immer weiter annäherte. Vor einem Moment hatte der Leichte Kreuzer die Zehntausend-Meter-Marke unterschritten.

Jetzt wieder an den Kontrollen der Navigationskontrollen sitzend, warf er einen kurzen Blick nach Rechts, wo Leutnant Renée Killkennen, eine waschechte Irin, an den Kontrollen der Steuerung des Kreuzer saß. Ruhig und konzentriert flog sie den Kreuzer in den Bereich des Landeleitstrahls und folgte ihm, mit der Präzision einer gut ausgebildeten Pilotin der Terranischen Flotte.

Die Zufriedenheit des Finnen rührte dabei daher, dass es, nach der Landung auf dem Raumhafen der Flottenbasis, tatsächlich Urlaub gab für den Großteil der Besatzung. Ganze zehn Tage, wobei sich Korkonnen und die Kommandantin des Kreuzers diese zehn Tage normalerweise geteilt hätten. Der Nachteil, wenn man einen führenden Posten auf einem Raumschiff inne hatte.

Doch der Zweite Offizier hatte ihm freiwillig angeboten, seine fünf Tage Dienst an Bord zu übernehmen, unter der Voraussetzung, dass Korkonnen das nächste Mal für ihn übernehmen würde. Auf dem Flug hierher hatte Korkonnen dem Oberleutnant davon erzählt, dass er vielleicht die Chance haben würde, hier seine Freundin wiederzusehen. Dennoch kam das sehr großzügige Angebot seines Kameraden unerwartet. Umso mehr hatte er sich darüber gefreut und er war dem Zweiten Navigator der VESTERGAARD sehr dankbar dafür.

„Wir haben Landefreigabe für Sektion VII-015“, meldete Leutnant Marius Wolf, der Kommunikationsoffizier des Leichten Kreuzers.

„Danke!“, bestätigte Major Saif ad-Dīn. Etwas leiser murmelte die schlanke Araberin, mit der markanten Adlernase: „Die haben sich aber ganz schön Zeit gelassen, wenn man bedenkt, dass der Landeleitstrahl bereits aktiviert wurde.“

„Unser Schiff liegt exakt auf Kurs, Major“, gab Kimi Korkonnen Auskunft. „Die VESTERGAARD steigt mit gleichmäßiger Sinkrate ab. Landeschoren fahren aus.“

Die Kommandantin, die ihr blau-schwarzes, langes Haar hinter dem Kopf mit einer Goldspange gebändigt hatte, erwiderte mahnend: „Ich will eine vorschriftsmäßige Landung erleben, meine Damen und Herren. Nicht dass die von der Heimatflotte auf die unsinnige Idee kommen, hier würden sich Stümper an Bord befinden.“

„Wir werden Sie nicht blamieren und die Ehre der Neunten Flotte bleibt unangetastet, Major!“, gab Kimi Korkonnen übertrieben zackig zurück und erntete dafür einen fragenden Blick seiner Vorgesetzten. Allgemein war das nicht die Art des Finnen.

„Werden Sie mir bloß nicht übermütig, Hauptmann Korkonnen“, ging die Frau auf den Tonfall ihres Ersten Offiziers ein. „Das hat noch keinem Offizier der Flotte gutgetan.“

Kimi Korkonnen, dem erst jetzt auffiel, wie er mit seiner Vorgesetzten gesprochen hatte, nickte stumm und wandte sich schnell ab. Er fragte sich, was da eben in ihn gefahren war. Solche flotten Sprüche waren eher die Art von Dean gewesen, als sie noch die Akademie der Terranischen Raumflotte besucht hatten. Vermisste er ihn so sehr, dass er nun dessen schlechte Angewohnheiten übernahm, um ihm dadurch näher zu sein?

Auf die Schnelle zu keinem Ergebnis kommend, sagte er sich, wütend auf sich selbst, dass dies die Ausnahme bleiben musste. Denn das eben war so gar nicht er selbst gewesen.

„Die VESTERGAARD setzt in voraussichtlich zehn Sekunden auf“, meldete der Blonde nach einer Weile und zählte dann laufend die einzelnen Sekunden herunter. Das lenkte ihn selbst etwas von dem vorangegangenen Fauxpas ab. Bei Null setzte der Kreuzer, mit einem kaum wahrnehmbaren Vibrieren auf dem Bodenbelag auf.

„Der Kreuzer ist gelandet.“

Major Saif ad-Dīn hatte den kleinen Vorfall scheinbar schon abgehakt. Mit ruhiger Stimme sagte sie: „Ich bedanke mich für diese Bilderbuch-Landung.“

Dabei erhob sie sich aus ihrem Sitz, schritt zu Korkonnen und sagte beinahe lautlos und mit verschwörerischem Tonfall: „Die Ehre der Neunten Flotte bleibt heute in der Tat unangetastet, Hauptmann Korkonnen.“

Als sich ihr Erster Offizier erhob und sie unangenehm berührt ansah, lächelte sie fein und sagte deutlich lauter: „Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub, Hauptmann.“

„Danke, Sir. Melde mich ab.“

Korkonnen grüßte vorschriftsmäßig, wobei er seiner Vorgesetzten einen dankbaren Blick dafür zuwarf, dass sie nicht weiter auf seine etwas undisziplinierte Bemerkung von eben eingehen wollte. Danach wandte er sich schnell ab und verließ die Zentrale des Kreuzers um sein Quartier aufzusuchen. Es gab ein paar Dinge, die er dort noch zu holen gedachte, bevor er die VESTERGAARD verließ.

Auf dem Gang hörte er schnelle Schritte hinter sich. Als sich der Finne umsah bemerkte er, dass es Renée Killkennen war, die sich beeilte zu ihm aufzuschließen. Er hatte sich von Beginn an sehr gut mit ihr verstanden. Die kleine, quirlige Frau, mit den rot-braunen, mittellangen Haaren und den auffallend grün-grauen Augen, sah ihn, irgendwie erheitert, von unten herauf an und erkundigte sich launig: „Sie haben es aber mächtig eilig vom Schiff zu kommen, Sir. Ich hätte Ihnen übrigens einen so flotten Spruch, wie den eben während der Landung, gar nicht zugetraut.“

Korkonnen grinste schief. „Ja, lassen Sie uns bitte nie wieder darüber reden, Leutnant. Ich musste nur an meinen Freund Dean denken, da ist mir das so herausgerutscht.“

„Ich kenne unsere Kommandantin schon etwas länger, als Sie, und ich bin mir sicher, dass sie es Ihnen nicht krumm genommen hat. Ihren Freund muss ich unbedingt mal kennenlernen, Sie reden sehr oft von ihm. Scheint eine interessante Persönlichkeit zu sein.“

Sie bogen nach rechts, in einen der beiden zentralen Längsgänge auf dem Hauptdeck ein, auf dem nicht nur die Zentrale zu erreichen war, sondern auch die Offiziersquartiere. Dabei erwiderte Korkonnen das Lächeln der Frau und meinte, in Gedanken: „Aber hüten Sie sich, falls er Sie je zum Tanz auffordern sollte.“

Fragend sah die Irin ihren Begleiter an, der sie um gut einen Kopf überragte. „Warum das? Tanzt ihr Freund denn so miserabel?“

Kimi schüttelte amüsiert den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Aber wenn er einmal damit anfängt dann kann es dauern, bis er wieder aufhört. Das könnte an die Substanz gehen.“

„Ich bin fit“, gab die Frau leichthin zurück. Mit etwas verändertem Tonfall fragte sie dann: „Wie ist es mit Ihnen, Hauptmann? Tanzen Sie.“

„Fürchterlich, Leutnant“, seufzte der Finne grinsend. Bevor ich es mit meiner Freundin wagen könnte, müsste ich erst einmal intensiv üben. Mit Rücksicht auf ihre Füße.“

„Oh“, machte die Irin. Ihr Lächeln verlor sich etwas. „Ich wusste nicht, dass sie bereits in festen Händen sind, Sir.“

Der Finne lächelte in Gedanken. „Ja, seit kurz vor dem Angriff der Konföderation. Aber eigentlich hat es bereits auf der Akademie seinen Anfang genommen.“

Renée Killkennen grinste gezwungen. „Schüchtern, Herr Hauptmann?“

„Vorsichtig“, deklamierte Korkonnen mit erhobenem Zeigefinger. „Nun ja, wir sind beide nicht gerade als Draufgänger bekannt, wissen Sie.“

„Vielleicht fehlt Ihnen das ja“, legte die Irin keck nach.

Kimi Korkonnen schritt etwas langsamer aus und warf seiner Kameradin einen leicht erstaunten Blick zu. „Wie meinen Sie denn das, Leutnant?“

Die Begleiterin des Finnen lachte verlegen. „Entschuldigen Sie, Sir, das ist mir jetzt spontan herausgerutscht. Schenken Sie dem keine Beachtung, das passiert mir manchmal. Da vorne ist ja schon mein Quartier. Nun ja, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub.“

Damit schritt die Frau schnell an Korkonnen vorbei und war einen Moment später bereits in ihrem Quartier verschwunden.

Für einen Augenblick lang sah der Finne ihr überlegend nach, bevor er den Kopf schüttelte und sein eigenes Quartier betrat.
 

* * *
 

Kaum dass Kimi Korkonnen das Gelände des Raumhafens, an Bord eines Zuges der hiesigen Magnetbahn, hinter sich gelassen hatte, führte er über sein Multi-Funktions-Armband die automatische Erfassung bei der Planetaren Erfassungsbehörde durch. Damit war er auf diesem Planet registriert und gleichzeitig in der Lage, alle anwesenden Flottenangehörigen auf diesem Planeten, über das Funksegment seines MFA, zu erreichen. So, wie er nun auch von allen anderen Flottenangehörigen auf dieselbe Weise erreicht werden konnte. Dieses Vorgehen gehörte zu den Pflichtaufgaben von Flottenangehörigen, sobald sie auf einem Planeten des Imperiums gelandet waren.

Kimi wusste also, dass er Miriam, Andrea und Jayden erreichen konnte, falls sie tatsächlich auf Wega-IX weilten. Doch hier, in dem voll besetzten Abteil der Magnetbahn, wollte er keinen Kontakt herstellen. Das hatte Zeit bis er die nahegelegene Stadt Erron erreicht hatte.

Es dauerte nur Minuten, bis die Magnetbahn in einen der äußeren, riesigen Bahnhofbereiche von Erron einfuhr. Diese planetare Metropole beherbergte momentan mehr als fünf Millionen Menschen, und das wurde für den Finnen schnell deutlich.

Kimi Korkonnen verließ das Zugabteil, orientierte sich kurz auf dem Bahnsteig und folgte dann den gelben Markierungen an den weißen Metallplastik-Wänden des Gebäudes.

Als der Finne endlich durch eine der sich automatisch öffnenden und schließenden Glastüren des Haupteingangsbereichs schritt und den Vorplatz des Bahnhofsbereiches betrat, atmete er tief durch und sah sich um.

Gegenüber gab es einen großen Park. Zu seiner Linken erhob sich die vielfach verglaste Skyline des Stadtzentrums, und zu seiner Rechten schlossen sich an die kleineren Gebäude der Vorstadt die hügeligen Ausläufer der entfernt erkennbaren Gebirgskette an.

Am tiefblauen Himmel waren nur vereinzelt weiße Federwolken zu entdecken, die im Begriff schienen, sich aufzulösen. Die weit entfernte, weiße Sonne strahlte hier eine angenehme Wärme aus. Für einen kurzen Moment fühlte sich Kimi Korkonnen auf seinen Heimatplaneten Terra zurück versetzt.

Mit einem leisen Gefühl von Heimweh setzte sich der Finne wieder in Bewegung. Er überquerte den weiten Platz, schritt um den zentralen Springbrunnen herum, und beobachtete die Leute die hier verkehrten. Sie unterschieden sich im Wesentlichen nicht von denen, die man in irgendeiner Stadt der Erde erwartet hätte. Doch dann fiel dem Blonden auf, dass hier deutlich mehr Menschen, die auf dem benachbarten Planet Wega-VIII geboren worden sein mussten, unterwegs waren. Sie unterschieden sich durch ihren blass-blauen Hautton von andere Menschen, ein Phänomen, dass sich ab der vierten Generation bei den Wega-VIII-Kolonisten eingestellt hatte. Durch das etwas andere Spektrum des Sterns hatten sich die Gene der auf diesem Planet geborenen Menschen dahin gehend geändert. Außerdem hatte die höhere Schwerkraft des Planeten, im Laufe der Generationen, dafür gesorgt, dass die Bewohner des achten Wega-Planeten allgemein von sehr kräftiger Gestalt waren, und, wegen der höheren Lichteinstrahlung dort, dichtere Augenbrauen und sehr tiefliegende Augen besaßen. Zudem wies das sehr dichtes Haar dieser Kolonisten-Nachkommen zumeist einen dunkelroten bis kupferroten Farbton auf.

Der Finne ließ den belebten Platz hinter sich und atmete innerlich auf, als er in den weniger belebten Bereich des Parks hinein schritt. Der Duft ihm unbekannter, bunter Blumen, die hier zu Tausenden angepflanzt worden waren, empfing ihn. Niedrige, knorrige Bäume spendeten dabei mit ihrem Blätterdach, dass sich über die Wanderwege spannte, Schatten. Auf einer der, in regelmäßigen Abständen stehenden, Parkbänke ließ er sich schließlich nieder, aktivierte sein MFA und gab per Stimmenkommando die Anweisung, eine Verbindung zu Oberleutnant Miriam Rosenbaum herzustellen. Danach wartete er gespannt.

„Verbindung kann nicht hergestellt werden“, meldete eine sanft modulierte Computerstimme. „Teilnehmer nicht in Reichweite.“

Ihr Schiff ist vermutlich gerade auf Patrouille, mutmaßte Korkonnen missgestimmt. Dann hellte sich seine Miene auf und er versuchte es erneut. Diesmal gab er Jayden Kerr als Teilnehmer an und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die bekannte Stimme des Freundes aus dem Empfangssegment seines MFA erklang.

„Hier Jayden. Mensch Kimi, du bist tatsächlich auf Wega-IX. Wo genau steckst du?“

„Wenigstens du bist erreichbar“, gab Kimi erleichtert zurück. „Miriam konnte ich nicht erreichen. Ich bin gerade mit der Magnetbahn in den Außenbezirk von Erron eingefahren und habe es mir, gegenüber vom Bahnhof, in einem Park gemütlich gemacht.“

„Den kenne ich“, erwiderte Jayden und seine Stimme klang gutgelaunt. „Andrea und ich habe ein paar Tage frei. Bleib wo du bist, wir kommen hin. Dauert nur eine halbe Stunde. Übrigens, Miriams Zerstörer, die AURORA, ist noch unterwegs, auf Patrouille. Der Zerstörer landet aber heute Abend noch hier. Du wirst also die Gelegenheit haben sie zu sehen.“

„Das sind gute Nachrichten, mein Freund. Beeilt euch. Kimi, Ende.“

Ein Lachen kam zurück. „Wir sind gleich da. Ende und Aus.“

Kimi Korkonnen deaktivierte den Sender seines MFA und lehnte sich gut gelaunt auf der Parkbank zurück. Nicht mehr lange, und er würde Jayden und Andrea endlich wiedersehen – und Miriam war ebenfalls in Reichweite. Versonnen sah der Finne unter das Blätterdach der Bäume und dachte: Ich wünschte nur, dass Dean und Don Rodrigo auch hier wären. Dann wäre die Truppe wieder zusammen. Hoffentlich werden wir es in absehbarer Zeit schaffen, tatsächlich alle sechs einmal wieder zusammenzukommen. Schade, dass gerade Dean momentan so unerreichbar zu sein scheint. Der ist jetzt vermutlich schon auf dem halben Weg ins Sol-System. Verdammt, mein Freund, pass bloß auf deinen Hintern auf.

Kimi Korkonnen versuchte, diese finsteren Gedanken zu verbannen, und an positivere Dinge zu denken. Von Dean hatte er, nach dessen Besuch auf der SATURN, erfahren, dass Jayden und Andrea nun verlobt waren. Die beiden machten offensichtlich ernst.

Bei diesem Gedanken erinnerte sich Kimi an die Reaktion seines besten Freundes, als er ihm gegenüber seine Freude darüber geäußert hatte. Dean hatte zwar behauptet, dass er sich längst mit der Tatsache abgefunden hatte, dass Andrea sich für Jayden, und gegen ihn, entschieden hatte, doch so sicher, wie in den Jahren davor, war sich der Finne nach dem Gespräch mit seinem besten Freund nicht mehr. Er hatte gespürt, dass nach Deans Besuch auf der SATURN der Freund etwas anders gewesen war, als in den zweieinhalb Jahren davor.

Vielleicht lag das aber auch nur an der Nachricht, die er ihr überbracht hatte. Die Reaktion der Freundin auf seine Worte zu erleben; ihren seelischen Zusammenbruch in seinen Armen, das war möglicherweise schon der einzige Grund für sein verändertes Verhalten gewesen. Dean und Andrea hatten sich von Beginn an sehr nahe gestanden, als Freunde. Vielleicht interpretierte er da etwas ganz Falsches hinein.

Was seine Laune deutlich verbesserte war, dass Rodrigo und Nayeli Herández sich wenigstens regelmäßig sehen konnten. Beide waren jetzt auf Outpost stationiert.

Kimi wusste, dass das Verhältnis zwischen Nayeli und Tabea Carrick, die beim Absturz der KIROV, nach dem Angriff eines Kriegsschiffs der Konföderation Deneb, den Tod fand, ähnlicher Natur gewesen war, wie das zwischen ihm und Dean. Nach Tabeas Tod war Rodrigo ihr seelischer Anker gewesen. Beide hatten zwar schon zuvor tiefe Gefühle füreinander entwickelt, doch nach dem Tod von Nayelis Freundin hatten sich diese noch intensiviert. Die gemeinsamen Erlebnisse während und nach der Flucht aus dem Sonnensystem hatten sie dabei noch enger zusammengeschweißt.

Beide arbeiteten momentan intensiv an einer Lösung für das Problem, dass die Raumschiffe der Imperialen Raumflotte, wegen der neuartigen Störsender hatten, die von der Konföderation, beim Angriff auf das Sol-System zum Einsatz gebracht worden waren. Doch von einem Durchbruch war man noch weit entfernt. Darum war es so eminent wichtig, einen dieser Störsender in die Finger zu bekommen. Wenn man wusste, wie sie aufgebaut waren, dann konnte man etwas dagegen entwickeln. Das hoffte der Finne zumindest.

Tief durchatmend sah Korkonnen über die Blumenbeete in der Umgebung. Dabei richteten sich seine Gedanken schließlich auf eine junge Technikerin, die sie auf Luna hatten zurücklassen müssen. Er hatte den Eindruck gehabt, dass Dean und sie sich nicht sonderlich grün gewesen waren. Allerdings hatte der Freund, während des Fluges des geretteten Leichten Kreuzers NOVA SOLARIS nach Delta-Cephei, zu Beginn des Jahres, immer wieder davon erzählt, wie schwer es ihm gefallen war, sie zurückzulassen und dass er ihr versprochen hatte, zurückzukehren und sie zu holen. Dabei musste der Freund doch gewusst haben, wie aussichtslos ein solcher Versuch sein musste. Selbst dann, wenn er ihn wirklich ernsthaft in Erwägung ziehen würde. Nun, Dean würde zwar bald wieder ins Sol-System zurückkehren, doch allein nach dieser Rian Onoro zu suchen kam bei der geplanten Mission nicht in Frage. Noch weniger ein Vorstoß zum Erdtrabant, um sie zu befreien. Er selbst hatte während der Flucht von dort erlebt, wie ausgeklügelt die Sicherheitsmaßnahmen dort waren. Er ging fest davon aus, dass die Mondbasen mittlerweile alle fest unter Kontrolle der Truppen der Konföderation Deneb sein würden.

Kimi Korkonnen ging indessen nicht davon aus, dass sich die dunkelhäutige Frau noch in Freiheit befand. Niemand würde sich auf Dauer in einer geschlossenen Mondbasis verstecken können. Auch dann nicht, wenn man sich dort so hervorragend auskannte, wie sie.

Ein wenig verstand er die Frustration, die er bei Dean gespürt hatte, jedesmal wenn er mit ihm darüber nachgegrübelt hatte, wie man ihre Vorgesetzten zu einer Befreiungsaktion überreden könne, und er ihn auf den Boden der Tatsachen hatte zurückbringen müssen.

Dass Dean nun nicht einmal mehr in der Terranischen Raumflotte diente, sondern in der Flotte der Farradeen-Allianz, hatte die Aussicht, etwas für die junge Technikerin tun zu können, verschwindend gering werden lassen. Kimi hoffte nur, dass Dean keine Dummheit machen, und einen Alleingang starten würde, während des kommenden Einsatzes.

So in Gedanken sah er schließlich den Weg zurück, den er gekommen war. Was er dabei sah, beschleunigte beinahe übergangslos seinen Herzschlag. Keine zwanzig Meter von sich entfernt erkannte er die unverkennbaren Silhouetten von Jayden und Andrea. Hand in Hand kamen sie ihm entgegen.

Beinahe wie in Trance erhob sich der Finne und nahm dabei den Anblick der Freunde in sich auf, bis sie ihn schließlich erreicht hatten.

Auf den letzten Metern hatte sich Andrea von Jayden gelöst und fiel ihm nun lachend um den Hals. Dabei stieß sie erleichtert aus: „Du bist es wirklich! Mensch, Kimi, dass wir dich endlich wiedersehen!“

Der Finne drückte die Freundin kurz und schob sie dann mit sanfter Gewalt von sich. „Ich freue mich genauso sehr.“

Im nächsten Moment war Jayden bei ihm und er umarmte ihn nicht weniger erfreut, als es Andrea getan hatte. Dann trat der Jamaikaner einen halben Schritt zurück und musterte den Freund. „Da scheint sich Einiges ereignet zu haben, seit wir uns das letzte Mal gesehen habe, wie mir scheint. Du trägst die gelben Streifen, statt der orangen und du trägst die Abzeichen eines Hauptmanns. Sag schon, wem hast du die Uniform geklaut?“

Korkonnen grinste erheitert. „Wenn du das bereits für eine Sensation hältst, dann halt dich besser irgendwo fest, denn das ist gar nichts im Vergleich dazu, was sonst noch passiert ist. Ach, und zu deiner Information, das ist meine Uniform.“

„Du wirst uns alles schön der Reihe nach erzählen“, mischte sich Andrea ein. „Aber nicht hier im Freien, sondern in dem kleinen Café, das es hier im Park gibt. Und nur damit du es weißt, wir haben auch eine kleine Überraschung für dich.“

„So? Welche denn?“

Die junge Frau lachte hintergründig. „Das erfährst du schon noch, aber erst, nachdem du uns alles erzählt hast.“

Kimi verzog das Gesicht. „Dann sollten wir nicht noch mehr Zeit vertrödeln und hier herumstehen. Wo ist dieses Café?“
 

* * *
 

Es dauerte keine zehn Minuten, bis die drei Freunde das Park-Café erreicht hatten. Nachdem sie sich an einen der Tische, im Schatten einer überdachten Terrasse, niedergelassen und ihre bestellten Getränke bekommen hatten, sah Kimi zu Andrea und Jayden.

„Also schön, ihr Beiden. Wo soll ich damit beginnen zu erzählen, was sich ereignet hat, seit unserem Abschied in Casablanca.“

Es war Andrea, die meinte: „Fang am besten mit dem Angriff auf das Sol-System an. Die Informationen, die Dean uns gegeben hat waren bestenfalls vage. Ist auch kein Wunder, bei dem, was er mir sonst noch mitzuteilen hatte.“

Kimi trank etwas von seinem Kaffee, stellte die Tasse auf den Tisch zurück und begann danach von den Ereignissen während des letzten Jahreswechsels zu berichten.

Als der Blonde davon berichtete, wie sie den Experimentalkreuzer aus der Luna-Werft geflogen hatten, mit Dean Corvin als Kommandant und Pilot, da weiteten sich die Augen der beiden Kameraden gleichermaßen und Kimi fragte unsicher: „Das hat Dean dann wohl nicht erzählt, als er auf der SATURN war?“

Jayden Kerr nickte zustimmend. „Kein Wort. Ich dachte, ihr zwei wärt als Passagiere auf einem der Kreuzer der Heimatflotte entkommen.“

Nein, wir haben die NOVA SOLARIS, den besten und neuesten Leichten Kreuzer der Flotte, gekapert und sind dann zuerst einmal zum Merkur geflogen. Dort sollten zwei eminent wichtige Aggregate lagern, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die NOVA SOLARIS eingebaut worden waren. Also sind wir hin, um sie an Bord zu nehmen. Doch das Ganze stellte sich als Fehlschlag heraus, denn die beiden Aggregate, um die es ging, hatte die Chefin des Geheimdienstes bereits woanders hin transportieren lassen. Aber als hätte das alleine noch nicht gereicht, hatten wir obendrein noch drei Schlachtkreuzer der Konföderierten am Hintern kleben, bei dieser Aktion. Denen mussten wir dann erst einmal entkommen.“

Andrea, die fasziniert zugehört hatte, fragte gespannt: „Na, und wie habt ihr die abgehängt, Kimi. Nun rede schon.“

Der Finne amüsierte sich sichtlich, bevor er sagte: „Gar nicht. Die waren bereits über Merkur, als wir wieder von dort abhoben. Die drei Schlachtkreuzer näherten sich aus drei verschiedenen Vektoren, und was machte Dean, der verrückte Kerl? Der hat genau das Manöver geflogen, dass damals, im Simulator auf der Venus, so spektakulär schief ging.“

Jayden und Andrea stießen fast gleichzeitig aus: „Was?“

Kimi grinst belustigt. „Ihr habt richtig verstanden. Dean hat die NOVA SOLARIS genau zwischen den drei Angreifern hindurch geflogen. Dabei haben wir zwei der feindlichen Kriegsschiffe schwer erwischt. Dean hatte die Idee, die Suchköpfe der Torpedos, wegen der Störungen ihrer Zielscanner, zu deaktivieren. Stattdessen haben wir mit den Breitseiten des Kreuzers gezielt. Mit den Plasma-Geschützen haben wir auf Sicht geschossen.“

„Also, das ist doch das Letzte!“, entfuhr es Andrea von Garding. „Dean hat dieses Irrsinns-Manöver in einem realen Gefecht angewandt und er ist damit durchgekommen?“

Kimi lachte trocken. „Ja, und so wie es aussieht, hatte er damals an der Akademie Recht. Der Gegner hat nicht damit gerechnet, dass jemand so wahnsinnig sein könnte ein solches Manöver zu versuchen. Jedenfalls hat es funktioniert, sonst wäre ich nicht hier.“

Andrea funkelte Kimi giftig an. „Na warte, dem werde ich was erzählen, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Was macht er jetzt überhaupt?“

Kimi grinste breit. „Nun ja, damit komme ich jetzt zu der Stelle, an der ihr Zwei euch besser festhalten solltet. Nachdem wir mit der NOVA SOLARIS das Delta-Cephei-System erreicht hatten, empfing uns General Mbena persönlich. Sie befragte uns ausgiebig zu den Ereignissen im Sonnensystem. Dabei erfuhren wir von General Mbena, dass unmittelbar vor dem Angriff der Konföderation auf das Sonnensystem Beweise gefunden wurden, die Dean und mich von dem Vorwurf, der unsere Karrieren versaut hat, entlasteten. Man fand Beweise dafür, dass es die beiden Freunde von Kim Tae Yeon waren, mit denen sie damals bereits an der Sektion-Terra herummachte. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass Kim selbst dahintersteckt. Sie ist übergelaufen zur Konföderation. Das haben wir auf Luna erfahren, bevor wir von dort geflohen sind.“

„Dieses verdammte Miststück!“, stieß Andrea fassungslos aus. Jayden einen schnellen Blick zu werfend fügte sie hinzu: „Du hättest mich damals nicht daran hindern sollen, dieser falschen Schlange den Hals umzudrehen. Aber erzähl weiter, Kimi.“

Der Finne nickte ernster werdend. „Also schön. Nachdem sich Mbena unsere Geschichte angehört hatte, meinte sie, dass Dean genau der Richtige sei, um den Experimentalkreuzer einzufliegen. Unglücklicherweise hatte sie keinen Major zur Hand, den sie hätte als regulären Kommandanten für die NOVA SOLARIS abstellen können. Also hat sie kurzerhand Dean zum Hauptmann-ZBV befördert und ihn zum Kommandanten des Kreuzers bestimmt. Mich brauchte sie als XO für die VESTERGAARD. Doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Es kam wenig später zur Schlacht um Delta-Cephei und wir hätten nicht gut ausgesehen, wenn die Farradeen-Allianz uns nicht beigestanden hätte. Es kam zu schwierigen Allianz-Verhandlungen nach der Schlacht, und die NOVA SOLARIS und ihre Besatzung an die Allianz abzutreten war Teil dieser Vereinbarung.“

Andrea sah verständnislos zu dem Freund. „Was willst du damit sagen?“

Kimi schluckte trocken. „Ich will damit sagen, dass Dean nicht mehr Offizier der Terranischen Raumflotte ist, und er ist auch kein Bürger des Imperiums mehr. Es gehörte zu dem erwähnten Allianzvertrag mit Farradeen, dass die Besatzung ihre Staatsbürgerschaft aufgibt und die der Farradeen-Allianz annimmt. Die NOVA SOLARIS gehört ebenfalls jetzt zur Raumflotte von Farradeen. Das Militär von Farradeen hat die gesamte Besatzung des Leichten Kreuzers in ihren Dienst übernommen.“

Sprachlos starrte Andrea den blonden Mann an, so als würde sie ihm kein Wort glauben wollen. Auch Jaydens Blick wirkte ungläubig.

Kimi nutzte den Moment um anzufügen. „Es ist wahr, Freunde. Da ist übrigens noch etwas. Die von der Farradeen-Allianz kennen keinen ZBV-Status. Andererseits verbieten die Bestimmungen ihrer Flotte, dass sie jemanden, den sie ihn in ihren Dienst übernehmen, degradieren. Was aber de facto der Fall gewesen wäre, wenn sie Dean im Rang eines Hauptmanns übernommen hätten. Darum blieb ihnen nur übrig, ihn im nächsthöheren Rang zu übernehmen, den es in ihrer Flotte gibt. Also als Major.“

Kimi sah an den Mienen der beiden Freunde, dass sie seine Worte erst einmal verdauen mussten. Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

Keinen Moment zu früh, denn einen Augenblick später schlug Andrea so fest mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Tassen von ihr und Jayden auf hüpften und klirrend wieder auf der Oberfläche landeten. „Dean ist Major? Sind die von der Farradeen-Allianz noch ganz bei Trost? Und viel wichtiger: Ist Dean noch ganz bei Trost? Was fällt dem Kerl ein, dem Imperium den Rücken zu kehren?“

Kimi hob seine Hände. „Dean hatte keine große Wahl, Andrea. Wie du sicherlich mittlerweile erfahren hast gibt es mit der Konföderation Querelen wegen dem Kombattanten-Status der militärischen Angehörigen des Imperiums. Andererseits ist es unerlässlich, dass bei dem geplanten Kommandounternehmen, in Richtung Mars, Leute dabei sind, die sich dort auskennen. Sollten die nun aber in Gefangenschaft geraten und der Imperialen Flotte angehören, so würde das eins bedeuten: Erschießungskommando. General Mbena wollte keinem der Besatzungsmitglieder der NOVA SOLARIS, die am besten dazu geeignet sind einen solchen Einsatz durchzuführen, ein solches Risiko zumuten. Darum kam es zu dieser Vereinbarung. Momentan können sich nur Angehörige der Farradeen-Allianz, die auch die Uniform der Farradeen-Allianz tragen, in solche hoch riskanten Manöver stürzen. Dort wimmelt es nämlich momentan vor feindlichen Truppen.“

„Ich wollte, ich könnte Dean dabei zur Seite stehen“, seufzte Jayden Kerr inbrünstig und Kimi nickte zustimmend. „Auch wenn alles dafür spricht, dass sich Dean da auf eine Art Himmelfahrtskommando begibt.“

Andrea ihrerseits sah bei diesen Worten, und der Reaktion des Finnen darauf, beide mit funkelnden Augen an und meinte, zunächst beherrscht, wobei ihre Stimme jedoch zum Ende hin immer lauter wurde: „Na, das ist ja süß. Ihr zwei würdet also am liebsten mitmischen und Dean bei einem Himmelfahrtskommando beistehen. Sagt mal, seid ihr jetzt völlig behämmert! Ihr sprecht von einem Himmelfahrtskommando!“

Die beiden Männer sahen Andrea etwas konsterniert an. Jayden nahm schnell ihre rechte Hand in seine und erwiderte ruhig: „Ich weiß, warum dich das so aufregt. Du machst dir Sorgen um Dean. Das tun Kimi und ich doch auch.“

Die Deutsche atmete tief durch und erklärte: „Tut mir leid, Jungs. Vielleicht will ich nur nicht noch jemanden verlieren, an dem mir etwas liegt.“

„Das ist verständlich“, beruhigte sie der Finne. „Andererseits würden wir Dean natürlich gerne zur Seite stehen. Vielleicht beruhigt es dich ja, wenn ich dir verspreche, dass Deans Erster Offizier eine Frau ist, deren Vernunft ebenso ausgeprägt zu sein scheint, wie die deine, Andrea. Ich schätze sie so ein, dass sie ein wachsames Auge auf ihn haben wird.“

„Ach“, machte Andrea und sah Kimi interessiert an. „Klingt nach einer interessanten Persönlichkeit.“

Korkonnen machte eine zustimmende Geste. „Das ist sie. Dean und ich haben sie am Silvesterabend kennengelernt. Zuerst war sie uns, da sie von dem Zwischenfall an der Sektion-Terra gehört hatte, nicht sonderlich grün. Aber nachdem ich ihr die Hintergründe der leidigen Geschichte erzählt hatte, entpuppte sie sich als ganz patente Person.“

Kimi Korkonnen trank seinen Kaffee aus und erkundigte sich dann: „Aber jetzt will ich wissen, was du vorhin meintest, als du von einer Überraschung gesprochen hast.“

Andrea sah kurz auf das Chrono-Feld ihres MFA, bevor sie sich lächelnd zu Kimi wandte. „Wir haben uns für heute Abend mit Miriam zum Abendessen verabredet. Im feinsten Restaurant der Stadt. Ihr zwei seid eingeladen. Miriams Zerstörer müsste in zwei Stunden dem Raumhafen niedergehen. Es wird also nicht mehr sehr lange dauern, bis sie hier ist, und du sie endlich in die Arme nehmen kannst.“

Erstaunen lag im Blick des Finnen, und Jayden meinte, breit grinsend: „Wir wissen von Miriam, dass ihr zwei ein Paar seid, und das müssen wir natürlich feiern.“

„Das werden wir auch“, versprach Kimi gut gelaunt. „Ich hoffe nur, dass uns kein Gefechtsalarm in die Quere kommt.“

„Unsere kürzlich ausgesandten Spähsonden haben keinerlei Anzeichen dafür finden können, dass die Konföderierten uns hier angreifen wollen. Es sieht viel mehr so aus, als würden die ihre Stellung im Sol-System ausbauen und dort ihre Macht festigen wollen. Zumindest in den nächsten Tagen und Wochen sind wir hier sicher.“

„Die sollen sich ruhig Zeit lassen“, knurrte Kimi finster. „Wenn der Einsatz, den Dean durchführen soll, Erfolg hat, denn wird General Hilaria Mbena denen bestimmt schon bald die Hölle heiß machen. Dann werden die bedauern, dort geblieben zu sein. In etwa zehn Tagen ist es soweit. Dann bricht die VESTERGAARD ebenfalls auf, nach Alpha-Centauri. Aber das behaltet ihr zwei für euch, damit das klar ist.“

Jayden und Andrea sahen sich kurz an bevor der Jamaikaner meinte: „Dann ist Dean also nicht ganz so allein da draußen, wie wir dachten?“

„Nein, das ist er nicht“, bestätigte der Finne. „Ich glaube fast, General Mbena hat einen Narren an ihm gefressen und darum die VESTERGAARD losgeschickt, damit sie als Horchposten dient. Die geheimen Depeschen für den Sektoren-Kommandanten hat sie bestimmt nur vorgeschoben.“

Sie lachten, und beinahe kamen sie sich vor, wie zu Akademiezeiten.

Zielpunkt Eris


 

4.
 

Zielpunkt Eris
 

Mit finsterer Miene saß Dean Corvin auf einer der Patientenliegen der Krankenstation und ließ Diana Spencer nicht aus den Augen. Selbst dann, wenn die Bordärztin sich zwischen sie schob, während sie die Brandwunde an der Schulter des Mannes behandelte, sah Corvin an der Ärztin vorbei zu der Raumlandesoldatin.

Hauptmann Diana Elodie Spencer trug noch immer ihre Kampfmontur und jenes Plasmagewehr, mit der sie die Wunde beim Kommandanten der NOVA SOLARIS verursacht hatte. Natürlich nicht absichtlich. Nach ihrer Ansicht war es seine Schuld gewesen.

Corvin indessen sah den Fall deutlich anders, weshalb er auch nicht davon abließ, die blonde Frau giftig anzusehen. Er brannte förmlich darauf endlich mit dem Hauptmann unter vier Augen sprechen zu können. Doch dazu musste die Ärztin, im Rang eines Oberleutnants, erst einmal seine Verletzung behandelt und verbunden haben.

Trotz der bereits verabreichten schmerzstillenden Mittel hatte er im Moment das Gefühl, als würde ein glühender Draht mit Widerhaken durch seine Schulter gezogen.

Dabei hatte die Zusammenarbeit zwischen Dean Corvin und Diana Spencer bislang hervorragend geklappt. Obwohl Corvin einige Male den Eindruck gewonnen hatte, dass ihr der eine oder andere Befehl nicht passte. Auch die Tatsache, dass er bei den Trainings, die sie gemeinsam durchführten, quasi ihre Position, als Kommandant der Landeeinheit, übernahm, schien ihr nicht wirklich zu gefallen.

Die Ärztin mit den eurasischen Gesichtszügen prüfte den Sitz des Verbandes, den sie angelegt hatte, und sagte freundlich zu Corvin: „Das wäre es, Sir. Ich gebe Ihnen ein Medikament mit. Von den Kapseln nehmen sie bitte morgens und abends jeweils eine ein. Sollten die Schmerzen stärker werden, und bis heute Abend nicht deutlich nachlassen, so kommen sie zu mir, Sir.“

„Danke, Doktor Langdon.“

Der Kanadier ließ sich von der Ärztin in die Uniform-Kombination helfen und quittierte dies mit einem gezwungenen Lächeln. Ein unterdrücktes Stöhnen von sich gebend schwang er sich von der Liege und schritt auf Diana Spencer zu, die ihn hergebracht hatte. Mit der linken Hand nahm er der Frau das Gewehr aus der Hand und warf es auf eine der Liegen. Aufgebracht deutete er auf das Schott zu einem der benachbarten Behandlungsräume und zischte mühsam beherrscht: „Da hinein mit Ihnen!“

Mit langen Schritten an der blonden Frau vorbei stapfend sah Corvin über die Schulter und wies die Ärztin an: „Sie lassen uns bitte allein und achten darauf, dass niemand die Krankenstation betritt, bis ich sie verlasse. Außer es handelt sich um einen akuten Notfall!“

„Verstanden, Sir!“

Kaum hatte sich das Schott des Behandlungsraums hinter Diana Spencer geschlossen fuhr Corvin sie auch schon an: „Was haben Sie sich dabei gedacht, das Feuer auf mich und mein Team zu eröffnen, Hauptmann? Sie hatten einen fest umrissenen Auftrag!“

Nicht bereit nachzugeben erwiderte Diana Spencer: „Ich habe meinen Auftrag gewissenhaft ausgeführt, und den simulierten Feind bekämpft! Sie waren es, der plötzlich mitten in meinem Feuerbereich auftauchte! Sir!“

Dean Corvin hob seine Stimme etwas an. „Das, was Sie als Ihren Feuerbereich bezeichnen, war aber gar kein Feuerbereich, Hauptmann Spencer. Denn ich sagte eindeutig observieren – nicht abservieren!“ Machen Sie also das nächste Mal Ihre Ohren auf, wenn ich Befehle erteile und halten Sie sich daran, wenn´s gefällt! Jetzt treten Sie bitte weg und verschwinden, und das besser im Laufschritt, bevor ich Sie inhaftieren lasse!“

„Das Funkeln in den Augen der Frau deutete darauf hin, dass ihr eine ganze Menge auf der Zunge lag. Doch sie schluckte es und erwiderte gepresst: „Verstanden, Sir.“

Damit schritt sie energisch an ihm vorbei, schlug ihre Hand wütend auf den Kontaktgeber des Schotts und verschwand aus dem Raum.

„Und nehmen sie Ihr verdammtes Gewehr mit, bevor mit dem Ding noch ein Unglück passiert!“, heulte Corvin, noch um einiges lauter, als zuvor, hinter ihr her, bevor sich das Schott hinter ihr schloss. Dann schritt er selbst zum Schott, öffnete es und lehnte sich gegen den Rahmen. Tief durchatmend blieb er stehen und sah hinter Diana Spencer her, während die blonde Frau, mit der Waffe in der Hand, zum Schott der Krankenstation hinaus stürmte. Dabei bekam er mit, wie die Raumlandesoldatin die draußen wartende Ärztin beinahe umgerannt hätte.

Oberleutnant Asuka Langdon kam langsam herein zu Corvin und sah ihn perplex an. Bevor sie eine entsprechende Bemerkung machen, oder eine Frage stellen konnte, hob der Kanadier warnend seinen Zeigefinger.

„Sagen Sie nichts, Oberleutnant Langdon. Sagen Sie überhaupt nichts.“

Damit ging der Kommandant des Leichten Kreuzers und ließ die Ärztin mit ihren Fragen allein zurück. Während er durch die Gänge des Raumers schritt dachte er zurück an die vergangenen Wochen. Die Zeit war ihm länger vorgekommen, so wie es üblicherweise immer der Fall war, wenn man auf etwas lauerte. So, wie er auf den Beginn dieses Einsatzes gelauert hatte. Endlich war es soweit. Schon in wenigen Stunden waren sie unterwegs.

Falls mich diese Raumlande-Spezialistin nicht vorher über den Haufen schießt, dachte der Kanadier mürrisch. Worin ist die eigentlich Spezialistin? Darin Vorgesetzte abzuknallen?

Gegen seinen Willen überflog ein Schmunzeln seine Lippen bei diesen Gedanken. Das Wort Abknallen hatte er irgendwann einmal bei Jayden aufgeschnappt. Schnell wurde er wieder ernst, als ihm bewusst wurde, dass vorhin die Redewendung einer anderen Person benutzt hatte.

Wenn´s gefällt.

Das hatte er zum ersten Mal von Feldwebel Rian Onoro gehört. Vor einigen Monaten, nachdem sie mit der KIROV auf Luna abstürzten. Was ihr Temperament anging, so hatte dieser Feldwebel eine Menge mit der Frau gemeinsam, die ihn angeschossen hatte.

Rian Onoro. Sie war ihm nicht aus dem Kopf gegangen, während der letzten Monate. Wieder und wieder sah er ihre Augen vor sich. In dem Moment, als er sie zurücklassen musste. Tränen hatten ihm dabei in den Augen gestanden, obwohl er sie kaum kannte. Trotzdem hatte sie etwas in ihm ausgelöst. Zuvor hatte er nur einmal so empfunden. Vor vielen Jahren, zu Beginn seiner Ausbildung an der Akademie.

Dean Corvin schüttelte diese Gedanken ab, als er sein Quartier erreichte. Seine vorangegangene Wut war bereits zum Großteil verraucht. Er hielt sich vor Augen, dass die Absprachen zwischen ihm und Spencer noch nicht so ganz passten. Aber das war kein Wunder, denn immerhin kannten sie sich erst seit knapp zwei Wochen. Vielleicht hatte er den Hauptmann eben etwas zu grob angepackt. Andererseits lag die Schuld klar auf ihrer Seite. Bei der Übung, bei der sie ihn angeschossen hatte, war es ganz klar um Aufklärung gegangen, nicht darum möglichst viele Ziele zu bekämpfen. Diana Spencer hatte ihm Deckung geben sollen, statt das Feuer auf die Ziele zu eröffnen, an die er sich herangepirscht hatte.

Der Kanadier seufzte schwach. Er würde in den nächsten zehn Tagen noch reichlich Gelegenheit haben, über dieses Missgeschick mit dem Hauptmann zu reden. Jetzt brauchte er etwas Ruhe, bevor es endlich losging. Außerdem bereitete ihm ein anderes Detail dieses Einsatzes Magenschmerzen. Ein Detail, dessen Ausführung sich nicht verhindern ließ, und über das er noch mit dem Hauptmann zu reden hatte.

Der Meldekontakt des Schotts zu seinem Quartier unterbrach ihn in seinen Betrachtungen und etwas gereizt schritt er hin um es zu öffnen.

Zu Corvins Überraschung stand Diana Spencer vor dem Eingang. Immer noch in ihrer Kampfkombination. Sie schien lediglich einen Abstecher zur Waffenkammer gemacht zu haben, und das wohl im Eiltempo.

„Darf ich Sie einen Moment sprechen, Major?“

Corvin verspürte zwar im Moment keine besondere Lust dazu, doch das gehörte mit zu seinen Pflichten, also deutete er ins Innere seines Quartiers. „Treten Sie näher.“

Die Frau trat rasch ein und der Kanadier schloss das Schott wieder. „Was kann ich für Sie tun, Hauptmann?“

Diana Spencer sah ihr Gegenüber einen Augenblick lang an, bevor sie etwas zögernd antwortete: „Ich… Es tut mir leid, Sie angeschossen zu haben, Sir. Es ist nur… Nun ja, ich bin es gewohnt meine eigenen Taktiken und Strategien anzuwenden. Mit jemandem zusammen zu arbeiten, den ich nicht kenne ist…“

Die Frau verschränkte ihre Finger ineinander und Dean Corvin meinte aushelfend: „Es kommt Ihnen ungewohnt vor. Sie wissen nicht, in wie weit sie mir oder meiner Kompetenz vertrauen können.“

Die Ohrspitzen der Frau röteten sich und ihr Blick verriet, dass Corvin ins Schwarze getroffen hatte.

Mit einem schwachen Seufzen erklärte Corvin: „Hauptmann Spencer, ich verstehe das durchaus. Ich selbst wollte an der Akademie ein ums andere Mal auch mit dem Kopf durch die Wand. Aber selbst wenn es funktionierte kam das meistens bei meinen Kameraden nicht so gut an. Hören Sie, ich meinte das, was ich ihnen an dem Tag sagte, als wir uns kennenlernten, ernst. Sie haben die größere Erfahrung und darauf vertraue ich auch. Doch wenn ich mit im Spiel bin, dann hätte ich es ganz gerne, wenn ich nicht von Ihnen als Zielscheibe missbraucht würde. Wenn Sie mir versprechen, darauf künftig zu verzichten, dann dürfen Sie im Gefecht jede Taktik anwenden, die Sie als sinnvoll erachten.“

Diana Spencer nickte: „Damit habe ich kein Problem, Sir.“

„Womit?“, erkundigte sich Corvin launig und seine Augenbrauen hoben sich leicht. „Damit, auf mich zu schießen, oder damit, darauf künftig zu verzichten?“

Er zwinkerte der Frau zu, bevor sie antworten konnte und schlug vor: „Wir sollten den kleinen Zwischenfall einfach vergessen, Hauptmann. Ich bin nicht nachtragend.“

„Danke, Sir.“

Dean Corvin sprang innerlich über seinen Schatten, als er meinte: „Hauptmann, ich habe vor, morgen Abend ein gemeinsames Essen für die Führungsoffiziere des Kreuzers zu geben. Ich würde mich freuen, wenn Sie und ihr Stellvertreter, Oberleutnant – na, wie heißt er noch gleich…?“

„Oberleutnant Harin Krezirin.“

„Richtig, genau der“, bestätigte Corvin. „Ich würde mich also freuen, wenn Sie und Oberleutnant Krezirin auch dabei wären. Das wäre zudem eine gute Gelegenheit, um uns alle etwas besser kennenlernen.“

Diana Spencer nickte zustimmend und ihr Gesicht entspannte sich zusehends. „Sehr gerne, Major. Sagen Sie mir rechtzeitig Bescheid wann wir erscheinen sollen.“

„Das werde ich“, stimmte Corvin zu. „Falls sonst nichts weiter anliegt, würde ich mich jetzt gerne etwas hinlegen, bevor die NOVA SOLARIS startet.“ Er grinste jungenhaft, bevor er ironisch meinte: „Es ist nur, weil mir irgendwer in die Schulter geschossen hat.“

„Diese Person sollte man aufhängen“, gab die blonde Frau trocken zurück, wobei sie auf den Tonfall des Kanadiers einging.

Der Kanadier grinste schief. „Wegtreten, Hauptmann Spencer.“

Die Frau salutierte schmunzelnd und verließ dann das Quartier.

Dean Corvin starrte eine Weile auf das Schott, nachdem es sich hinter der Frau geschlossen hatte – froh darüber, dass sie beide ihren Zwist in der Krankenstation überwunden hatten, bevor er sich zu einem ernsthaften Zerwürfnis hatte ausweiten können. Genau das konnte er bei dem bevorstehenden Einsatz gar nicht gebrauchen. Dabei kramte er in seiner Hosentasche nach dem Schmerzmittel.

Wir werden uns schon noch zusammenraufen, befand der Kanadier, bevor er sich in den kleinen Schlafraum begab um vor dem Start noch etwas Ruhe zu finden.
 

* * *
 

Zehn Tage später lag die NOVA SOLARIS auf Anflugkurs Eris und Dean Corvin war erleichtert darüber, dass die monatelange Warterei darauf endlich ein Ende hatte.

Während der Zwölf-Stunden-Schichten herrschte auch im Kommandozentrum des Kreuzers ein stetiges Kommen und Gehen. Wenn ein Mitglied der Besatzung kurzzeitig die Zentrale verließ, um sich einen kleinen Snack zu machen oder die Toilette aufzusuchen, dann übernahm einer seiner Kameraden. In diesen Wechsel waren auch der Kommandant und der Erste Offizier mit eingebunden. So war es ganz normal, dass sich Dean Corvin zwischenzeitlich auch mal an den Kontroll-Konsolen des Leichten Kreuzers, mit Vorliebe an denen für Steuerung und der Navigation, wiederfand.

Irina Hayes, die für die Steuerung ausfiel, übernahm ihrerseits eher die Taktik, die Energiekontrollen oder die Kommunikation. Den Rest übernahmen sie wechselseitig, wenn es gar keine andere Alternative gab.

So wurde der Dienst im Kommandozentrum der NOVA SOLARIS für Corvin und Hayes, auch ohne dass eine Kampfsituation vorlag, nicht allzu langweilig.

Der Kanadier hatte, auf Wunsch von Diana Spencer, für jeweils zwei Stunden am Tag, einige Gänge und Nottreppen der unteren Decks sperren lassen. So hatte sie mit den Angehörigen der 501. Raumlandetruppe, während der Zeit des Fluges ins Sol-System, ihr tägliches Ausdauertraining durchführen können. Corvin selbst hatte sich in den letzten drei Tagen aktiv daran beteiligt, nachdem es seiner Schulter wieder besser ging. Sich fit zu halten konnte darüber hinaus nicht schaden, wie er fand.

Nachdenklich wechselte Corvin einen langen Blick mit Irina Hayes, als diese ihren Platz an der Taktik, den sie vor fünf Minuten übernommen hatte, wieder räumte. Sie übergab ihn an Hauptfeldwebel Jean-Claude Blanché, und schritt zu ihrem Vorgesetzten.

Als die rothaarige Frau Dean Corvin erreichte, fragte sie, nicht ohne ein Grinsen ganz unterdrücken zu können: „Wie geht es der Schulter heute?“

Corvins Augenbrauen hoben sich vielsagend. „Ich bin froh, dass der Flug hierher nicht nur drei Tage gedauert hat. Anfangs hat die Wunde ordentlich geschmerzt.“

„Ich finde es immer noch bewundernswert, dass du im Anschluss Hauptmann Spencer und ihren Stellvertreter zum Essen eingeladen hast.“

„Ach was.“ Corvin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich werde der Frau nicht nachtragen, dass sie mich an der Schulter erwischt hat. Der Fall ist erledigt. Vielleicht war der Unglückstreffer ja sogar von Vorteil. Jetzt weiß ich, dass ich das nicht nochmal erleben möchte und werde bei dem bevorstehenden Einsatz vielleicht etwas weniger übermütig sein. Wie lange noch, bis wir Eris erreichen?“

„Knapp dreißig Minuten noch“, gab Irina Hayes Auskunft und deutete auf den Bildschirm, auf dem der vor dem Kreuzer liegende Hyperraum nun, neben den beruhigend roten Gebieten, auch eine Stelle mit gelben und grünen Bereichen aufwies.

Corvin wusste, dass diese Bereiche schon sehr bald den gesamten Bildschirm ausfüllen würden. Noch befanden sie sich rund zwei Lichtjahre von Eris entfernt, doch in weniger als einer halben Stunde würden sie nahe ihres Zieles sein. Dann war es mit dem ruhigen Flug vorbei, denn je näher sie Eris kamen, desto größer würden die Störungen sein, die der Planet im Hyperraum verursachte. Oder besser gesagt, die von der Gravitation des Planeten verursacht wurden. Die NOVA SOLARIS würde gefährlich tief in diese Störungen einfliegen, bei diesem Einsatz, um nicht von den polaren Ortungsstationen erfasst zu werden.

„Danke“, erwiderte Corvin.

Der Kanadier schritt zu Moana Adamina, die an der Konsole für die interne und externe Kommunikation saß. Noch hatte sie nicht viel zu tun, doch das würde sich schon bald schlagartig ändern. Sobald sie den Hyperraum verließen würde sie die Frequenzen und die Funktätigkeit der konföderierten Truppen überwachen.

Corvin hatte ihrer Dienstakte entnommen, dass sie, neben ihren Fähigkeiten als Kommandooffizier, auch sehr gute Anlagen als Funkanalytikerin besaß. Während ihrer Zeit an der Akademie hatte sie sich bei der Dekodierung und Verschlüsselung von Nachrichten hervorgetan. Außerdem hatten ihr die Ausbilder bescheinigt, einen Sinn dafür zu haben, bei einem Überangebot von Nachrichten schnell und intuitiv Wichtiges von Unwichtigem trennen und aufbereiten zu können. Dementsprechend setzte Dean Corvin die Samoanerin ein. Auch wenn es der Frau zu Beginn gar nicht gefallen hatte, ihre grünen Uniformstreifen gegen die hellgelben des Fliegenden Personals einzutauschen. Mittlerweile hatte sich Moana Adamina jedoch mit ihrer neuen Position angefreundet. Zumindest schien es so.

„Leutnant Adamina, Sie weisen Ihren Stellvertreter bitte an, auf alle Nachrichten zu achten, die wir aufnehmen können, sobald wir unter Lichtgeschwindigkeit fallen“, wies der Major sie an. „Sie, Moana, brauche ich bis zum Eintreffen des Transporters in der Kontrollstation. Sobald der Transporter da ist und wir ihn gekapert haben, kehren Sie an Bord der NOVA SOLARIS zurück. Sie werden den Fokus dann auf Nachrichten aus dem Gebiet der Inneren Planeten legen. Speziell Mars und Terra natürlich. Sollte es irgendwann auffällige Schwankungen in der Häufigkeit der gesendeten Nachrichten geben, so will ich das umgehend wissen. Das Landekommando wird zunächst Funkstille halten. Erst wenn der Stützpunkt auf Eris in unserer Hand ist, oder aber das Unternehmen auffliegt, wird Hauptmann Spencer eines der beiden Code-Signale, mit extrem kurzer Reichweite, abstrahlen. Sie müssen also achtgeben um es zu empfangen.“

„Empfänger sind vorbereitet und meinen Stellvertreter, Hauptfeldwebel Rybek, habe ich bereits eingewiesen, Sir“, gab die Frau mit der beinahe bronzefarbenen Haut zurück. „Er wird, während meiner Abwesenheit, versuchen, zwischenzeitlich auch aus den Meldungen, die im Klartext hereinkommen, etwas über die momentane Lage im System zu erfahren. Später werde ich sie selbst noch einmal auswerten, sobald Sie zum Mars unterwegs sind.“

Corvin legte für einen kurzen Augenblick seine Rechte auf die Schulter des Frau und drückte sie sacht. „Ich verlasse mich darauf. Wir können jeden Hinweis darauf, was sich seit unserer Flucht aus dem System hier abgespielt hat, gebrauchen. Schärfen Sie das Rybek auch noch einmal ein und machen Sie sich dann bereit.“

Moana Adamina erhob sich von ihrem Platz und wandte sich ihrem Vorgesetzten zu. Sie sah ihn aus ihren beinahe schwarzen Augen an, bevor sie Sie bestätigte und ihren Posten verließ um Sören Rybek zu instruieren. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte Moana Adamina es als etwas seltsam empfunden, dass Corvin diese Art von Vertrautheit, im Dienst, an den Tag legte. Inzwischen nahm sie es nur noch gelegentlich wahr, so wie alle übrigen Crewmitglieder, denen es hier und da nicht anders erging.

Corvin selbst bemerkte diese Marotte kaum. Zu Beginn hatte er versucht, sie zu unterdrücken, doch irgendwann hatte er es aufgegeben. Solange die Crew sich nicht daran störte, sah er auch keinen Grund dazu. Ganz im Gegenteil: Ihm war aufgefallen, dass diese kurzen Gesten der Vertrautheit eine besondere Verbindung zwischen seiner Crew und ihm selbst schufen. Vielleicht war es derselbe Grund, aus dem Generalmajor Arolic Traren seine Untergebenen grundsätzlich beim Vornamen nannte.

Dabei wusste Dean Corvin nicht einmal zu sagen, wann genau er sich diese Marotte eigentlich angewöhnt hatte. Er erinnerte sich daran, dass er seine Hand vertraut auf den Arm von Feldwebel Rian Onoro gelegt hatte. Im Moment des Abschieds. War das der entscheidende Moment gewesen?

Der Kanadier wusste es nicht zu sagen. Doch der Gedanke an die junge Frau brachte sie ihm wieder deutlicher in Erinnerung. So, wie sein Versprechen an sie, zurückzukehren und sie abzuholen. Dabei wusste er, wie gering die Aussicht darauf war, dieses gegebene Versprechen an sie tatsächlich einzulösen, und dieser Gedanke quälte ihn. Seit einiger Zeit bereits schon. Corvin ballte die Hände zu Fäusten, während er zu Irina Hayes zurückkehrte. Warum sollte es nicht möglich sein, es doch zu versuchen? Dieser Gedanke schien ihm im ersten Moment zu verwegen um ihn ernsthaft in Betracht zu ziehen. Andererseits war er nun beinahe wieder in seinem Heimatsystem. Der Gedanke daran, dass es vielleicht doch eine Möglichkeit geben könnte, sein Versprechen zu halten, machte ihn kribbelig. Doch durfte er sich, kurz vor diesem so wichtigen Einsatz, darauf einlassen?“

Der Dunkelblonde sah seine Kameradin von der Seite an. Dabei fragte er leise: „Aus welchem Grund sind wir hier, Hauptmann Hayes?“

Etwas verwundert, wegen dieser Frage, erwiderte die Frau seinen fragenden Blick. „Wie meinst du das? Wir wollen natürlich einen der Störsender erbeuten.“

„Das meinte ich nicht“, gab Corvin unzufrieden über diese Antwort, zurück. „Ich meinte mehr: Was ist das Ziel hinter diesem Einsatz?“

„Einen Weg zu finden, die Menschen im Sol-System wieder zu befreien“, antwortete Irina Hayes prompt. „Warum die Frage?“

„War nur so eine Anwandlung“, wiegelte Dean Corvin schnell ab. Dabei lächelte er unmerklich, denn Irina Hayes hatte ihm bestätigt, was er sich selbst bereits dutzende Male gesagt hatte. Jedesmal wenn ihm Rian Onoro durch die Gedanken ging. Ja, das Ziel war, die Menschen im Sol-System zu befreien, und Rian Onoro war einer von ihnen.

Diese Überlegungen gingen Dean Corvin durch den Sinn, exakt in jenem Moment, als sich Rian Onoro, weniger als zwei Lichtjahre entfernt, in Gedanken an ihn auf ihrer Pritsche zusammenrollte und still ihrem Seelenkummer nachgab.
 

* * *
 

„Noch sieben Minuten bis Punkt X“, meldete Leutnant Curtis Newton, der Erste Pilot der NOVA SOLARIS. „Vibrationen nehmen, wie erwartet, langsam aber stetig zu.“

Irina Hayes wechselte einen schnellen Blick mit Diana Spencer, die vor drei Minuten im Kommandozentrum erschienen war, um die letzten Details mit ihr durchzugehen. Sie trug bereits ihren Raumanzug, lediglich der Falthelm befand sich noch in seinem Nacken-Futteral.

In den letzten Tagen hatte sie nicht nur ihren anfänglichen Zwist mit der Raumlandesoldatin beigelegt; sie waren sich auch menschlich etwas näher gekommen. Sogar um Einiges näher, wenn man es genau nahm, denn sie hatten beide gemerkt, dass sie einander im Grunde wirklich gut verstanden.

So hatten sie sich an einigen der letzten Tage nach dem Dienst getroffen und über alle möglichen Dinge geplaudert. Dabei war Irina aufgefallen, dass Diana Spencer sie stets mit einer besonderen Aufmerksamkeit bedachte. Etwas, dass sie sich einerseits nicht erklären konnte, und andererseits auch nicht hinterfragte. Es störte sie nicht, ganz im Gegenteil, es erzeugte ein angenehmes Gefühl in ihr.

Dean Corvin hatte ihr bereits vor fünf Minuten das Kommando übergeben und sich auf den Weg zu einer der unteren Schleusen gemacht. Irina Hayes fragte sich, ob er ahnte, dass ihr das ganz recht war.

„Ich fürchte, es wird Zeit, dass sie sich auf den Weg machen, Hauptmann Spencer“, erklärte die Rothaarige schließlich. „Sie wissen Bescheid. Sobald die NOVA SOLARIS aufgesetzt hat werde ich das Signal zum Öffnen der Schotts geben. Ihr Team geht ab diesem Zeitpunkt vor, wie geplant. Viel Glück, und passen Sie bitte auf den Major auf.“

„Natürlich!“

Diana Spencer wandte sich ab und marschierte zum Ausgangsschott.

Irina Hayes überlegte einen kurzen Moment lang und folgte der blonden Frau dann. Gleich hinter dem Schott holte sie Diana Spencer ein. Sie wartete, bis sich das Schott des Kommandozentrums hinter ihr geschlossen hatte, bevor sie zu Diana sagte: „Bitte noch auf ein Wort, Hauptmann.“

Diana Spencer wandte sich ihr zu und hob etwas die Augenbrauen. Doch statt ihr etwas zu sagen sah Irina Hayes sie einfach nur stumm an. Erst nach einer Weile räusperte sich die rothaarige Frau und meinte rau: „Bitte passen Sie auch sehr gut auf sich selbst auf, Hauptmann Spe… Ach zum Teufel damit – passen Sie gut auf sich auf, Diana.“

Irina Hayes legte ihre Hand kurz auf den Unterarm der blonden Frau und etwas verlegen schien sie auf eine Reaktion zu warten.

Ein sanftes Lächeln überflog Diana Spencers Gesicht. Sie legte ihrerseits ihre behandschuhte Linke auf die Hand der jungen Frau. Dabei gab sie mit einem Augenzwinkern zurück: „Wir reden wenn das gesamte Landeteam wieder glücklich an Bord ist... Irina.“

Damit akzeptierte sie stillschweigend, dass Irina Hayes sie beim Vornamen genannt hatte. Dann wandte sich die Raumlande-Spezialistin ab und marschierte eilig den Gang hinunter, in Richtung des nächsten Lifts. Als sie den Hangar erreichte, in dem sich das Landekommando versammelt hatte, sah Dean Corvin ihr bereits ungeduldig entgegen.

Als Diana Spencer ihn erreichte, meinte Corvin angespannt: „Wir müssen gleich da sein, die Erschütterungen ziehen sich nun permanent durch das Schiff.“

Wie zur Bestätigung seiner Worte wurde das gleichmäßige Vibrieren unter den Sohlen ihrer Stiefel deutlich stärker und Diana Spencer erwiderte ironisch: „Hoffentlich hält der Kasten wenigstens so lange, bis wir Eris erreichen.“

„Wenn es nach mir geht, dann darf der… Kasten… auch noch eine ganze Weile länger halten“, erwiderte der Kanadier trocken. „Ach ja, und die NOVA SOLARIS ist kein Kasten.“

Diana Spencer lag bereits eine Erwiderung auf der Zunge. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass selbst die ältere und ruhigere Chiara Halloran, von der STELLARIS, die Contenance verlor, wenn irgendjemand ihren Schlachtkreuzer herabwürdigte. Also nickte sie nur verbindlich und verbarg ihre Heiterkeit über die Reaktion des jungen Mannes.

Im nächsten Moment erfüllte ein fürchterliches Kreischen die Zelle des Kreuzers und etwas nervös sah Diana Spencer den Kanadier an. Dabei meinte sie unterdrückt: „Ich will nicht den Schwarzseher spielen, Sir, aber klingt das normal für Sie?“

Corvins Gesichtsausdruck wirkte eine Spur ernster als sonst. „Nein, aber mein Kreuzer wird das schaffen, Hauptmann.“

„Na, wenn Sie das sagen.“

Sie standen etwas abseits des restlichen Landeteams, weshalb niemand sonst ihre gedämpfte Unterhaltung mitbekam. Im nächsten Moment wurde das Kreischen schlimmer und Dean Corvin schloss, in Erwartung des gewaltsamen Endes seines Kreuzers, die Augen.
 

* * *
 

„Hauptmann, die NOVA SOLARIS wird auseinanderbrechen!“

Es war Oberleutnant Fatul Mahmalad der diesen Ausruf über die Bordsprechanlage tätigte. „Die Emitter des Gravo-Magnet-Antriebs arbeiten im Grenzbereich!“

„Dann sehen Sie zu, dass die Emitter das aushalten und der Kreuzer nicht auseinander bricht, Oberleutnant!“, gab Irina Hayes ebenso lautstark zurück. „Und brüllen Sie gefälligst nicht so herum, ich bin ja nicht taub!“

Eine kurze Pause entstand, bevor der beleibte Chefingenieur des Kreuzers, geringfügig weniger lautstark zurückgab: „Verstanden, aber auf Ihre Verantwortung, Ende!“

„Ende und Aus!“, knurrte die rothaarige Frau und sah auf das bunte Wallen auf dem Hauptbildschirm der Zentrale. Von einem beruhigendem Rot war dort nun nicht mehr das Geringste zu sehen. Dafür wallten grüne und blaue Gebiete des Hyperraums vor dem Kreuzer ineinander und Irina Hayes glaubte, dort auch violette Bereiche zu entdecken. Also Bereiche des Hyperraums, die jeder halbwegs vernünftige Raumfahrer mied.

Von der Taktik aus wurde der Planet als graue Gitterkugel eingeblendet. Sie nahm schnell einen immer größeren Bereich des Bildschirms ein und Curtis Newton begann kurze Zeit später die letzten zehn Sekunden herunter zu zählen.

Bereits jetzt verzögerte Newton die NOVA SOLARIS mit Notwerten, denn damit konnten sie nicht erst dann beginnen, wenn der Kreuzer aus dem Hyperraum fiel. In dem Fall wären sie weit am Ziel vorbei geschossen und der Feind hätte sie unweigerlich geortet. Nein sie mussten bereits jetzt damit beginnen, was den Kreuzer an die Grenzen des Belastbaren brachte. Ein Kreischen drang durch das gesamte Raumschiff. Als Newton bei Null angelangt war, fiel das Raumschiff in den Normalraum und auf dem Bildschirm sprang der Planet Eris förmlich auf sie zu. Dabei erfüllte ein neues, schlimmeres Kreischen die Schiffszelle.

Nicht nur die Emitter des Antriebs arbeiteten im Grenzbereich, sondern gleichfalls die Andruckabsorber. Kurzzeitig kamen einige Gravos durch und Irina Hayes wurde heftig aus ihrem Sessel geschleudert. Sich auf dem Boden der Zentrale, hinter dem Sitz des Navigators wiederfindend, rappelte sich Irina Hayes vom Boden auf und strich sich eine Strähne ihrer roten Haare aus dem Gesicht.

Dabei entging dem Ersten Offizier der beeindruckende Anblick, wie der Leichte Kreuzer sich in einem flachen Winkel der planetaren Oberfläche von Eris. Mit 2340 Kilometern Durchmesser etwas größer als Pluto glich er dem neunten Planeten in seinem Aufbau. Auch Eris bestand zu etwa 70% aus Gestein und zu etwa 30% aus Wassereis, mit Spuren von Methan.

Keine zwanzig Kilometer über der Oberfläche zwang der Pilot den Leichten Kreuzer in eine scharfe Kurve, die den Kreuzer wieder bis auf fast 5000 Kilometer ansteigen ließ, bevor er ihn zurück zur Oberfläche fliegen konnte. Dabei blieb die Kontrollstation hinter dem planetaren Horizont, so dass sie nicht von den Nahbereich-Scannern der Station erfasst werden konnten.

Das Kreischen in den Verbänden der Kreuzerzelle verstummte und die Vibrationen hörten auf. Etwas blass um die Nase wandte sich Curtis Newton zu seiner Vorgesetzten um und meldete: „Sir, die NOVA SOLARIS befindet sich im Landeanflug. Noch etwa dreihundert Kilometer bis zum vorgesehenen Landepunkt.

„Danke, Landeanflug einleiten“, erwiderte Irina Hayes mit einer Ruhe, die sie selbst etwas überraschte, denn so empfand sie momentan überhaupt nicht.

Noch während Newton bestätigte nahm Irina Hayes über die Bordsprechanlage Verbindung mit dem Landeteam auf. Sie hoffte inständig, dass es bei dem vorangegangenen Brachial-Manöver keine Verletzten unter den Teilnehmern des Stoßtrupps gegeben hatte.

„Hayes an Kommandant! Der Kreuzer befindet sich in der Endphase des Anflugs auf die planetare Oberfläche. Gab es Verletzte unter den Teilnehmern des Kommandotrupps?“

Es dauerte einen Augenblick, bis die etwas erboste Stimme Corvins erwiderte: „Nein, abgesehen von ein paar blauen Flecken. Aber das betrifft hauptsächlich mich, weil ich es war, der gegen eine der Hangar-Wände gekracht ist. Und Hauptmann Spencer dann, mit dem Hinterteil voran, auf mich. Ein ganz normaler Tag also.“

„Tut mir leid, Sir!“, erwiderte Irina Hayes und sie war froh darüber, dass Dean in diesem Moment nicht ihr feixendes Gesicht sehen konnte. „Schließen Sie jetzt bitte ihre Raumanzüge, der Kreuzer ist in einer Minute über der Landestelle. Hayes Ende.“

Corvin bestätigte und Irina Hayes sah sich in der Zentrale um. Alle anwesenden blickten konzentriert auf ihre Anzeigen, wobei Moana Adaminas Mundwinkel jedoch verdächtig zuckten.

Die Marsgeborene ging stillschweigend darüber hinweg. Sie räusperte sich und sagte zu Curtis Newton: „Gehen Sie so schnell hinunter, wie sie es verantworten können, ohne den Kreuzer in Gefahr zu bringen, Leutnant Newton. Anschließend fahren sie die Antriebsemitter herunter und geben dem Chief Bescheid, dass er die Maschinen auf das absolut mögliche Minimum herunterfahren kann.“

„Verstanden, Sir!“

Die momentane Kommandantin des Leichten Kreuzers sah auf dem Hauptbildschirm die vereiste Oberfläche von Eris näher kommen. Irina Hayes wusste, dass die mittlere Oberflächentemperatur des Planeten bei -242 Grad Celsius lag. Was nach der Kelvin-Skala, auf der es keine negative Einteilung gab, exakt 31,15 Grad entsprach.

Eben hatte der Leichte Kreuzer den Wall des Kraters, in dem die NOVA SOLARIS landen sollte, überflogen.

Die Landeschoren wurden ausgefahren und die rothaarige Frau wollte bereits befreit aufatmen, als das Licht des Kommandozentrums unstet zu flackern begann.

Gleichzeitig meldete Oberfeldwebel Akira Takeda, von den Maschinenkontrollen: „Die Energieverteiler arbeiten unregelmäßig! Möglicherweise ein Schaden, der durch das Gewaltmanöver entstanden ist! Analyse läuft!“

Hayes sah zu Newton und forderte drängend: „Landen! Sofort runter!“

Der Mann mit den tizianroten Haaren reagierte umgehend. Er brachte den Kreuzer bis auf wenige Meter über die Oberfläche hinunter und fing ihn ab, auf der Suche nach einer günstigen Landestelle.

Der Totalausfall aller Emitter nahm ihm die Entscheidung ab. Die NOVA SOLARIS sackte drei Meter durch und schlug auf der Oberfläche des kleinen Planeten auf.

Irina Hayes fing den Aufprall in den Knien federnd ab, froh darum, dass die Gravitation auf Eris deutlich schwächer war, als auf Terra oder auf dem Mars. Etwas schief stehend kam der Kreuzer vorerst zum Stillstand.

Gleichzeitig erlosch die normale Beleuchtung der Zentrale und die Notbeleuchtung flammte auf. Aus dem Maschinenraum meldete sich Oberleutnant Fatul Mahmalad mit leicht krächzender Stimme: „Die Reaktoren haben sich selbst per Notschaltung deaktiviert, Sir. Hier unten sind mehrere Umformerbänke explodiert. Die Reparatur wird eine Weile dauern. Notenergie ist verfügbar.“

Irina Hayes stellte eine Ringverbindung her, so dass das Landeteam das Gespräch mitbekam. Hastig fragte sie: „Wie lange dauert es, bis die NOVA wieder in Ordnung ist?“

Ein Husten war die Antwort, gefolgt von einem gereizten: „Weiß ich noch nicht. Möglicherweise nur einige Tage, vielleicht aber auch länger.“

„Mist!“, gab die Frau verdrießlich zurück. „Verstanden, Chief. Machen Sie sich am Besten gleich an die Arbeit. Hier liegen wir wie auf einem Präsentierteller, und das gefällt mir ganz und gar nicht. Außerdem wollen wir wieder von hier weg, wenn das Landeteam zurück ist. Sie haben maximal eine Woche Zeit, ab dem Zeitpunkt, an dem unser Landetrupp den zu erwartenden Transporter gekapert hat und zum Mars abfliegt. Denn spätestens dann wird der nächste Nachschubtransporter hier eintreffen. Sie wissen so gut wie ich, dass die Besatzung dieses Transporters sehr schnell feststellen wird, dass auf Eris etwas nicht stimmt.“

Mahmalad knurrte unverständlich so etwas wie eine Bestätigung und schaltete ab.

Immer noch etwas angeschlagen rieb sich Irina Hayes mit zwei Fingern den Nasenrücken und fragte über Bordfunk: „Major, haben Sie mitgehört?“

„Ja. Machen Sie dem Chief Beine“, antwortete Corvin. „Ich werde jetzt mit dem Landetrupp den Kreuzer verlassen und wir werden uns auf den Weg machen. Erwarten Sie uns dann in spätestens sechs Tagen, nachdem wir den Transporter gekapert haben werden, wieder zurück, aber wundern Sie sich nicht, wenn es etwas länger dauern sollte. Sind wir nach Ablauf von sieben Tagen nicht wieder zurück, dann starten Sie und fliegen das Alpha Centauri-System an. Sollte die NOVA SOLARIS vorher entdeckt werden, dann starten Sie ebenfalls dorthin. Warten Sie dort auf ein Zeichen von uns, aber nicht länger als drei Wochen. In dem Fall geben Sie aber zuvor Code QRX durch bevor Sie sich zur Wega zurückziehen, dann wissen wir, dass wir uns nach einem anderen Transportmittel für den Rückflug zum Wega-System umsehen müssen. Sollten wir hingegen einen anderen Weg aus dem System nehmen müssen, so senden wir QQXAQ als Kurzimpuls. Auch bei diesem Zeichen heißt Ihr Ziel eindeutig Wega-System.“

„Verstanden, Sir. Viel Glück!“, wünschte die Marsianerin. „Hayes, Ende.“

Das Ende der Unschuld


 

5.
 

Das Ende der Unschuld
 

Seite an Seite hüpften Major Dean Everett Corvin und Hauptmann Diana Elodie Spencer, mit langen, kraftsparenden Sprüngen, über die vereiste Felswüste von Eris.

Bisher hatte sich der Landetrupp weitgehend in vollkommener Finsternis vorwärts bewegt, doch die Eigenrotation brachte die Raumlande-Soldaten, wenn auch nur äußerst langsam, immer näher an die Zwielichtzone heran. Denn für einen Umlauf brauchte Eris immerhin fast neun Tage.

Hinter den beiden Führungsoffizieren folgten die Männer und Frauen der farradeenischen 501. Raumlandeeinheit. Sie alle waren mit schweren Schock-Pistolen und phasengesteuerten Plasmagewehren neuester Fertigung bewaffnet.

Das matt-schwarze Material der Raumanzüge bestand aus einem mehrschichtigen Leichtmetall-Synthetikstoff-Netz, mit einem doppelschichtigen Überzug aus einer Verbundschicht hochwertiger, und dabei äußerst widerstandsfähiger Polymere. Diese Mischung machte sie sehr leicht. Dennoch waren sie trotzdem auch unter Extrembelastungen reißfest und vakuumdicht.

Bis kurz vor dem Ausstieg aus dem Kreuzer hatten die transparenten Helme noch, wie Kapuzen, in einem dünnen Nackenwulst, oberhalb der flachen Flugaggregate, geruht. Nun schützten sie ihre Träger und boten ihnen dennoch eine ungehinderte Rundumsicht.

Die besondere Eigenschaft des flexiblen Panzer-Glassits dieser Helme war dabei die dünne Zwischenschicht mit dem feinen Netz von eingewebten Flüssigkristallen, die diesen Helmen, bei Bedarf, ihre starre Eigenschaft verlieren ließ. Wurden sie geschlossen, so nahmen die Helme, ausgelöst durch den sogenannten Memory-Effekt der Kristalle, sofort wieder ihre starre Kugelgestalt an. Ein weiterer, nützlicher Nebeneffekt dieser Kristalle war der, dass sich die Helme, durch die fotochemischen Reaktionen der Flüssigkristalle, automatisch abdunkelten, falls die Gefahr einer Blendung bestand.

Die Flugaggregate stellten, bei näherer Betrachtung, nichts anderes, als Gravo-Magnet-Antriebe in Mikrobauweise dar, denn sie funktionierten nach demselben Prinzip. Natürlich besaßen sie nicht dieselben Beschleunigungseigenschaften der großen Raumschiff-Aggregate, doch immerhin konnten die Träger dieser Antriebe, im Vakuum des Weltalls, eine Geschwindigkeit von bis zu 700 Kilometern pro Stunde erreichen.

Darauf allerdings mussten die Raumlande-Soldaten zu ihrem Leidwesen, auf den letzten fünf Kilometern ihres Weges zur Station, verzichten, denn der Energieausstoß der Aggregate wäre, ab einer Entfernung von unter drei Kilometern zur Station von dort aus garantiert angemessen worden. Darum hatten sie die Aggregate, auf Corvins Befehl hin, mit einem gewissen Sicherheits-Puffer abgeschaltet, nachdem sie die Hälfte ihres Weges zur Kontrollstation der Ortungs-Phalanxen zurückgelegt hatten.

In einem gewissen zeitlichen Abstand versicherten sich Corvin und Diana Spencer immer wieder, dass der Trupp beieinander blieb und niemand zurückfiel. Wie zuvor abgesprochen, lag die Führung des Landetrupps nun bei der blonden Frau.

Diana Spencer hatte strikte Funkstille angeordnet. So wechselten sie und Corvin lediglich, von Zeit zu Zeit, Blicke miteinander.

Bei einem dieser Blickkontakte deutete Dean Corvin zu einem Punkt hoch über ihnen. Die Frau sah den kleinen Mond namens Dysnomia über ihren Köpfen schweben. Nur 170 Kilometer an seiner größten Stelle durchmessend befand er sich gerade einmal 37.000 Kilometer von ihnen entfernt. Was einen relativ geringen Abstand darstellte.

Nach einem kurzen Moment sah Diana Spencer den Kanadier wieder an. Ihr Blick wirkte dabei etwas grimmig und mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger der linken Hand deutete sie zuerst auf ihre Augen und dann in die Richtung, in die sie sich fortbewegten.

Corvin verstand, was sie ihm damit sagen wollte. Er verzog etwas die Mundwinkel und sah demonstrativ wieder nach vorne. Doch er musste zugeben, dass sie Recht hatte. Er sollte sich ausschließlich auf den Auftrag konzentrieren. Doch wen ließ der Anblick einer fremden Welt, die er zum ersten Mal betrat, schon vollkommen gleichgültig?

Eris war der Name der Göttin des Streits und der Zwietracht, deren Intrige den Trojanischen Krieg ausgelöst haben sollte, und Dysnomia war ihre Tochter gewesen. Die Dämonin der Gesetzlosigkeit. Vielleicht, so grübelte der Kanadier mürrisch, war das bezeichnend für seine Zusammenarbeit mit Diana Spencer.

Im nächsten Moment verwarf der Mann den Gedanken daran. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf das, was vor ihnen lag, während er sich wieder abstieß und einen weiteren weiten Satz nach vorne machte. Er erinnerte sich an eine ähnliche Aktion, auf dem Mond der Erde, vor etwa vier Monaten.

Die Hüpferei auf Luna hatte sich ganz ähnlich gestaltet, doch die Gravitation dort war deutlich höher gewesen. Hier auf Eris die Kontrolle über seine Bewegungen zu behalten war nochmal deutlich schwerer, als auf dem irdischen Mond.

Bis auf eine Entfernung von mehreren hundert Metern konnten sie dabei eine flache Hügelgruppe zwischen sich und der Station halten. Ab dort gedachten sie, sich durch einen flachen gewundenen Bodenriss dem Komplex der Station anzunähern. Erst auf den letzten siebzig Metern würden sie dann komplett ungedeckt sein.

Als sie die Hügelkette erreicht hatten robbten Corvin und Spencer zur Kuppe hinauf und warfen einen Blick auf die Station. Dabei deutete der Kanadier auf eine flache Kuppel, die ihnen am nächsten lag und legte seinen Helm gegen den seiner Begleiterin, weil sie nicht wagen wollten den Funk zu benutzen.

„Da liegt der Eingang, über den wir uns Zugang verschaffen werden, Hauptmann. Ich hoffe, der Code, den General MacPherson uns zukommen ließ, hat noch Gültigkeit.“

„Wenn nicht wenden wir Gewalt an“, gab die Frau zurück.

Über diese physikalische Helmverbindung klangen die Worte seltsam hohl, und für einen Augenblick fragte sich Corvin, wie seine eigenen Worte geklungen haben mochten. Dann zog er den Kopf zurück, sah Diana Spencer durch das Helm-Material an und nickte.

Langsam zogen sie sich zurück.

Über Handzeichen gab Diana Spencer an den Trupp weiter, dass sie sich nun durch den Bodenriss der Station nähern würden.

Der Weg gestaltete sich mühsamer, als Dean Corvin es sich, trotz des Trainings auf dem Mond von Farradeen, vorgestellt hatte. Dicht hinter Diana Spencer krabbelte er auf allen Vieren durch den engen Riss und war froh darüber, keine Ringerfigur zu haben wie Fatul Mahmalad. Allein die Vorstellung daran, wie sich der etwas Beleibte durch diesen Riss im Boden gezwängt hätte, erheiterte ihn.

Die Krabbelei schien kein Ende zu nehmen und als Diana Spencer plötzlich anhielt hätte Corvin sie beinahe angestoßen.

Die Frau gab, ohne sich herum zu drehen mit ihrer Hand das Zeichen sich bereit zu halten. Dean Corvin gab es nach hinten weiter und beobachtete aufmerksam, was die Raumlande-Spezialistin tat.

Nach einem kurzen Augenblick gab sie das Zeichen, ihr zu folgen, wobei sie sich gleichzeitig erhob und die Deckung des Bodenrisses verließ.

Auch dieses Zeichen gab Dean Corvin weiter und folgte Diana Spencer umgehend. Einige Meter vor sich erkannte er die Frau, die sich mit zwei weiten, gut berechneten Sätzen über die zum Teil vereiste Oberfläche des Planeten, dem Kuppelbau näherte. Der Kanadier tat es ihr nach. Dabei betete er, dass in diesem Moment nicht ausgerechnet einer der Konföderierten aus einer der Sichtluken sah.

Die farradeenische Frau landete dicht vor dem Zugangsschott der Kuppel und federte den restlichen Schwung, den der letzte Sprung ihr verliehen hatte, mit dem linken Arm ab. Schnell wandte sie sich um und half Corvin dabei dicht neben ihr zum Halten zu kommen.

Dean Corvin nickte der Frau zu und bewegte sich vorsichtig auf die andere Seite des Schotts, auf dem der Codegeber zum Öffnen des Schotts lag. Er wartete ungeduldig bis der letzte Soldat des Trupps heran war, bevor er den Code eingab, den sie von MacPherson bekommen hatten.

Zu Corvins Erleichterung leuchtete die Kontaktfläche zum Öffnen des Schotts nach einem kurzen Augenblick in einem beruhigenden Grün auf.

Der Kanadier berührte mit seiner behandschuhten Linken die Kontaktfläche. Durch die, in den Handschuhen eingearbeiteten, Rezeptor-Zellen konnte der Major die Oberfläche der Schaltfläche beinahe so gut ertasten, als würde er direkt seine Handflächen darauf legen.

Behände drang der Trupp ins Innere ein, wobei die Männer und Frauen des Trupps unmittelbar vom Andruck der im Boden eingelassenen Emitter der Schwerkraftgeneratoren dieser Station eingefangen wurden.

Der Übergang kam für einige Mitglieder des Landeteams so plötzlich, dass sie kurzzeitig in die Knie gingen. Da die Schleuse für zwanzig Personen ausgelegt war wurde es beklemmend eng, doch alle Mitglieder des Landetrupps schafften es, sich in die Schleusenkammer zu zwängen, bevor Corvin, der als Letzter hinzu kam, das Außenschott endlich verriegelte.

Da die Besatzung der Station spätestens jetzt wusste, dass sich hier Ungewöhnliches ereignete, gab Corvin die Funkstille auf und meldete Diana Spencer: „Alle drin, Hauptmann Spencer. Druckausgleich vornehmen und vorrücken. Nehmen Sie zuerst die Kommandozentrale ein, damit von dort aus kein Notruf abgesetzt wird. Vermutlich wird man momentan noch an eine Fehlfunktion der Schottverriegelung denken.“

„Verstanden, Sir!“, gab Diana Spencer knapp zurück. Nur Augenblicke später öffnete sich das Innenschott der Schleuse und die Raumlande-Spezialistin verteilte ihre Leute auf die verschiedenen Gänge. Sie selbst zog ihren Schock-Strahler und stürmte, gefolgt von zehn Männern und Frauen ihres Trupps, in Richtung der Kommandozentrale davon.

Corvin gab Moana Adamina, die sich bisher dicht hinter ihm gehalten hatte, ein Zeichen, Spencer zu folgen. Er klappte seinen Helm zurück und wartete, bis sich das transparente Gebilde zusammengefaltet hatte und im Nackenwulst des Raumanzuges verschwunden war. Danach hängte er das Plasmagewehr quer über den Rücken, zog seine eigene Schockwaffe und kontrollierte, dass sie auf die stärkste Stufe eingestellt war.

Die Strahlen dieser Waffengattung wirkten auf das menschliche Nervensystem und betäubten einen Menschen bis zu sechs Stunden. Leider konnten Schockstrahlen weder Schutzschilde noch Raumschiff-Panzerungen oder Gebäudewände durchdringen.

Aus der Richtung, in die Diana Spencer verschwunden war, hörte Corvin über die empfindlichen Außenmikrofone das typisch helle Sirren dieser Waffengattung. Sie war also bereits voll bei der Sache.

Vor Corvin und den Männern und Frauen, denen er folgte, tauchten nun ebenfalls Angehörige des Militärs der Konföderation Deneb auf. Zu identifizieren an ihren perlnachtblauen Uniformen. Sie wurden mit Schockstrahlern niedergeschossen, bevor sie wussten, wie ihnen geschah.

Corvin beobachtete Spencers Stellvertreter, Oberleutnant Harin Krezirin, wie er seine Leute dazu anhielt alle Quartiere nach Konföderierten abzusuchen. Er selbst mischte sich nicht ein sondern hielt sich dicht an der Seite des schlaksigen Mannes, seinen Schock-Strahler fest in der rechten Hand.

Sie waren noch zu viert, als sich neben Corvin plötzlich das Schott eines Quartiers öffnete. Der Terraner blickte direkt in das überrascht wirkende, schmale Gesicht einer jungen Frau. Ohne zu überlegen drückte er ab und fing die zusammensackende, schlanke Gestalt auf. Mit einem leisen Entschuldigung ließ er die Frau sachte zu Boden gleiten, bevor er seinen Weg fortsetzte.

Bei Krezirin angekommen sah der Kanadier in das fragende Gesicht des farradeenischen Mannes. „Sie sind wahrhaftig ein Offizier und Gentleman, Sir.“

Erst als Corvin ihm einen langen Blick zu warf begriff Krezirin und stellte, ehrlich verwundert fest: „Es tut Ihnen offensichtlich wirklich leid, auf diese feindliche Soldatin geschossen zu habe, und wohl auch das, was noch mit ihr geschehen wird.“

Mit etwas unwilliger Miene erwiderte Corvin ernst: „Ja, Oberleutnant. Wir führen zwar Krieg gegeneinander, doch ich habe mir diesen Krieg weder gewünscht, noch habe ich den geringsten Spaß daran. Dennoch nehme ich sehr ernst was ich tue, das versichere ich Ihnen und ich werde diese Mission erfüllen.“

Sie schossen beide jeweils einen weiteren Angehörigen des Stationspersonals nieder, bevor Krezirin erwiderte: „Wissen Sie, einer meiner Ausbilder an der Akademie sagte mir, dass man, wenn man einen Krieg gewinnen will, selbst zum Krieg werden muss.“

Nebeneinander rückten sie zu einer T-Kreuzung vor. Corvin sicherte nach Rechts; Krezirin nach Links. Dabei gab Corvin grimmig zur Antwort: „Ich glaube, der Tag an dem wir alle diese Ansicht übernehmen, Oberleutnant Krezirin, wird der Tag sein, an dem wir diesen Krieg verlieren. Selbst dann, wenn wir ihn am Ende gewinnen sollten.“

Statt darauf zu antworten fragte Krezirin: „Trennen wir uns?“

Corvin schaltete sofort um und erwiderte: „Ja. Nehmen Sie Feldwebel Korroman und wenden Sie sich nach Links. Ich halte mich mit dem Oberfeldwebel auf dieser Seite.“

Sie trennten sich, nachdem Krezirin seinem Begleiter einen Wink gegeben hatte.

Dean Corvin sah den beiden Männern sinnend nach, bevor er sichernd in die entgegengesetzte Richtung marschierte. Die schlanke, dunkelhaarige Frau an seiner Seite hielt sich auf der anderen Seite des Ganges. Corvin sah kurz in ihr asketisches Gesicht, mit den auffallenden, leicht schräg stehenden, Augen, und er erinnerte sich daran, dass sie Anaris Ikari hieß. Schon während des Trainings war ihm aufgefallen, dass sie Linkshänderin war. Auch jetzt hielt sie ihre Schockwaffe in der Linken, während ihre großen dunklen Augen unverrückbar nach vorne gerichtet waren. Auch er selbst richtete seinen Blick wieder geradeaus, jederzeit damit rechnend auf feindliche Soldaten zu treffen

Am Ende des Ganges schloss sich ein Treppenhaus an, über das man die höher gelegene Ebene der Station erreichte. Unangefochten erreichten Corvin und Ikari die zweite Ebene. Niemand war ihnen begegnet, und Corvin bewegte sich fast schon etwas sorglos voran, als an der nächsten Gangkreuzung drei schwer bewaffnete Gestalten auftauchten.

Oberfeldwebel Ikari reagierte mit einer Geschwindigkeit, die Corvin überraschte. Noch während sie ihn mit sich zu Boden riss feuerte sie bereits auf einen der Soldaten.

Durch die schnelle Reaktion der Frau entging der Kanadier mit knapper Not einem Plasmaschuss, der zischend hinter Ihnen in die Wandung des Ganges einschlug. Als er zu Boden ging feuerte Anaris Ikari bereits auf den zweiten Feind. Corvin erledigte den Dritten und raunte seiner Begleiterin zu: „Das war knapp.“

„Keine Sorge, ich passe auf Sie auf, Sir“, gab die Frau ungerührt zurück, sprang auf die Füße und reichte Corvin die Hand, als er sich erhob.

Der Major erhob sich mit Ikaris Hilfe. „Das beruhigt mich ungemein, Oberfeldwebel. Kontrollieren wir jetzt lieber die einzelnen Abteilungen hier oben.“

Sie stießen auf keinerlei Gegner mehr. Was sie kaum verwunderte, denn wie sie feststellten gab es hier oben zumeist nur Lagerräume und Abteilungen mit einer Anhäufung komplizierter, technischer Gerätschaften.

Nach weiteren zehn Minuten kamen die Rückmeldung von Krezirin und Diana Spencer, dass der letzte Widerstand gebrochen sei. Insgesamt hatten sie einundzwanzig Männer und Frauen der Konföderation Deneb betäubt.

Oberfeldwebel Ikari beorderte, auf Dean Corvins Geheiß hin, mehrere Leute des Landetrupps zur oberen Ebene hinauf, um die drei Bewusstlosen abzutransportieren. Sie wurden, zusammen mit den anderen Überwältigten, in einen leeren Laderaum transportiert.

Als Corvin sich mit Anaris Ikari zum Treppenhaus begab, nahm er Funkkontakt zu Diana Spencer auf. „Wie steht es um unsere Leute, Hauptmann?“

Die Antwort fiel knapp aus. „Keine Verluste, Major!“

„Danke, Hauptmann. Ich bin auf dem Weg zum Lagerraum. Bitte warten Sie dort auf mich. Corvin, Ende.“

Während sie die Treppen zur unteren Ebene der Station hinunter stiegen sagte Corvin zu seiner Begleiterin: „Ihnen danke ich ebenfalls, Oberfeldwebel. Ohne Ihre schnelle Reaktion hätte er übel für mich ausgesehen.“

„Darf ich offen sprechen, Sir?“

Etwas überrascht blieb Dean Corvin am unteren Ende der Treppe stehen und sah in das ernst blickende Gesicht der hochgewachsenen Frau. „Natürlich, Oberfeldwebel.“

Die schlanke Frau atmete tief durch und sagte dann ruhig: „Sie sollten, zumindest für die Dauer dieses Einsatzes, vielleicht doch in Erwägung ziehen, zum Krieg zu werden. Sonst werden Sie vielleicht irgendwann nicht mehr so viel Glück haben, wie heute, Sir.“

Damit wandte sich die Frau ab und schritt auf den Gang hinaus. Corvin spürte ein Grummeln im Magen, das ihm nicht sonderlich gefiel. Denn ihm wurde klar, dass sie möglicherweise Recht hatte. Dort oben war er für einen Moment lang nicht vollkommen bei der Sache gewesen und ohne Ikari hätte das vermutlich tödlich für ihn geendet.

Er schluckte und folgte der Raumlande-Soldatin, wobei er sich fest vornahm seine Einstellung zum Krieg noch einmal zu überdenken. Was ohnehin nicht zu vermeiden war, bei dem was nun folgen würde.

In finstere Gedanken versunken folgte Dean Corvin der Frau und machte sich, mit raumgreifenden Schritten, auf den Weg zum Lagerraum, in den man die betäubten Soldaten der Konföderation Deneb gebracht hatte.

Vor dem Schott traf er auf Diana Spencer, die dort bereits auf ihn wartete. Auch ihre Miene wirkte angespannt, was den Kanadier nicht verwunderte, denn er hatte sie, vor drei Tagen, auch in das letzte, grausame Detail des Einsatzplans eingeweiht.

Als Corvin die Raumlande-Spezialistin erreicht hatte, legte er seine Rechte auf den Öffnungskontakt des Lagerraum-Schotts und trat, gefolgt von ihr, ein.

Die Männer und Frauen der 501. Raumlandeeinheit hatten die Bewusstlosen, in drei Reihen zu jeweils sieben Personen, auf dem Boden des Lagerraums abgelegt. Langsam schritt Dean Corvin zwischen den Bewusstlosen entlang. Als er dabei die Frau entdeckte, die er vorhin niedergeschossen hatte, als sie das Schott ihres Quartiers öffnete, blieb er stehen und kniete sich zu ihr ab. Für einen Moment sah er sie nur an, bevor er ihre Beine lang ausstreckte und zusammenführte. Danach legte er ihren linken Arm an ihre Seite, während er die rechte Hand der Bewusstlosen auf ihr Herz bettete.

Als Corvin sich wieder erhob sah er zur Seite. Diana Spencer war neben ihn getreten und fragte ihn leise: „Was tun Sie da, Major?“

Der Kanadier schluckte und erwiderte mit kratziger Stimme: „An der Akademie habe ich eine sehr alte Dokumentation angeschaut. Ein Freund hatte sie entdeckt. Sie handelte von den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts und von den Gepflogenheiten innerhalb einiger Eliteeinheiten dieser Zeit. In einigen dieser Einheiten hat man gefallene Kameraden so hin gebettet, wenn nicht die Zeit blieb, sie ordentlich beizusetzen.“

Die Frau sah den Schmerz im Blick des jungen Mannes und sie selbst spürte ebenfalls einen Knoten im Magen. „Ich verstehe, Sir.“

Der Terraner erwiderte ihren Blick und fragte leise, wobei er eine fahrige Geste mit der linken Hand machte: „Würden Sie mir bei den Übrigen helfen, Hauptmann Spencer?“

Die blonde Frau nickte, sich dabei mit den Fingern durch ihr Haar fahrend und die beiden Offiziere begannen damit, die übrigen Bewusstlosen ebenso auszurichten, wie die Frau, um die sich Corvin zuerst gekümmert hatte. Als sie fertig damit waren, schritt Diana Spencer zu Corvin und sagte leise: „Sie wissen, warum wir keine Gefangenen machen dürfen, Major. Die würden, selbst wenn wir sie bei unserem Aufbruch zum Mars noch einmal betäuben würden, spätestens sechs Stunden später Alarm geben, und wenn wir sie tagelang einsperren würden, dann würden sie am Ende qualvoll verhungern und verdursten. Ich weiß, es ist schrecklich, Sir, aber wir haben keine Wahl.“

Der Kopf des jungen Mannes ruckte herum und aus brennenden Augen sah er Diana Spencer an. „Denken Sie vielleicht, das wüsste ich nicht, Hauptmann? Ich war es, der diesen Plan entwickelt hat, und jetzt bekommt dieser Plan ein grausames Gesicht.“

Die Frau verstand die Aufgewühltheit des jungen Terraners. Beschwichtigend legte sie ihre linke Hand auf seine Schulter und sagte mit sanfter Stimme: „Sir, eine sehr alte Militärweisheit besagt, dass das Erste, was in einem Krieg verloren geht, die Unschuld ist. Nun werden wir beide mit dieser Tatsache konfrontiert, doch das darf uns nicht abhalten.“

Corvin biss die Zähne aufeinander, bevor er Haltung annahm und in Richtung der bewusstlos da liegenden Menschen salutierte. Nach einem Moment sank seine Hand wieder herab und er meinte erst jetzt, tonlos zustimmend: „Nein, das dürfen wir nicht, Hauptmann Spencer. Bringen wir es hinter uns.“

Gemeinsam schritten sie aus dem Lagerraum und Corvin verriegelte das Schott hermetisch, nachdem sie auf dem Gang standen. Danach begaben sie sich zur Kommandozentrale der Station, die im Schnittzentrum der Kuppel, auf der oberen Ebene lag.

Als sie eintraten gab Diana Spencer den beiden Wachen am Eingang einen unauffälligen Wink sie beide allein zu lassen. Gemeinsam schritten sie zur Kontrollkonsole und nahmen in zwei der Sessel Platz.

Grübelnd starrte Corvin einen Moment lang auf die Anzeigen bevor er sich daran machte die Umweltkontrollen der Station aufzurufen. Über ein Untermenü konnte die atmosphärische Zusammensetzung in jedem der einzelnen Sektoren dieser Station geändert werden. So auch in dem nun hermetisch abgeriegelten Lagerraum, in dem die Bewusstlosen ruhten. Der Kanadier aktivierte einen der optischen Bereiche der Konsole, auf dem das Innere des Lagerraums sichtbar wurde. Daneben erschienen virtuelle Regler für die atmosphärische Zusammensetzung innerhalb des Lagerraums.

Diana Spencer sah den Major eindringlich an. „Sie müssen das nicht selbst tun, Sir.“

Corvin sah zur Seite und widersprach: „Doch, das muss ich, Hauptmann. Ich habe das Kommando und ich allein muss diese Tat verantworten. Niemand sonst.“

Damit nahm der Kanadier entschlossen die Schaltung vor, die den Sauerstoffanteil der Atmosphäre innerhalb des Lagerraumes langsam verminderte. In knapp einer Minute würde der Lagerraum eine reine Stickstoffatmosphäre enthalten. Wieder und wieder sagte sich der Major dabei, dass die Betäubten nichts von ihrem langsamen Ersticken mitbekommen würden, doch das half ihm nicht, das schreckliche Gefühl in seinem Innern niederzuringen, dass sich von Sekunde zu Sekunde drängender bemerkbar machte. Seine Hand verharrte für einige Sekunden in der Nähe der Kontrollen, bevor sich seine Finger langsam zur Faust ballten und die Hand sich zurückzog.

Obwohl sich Corvin der Sinnlosigkeit dieses Handelns bewusst war, wartete er, bis der Sauerstoffgehalt auf Null herabgesunken war, bevor er die Temperatur für den Lagerraum auf Minus Fünfzig Grad einstellte, um die Leichen zu konservieren, bis man sie fand.

Der Terraner stützte sich mit den Händen an der Kante der Konsole ab, während sein Kopf etwas nach vorne sank. Fast unhörbar sagte er: „Jetzt habe ich einundzwanzig Menschen auf dem Gewissen.“

Diana Spencer, die beinahe körperlich spüren konnte, wie Corvin das Ereignis mitnahm, packte die Armlehne seines Sessels und drehte ihn nachdrücklich zu sich herum. Den Mann eindringlich ansehend sagte sie ruhig und sehr betont: „Tun Sie das nicht, Sir. Bitte tun Sie sich das nicht an. Zählen Sie nicht die Toten in diesem Krieg. Zählen Sie die Leben, die sie retten werden. Ich weiß, das macht einen Moment, wie diesen hier, nicht besser, doch es ist vielleicht der einzig richtige Weg um nicht zu verzweifeln, bevor dies alles letztlich zu einem guten Ende gefunden hat. Oder vielleicht auch zu einem schlechten Ende, wie auch immer.“

Dean Corvin sah fragend und niedergeschlagen zugleich zu ihr auf. Mühsam beherrscht meinte er schließlich: „Bitte lassen Sie mich für einen Moment allein.“

Die Frau erhob sich geschmeidig aus ihrem Sessel. Spontan legte sie ihre Rechte erneut auf seine Schulter und drückte sie spürbar. „Natürlich, Major.“

Dean Corvin hörte, wie sie davon schritt. Langsam drehte er sich im Sessel wieder der Konsole zu und warf einen letzten Blick auf die Leichen im Lagerraum, bevor er die Überwachungsfunktion deaktivierte. Langsam, beinahe wie in Zeitlupe beugte er sich vor, stützte die Ellenbogen auf der Oberfläche der Konsole ab und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Er hatte sich bis eben eisern beherrscht, doch jetzt füllten sich seine Augen mit Tränen, die schließlich über seine Wangen rannen. Erst nach einer ganzen Weile wischte er sich über das Gesicht und atmete mehrmals tief durch. Das half etwas. Danach blieb er noch eine ganze Weile im Sessel sitzen und starrte ins Leere, vor seinem inneren Auge nun noch ein Gesicht, dass er nicht so schnell vergessen würde. Endlich riss er sich zusammen und erhob sich aus dem Sitz. Er musste sich darum kümmern, die nächsten Schritte einzuleiten.
 

* * *
 

Drei Tage verstrichen, ohne dass sich etwas Nennenswertes in der Kontrollstation ereignete. Dean Corvin fing sich in dieser Zeit seelisch wieder und Diana Spencer, die heimlich ein Auge auf den Terraner hatte, registrierte dies mit Erleichterung. Sie hatte Moana Adamina einen sachten Hinweis darauf gegeben, wie es in Corvin aussah und sie darum gebeten, sie möge sich unauffällig etwas um ihn kümmern.

Die Samoanerin machte ihre Sache ausgezeichnet, wie Diana Spencer bald darauf zu ihrer Zufriedenheit feststellte. Dabei entging ihr nicht, dass der Terraner, in den letzten Tagen, gleichfalls einige längere Gespräche mit Oberfeldwebel Ikari geführt hatte. Diese Gespräche schienen ihm gutgetan zu haben.

Die Vorräte der Station hatten sich schnell als ausreichend erwiesen, auch für mehr als sechzig Personen. Trotzdem wünschte sich Dean Corvin, der Transporter würde nicht noch ein paar Tage auf sich warten lassen. Gestern war er nochmal den Einsatzplan mit Diana Spencer durchgegangen.

Sie waren überein gekommen, dass sie den Flug zum Mars zeitlich so festlegen würden, dass es bei ihrer Ankunft Nacht über dem Raumhafen von Red Sands sein würde. Im Dunkel der planetaren Nacht würden ein paar Raumfahrer in schwarzen, statt in nachtblauen Uniformen, auf dem größten Militär-Raumhafen des Mars, kaum auffallen. Ab diesem Zeitpunkt würden sie allerdings weitestgehend improvisieren müssen, denn die tatsächlichen, momentanen Gegebenheiten auf dem Mars ließen sich naturgemäß, ohne vorangehende Aufklärung, nicht abschätzen. Eine solche Aufklärung ließ sich jedoch nicht bewerkstelligen, zumindest nicht ohne dass dabei das Unternehmen frühzeitig aufflog.

Im Kommandozentrum der Station vor sich hin brütend bemerkte Corvin Moana Adaminas Erscheinen erst, als sie ihn beinahe erreicht hatte. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und setzte sich zwanglos in den Sessel neben seinem.

Der Major blickte in das ovale, von schwarzen Locken eingerahmte Gesicht der jungen Frau und erkundigte sich launig bei ihr: „Sie wollen mich doch nicht schon wieder dazu überreden, Sie doch zum Mars mitzunehmen, Oberleutnant? Denn das wäre absolut sinnlos. Meine Entscheidung steht fest. Ich brauche Sie auf der NOVA SOLARIS.“

„Kein Gedanke, Sir“, erwiderte die Frau. „Obwohl ich es natürlich immer noch für einen Fehler halte, dass Sie mich hierlassen wollen.“

„Natürlich“, seufzte Corvin und verdrehte die Augen. „Was also kann ich sonst für Sie tun, Oberleutnant?“

„Sie könnten etwas essen, Sir, und sich dann für eine Weile hinlegen“, riet die Samoanerin ernst. „Sie haben in den letzten Tagen nur wenig geschlafen und bei diesem Unternehmen brauchen wir Sie in Höchstform, Sir.“

Der Terraner grinste müde. „Hat Hauptmann Spencer Sie schon wieder auf mich angesetzt, Oberleutnant Adamina?“

Die Samoanerin tat sehr erstaunt, und Corvin legte grimmig nach: „Ich habe bereits vor Tagen durchschaut, dass Spencer aufmerksam beobachtet, wie es mir geht. Wenn Sie meinen, ich hätte ihr kleines Manöver, Sie dazu einzuspannen sich um mich zu kümmern, nicht mitbekommen, dann liegen Sie falsch.“

„Vielleicht fragen Sie sich dann auch mal, warum sie das tat“, gab Moana Adamina spitz zurück, wobei sie seinen Verdacht offen bestätigte. „Vielleicht hätte sie es mit ihren Untergebenen ja einfacher, wenn der Verantwortliche an diesem Unternehmen, sich selbst gegenüber nicht so unverantwortlich benehmen würde.“

Die Gestalt des Kanadiers straffte sich in seinem Sessel und mit funkelnden Augen sah er Moana Adamina an. Er hatte bereits eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch er spürte gleichzeitig die Müdigkeit in sich und ebenfalls, dass sie nicht ganz Unrecht hatte. Er seufzte schwach und meinte ironisch: „Also schön, da ich mir mit Ihnen das Quartier teile, und Sie hier sind, werde ich das Bett wohl unbelegt vorfinden. Ich werde Ihrem Rat folgen, aber wecken Sie mich umgehend, falls der Transporter eintrifft.“

„Das werde ich, Sir“, versprach die Frau. Sie schien noch mehr sagen zu wollen. Doch sie tat es nicht, wofür der Corvin ihr dankbar war.

Als der Kanadier das Kontrollzentrum verlassen hatte, machte er sich nachdenklich auf den Weg zur unteren Ebene der Station, wobei er unterdrückt gähnte. Die Samoanerin hatte ganz Recht mit ihrer Kritik gehabt. Gerade er sollte darauf achten, bei diesem Unternehmen, dessen schwierigster Teil noch vor ihnen allen lag, fit zu sein. Etwas an Moana Adaminas Art erinnerte Dean Corvin an Andrea von Garding. Auch sie hatte stets recht klare Worte, ihm gegenüber, gefunden, wenn er dabei gewesen war, sich nicht den Umständen entsprechend zu verhalten. Oder wenn er mit dem Kopf durch die Wand gewollt hatte.

Bei dem Gedanken an Andrea spürte er einen kleinen Stich im Herzen. Als er sie zuletzt sah, da hatte er ihr versprochen, für sie da zu sein. Doch halten können hatte er dieses Versprechen nicht. Aber woher hätte er auch damals ahnen sollen, dass er kurze Zeit später zur Farradeen-Allianz gehören und auf Farradeen beheimatet sein würde?

Corvin hoffte, das alles irgendwann nachholen zu können und die Freundin wiederzusehen. Hoffentlich dann in einer besseren seelischen Verfassung, als das letzte Mal.

Er schreckte beinahe aus seinen Gedanken auf, als er vor sich im Gang Hauptmann Diana Spencer erkannte, die ihn ansprach: „Major Corvin, haben Sie einen Moment?“

„Ich bin gerade auf dem Weg zu dem Quartier, das ich mir mit meinem Leutnant der Kommunikation teile“, gab Corvin zurück. „Ich könnte etwas zu essen vertragen und dann eine Mütze Schlaf. Kommen Sie mit, dann können wir ungestört reden, während ich etwas esse. Möchten Sie auch etwas?“

„Nein, Danke“, Sir“, lehnte die Frau das Angebot des Majors ab. „Das Gespräch genügt mir. Ich freue mich, dass es Ihnen offensichtlich wieder besser geht.“

Corvin nickte in Gedanken.

Als sie das Quartier erreichten, in dem sich Corvin und Moana Adamina häuslich eingerichtet hatten, in den letzten drei Tagen, überließ der Kanadier der Frau höflich den Vortritt. Obwohl solche Gentleman-Manieren seit langer Zeit als überholt galten, zeitigten sie immer noch ihre Wirkung. Vielleicht aber auch gerade deswegen.

Diana Spencer jedenfalls lächelte unmerklich, als sie vor dem Major das Quartier betrat. Sie beobachtete den Terraner dabei, als er sich an der Servo-Automatik ein Menü zusammenstellte und mit dem Tablett zum Tisch des Wohnraumes zurückkehrte. Sein Essen und das Getränk auf der glatten, tiefschwarzen Pharran-Holzplatte abstellend nahm er neben Diana Spencer auf der bequemen Couch platz. Auf den beiden Sesseln lagen diverse Bekleidungsgegenstände, was die blonde Frau von Farradeen zum Aufsetzen einer spöttischen Miene verleitete.

Dean Corvin ging darüber hinweg und erkundigte sich, bevor er herzhaft von seinem Sandwich abbiss: „Worüber möchten Sie mit mir sprechen?“

Diana Spencer sah den jungen Major an und wusste für einen Moment nicht, wie sie beginnen sollte. Schließlich sagte sie geradeheraus: „Ich bin etwas verwirrt darüber, dass Ihnen der Tod der einundzwanzig Gefangenen so nahe gegangen ist. Bitte verstehen Sie das nicht falsch, doch wie ich weiß haben Sie bereits bei Ihrer Flucht aus dem Sonnensystem und später, während der Schlacht bei Delta-Cephei, als Kommandant der NOVA SOLARIS, auf den Feind geschossen und dabei Feindschiffe vernichtet. Also letztlich auch gegnerische Soldaten. Das muss Ihnen doch ebenfalls nahegegangen sein?“

Dean Corvin schluckte den Bissen in seinem Mund hinunter und erwiderte: „Das wird sich vielleicht etwas seltsam anhören, Hauptmann, doch diese Opfer des Krieges habe ich, während der Kämpfe und ebenfalls danach, irgendwie ausgeblendet. Von diesen Verlusten habe ich nie direkt erfahren, auch wenn ich natürlich weiß, dass es sie gegeben hat. Aber erst hier auf Eris haben die Getöteten zum ersten Mal ein Gesicht erhalten. Ich hatte angenommen darauf vorbereitet zu sein, doch das war ich nicht. Nicht so...“

„Das war niemand von uns, Major Corvin“, antwortete Diana Spencer besänftigend. „Vielleicht sollten Sie wissen, dass es mir gar nicht viel anders erging, als Ihnen. Offen gestanden, ich war vor drei Tagen sehr froh, dass Sie nicht von mir verlangt haben, die Atmosphäre in dem Lagerraum zu modifizieren. Was mir wichtig ist: Sie sollen wissen, Sir, dass Sie nicht alleine sind, mit diesen Schuldgefühlen.“

Corvin, der mit einem Schluck Saft den Rest seines Sandwiches hinunter spülte, sah für einen langen Moment in die grün-grauen Augen der Frau, bevor er meinte: „Ich danke Ihnen, Hauptmann Spencer. Auch für Ihre… Umsicht. Ich meine, in Bezug auf Moana.“

Das Zwinkern des Mannes konnte Zufall gewesen sein, doch Diana Spencer glaubte nicht daran. „Keine Ursache, Sir. Ich hielt es für meine Pflicht, mich zu vergewissern, wie es Ihnen geht, bevor wir zum eigentlichen Unternehmen aufbrechen.“

Dean Corvin nickte knapp und trank sein Glas aus. Danach meinte er, mit verändertem Tonfall: „Aber jetzt hinaus mit Ihnen, Hauptmann. Ich benötige Ruhe. Wecken Sie mich nur, falls der Transporter auftaucht oder diese Basis abbrennt. Ich werde Sie persönlich dafür verantwortlich machen, falls jemand Feuer legt.“

Ein Schmunzeln umspielte die Lippen der Frau, während sie sich erhob und Anstalten machte zu gehen. „Niemand wird Ihre Ruhe stören, Major Corvin.“

Sie ging und der Terraner sah ihr sinnend hinterher, bevor er sich auf den Weg zum Schlafraum des Quartiers macht. Erst jetzt spürte erst wirklich die bleierne Müdigkeit, die ihn erfüllte. Als er endlich im Bett lag und die Augen schloss galten seine letzten Gedanken der Mission, und einer terranischen Technikerin, der er versprochen hatte zurückzukehren.

Schatten der Vergangenheit


 

6.
 

Schatten der Vergangenheit
 

Im wahrsten Sinne zerschlagen sank Rian Onoros geschundener Körper auf die Pritsche in ihrem Quartier, als ihre beiden Bewacher sie losließen und die Zelle verließen. So sehr, wie in den letzten Stunden, war sie bisher noch nie misshandelt worden. Dabei hatte sich, einmal mehr, auch Kim Tae Yeon persönlich an den Misshandlungen beteiligt. Zum Ende des Verhörs hin hatte die Koreanerin sogar mehrmals auf sie eingetreten.

Einer der Militärärzte der Konföderation hatte sie unmittelbar nach diesem letzten Verhör reanimieren und anschließend behandeln müssen.

Dabei wusste Rian Onoro nicht zu sagen, ob das heftige Wortgefecht zwischen dem Arzt und Kim tatsächlich stattgefunden hatte, oder ob das lediglich ihrer, zu diesem Zeitpunkt umnachteten, Fantasie entsprungen war. Mit eingefallenen Wangen und leerem Blick lag sie auf der Pritsche, vollgepumpt mit den Medikamenten die der Arzt ihr verabreicht hatte. Er schien Mitleid mit ihr gehabt zu haben, denn zum ersten Mal seit Wochen verspürte sie keine Schmerzen, als sie nach einem Verhör wieder zu sich kam.

Um ihren Leib, unterhalb ihrer Brüste, bis hinab zu ihrem Bauchnabel, hatte der Arzt einen straffen, flexiblen Verband angelegt.

Für einen Moment schloss Rian Onoro die Augen und achtete darauf, gleichmäßig ein und wieder auszuatmen. Dann fragte sie mit krächzender Stimme: „Karambalos?“

„Anwesend!“, kam es dunkel zurück. „Was hat diese Geheimdienst-Schlampe heute wieder mit dir angestellt?“

Ein kratziges Lachen, das in den Ohren der Erzeugerin seltsam klang war die erste Antwort, bevor sie zugab: „Diesmal hat sie mich ganz schön in die Mangel genommen. Das verdammte Miststück kapiert einfach nicht, dass ich ihr nichts sagen will.“

Weil ich ihr gar nichts sagen KANN, dachte Rian verzweifelt. Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Atmung, bevor sie wieder das Wort ergriff. „Weißt du, was komisch ist? Diese Verbrecherin macht auf mich den Eindruck, als würden da ziemlich heftige Gefühle für diesen verfluchten Dean Corvin in ihr toben. Jedenfalls fragt sie mich, während beinahe jeder ihrer Folter-Sitzungen, nach dem Typ. Fast könnte man auf die Idee kommen, sie bewundert diesen Scheißkerl. Vielleicht ist da sogar noch mehr.“

Richtig so. Gib den Leuten, die dich abhören, mal was zum Nachdenken, dachte die Frau dabei grimmig und von Zorn erfüllt. Die wissen nicht, dass mir Dean verraten hat, was da lief, und vielleicht wissen die nicht einmal von der Tatsache an sich.

Es dauerte eine Weile, bevor Papadopoulos sich neugierig erkundigte: „Willst du damit etwa sagen, dass unsere Peinigerin und dieser Corvin sich kennen?

Rian Onoro nutzte die Steilvorlage des Griechen dazu ihr kleines Rollenspiel etwas auszuweiten, wobei sie in Gedanken bedauerte, den Mitgefangenen anzulügen. „Keine Ahnung, aber irgendwie werde ich diesen Gedanken nicht mehr los. Dieses koreanische Miststück benimmt sich jedenfalls so, als wäre da etwas gewesen. Sehr viel mehr gewesen, als bloße Freundschaft, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ach du Schande!“, rief Karambalos Papadopoulos prompt aus. „Wenn das zutrifft, dann wird es vermutlich Zack-Rums und Peng gehen, wenn die sich nochmal über den Weg laufen! Aber vielleicht irren wir zwei uns ja auch, und die beiden fallen sich stattdessen in die Arme. Was hältst du von dieser Theorie?“

Das erzähle ich dir ganz bestimmt nicht, dachte Rian Onoro, die allein bei diesem Gedanken wütend wurde. Stattdessen gab sie mürrisch zurück: „Zuzutrauen wäre es ihnen.“

Entschuldige bitte, Dean, dachte Rian Onoro mit geschlossenen Augen. Falls ich das hier nicht überleben sollte, so hoffe ich inständig, dass du nie erfahren wirst, was ich alles über dich gesagt habe. Falls ich es aber doch überlebe, und wir uns wiedersehen sollten, so werde ich mich aufrichtig bei dir entschuldigen, für all diese schlechten Dinge, die ich über dich gesagt habe. Aber doch nur, zum Zweck der Irreführung.

Sie hörte Schritte auf dem Gang und zuerst befürchtete sie, dass man sie bereits wieder abholen wollte, um sie erneut zu foltern und zu verhören. Doch dann vernahm sie die Stimme von Karambalos, der offensichtlich nicht begeistert davon zu sein schien, dass er nun an der Reihe war, zum Verhör abgeholt zu werden.

Nach einer Weile wurde es wieder still draußen, und Rian Onoro beschloss, etwas auszuruhen und Schlaf zu finden, solange die Medikamente noch ihre Wirkung taten. Einen Moment später schlief sie bereits tief und traumlos.
 

* * *
 

An anderer Stelle blickte Larenan Farralen sinnend auf den Holo-Monitor, der die Zelle von Rian Onoro zeigte. Die Worte der Gefangenen erzeugten auch jetzt noch ein Ziehen in seiner Magengegend, denn er fragte sich, ob sie vielleicht zutrafen.

Er hatte Kim Tae Yeon bereits vor einigen Monaten auf Dean Corvin angesprochen. Damals war sie beinahe explodiert und sie hatte ihn als einen Crétin der den Tod verdient bezeichnet. Doch bereits damals hatte ihn die Emotionalität der Koreanerin nachdenklich gestimmt. Denn so emotional wurde man nicht bei Menschen, die einem egal waren.

Farralen strich sich mit der Hand über das glatte, dunkelblonde Haar. Vor einigen Tagen hatte Kim vorgeschlagen Agenten nach Delta-Cephei zu entsenden. Vordringlich, weil dieses System zu den beiden wichtigsten Kolonien des Imperiums zählten. Doch mittlerweile hatte Larenan Farralen in Erfahrung gebracht, dass der Experimentalkreuzer, der ihnen knapp durch die Lappen gegangen war, vermutlich dorthin geflogen war. Nun fragte sich der Chef-Agent des Sol-Systems, ob nicht doch mehr hinter dem Vorschlag seiner Freundin steckte.

Seit einigen Monaten waren sie offiziell ein Paar. Sie hatte davon profitiert, sich von ihm für die Konföderation anwerben zu lassen, denn unter normalen Umständen wäre Kim Tae Yeon bestenfalls Oberleutnant gewesen. Durch geschicktes Verhandeln ihrerseits hatte sie es, nach ihrem Verrat am Terranischen Imperium, erreicht, als Major in den Dienst der Konföderation übernommen zu werden.

Doch auch er selbst war dabei gut weggekommen. Der Alleinherrscher über die Konföderation persönlich hatte ihn, im vorletzten Monat, auf Denebarran ausgezeichnet und ihn zum Oberstleutnant befördert. Gleichzeitig hatte der Diktator von Deneb ihn zum Chef-Agenten des Sol-Systems ernannt, was ihm dort beinahe unumschränkte Macht verlieh.

Nach seiner Rückkehr von Denebarran hatte er damit begonnen, die Ortungsstationen im Sol-System aufrüsten zu lassen, für die Zwecke der Konföderation Deneb. Die hauptsächliche Schwierigkeit, die sich dabei ergab war, die terranischen Systeme dahingehend anzupassen, dass es auch bei aktiven Störsendern der Konföderation Deneb keine Missweisungen mehr gab.

Das führte dazu, dass momentan beinahe alle ehemals imperialen Ortungsstationen deaktiviert waren. Nur die polaren Ortungsstationen der beiden äußeren Planeten funktionierten bereits einwandfrei. Das war auch der Grund dafür, dass der Großteil der konföderierten Flotten, die zu Beginn des Jahres dieses System überfallen hatten, zur Zeit im interplanetaren Raum verteilt war und Patrouillendienst verrichtete. Das Gros der Flotte rund um Terra und zwischen den Planetenbahnen von Saturn und Uranus.

Larenan Farralen machte sich im Moment keine Sorgen über einen Gegenschlag der Flotten des Terranischen Imperiums. So schnell würden sie kein Gegenmittel gegen das neue Störsystem der Konföderation Deneb finden, und so lange würden sie sich hüten anzugreifen. Der Oberstleutnant ging davon aus, dass die Imperialen aktuell die beiden Systeme Wega und Delta-Cephei signifikant befestigten. In diesen beiden Sternensystemen konzentrierte sich, nach den letzten Agentenmeldungen, das Gros ihrer gesamten Streitmacht.

Dabei bildete die Flottenkonzentration bei Wega, nach Farralens Ansicht, die größere Bedrohung, denn dieses System verfügte nicht nur über das größte Industriepotenzial des ehemaligen Imperiums, sondern Wega lag gerade mal 27 Lichtjahre vom Sol-System entfernt. Ein Anflug von dort ließ sich also in weniger als sieben Stunden bewerkstelligen.

Doch das galt für beide Seiten.

Larenan Farralen machte sich viel mehr Gedanken über seine Freundin. Er fragte sich, welche Überlegungen sie wirklich zu ihrem Vorschlag bewogen hatten. Fühlte sie vielleicht viel mehr für diesen Dean Corvin, als sie bisher zugegeben hatte? Die Worte der Gefangenen konnten eine Irreführung sein, doch selbst nachdem sich der hochgewachsene Mann dies mehrfach gesagt hatte, blieb ein Rest von Zweifel in ihm zurück.

Schließlich traf Farralen eine Entscheidung. Sich straffend wandte er sich an den Leitenden Wachhabenden der Gefangenen-Überwachung. „Behalten Sie die Gefangenen weiter unter Beobachtung.“

Damit schritt der Einunddreißigjährige zum Schott hinaus und machte sich auf den Weg zum Büro seiner Freundin. Er hatte beschlossen Tae Yeon aufzusuchen um mit ihr endlich ausführlich über einen gewissen Dean Corvin zu sprechen.

Als der Oberstleutnant kurz darauf in das Büro seiner Freundin eintrat, nachdem er sich bei ihr angekündigt hatte, fand er sie in einem nachdenklichen Zustand vor. Während sie bei den Verhören von Rian Onoro stets persönlich anwesend war schienen sie die Verhöre des Riesenkerls, der momentan wieder an der Reihe war, nicht sonderlich zu interessieren.

„Worüber grübelst du so intensiv“, erkundigte sich Farralen bei Kim statt eines Grußes und erntete dafür einen scharfen Blick von ihr.

„Was ist denn mit dir los?“, erkundigte sich die Koreanerin prompt bei ihm und erhob sich aus dem Sessel hinter ihrem Schreibtisch, in dem sie bisher zurückgelehnt gesessen hatte. „Hast du irgendwelchen Ärger gehabt?“

Sie kam zu ihm und Larenan Farralen wiegelte schnell ab: „Nein, ich bin nur etwas überarbeitet, das ist alles. Ich habe übrigens nochmal über deinen Vorschlag nachgedacht, Agenten nach Delta-Cephei zu entsenden. Ich finde, momentan ist es wichtiger, dass das Wega-System überwacht wird. Wenn uns Ungemach droht, dann von dort.“

„Ungemach“, echote Kim belustigt, ohne sich anmerken zu lassen, was sie in Bezug auf seine Entscheidung dachte. „Woher hast du denn den alten Ausdruck?“

Farralen wurde unsicher, was seine vorangegangene Vermutung betraf. Schließlich beschloss er es mit einer Finte zu probieren, während er Kim in seine Arme nahm. Ihr hübsches Gesicht nah vor seinem sah er in ihre Augen und sagte, wie nebenbei: „Ich habe erfahren, dass du diesem Dean Corvin einmal näher standest, als du mir gegenüber bisher zugeben wolltest. Warum hast du mir das verschwiegen?“

Kim Tae Yeon schob ihren Freund ein Stück von sich und funkelte ihn mit ihren dunklen Augen an. In demselben Moment erkannte der Mann, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.

„Das war lange vor deiner Zeit und geht dich verdammt noch mal rein gar nichts an!“, fuhr Kim ihren Freund wütend an. „Das ist längst Vergangenheit. Warum interessiert dich das überhaupt? Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“

Farralen grinste humorlos. „Wir reden von dem Kerl, der den wichtigsten Kreuzer des bekannten Weltalls, direkt vor unserer Nase, aus dem Sol-System entführt hat. Da wunderst du dich darüber, dass ich hellhörig werde, wenn ich erfahre, dass meine Freundin mal etwas mit diesem Mann hatte? Und dann willst du mich dazu überreden, Agenten in eben jenes System zu entsenden, in das er den Kreuzer vermutlich gebracht hat. Entschuldige, aber da ist doch wohl die ein oder andere Frage angebracht.“

„Was genau willst du wissen?“, erkundigte sich Kim schnippisch bei ihrem Freund. Vielleicht ein paar schmutzige Details? Willst du wissen, wie gut er im Bett war?“

Wütend ließ Farralen Kim los und begann in dem kleinen Büro herumzuwandern. „Hör auf damit! Wenn einer wütend sein sollte, dann bin ich das doch wohl. Hier geht es nicht darum, dass du etwas mit ihm hattest, sondern darum, wie du emotional zu ihm stehst. Gegenwärtig, meine ich. Ein instabiles Element in meiner Einheit ist das Letzte, was ich gerade gebrauchen kann, Tae Yeon.“

„Ein instabiles Element?“, fauchte Kim zornig. „Das bin ich also für dich? Wenn das so ist, dann verschwinde und lass mich in Ruhe!“

Larenan Farralen schluckte seinen Ärger und konterte geistesgegenwärtig: „Ich bin hauptsächlich dienstlich hier. Der Transporter mit den Protokollen der Eris-Ortungsstationen wird bald eintreffen. Ich möchte, dass du dem Pilotenteam persönlich Order gibst, dass sie im Anschluss nach Pluto weiterfliegen. Die Order zur Aufnahme des Nachschubs für den dortigen Stützpunkt habe ich bereits erteilt. Mach denen etwas Dampf, die haben sich nach Eris und zurück nämlich viel zu viel Zeit gelassen, nach meinem Geschmack. Wenn du bei denen etwas Dampf ablässt, so wird das seine Wirkung nicht verfehlen.“

Der Mann ging grußlos, wie er gekommen war.

Fassungslos sah Tae Yeon ihm hinterher und als das Schott sich bereits hinter ihm geschlossen hatte, zischte sie vibrierender Stimme: „Wie du mich eben behandelt hast wirst du noch einmal sehr bedauern, mein Freund.“
 

* * *
 

Etwa zu derselben Zeit befand sich der Transporter POLARSTERN noch etwas mehr als eine Flugstunde vom Mars entfernt. Das Team um Hauptmann Spencer hatte die Pilotin des Frachters, und ihren Navigator, problemlos überwältigt, kurz nachdem ihr Frachter auf der Landeplattform der Kontrollstation, auf Eris, gelandet waren. Die NOVA SOLARIS hatten die beiden Raumfahrer dabei nicht bemerkt, was Dean Corvin positiv stimmte.

Corvin hatte, unmittelbar vor dem Start von Eris, Moana Adamina zum Kreuzer zurückgeschickt. Es beruhigte ihn, sie nun wieder auf der NOVA SOLARIS zu wissen. Sie würde die bisher empfangenen Funksprüche der Konföderierten auswerten und dabei feststellen, ob ihrem Stellvertreter vielleicht etwas entgangen war.

Der Navigator der POLARSTERN war im hinteren Teil des Passagierabteils untergebracht, wo er bewacht wurde. Die Pilotin steuerte das Raumschiff, wobei momentan Oberleutnant Harin Krezirin bei ihr war und überwachte, dass sie nicht aus der Reihe tanzte.

Corvin saß indessen, im Passagierabteil des Standard-Frachters, Diana Spencer gegenüber und besprach mit ihr das weitere Vorgehen.

„Also schön“, meinte die Frau mit gedämpfter Stimme. „In etwas mehr als einer Stunde landen wir auf dem Mars. Wie geht es jedoch ab da weiter? Ihre bisherigen Angaben in dieser Hinsicht waren etwas vage, Sir.“

Der Dunkelblonde grinste jungenhaft. „Dass Generalleutnant MacPherson, vor der Schlacht bei Delta-Cephei, in besagtem System erschien, erweist sich nun als Glücksfall. Sie hat Generalmajor Traren darüber informiert, dass es vom Raumhafen aus einen Zugang zum Kommandozentrum der Raumflotte gibt, der nicht allgemein bekannt ist. Genauer gesagt kennen den nur hochrangige Militärs des Terranischen Geheimdienstes. Von MacPherson erhielt Traren sowohl die Information, wo dieser Zugang zu finden ist, als auch den Code für die Sicherheitsschotts. Der Zugang verläuft weitgehend unter der Oberfläche des Planeten. Ich hatte Order vom General, diese Information erst mit Ihnen zu teilen, wenn wir den Mars erreichen, Hauptmann. Also kein Grund, mich derart tadelnd anzusehen.“

Diana Spencer, die mit den Marotten von Arolic Traren vertraut war, nickte lediglich zu den Worten des Terraners. „Das sieht dem alten Griesgram ähnlich. Also gelangen wir durch diesen Zugang ins Hauptquartier. Wo liegt der Zugang und wo kommen wir heraus?“

Corvin beugte sich etwas vor. „Der Zugang liegt in einer der Lagerhallen am Rand des Raumhafens. Glücklicherweise liegen die Landefelder für Transporter zwangsläufig in deren Nähe, da sie von dort aus mit Nachschubgütern beladen werden. Wir werden demzufolge keine große Strecke im Freien überwinden müssen, und bei Nacht sind alle Katzen grau, wie einer meiner terranischen Freunde stets so gerne sagt. Am besten wird es sein, wenn wir eine der Transport-Schwebeplattformen kapern und damit den Landetrupp weitgehend ungesehen in die Halle bringen.“

„Klingt gut, Sir“, stimmte Diana Spencer zu. „Ich hoffe, dass uns die Nachschub-Abteilung lange genug in Ruhe lassen wird, damit wir die Zeit dafür haben.“

„Beschreien Sie es nicht!“, erwiderte Corvin unwillig. „Selbst wenn die uns diesen Gefallen tun wird die folgende Aktion noch schwierig genug werden.“

„Es ist Ihr Plan“, konterte die blonde Frau trocken. „Machen Sie mich nicht dafür verantwortlich, wenn er hier und da auf das Prinzip Glück vertraut.“

Corvin grinste schief. „Schon klar. Ich werde ihren Stellvertreter ablösen und mich mal ein wenig mit der Pilotin unterhalten. Vielleicht können wir sie ja für unsere Zwecke einspannen. Was denken Sie, Hauptmann?“

„Darauf würde ich nicht bauen, Sir.“

„Danke“, gab Corvin etwas ironisch zurück, als er sich erhob und streckte. „Sie wissen, wie man Optimismus versprüht.“

Im Cockpit des Frachters sah Harin Krezirin auf, als Dean Corvin sich näherte. Der Mann hielt sein Plasmagewehr fest umklammert und zielte auf die Pilotin.

„Ich löse Sie ab, Oberleutnant“, sprach Corvin den Raumlandesoldaten an. „Ich möchte ein paar Worte mit der Pilotin wechseln.“

Krezirin erhob sich geschmeidig und meinte: „Natürlich, Major.“

Damit schritt er an Corvin vorbei, der wartete, bis der Mann das Cockpit verlassen hatte, bevor er das Zugangsschott hinter ihm schloss. Dann setzte er sich umständlich auf den Sitz des Navigators, wobei ihn die Pilotin der Konföderation Deneb aufmerksam beäugte.

Als Corvin neben der Frau saß und sie neugierig musterte, blickte sie demonstrativ geradeaus, aus den großen Sichtscheiben hinaus ins All. Dort zeichnete sich die schmale Sichel des Mars bereits erbsengroß vor der samtenen Schwärze des Weltalls ab.

Trotzdem bemerkte Corvin, dass ihr Blick immer wieder zu seiner Waffe huschte, und gleichfalls ihre Unruhe dabei. Erst nach einem Moment wurde dem Terraner klar, was in der Frau vorging und er legte die Waffe so auf seinen Schoß, dass der Lauf nicht mehr auf sie gerichtet war. Dabei meinte er mit gedämpfter Stimme: „Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Leutnant. Ich will ihnen nichts tun. Ich möchte lediglich in Ruhe mit Ihnen reden, das ist alles. Kein Grund zur Unruhe.“

Die Frau sah ihn misstrauisch an. Mit klarer, heller Stimme sagte sie: „Ich glaube Ihnen kein Wort. Meine Vorgesetzten berichteten, vor Beginn der Aktion gegen Terra, davon, dass unsere Gegner keine Gefangenen machen. Also werden Sie mich und den Feldwebel töten, sobald wir den Mars erreicht haben.“

Unwillkürlich drängten sich die Bilder der Toten, die sie in der Eris-Kontrollstation zurückließen in Dean Corvins Gedanken. Dabei musterte er die schwarzhaarige Frau eingehender. Ihr ovales, ebenmäßiges Gesicht wirkte nicht unsympathisch. Der Eindruck wurde lediglich von dem Ausdruck in ihren grünen Augen beeinträchtigt. Was Corvin nicht weiter verwunderte, angesichts dessen, was die Konföderation Deneb offensichtlich über die Mentalität ihrer Gegner verbreitete. Ihre, nach Corvins Geschmack, etwas zu breiten Lippen zuckten unbewusst und verrieten, wie es innerlich um sie stand.

Als der Blick der Terraners auf die breiten, orange-gelben Streifen ihrer Uniform fiel verspürte ein Gefühl von Melancholie. Dabei hatte er es gehasst, über zwei Jahre lang selbst diese Streifen getragen zu haben. Wegen der Intrigen von Kim Tae Yeon.

Corvin verscheuchte diese Gedanken und konzentrierte sich auf das Naheliegende. Mit beruhigendem Tonfall sagte er: „Hören Sie, Leutnant. Ich kann Ihnen nicht ihre Vorbehalte gegen mich und meine Untergebenen nehmen, fürchte ich. Trotzdem möchte ich Ihnen nochmal versichern, dass Ihnen und Ihrem Kameraden nichts Schlimmes droht. Na ja, vielleicht mal abgesehen davon, dass wir Sie beide vielleicht betäuben werden. Aber Unangenehmeres als das wird Ihnen nicht widerfahren, darauf haben Sie mein Wort.“

Das Misstrauen aus dem Blick der Pilotin schwand nicht. „Sie verlangen viel, wenn Sie erwarten, dass ich dem Feind vertraue.“

„Ich habe den Krieg nicht gewollt, und bei allem nötigen Respekt, Leutnant, wir Terraner haben ihn auch nicht angefangen!“, gab Corvin hart zurück. „Ihre Einheiten waren es, die das Sol-System überfielen. Dabei wurde eine gute Freundin von mir getötet. Darum entschuldigen Sie, wenn ich die Lage aus einer etwas anderen Sichtweise beurteile.“

Der Ausbruch überraschte die Pilotin sichtlich. Dann zog sie die Stirn in Falten und fragte verwundert: „Aber Sie sind doch von Farradeen, oder täusche ich mich? Warum bezeichnen Sie sich als Terraner?“

Dean Corvin überlegte. Er wusste, dass man kein Vertrauen erwarten konnte, wenn man sein Gegenüber belog. Innerhalb eines Augenblicks traf er eine Entscheidung: „Mein Name ist Dean Everett Corvin und ich bin gebürtiger Terraner. Ich habe die Akademie der Terranischen Raumflotte besucht und dort meinen Abschluss gemacht. Beim Angriff der Flotten von Deneb war ich im Sol-System und habe miterleben müssen, wie Freunde und Kameraden gestorben sind. Mir gelang die Flucht aus dem Sol-System und die Oberkommandierende der Terranischen Flotte hat mich kurze Zeit später ehrenhaft aus dem Dienst der Flotte entlassen, damit ich der Raumflotte von Farradeen beitreten konnte. Sie werden verstehen, warum ich Ihnen die näheren Umstände dafür nicht erläutern werde.“

Die Pilotin sah Corvin aus großen Augen an. Fast gegen ihren Willen erwiderte sie: „Mein Name ist Léa Le Garrec.“

„Klingt, als würden Ihre Vorfahren aus jener Region der Erde stammen, die man Frankreich nennt“, hakte Corvin ein. „Ich war vor meiner Zeit an der Akademie einmal in Paris. Eine sehr interessante Stadt. Ich hoffe, sie existiert noch.“

„Die Vorfahren meiner Familie wanderten zur Mitte des neunundzwanzigsten Jahrhunderts von der Erde aus“, erklärte die Frau, nun etwas ruhiger, als zu Beginn der Unterhaltung mit Corvin. Sie sollen im Seine-Tal ein großes Weingut besessen haben.“

Dean Corvin registrierte die geringfügige Veränderung bei Leutnant Le Garrec. Vorsichtig formulierte er seine nächste Frage. „Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber mich würde interessieren, was Sie dazu bewogen hat, dem Militär eines kriegstreiberischen Regimes beizutreten, Leutnant.“

Zu Corvins Überraschung erwiderte die Frau: „Ich wurde nicht gefragt. Meine Leistungen in der Schule waren sehr gut, deshalb wurde ich automatisch vom Militär für die Offizierslaufbahn vorgesehen und an der Akademie der Armada von Deneb angemeldet. Wissen Sie, was die Regierung mit den Verwandten von Personen macht, die sich einer solchen Zwangsverpflichtung verweigern?“

Corvin schüttelte den Kopf. Nach einer Weile fragte er: „Dann sind Sie also nicht aus Überzeugung Offizier der Armada von Deneb?“

In den Augen der Pilotin loderte Zorn, als sie erwiderte: „Ich hasse das Militär und ich hasse Gewalt, Major Corvin. Darum habe ich an der Akademie auch den Eindruck erweckt, dass es nicht zu mehr reicht, als für den Dienst bei der Logistik. Dieser Dienst unterfordert meine Fähigkeiten, doch ich bin wenigstens nicht gezwungen Menschen zu töten. Haben Sie schon Menschen getötet, Major Dean Everett Corvin?“

Der Terraner wich dem Blick der Frau nicht aus. Wahrheitsgemäß gab er zu: „Ja, Leutnant, das habe ich. Um die Machtambitionen der Konföderation zu stoppen. Glauben Sie mir, ich empfinde so etwas als schrecklich. Die Alternative allerdings bestünde darin, sich einem verbrecherischen Regime zu unterwerfen. Das werde ich jedoch niemals tun.“

„Immerhin sind Sie ehrlich.“

Für eine Weile blieb es still im Cockpit und Léa Le Garrec sah wieder zum Fenster hinaus. Erst als Corvin das Wort an sie richtete, sah sie ihn wieder an.

„Ich nehme an, Ihre Familie hätte nichts zu befürchten, falls sie als im Einsatz vermisst gelten würden?“

Die schmalen, geschwungenen Augenbrauen der Pilotin hoben sich leicht. „Was bezwecken Sie mit dieser Frage, Major?“

Dean Corvin zögerte für einen Moment, bevor er den Vorstoß wagte: „Sie sagten eben, dass man Sie nicht gefragt habe. Die Farradeen Allianz würde Sie fragen, und falls Sie nicht beim Militär dienen wollten, so würde man Ihnen, nach einer eingehenden Befragung zum Thema Konföderation Deneb, bei der Sie kooperieren, wohl freistellen was Sie tun möchten. Da bin ich mir sicher. Um so mehr, falls Sie uns bei dieser Kommandoaktion freiwillig unterstützen würden.“

Die Augen der Frau weiteten sich ungläubig. „Sie verlangen von mir, dass ich desertiere, Major, Corvin? Ist Ihnen nicht bewusst, dass ich in diesem Fall nie wieder nach Denebarran zurückkehren könnte?“

„Doch, das ist mir klar, Leutnant“, antwortete der Terraner mit fester Stimme. „Doch was wäre die Alternative? Die Terranische Flotte wird nicht ewig stillhalten, das wissen Sie selbst. Gemeinsam mit Farradeen an seiner Seite wird das Sol-System irgendwann zurückerobert werden, und dann werden Sie entweder in Gefangenschaft geraten, oder aber getötet werden. Auch dann kehren Sie nie wieder in die Heimat zurück. Doch falls Sie auf unserer Seite stehen wenn wir gewinnen, haben Sie zumindest eine Chance darauf.“

Unsicher sah Léa Le Garrec den Terraner an. Sie war sich nicht darüber im Klaren, ob er seine Worte ernst meinte. Schließlich fragte sie deprimiert: „Würden Sie ihre Heimat aufgeben, an meiner Stelle?“

Der Blick des Mannes verdunkelte sich. „Das habe ich bereits. Ich weiß deshalb, dass eine solche Entscheidung nicht leicht ist. In meinem Fall hat der Krieg sie notwendig gemacht. Doch für das, was ich aufgab, habe ich auch andererseits auch etwas Neues hinzugewonnen. Neue Freunde zum Beispiel.“

Corvin war nicht ganz wohl bei dem Gedanken daran, dass er der Pilotin des Frachters verschwieg, schon seit Jahren keine Verwandtschaft mehr auf Terra zu haben. Doch er wollte andererseits keine Konfusion stiften, deshalb verzichtete er darauf.

In demselben Moment erkundigte sich Léa Le Garrec: „Was werden Sie unternehmen, falls ich mich weigere auf Ihr Angebot einzugehen?“

Dean Corvin, der nicht sagen konnte, warum ihm plötzlich so sehr daran gelegen war, diese junge Frau auf seine Seite zu ziehen, zog nun den Trumpf, den er sich bereits vor einigen Minuten zurechtgelegt hatte. Mit einem feinen Lächeln erwiderte er: „Oh, nichts Schlimmes. Sie sollten sich jedoch viel mehr fragen, was die Leute Ihres eigenen Geheimdienstes mit ihnen anstellen werden, wenn sie erfahren, dass Sie uns zum Mars gebracht, und unser Unternehmen erst ermöglicht haben. Die werden Sie streng verhören, nehme ich an, und sich wohl zurecht fragen, warum Sie keinen Widerstand geleistet haben.

„Aber...“, begann die Pilotin fassungslos und unterbrach sich schnell. Sie hatte bereits ein paar Gerüchte gehört, wie der Geheimdienst der Konföderation mitunter mit den eigenen Leuten umsprang, seit sie beim Militär war. Man sprach gelegentlich, natürlich nur unter der Hand, vom spurlosen Verschwinden von Menschen, die der Geheimdienst, begründet oder nicht, ins Visier genommen hatte. Daran, dass auch sie in dessen Fänge geraten könnte, hatte sie bisher nicht gedacht, doch Corvin hatte nicht Unrecht mit seiner Vermutung.

Sie schluckte, und Dean Corvin, dessen Augen unverwandt auf dem Gesicht der jungen Frau ruhten, spürte, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.

„Sie geben mir persönlich Ihr Wort darauf, dass mich Ihre Vorgesetzten nicht als Kriegsgefangene behandeln werden, sobald diese Aktion gelaufen ist?“

Dean Corvin war sich im Klaren darüber, dass er sich sehr weit aus dem Fenster lehnte, bei seinen nächsten Worten. Doch er sagte überzeugend: „Sie haben mein Wort, Leutnant Le Garrec. Was denken Sie übrigens in Bezug auf Ihren Kameraden?“

Die Frau lachte humorlos auf. „Der ist einer dieser Fanatiker, der inbrünstig genau das glaubt, was unsere Vorgesetzten uns permanent einreden, seit wir zur Schule gegangen sind. Der würde Ihnen nie freiwillig helfen, oder gar die Seite wechseln. Der Feldwebel ist fest von der Richtigkeit dieses Krieges überzeugt.“

Dean Corvin wusste es nicht rational zu erklären, doch etwas in ihm sagte ihm, dass sie aufrichtig war und ihm nichts vorspielte. Darum fragte er sie: „Ich vermute, dass das Hauptquartier einige Code-Anfragen senden wird, sobald der Frachter über dem Mars ankommt. Brauchen Sie den Feldwebel, um sie korrekt zu beantworten?“

Die Frau schüttelte leicht den Kopf. „Nein, die korrekten Antworten kenne ich alle selbst. Die Bildverbindung werde ich deaktiviert lassen und vorgeben, es handele sich um einen Defekt, den ich erst während der Landung auf Eris festgestellt habe. Sie können also hier bleiben und mich bewachen, während der Landung.“

Léa Le Garrec lächelte, beinahe erleichtert wie es schien. Corvin erwiderte es und antwortete: „Ich bleibe gerne, aber nur um Ihnen Gesellschaft zu leisten.

Eine kurze Pause entstand, bevor Corvin etwas einfiel. „Ach, eine Frage habe ich da noch, Leutnant. Kennen Sie sich im ehemaligen Hauptquartier der Terranischen Raumflotte aus? Steht es überhaupt noch?“

„Zum Teil“, gab die Pilotin wahrheitsgemäß Auskunft. „Neben der Anflugkontrolle hat der konföderierte Geheimdienst dort seinen Stab eingerichtet. Außerdem werden dort gegenwärtig zwei Gefangene festgehalten und verhört, soweit mir bekannt ist.“

Plötzlich sehr interessiert horchte Dean Corvin auf. Seine Gestalt straffte sich, als er nachhakte: „Wissen Sie zufällig, ob eine Frau darunter ist – und falls ja, wie sie heißt?“

Echtes Bedauern spiegelte sich in den Augen der Frau, als sie verneinend sagte: „Tut mir leid, Major Corvin. Ich hörte lediglich Gerüchte darüber, dass man einen der Gefangenen auf Luna aufspürte. Diese Person soll dem zufolge einigen anderen Terranern die Flucht, an Bord eines Leichten Kreuzers, ermöglicht haben.“

Freude zeichnete sich auf dem Gesicht des Terraners ab, und auf den fragenden Blick der Frau hin meinte er gutgelaunt: „Sie ahnen ja nicht, wie sehr Sie mir bereits jetzt geholfen haben, Leutnant Le Garrec.“
 

* * *
 

Der Anflug des Frachters POLARSTERN, auf den Mars zu, verlief reibungslos. Im Cockpit des Frachters, neben Dean Corvin, immer noch an den Flugkontrollen sitzend, beantwortete Léa Le Garrec alle einlaufenden Code-Anfragen der Anflugkontrolle.

Dean Corvin glaubte zwar nicht, dass die Pilotin des Frachters falsches Spiel mit ihm trieb, doch er beobachtete sie dennoch bei jeder ihrer Handlungen und achtete ebenso sehr genau darauf, welche Worte sie mit den Leuten der Anflugkontrolle wechselte.

Léa Le Garrec blieb dieses Beobachten von Seiten des Terraners nicht verborgen und während der Frachter sich bereits innerhalb der Marsatmosphäre befand meinte sie missmutig zu Corvin: „Ihr Misstrauen ist fast spürbar aber unangebracht.“

„Würden Sie denn nicht misstrauisch sein, wenn Sie an meiner Stelle wären?“

Die Pilotin gab zu: „Doch, vermutlich wäre ich das. Ich bin es ja auch, denn ich kann mir ja genauso wenig sicher sein, ob Sie es ernst meinen, Major Corvin.“

Corvin presste die Lippen zusammen und räumte nach einem Moment ein: „Sie haben natürlich Recht, Leutnant. Wir müssen beide etwas guten Willen aufbringen.“

Sie sahen sich für einen Moment lang an, bevor sich die Pilotin wieder auf die bevorstehende Landung konzentrierte.

Als der Frachter bei seinem Abstieg die Zehntausend-Meter-Marke unterschritt kam von der Anflugkontrolle die Anweisung, sich bereit zu halten einen Major der Abwehr an Bord zu nehmen, sobald die POLARSTERN gelandet war. Nach Nennung des entsprechenden Landefeldes sah Léa Le Garrec zu Corvin und meinte: „Sie haben Glück, Major. Das betreffende Feld liegt etwas abseits, nahe der Lagerhallen. Dort werden Sie kaum auffallen, beim Ausstieg.“

Dean Corvin erwiderte nachdenklich: „Ja, aber was hat das mit dem Geheimdienst-Offizier zu bedeuten? Ist das normal?“

„Nein“, antwortete die Pilotin zögerlich. „Doch es passiert gelegentlich, dass wir einen Offizier, während eines Transportes, mitnehmen zum entsprechenden Zielort. Vielleicht können Sie zu Ihrem Vorteil nutzen, dass dieser Major an Bord kommt.“

Der Terraner machte ein nachdenkliches Gesicht. Schließlich rief er durch das Schott, dass nach seiner letzten kurzen Unterhaltung mit Diana Spencer bereits geöffnet geblieben war: „Hauptmann Spencer wir setzen zur Landung auf dem Mars an! Betäuben Sie jetzt den Gefangenen und machen Sie sich bereit, einen an Bord kommenden Major des Geheimdienstes in Empfang zu nehmen!“

Er hörte die Bestätigung der Frau gefolgt von einem leisen, hohen Sirren. Dabei dachte er: Ein Problem weniger. Doch er hütete sich, das laut zu sagen. Stattdessen meinte er mit belegter Stimme: „Ihr Kamerad schläft, Leutnant. Wie hoch sind wir noch?“

Die Pilotin schluckte: „Noch zweitausend Meter, bis zum Boden, Major. Was wird aus dem Feldwebel nun werden?“

„Der bleibt zunächst hier an Bord. Sollten wir den Frachter später brauchen, dann lassen wir ihn in einer der Lagerhallen zurück. Ihm wird nichts geschehen, genauso, wie ich es Ihnen bereits versichert habe, Leutnant.“

Die Frau blieb konzentriert, während sie erwiderte: „In Ordnung. Wir befinden uns fünfhundert Meter über dem Raumhafen. Ich fahre die Landeschoren aus.“

Ein leises, dumpfes Brummen bestätigte die letzten Worte der Frau.

Über die Schulter hinweg rief Corvin in das Passagierabteil: „Bereit für den Geheimdienstler, Hauptmann?“

„Kann kommen!“

Corvin grinste dünn und beobachtete Léa Le Garrec dabei, wie die den Frachter sanft auf dem harten Belag des Raumhafens aufsetzen ließ. Routiniert schaltete sie die Aggregate auf Bereitschaft und sah dann zu ihm. Der Terraner kam ihrer Frage zuvor, indem er meinte: „So, und nun warten wir erst einmal auf den Major.“

Vom Rand des riesigen Landeareals näherte sich ein Bodengleiter und die Pilotin sah vielsagend durch die Scheibe des Frachters. „Das könnte er sein.“

Corvin, der sich in den Hintergrund des Cockpits zurückzog erwiderte: „Dann geht es los.“ Sich im Rahmen des Verbindungsschotts zur anderen Seite wendend sagte er lauter: „Hauptmann Spencer, wir kriegen gleich Besuch!“

Gleich darauf kam über Funk die Meldung des sich nähernden Offiziers. „Major Kim ruft Leutnant Le Garrec von der POLARSTERN. Öffnen Sie das Schott des Frachters und fahren Sie die Rampe aus, ich komme zu Ihnen an Bord.“

Corvin nickte und die Pilotin erwiderte, etwas nervös: „Hier Leutnant Le Garrec. Ich habe verstanden. Ich und mein Co-Pilot erwarten sie an Bord.“

Damit nahm die Pilotin des Frachters die notwendigen Schaltungen vor. Dabei wunderte sie sich über das plötzlich wie versteinert wirkende Gesicht des Majors.

Längst hatten sich die Leute des Stoßtrupps in dem Passagiermodul so weit zurückgezogen, dass sie von draußen durch das Schott nicht gesehen werden konnten. Corvin selbst blieb stehen wo er stand und versuchte seiner Aufgewühltheit Herr zu werden. Er hatte Kim irgendwo auf Luna vermutet. Oder auf der Erde. Dass ausgerechnet sie nun an Bord kam, machte dieses Unternehmen nicht gerade einfacher für ihn.

Er beobachtete, wie die unverkennbare, drahtige Gestalt der Koreanerin durch die kleine Luftschleuse ins Passagierabteil schritt, wo sie augenblicklich von Spencer und Krezirin gepackt wurde. Ein dritter Soldat des Kommandotrupps entwaffnete die Frau.

Völlig überrumpelt erstarrte Kim für einen Moment und versuchte sich dann wild strampelnd zu befreien, bis ihr die Läufe von zwei Plasmagewehren an die Kehle gesetzt wurden. Dann erfassten ihre fast schwarzen Augen Corvin und sie erstarrte erneut.

Während Léa Le Garrec bereits wieder das Außenschott geschlossen hatte, entfuhr es der Koreanerin: „Du hier? Und dann in der Uniform von Farradeen? Was bedeutet das!“

Die Frachter-Pilotin, die neben Dean Corvin getreten war, fragte leise: „Sie kennen diesen Major unseres Geheimdienstes?“

„Kennen ist gar kein Ausdruck“, erwiderte der Terraner tonlos. Erst dann stieß er sich, seine Waffe dabei so fest umklammernd, dass die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten, vom Rahmen des Verbindungsschotts ab. Gewaltsam das Verlangen nieder ringend, die Asiatin umgehend zu erschießen, näherte Dean Corvin sich ihr langsam, bis er dicht vor ihr stand. Dabei ignorierte er die fragenden Blicke von Diana Spencer und einigen anderen Frauen und Männern des Landeteams.

Für eine Weile maßen sich der Major und die asiatische Frau in nachtblauer Uniform mit Blicken, bevor Corvin, mit kratziger Stimme sagte: „Dafür hast du Terra verraten? Um Major beim Geheimdienst der Konföderation zu werden?“

Kim bedachte ihr Gegenüber mit einem spöttischen Blick. „Dir ist schon klar, wie seltsam du dich anhörst, wenn du mal in den Spiegel blickst?“

Die Augenlider des Terraners verengten sich unmerklich: „Dafür wurde ich nicht zum Verräter an Terra. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Du hingegen hast Kriegstreibern dazu verholfen, Millionen unschuldiger Menschen zu töten und ihnen unsere Heimat vor die Füße geworfen! Allein deshalb sollte ich dich hier und jetzt erschießen!“

Die Asiatin lachte leise. „Das würdest du nie fertigbringen, Dean Everett Corvin, denn immerhin haben wir beide...“

Die Linke des Majors zuckte vor und packte die Kehle der Frau. Ihr mit der Hand die Luft abschnürend zischte er wütend: „Erwähne nie wieder, dass ich mal so geistig umnachtet gewesen bin, zu glauben, dass du etwas für mich empfunden haben könntest. Sonst mache ich dir gleich jetzt den Garaus.“

Immer fester drückte Corvin zu, und die Augen der Asiatin weiteten sich unnatürlich. Vor seinen Augen sah er dabei wieder sich und sie, während verschiedener Anlässe in der Vergangenheit seines Lebens. Erst die scharfen Worte von Diana Spencer brachten ihn in die Wirklichkeit zurück.

„Major Corvin!“

Der Terraner erweckte den Eindruck, aus einem Traum zu erwachen, als er Hauptmann Spencer ansah. Er ließ die Kehle der Asiatin los und atmete mehrmals tief durch. „Schon gut, Hauptmann.“

Kim bedachte ihren ehemaligen Freund mit einem beinahe mörderischen Blick. Doch es lag gleichfalls eine Spur Melancholie darin. Nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, krächzte sie ätzend: „Da habe ich nun fast vier Monate lang diesen widerspenstigen Feldwebel Onoro gefoltert, um zu erfahren, wo du stecken könntest. Ganz umsonst. Vermutlich hätte dieses verdammte Miststück noch Monate geschwiegen. Und jetzt stehst du hier vor mir. Wenn das keine Ironie ist. Vermutlich ist die NOVA SOLARIS nicht weit, oder bist du mit einem anderen Raumschiff hergekommen?“

Der Terraner erkannte, dass Kim immer noch mindestens so durchtrieben war, wie zuletzt. Ganz nebenbei versuchte sie herauszufinden, wo der Experimentalkreuzer geblieben war. Wohl in der Hoffnung, sich bald aus dieser misslichen Lage befreien zu können.

Mit einem spöttischen Lachen überspielte Corvin seine Überraschung, zu erfahren, dass Rian Onoro nicht auf Luna oder auf der Erde gefangengehalten wurde, sondern hier auf dem Mars. Dabei gab er überzeugend zurück: „Der Experimentalkreuzer ist unersetzlich für das Imperium. Denkst du etwa, General Mbena würde ihn so leichtfertig in die Höhle des Löwen schicken? Der liegt vermutlich, bestens gesichert, immer noch dort, wo wir ihn vor vier Monaten hingebracht haben.“

Der Terraner lächelte überlegen wobei er dachte: Wenn du unbedingt Spielchen spielen willst, das kann ich auch. Außerdem würdest du vermutlich toben, wenn du wüsstest, welchen Gefallen du mir mit der Erwähnung getan hast, dass Rian Onoro noch lebt.

Die Asiatin begann wieder, sich etwas im Griff der beiden Uniformierten zu winden, gab es aber gleich darauf auf. Immer noch nur mit Corvin redend fragte sie: „Was willst du hier auf dem Mars? Glaubst du etwa, du könntest etwas bewirken? Schon sehr bald wirst auch du ein Gefangener der Konföderation sein, und mit dir dein gesamtes Team.“

„Mag sein, aber das wirst du nicht mehr erleben“, konterte Dean Corvin finster. „Zumindest nicht lebend.“

„Du liegst doch an der kurzen Leine von diesem Hauptmann“, höhnte die Asiatin. Im nächsten Moment gab sie ein unterdrücktes Knurren und Stöhnen von sich.

Diana Spencer hatte den Arm der Gefangene so weit verdreht, dass es schmerzen musste. Außerdem hatte sie der Asiatin ihr Knie in den Steiß gerammt. Sie näherte sich ganz nah dem Gesicht der misshandelten Frau und zischte heiser: „Sie sehen das völlig falsch, Major Kim. Er ist es, der mich an der Leine halten muss. Aber gelegentlich lässt er mir etwas mehr Freiraum, wenn Sie verstehen, was ich Ihnen damit sagen will.“

Respekt, Hauptmann Spencer, dachte Corvin anerkennend. Laut sagte er zu Kim, wobei er einen riskanten Bluff wagte: „Wir wissen von dem Störsystem, das die Konföderation, im letzten Herbst, mit Hilfe von angeblichen Handelsraumschiffen in das Sol-System gebracht haben. Eins dieser Geräte werden wir mitnehmen, mit deiner Hilfe.“

„Ich soll euch also Zutritt zu einem unserer Kriegsschiffe, hier auf dem Mars, ermöglichen“, erwiderte Kim feststellend, ohne zu ahnen, dass sie Corvins Planung mit ihren Worten in diesem Moment völlig umgestoßen hatte.

„Ja, das ist eine viel bessere Idee, als meine“, nickte Corvin.

Bisher hatte er nicht gewusst, dass die Geräte auch auf den Kriegsschiffen der Konföderation eingebaut waren. Offensichtlich eine Entwicklung, die erst nach der Schlacht bei Delta-Cephei in Gang geraten war. Gleichzeitig wurde dem Terraner klar, wie gefährlich das war, was Kim Tae Yeon eben so leichtfertig und unbeabsichtigt ausgeplaudert hatte.

Einen schnellen Blick mit Diana Spencer wechselnd wandte er sich wieder Kim zu, die wohl zu ahnen begann, dass hier etwas im Gange war, von dem sie nichts mitbekam. „Nun, im Grunde hatten wir eigentlich vor, die Luna-Werften zu überfallen, doch lediglich ein Kriegsschiff von hier zu entführen wäre natürlich sehr viel einfacher.“

Erneut wand sich Kim im Griff von Krezirin und Spencer. Wütend funkelte sie Dean Corvin dabei an, bevor sie sich wild umsah und schrie: „Du wolltest die Luna-Werften überfallen? Mit dieser lächerlichen, kleinen Bande? Ihr seid ja nicht einmal genug Leute um eine Abstellkammer zu überfallen!“

„Wir sind bis zum Mars vorgestoßen, und wir hätten es auch bis Luna geschafft“, gab Corvin kalt zurück. „Aber dank dir ist das ja nun nicht mehr nötig. Doch bevor du dafür sorgst, dass wir Zutritt zu einem eurer Kriegsschiffe erlangen, wirst du uns die beiden Gefangenen aushändigen, die in deiner Gewalt sind.“

Bei den Worten des Terraners schweifte der Blick von Kim zu der Pilotin des Frachters ab. Nur sie konnte Corvin von den Gefangenen erzählt haben. Mit hasserfülltem Tonfall zischte Kim in ihre Richtung: „Verräterin!“

Corvin lachte spöttisch. „Das sagt gerade die Richtige. Außerdem stammt die Information nicht von ihr, sondern von ihrem Co-Piloten.“

Dann änderte sich sein Tonfall und mit einer gewissen Kälte in der Stimme verlangte er: „Schluss jetzt mit diesen Spielchen, Tae Yeon. Wir werden jetzt über einen geheimen Zugang ins Hauptquartier eindringen, und du wirst uns dabei Gesellschaft leisten. Solltest du falsches Spiel treiben, dann wird es mir ein ganz besonderes Vergnügen sein dich umzubringen. Wir schaffen es notfalls auch ohne deine aktive Mitwirkung. Ob du den morgigen Tag erleben wirst liegt also ganz bei dir.“

Bis zu einem gewissen Grad hatte Corvin seine Worte ernst gemeint. Das spürte die Asiatin instinktiv und ließ sie frösteln. Ihren Widerstand vorerst aufgebend entgegnete sie: „Also gut, du hast gewonnen. Ich füge mich der Gewalt.“

Diana Spencer gab einem ihrer Leute einen Wink und ein kräftig gebauter Mann übernahm für sie. Sie nahm Corvin ein paar Schritte zur Seite und fragte flüsternd: „Sie vertrauen dieser Frau doch nicht etwa?“

Ebenso leise gab Corvin zurück: „Nicht weiter, als ich die Haupt-Feldspule eines Raumschiff-Antriebs werfen könnte. Doch sie wird uns ganz sicher zu den Gefangenen bringen und uns Zugang zu einem der Kriegsschiffe verschaffen. Danach werden wir sie ausschalten und unseren Auftrag zu Ende führen.“

„Ich muss Ihnen nicht sagen, dass unser Angriffsplan nicht vorsieht Gefangene zu befreien“, gab die Frau zu bedenken.

Der Terraner funkelte die blonde Frau an. „Einer meiner Ausbilder hat einmal behauptet, dass kein noch so guter Plan den ersten Feindkontakt übersteht. Ich denke er hatte Recht. Außerdem wusste ich nicht, dass ich eine Gelegenheit erhalten würde, das Versprechen einzulösen, das ich Rian Onoro vor vier Monaten gab. Bedenken Sie zudem: Diese Gefangene hat an der NOVA SOLARIS mitgearbeitet. Ihre Befreiung ist also auch von einem strategischen Standpunkt aus gesehen sehr sinnvoll.“

„Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.“

„Wie kommen Sie denn darauf?“, spottete Corvin und zwinkerte der Frau zu. Dann wandte er sich zu dem Landetrupp um, gab den Befehl das Kom-Mikro-System anzulegen und sagte laut vernehmlich: „Der Einsatz beginnt!“

Auf unbekanntem Kurs


 

7.
 

Auf unbekanntem Kurs
 

An Bord der VESTERGAARD hatte sich eine gewisse Eintönigkeit breit gemacht, während der letzten beiden Tage. Seit dieser Zeit kreuzte das Kriegsschiff des Terranischen Imperiums, nur 4,3 Lichtjahre vom Sol-System entfernt, bei Alpha-Centauri. Seit dieser Zeit liefen an Bord des Leichten Kreuzers nur die nötigsten Aggregate.

Der Kommandant der VESTERGAARD war dabei kein Risiko eingegangen und sehr nahe der Alpha-Sonne des trinären Sternensystems aus dem Hyperraum gefallen. Danach hatte sich der Kreuzer weiter dem Stern genähert, so dass seine Energiestrahlung die Energieemissionen der auf Minimallast laufenden Systeme des Kreuzers überlagerten. Dabei hielt die Pilotin des Leichten Kreuzers genügend Abstand zu dem Stern, dass die auftreffende Strahlung nicht zu einem Problem werden konnte. Die Schiffspanzerung genügte auf diese Distanz immer noch voll und ganz, um sie abzuweisen.

Außerdem war da auch noch zu berücksichtigen, dass der Kreuzer als vorgeschobener Horchposten zu dienen hatte. So war ein gewisser Mindestabstand zum Stern nötig, um einlaufende Hyperfunk-Signale aus dem Sol-System klar empfangen zu können.

Die gemeinsame Schicht von Kimi Korkonnen und Renée Killkennen ging langsam zu Ende und der Finne freute sich bereits darauf, die Messe aufzusuchen um seinen Hunger stillen zu können, der ihn seit etwa einer Stunde fest in seinen Klauen hielt. Dabei wunderte er sich etwas darüber, dass ihm die Sorge um seinen Freund nicht längst auf den Magen geschlagen war. Denn Dean musste sich, laut Plan, in diesem Moment bereits seit einem Tag im Sol-System aufhalten. Korkonnen hoffte inständig, dass es seinem Freund gutging.

Als der Finne, bei seiner Wanderung durch die Zentrale der VESTERGAARD an der Steuerkonsole vorbei kam, fragte Renée Killkennen, so als habe sie seine Gedanken gelesen: „Was halten Sie von einer kleinen Stärkung in der Messe, sobald unser Dienst beendet ist, Hauptmann? Ich habe einen ziemlichen Hunger.“

„Ich bin dabei, Leutnant“, schmunzelte Korkonnen und blieb schräg hinter ihrem Platz stehen. Einen kurzen Seitenblick auf die junge Frau werfend fügte er belustigt, und etwas ironisch hinzu: „Dieses stetige Umkreisen des Sterns zerrt aber auch an den Kräften.“

Renée Killkennen erwiderte nichts darauf, und so nahm Korkonnen seine Wanderung wieder auf und erkundigte sich bei Hauptfeldwebel Tarrik Barun: „Gibt es bisher irgendwelche Unregelmäßigkeiten?“

„Nein, Sir.“

Korkonnen dankte und wandte sich danach an Leutnant Marius Wolf. „Gibt es neue Erkenntnisse, was die bisher aufgefangenen Funkmeldungen angeht?“

Der Leutnant erwiderte ruhig: „Nein. Es gibt weder eine auffällige Zunahme des Funkverkehrs, noch haben wir bisher militärisch Relevantes empfangen können. Falls der Stoßtrupp der Allianz bereits wirklich im Sol-System eingedrungen ist, so wurde er demzufolge noch nicht entdeckt, wie es scheint.“

Kimi Korkonnen beruhigte sich innerlich, bei den Worten des Angesprochenen. „Danke, Leutnant Wolf.“

Als sich das Schott des Kommandozentrums öffnete und die Kommandantin eintrat, stellte Korkonnen bei einem schnellen Blick auf sein MFA fest, dass die letzten Minuten seines Dienstes erstaunlich schnell verstrichen waren. Während die Kommandantin zu ihm schritt und er seinen Übergabebericht bei ihr abgab, traf auch die Ablösung der übrigen Zentrale-Besatzung ein und übernahm für die nächsten zwölf Stunden.

Als Letzter verließ Korkonnen, hinter Renée Killkennen, das Kommandozentrum des leichten Kreuzers. Nebeneinander schritten sie in Richtung der vorderen Offiziersmesse.

Der Irin war in den letzten Tagen aufgefallen, dass Kimi Korkonnen, ganz entgegen seines vorherigen Verhaltens, nach dem Urlaub auf Wega-IX auffallend schweigsam geworden war. Sie fragte sich, was die Ursache dafür sein konnte. Vielleicht hatten sie sich gestritten. Vielleicht hatte ihm seine Freundin aber auch schlechte Nachrichten überbracht. Wegen dieser letzten Möglichkeit hatte sie den Hauptmann nicht weiter darauf angesprochen, in der Hoffnung, dass er sich ihr in diesem Fall vielleicht anvertrauen würde. Doch er hatte bisher geschwiegen und die Frau brannte innerlich förmlich darauf, bald zu erfahren, was mit Korkonnen los war. Weil es sie traurig stimmte, diesen sympathischen Mann so sehr in sich gekehrt zu erleben. Vielleicht ergab sich beim Essen eine Möglichkeit nachzuforschen.

Nachdem sie sich in der Messe, am Nahrungsmittel-Synthesizer, beide ein opulentes Mal zusammengestellt hatten nahmen die beiden Offiziere an einem der kleineren Tische Platz, wo sie für sich waren.

Renée Killkennen, die begeistert zugriff, beobachtete ihr Gegenüber dabei, wie er nach den ersten Bissen scheinbar lustlos in seinem Essen herumstocherte. Unruhig rutschte sie dabei auf auf ihrem Platz hin und her. Schließlich hielt sie die Schweigsamkeit des Mannes nicht mehr länger aus und fragte offen: „Was ist denn los mit Ihnen, Hauptmann? Seit Ihrem Urlaub auf Wega-IX sind Sie wie ausgewechselt.“

Korkonnen sah etwas abwesend von seinem Essen auf und schien mit sich zu ringen, bevor er mit deprimiertem Tonfall erklärte: „Es ist wegen Miriam. Ich habe sie auf Wega-IX wiedergesehen, aber das hatte ich Ihnen bereits erzählt. Nun, was ich nicht erzählte war, dass ich Miriam vorgeschlagen habe, darüber nachzudenken, ob wir vielleicht heiraten sollten.“

Beinahe erschrocken sah Renée den Finnen an, doch sie hatte sich schnell wieder in der Gewalt und fragte rau: „Kommt das nicht etwas schnell? Wie hat sie darauf reagiert?“

Kimi Korkonnen lachte verzweifelt. „Miriam reagierte in etwa so, wie Sie eben. Ich habe versucht ihr zu erklären, dass das vielleicht der einzige Weg wäre, nicht vielleicht für Jahre voneinander getrennt zu sein. Doch sie fand die Idee trotzdem besch… bescheiden.“

Die Irin strich sich mit beiden Händen ein paar Strähnen ihrer kupferroten Haare hinter die Ohren und fragte dann entsagungsvoll: „Wundert Sie das etwa? Ihre Freundin will einen Heiratsantrag aus Liebe bekommen.“

„Das hat sie doch“, gab Korkonnen frustriert zurück. „Wissen Sie, ich möchte irgendwann auch eine Familie gründen. Nicht jetzt gleich, doch auch nicht erst in zehn Jahren. Keiner von uns weiß, wie lange dieser Krieg dauern wird, und ich habe einfach Angst, dass Miriam und ich uns entfremden, falls wir uns nur noch sporadisch sehen.“

„Irgendetwas sagt mir, dass wir uns dem eigentlichen Problem nähern“, stellte die Irin sachlich fest. „Haben Sie mit ihrer Freundin auch darüber gesprochen?“

Kimi Korkonnen sah Renée direkt an. „Ja, und Miriam gab mir sehr deutlich zu verstehen, dass sie keine Kinder haben will. Nicht in solchen Zeiten. Darüber haben wir ausgiebig diskutiert. Sehr heftig sogar. Am Ende haben wir uns im Streit getrennt.“

„Aber das lässt sich bestimmt wieder begradigen“, machte Renée einen vorsichtigen Versuch, Kimi etwas zu beruhigen.“

Langsam schüttelte der Finne den Kopf. „Nein, ich fürchte nicht. Ich liebe Miriam wirklich, zumindest glaubte ich das. Doch während unseres Wiedersehens im Wega-System hat sich zwischen uns eine Kluft aufgetan und ich spüre, ganz tief in mir, dass wir diese Kluft nicht überwinden können. Darüber bin ich sehr traurig, aber weg zu sehen ist keine Lösung.“

Impulsiv legte Renée ihre Hand auf die von Korkonnen. Zunächst wollte sie sie, erschrocken über ihr Handeln, wieder wegziehen. Doch sie tat es nicht, fast so, als wäre sie paralysiert. Andererseits entzog der Finne ihr seine Hand auch nicht. Endlich schaffte sie es, seine Hand leicht zu drücken und sie wieder loszulassen.

„Das alles tut mir sehr leid für Sie, Hauptmann“, sagte Renée leise. Dabei tat es ihr innerlich weh, Kimi leiden zu sehen. Im Moment schien es ihr auch nicht passend, sich darüber zu freuen, dass der Mann, für den sie mehr als nur Kameradschaft empfand, vielleicht wieder zu haben war. Nicht wenn der Hauptmann dafür am Boden zerstört war.

Der Blonde sah sie dankbar an. „Es tut gut, mit Ihnen darüber reden zu können, Leutnant Killkennen. Das bedeutet mir sehr viel. Umso mehr, als dass mein bester Freund, mit dem ich normalerweise über solche Dinge reden würde, unerreichbar ist.“

„Vielleicht sehen Sie ihn bald“, munterte Renée ihn auf. „Wenn das Unternehmen der NOVA SOLARIS und ihrer Besatzung zu einem Erfolg führt, dann wird er ja bald in diesem Sternensystem auftauchen. Dann ergibt sich vielleicht die Gelegenheit dass Sie auch mit Ihrem besten Freund über all diese Dinge reden können.“

„Ja, vielleicht“, stimmte Korkonnen zu und seine Laune verbesserte sich dabei sichtlich. Mit einem schwachen Lächeln in Richtung der Frau machte sich Kimi endlich über sein Essen her. Dabei fragte er sich, wie es Dean in diesem Moment ergehen mochte.
 

* * *
 

Vor wenigen Minuten hatte Dean Corvin, an der Spitze des Stoßtrupps, den gekaperten Frachter der Konföderation Deneb verlassen. Unbemerkt waren sie zu den Lagerhallen am Rande des Landefeldes gelangt. Durch einen Zugang im Boden der Lagerhalle, der im verriegelten Zustand nicht als solcher zu erkennen war, hatte der Stoßtrupp, inklusive Kim Tae Yeon und Leutnant Léa Le Garrec, einen niedrigen Gang betreten. Dabei wurde Le Garrec klar, dass sie nun keine Wahl mehr hatte, als sich auf die Seite der Eindringlinge zu schlagen. Selbst wenn die Frachter-Pilotin gewollt hätte, wäre ihr nach Kims Anklage gar keine andere Wahl mehr geblieben, als sich Corvin anzuschließen. Wobei sie dem Terraner hoch anrechnete, dass er versucht hatte sie zu schützen, indem er behauptete, die Information über die Gefangenen von ihrem Co-Piloten erhalten zu haben.

Krezirin und der kräftige Unteroffizier aus Diana Spencers Einheit hielten Kim immer noch zwischen sich und achteten darauf, dass sie ihnen nicht entkommen konnte. Vor ihnen bewegten sich Corvin und Diana Spencer an der Spitze, dabei mit ihren Schock-Waffen sichernd; die Plasmagewehre, mit dem Lauf nach unten, quer über den Rücken gehängt.

Die Beleuchtung des mit hellgrauem Kunststoff verkleidete Ganges hatte sich selbsttätig aktiviert, nachdem sie eingetreten waren. Nach Eingabe des korrekten Zugangscodes, durch Corvin, erfolgte offensichtlich keine weitere Kontrolle, wer den Gang betreten hatte. Zumindest ließ sich das nicht verifizieren.

Nach einer Weile führte der Gang in einer weiten Kurve nach links, um später wieder etwas nach rechts abzuknicken.

Anhand der zuvor an Bord des Frachters ermittelten Entfernung des weitgehend zertrümmerten, ehemaligen Hauptquartiers der Terranischen Flotte und der Schritte, die Dean Corvin stumm in Gedanken mitzählte versuchte der Major zu ermitteln, wann sie ihr Ziel erreicht haben würden. Als er der Meinung war, dass sich der Trupp seinem Ziel unmittelbar angenähert haben musste, gab er Diana Spencer ein Zeichen mit der Hand, etwas hinter ihm zurückzubleiben. Jetzt einige Schritte vor der Frau schritt Corvin etwas vorsichtiger aus.

Trotz der widrigen Sichtverhältnisse war zu erkennen, dass der Gang, seit seinem Bestehen, noch niemals benutzt worden war denn eine dicke, gleichmäßige Staubschicht lag auf dem Boden, über den sie gingen. Dean Corvin nieste unterdrückt, rümpfte die Nase und murmelte leise: „Eine Seite des Imperiums die der normale Tourist nie zu sehen bekommt.“

Diana Spencer schmunzelte unterdrückt, bei den Worten des Terraners. Allmählich begann sie, sich an den etwas schrägen Humor des Majors zu gewöhnen.

Im nächsten Moment mündete der Gang in eine Treppe mit breiten Stufen und der Trupp schritt immer weiter aufwärts, bis er schließlich abrupt vor Dean Corvin endete.

Zur Linken des Terraners gab es eine antiquiert wirkende Tastatur – ähnlich jener, die Corvin am Einstieg zur Codeeingabe verwendet hatte. Allerdings hatten die Erbauer hier darauf verzichten können, sie zu tarnen. Wer sich in diesem Gang befand, der wusste logischerweise von seiner Existenz.

Auch hier gab Dean Corvin den Code ein, den er, über den Umweg des Generalmajors Arolic Traren, von Generalleutnant MacPherson erhalten hatte.

Annähernd lautlos verschwand ein Teil der Wandung zur Seite und gab die Sicht auf einen kleinen Lagerraum frei, dessen Bodenfläche kaum mehr als 70 Quadratmeter besitzen konnte. Außer mehreren kleinen Behältern enthielt er keinerlei Güter, so dass der Trupp genügend Platz fand, während sich hinter ihm das Schott zum Geheimgang wieder schloss.

Am gegenüber liegenden Schott sagte Dean Corvin zu Kim Tae Yeon: „Wir befinden uns jetzt auf Höhe der untersten der fünf Tiefetagen. Auf welcher Ebene befinden sich die beiden Gefangene, die hier festgehalten werden?“

Die dunklen Augen der Koreanerin schienen von Innen heraus zu glühen, als sie widerwillig erklärte: „Beide befinden sich im Gefangenen-Trakt auf dieser Ebene. Um dafür zu sorgen, dass dein Trupp eine Fregatte betreten kann, muss ich jedoch zu meinem Büro.“

Corvin lächelte kalt. „Den Versuch nehme ich dir nicht übel. Doch zum Glück weiß ich, dass du dazu nicht in dein Büro musst. Generalleutnant MacPherson hat vor dem Einsatz die Information freigegeben, dass es auf der Etage über dieser einen Kommandoraum gibt, von dem aus du das ebenfalls bewerkstelligen kannst. Was ich jetzt noch wissen will ist: Wie viele Leute sind hier unten aktuell tätig?“

Die Koreanerin presste die Lippen auf einander. Erst als Krezirin etwas Nachdruck anwendete antwortete sie zischend: „Um diese lokale Uhrzeit ist hier unten gar nichts los.“

„Sehr gut“, gab der Terraner zurück und öffnete das Schott. Vorsichtig spähte er auf den Gang hinaus, doch er lag verlassen, was Kims Aussage zu bestätigen schien.

Kim Tae Yeon erklärte Corvin den Weg zum Zellentrakt und es dauerte nur wenige Minuten, bis sie ihn erreicht hatten. Es gab keine Wachen vor dem Schott, da die Zellen ohnehin optisch überwacht wurden.

„Wird der Gang zu den Zellen überwacht?“, fragte Corvin, als sie vor dem Gefangenentrakt angekommen waren.

Kim schüttelte den Kopf.

Corvin nickte in Gedanken. „Aber die Zellen werden ganz bestimmt überwacht. Also werden wir jetzt erst einmal zur Ausweichzentrale marschieren. Dort wirst du die Überwachungsanlage, mit eingefrorenen Bildern der Zellen überlagern. Nachdem du dafür gesorgt hast, dass die Fregatte neben dem Frachter niedergeht und von seiner Besatzung verlassen wird. Dafür wird dir schon eine passende Begründung einfallen, nicht wahr? Aber zuvor wirst du, per Stimmenkommando dieses Schott öffnen. Außerdem wirst du mir sagen, in welchen Zellen die beiden Gefangenen festgehalten werden.“

Wieder funkelte Kim den Terraner wütend an. Sie befahl akustisch das sich das Schott öffnen sollte, und sagte dann: „Die beiden letzten Zellen rechts und links des Gangs.“

Der Terraner beließ, bis auf sechs Leute, den Trupp, unter Spencers Führung, vor dem offenen Schott und setzte sich dann wieder in Bewegung. Dabei jagte ein ganzer Strom von Gedanken durch seinen Kopf. Rian Onoro ahnte nicht, wie nah er daran war, endlich das Versprechen einzulösen, das er ihr vor Monaten gegeben hatte. Doch zuvor gab es noch etwas zu erledigen. Darauf musste er sich konzentrieren.

Sie benutzten keinen der leicht zu überwachenden Lifte sondern stiegen über das Nottreppen-System eine Etage höher. Von dort, wo sie es verließen war es nicht weit zu dem geheimen Kommandoraum, auf dieser Ebene.

Um ihn zu erreichen mussten sie durch ein großes Forschungslabor mit gepanzerten Panoramafenstern zu den Vorräumen auf beiden Seiten. Niemand, der nicht eingeweiht war, hätte auf der anderen Seite des Komplexes den Kommandoraum vermutet.

Wieder war es Dean Corvin, der eine verborgene Code-Tastatur zum Vorschein brachte, indem er seine Hand auf eine bestimmte Stelle der Verkleidung legte und sie in eine Vertiefung drückte.

Wenig später fuhren die Systeme des Kommandoraums hoch und Dean Corvin deutete einladend auf eine der Konsolen. Dabei hielt er sie, außerhalb des Erfassungsbereiches der Holo-Kamera mit seinem Plasmagewehr in Schach. Der Rest des Teams verblieb im Vorraum zum Labor.

„Beim geringsten Versuch uns zu hintergehen stirbst du“, raunte Corvin. In diesem Moment meinte er seine Worte ernst.

Kim, die ihn kurz ansah erkannte seine Entschlossenheit, seine Worte in die Tat umzusetzen, und so wagte sie keinen Verrat. Mit zornloderndem Blick aktivierte sie das Sendezentrum und nahm Kontakt zum Kommandanten einer Fregatte mit dem Namen WIRBELWIND auf.

Dean Corvin bekam mit, wie Kim die Fregatte zur Landung auf dem Raumhafen anwies und befahl, dass die Besatzung das Raumschiff zu räumen hatte. Angeblich weil der Geheimdienst das Raumschiff für eine geheime Mission benötigte. Sie befahl dem Kommandanten, dass er sich mit seiner Mannschaft in exakt acht Stunden am genannten Landeplatz einzufinden habe, um die Fregatte dann wieder zu übernehmen.

Corvin lächelte zufrieden, als er die Bestätigung des Offiziers vernahm unter dessen Kommando die WIRBELWIND stand.

Nachdem Kim auch die Überwachung der Gefängniszellen ausgeschaltet und die Anlage deaktiviert hatte, sah sie Corvin an und fragte zornig: „Bist du jetzt zufrieden, Dean? Wirst du mich jetzt erschießen?“

„Du hast mich nie wirklich kennengelernt!“, schrie Corvin die Frau wütend an, die erschrocken über diesen Ausbruch zurückzuckte. „Sonst würdest du wissen, dass ich ein einmal gegebenes Versprechen halte – obwohl ich jetzt gerade nicht übel Lust hätte, dich wirklich zu erschießen! Und jetzt raus hier!“

Kim verließ den Kommandoraum und Corvin gab den Code ein, der diesen Kommandoraum wieder verriegelte. Danach trat er etwas zurück, hob seine Waffe an und schoss. Ein grell violett glühender Plasmastrahl von einer Viertelsekunde Dauer jagte in die Tastatur und zerschmolz sie komplett. Dean Corvin befahl dem Trupp sich auf den Rückweg zu machen. Wieder übernahm er die Spitze.

Den Abschluss bildete Krezirin, der die Koreanerin am Oberarm gepackt hielt. Als Letzter durchschritt der Raumlandesoldat mit Kim das Schott des Labors.

Der Angriff von Kim kam für den Oberleutnant unerwartet. Zudem hatte Krezirin offensichtlich die Kraft der Frau unterschätzt. Sie versetzte ihm einen Stoß, der ihn durch das Schott in den Vorraum beförderte und gab schnell den geheimen Verriegelungs-Code ein, der ihr als Angehörige des Geheimdienstes bekannt war und der für alle Schotts dieses Komplexes übergeordnete Gültigkeit besaß.

Das Panzerschott des Labors schloss sich rasch hinter Harin Krezirin, bevor dieser realisierte, was geschehen war.

Vor ihm war Dean Corvin aufmerksam geworden und hastete zu Krezirin. Dem Oberleutnant einen wütenden Blick zuwerfend wandte er sich zu dem Panoramafenster, durch das ihn Kim anstarrte.

Corvin eröffnete das Feuer auf die Scheibe, doch ohne eine sichtbare Wirkung zu erzielen. Dabei stieß er heftig aus: „Das ist dieses verdammte Panzer-Glassit-Zeug!“

Der Terraner beobachtete Kim dabei, wie sie sich der Scheibe näherte. Nur diese verdammte Scheibe und etwas Luft stand zwischen ihnen.

Beinahe entschuldigend sah die Koreanerin ihn an und zu Corvins Erstaunen rannen zwei Tränen über ihre Wangen. In einer fast zärtlichen Geste küsste sie ihre Fingerspitzen und legte ihre Hand dann auf die Scheibe – dabei den Terraner nicht aus den Augen lassend.

In beinahe ohnmächtigem Zorn hob Corvin seine Waffe und schlug mit dem Kolben , wie von Sinnen, auf die Scheibe ein, wohl wissend, dass er damit natürlich noch weniger Wirkung erzielte, als zuvor. Doch die Geste der Asiatin schien ihm der pure Hohn zu sein, in Anbetracht dessen, was sie ihm zu Akademiezeiten angetan hatte.

Nach einigen kräftigen Hieben auf genau jene Stelle der Scheibe, an der auf der anderen Seite die Hand von Tae Yeon ruhte, ließ Dean Corvin, mit einem wütenden Schrei, schließlich seine Waffe sinken.

Krezirin näherte sich Corvin und meinte entschuldigend: „Tut mir leid, Sir. Ich war für einen Moment unachtsam. Da werden wir sie so schnell nicht heraus kriegen.“

Corvin machte einen Schritt zurück und zog den Oberleutnant am Oberarm mit sich. „Dann werde ich wenigstens dafür sorgen, dass Sie ihrerseits auch nicht dort weg kommt.“

Damit feuerte er auf den Rahmen des Schotts bis sich das Material des Rahmens, an einigen Stellen, mit dem des Schotts verbunden hatte. Schließlich stieß er aus: „Das hält für einige Stunden, selbst wenn sie sofort Hilfe bekommen sollte, sobald wir weg sind. Doch das halte ich eher für unwahrscheinlich. Kommen Sie, hier können wir nichts mehr tun.“

Harin Krezirin nickte und war froh darüber, dass Corvin seinen Fauxpas nicht weiter erwähnte. Neben Corvin schritt er schnell aus, bis sie den Rest des Trupps eingeholt hatten. Dabei sagte Dean Corvin zu dem Oberleutnant: „Vermutlich wird man Kim dort drinnen erst in einigen Stunden entdecken. Dann spielt es keine Rolle mehr.“

„Es ist meine Schuld, dass sie uns entkommen ist!“, bekannte der Oberleutnant zerknirscht. „Tut mir leid, Major Corvin, diese Frau hätte unseren Leuten bestimmt einiges erzählen können. Außerdem: Wie öffnen wir jetzt die Gefängniszellen?“

„Den Code weiß ich. MacPherson hat Traren wirklich umfassend informiert und dabei an Alles gedacht“, erklärte Corvin. „Vergessen wir es also. Ist ja doch nicht zu ändern.“

Beim Gefängnis-Trakt angekommen sah Diana Spencer den Terraner fragend an, nachdem sie bei den Zurückkehrenden nirgendwo die Koreanerin entdecken konnte. „Haben Sie es sich anders überlegt, und Kim unterwegs...“

„Nein“, schnitt ihr der Kanadier das Wort ab und warf einen bezeichnenden Blick zu Krezirin. „Sie entkam unserem Zugriff, kann aber ihrerseits im Moment keinen Unsinn anstellen, weil sie selbst festsitzt. Das System ist soweit, dass wir die Gefangenen unbemerkt aus den Zellen holen können. Eine Fregatte namens WIRBELWIND wird nahe des Frachters landen, mit dem wir hierher gekommen sind.“

Damit schritt er an Diana Spencer vorbei in den Gang des Gefängnis-Traktes. Hinter ihm gab Diana Spencer Krezirin und Anaris Ikari einen Wink ihr und Corvin zu folgen.

Am Ende des Ganges angekommen gab Corvin zuerst den Öffnungs-Code für die linke Zelle ein, und danach für die Zelle auf der rechten Seite des Gangs. Ungeduldig spähte er in die zuerst geöffnete Zelle, und erkannte einen Mann, der sich halb von seiner Pritsche erhob und ein verblüfftes Gesicht machte, als er ihre schwarzen Uniformen erkannte. Corvin wandte sich ab und schritt rasch in die gegenüber liegende Zelle, in der sich bereits Anaris Ikari aufhielt. Schnell drängte er sich an Ikari vorbei und sah hinunter auf die schlafende Gestalt, die noch gar nichts mitbekommen hatte. Sie schlief friedlich.

Erschüttert sah der Terraner in das abgezehrte Gesicht der jungen Frau und er versuchte sich vorzustellen, welche Qualen und Erniedrigungen sie erlitten hatte. Er schüttelte sich leicht, als ihm der Gestank gewahr wurde, der von ihr ausging. Was hatten diese Verbrecher von der Konföderation sich nur dabei gedacht, sie so vor sich hin vegetieren zu lassen? Welche Menschenverachtung gehörte dazu?

Dean Corvin spürte, dass ihm die Tränen kamen, doch er riss sich zusammen und sagte rau zu Anaris Ikari: „Ich wecke die Gefangene jetzt. Falls sie nicht selbst gehen kann, dann werden wir beide sie in die Mitte nehmen.“

„Verstanden Sir.“

Dean Corvin kniete sich ab und streckte seine linke Hand aus. Ganz vorsichtig, damit sie sich möglichst nicht erschreckte, berührte er sanft die Schulter der Frau. Als sie nicht darauf reagierte, verstärkte er den Druck seiner Hand etwas, rüttelte sie leicht und sagte mit leiser Stimme: Rian Onoro, wachen Sie auf. Wir holen Sie hier heraus.“

Rian Onoro gab einen undefinierbaren Laut von sich und schlug, im Halbschlaf, nach der Hand auf ihrer Schulter. Langsam zu sich kommend realisierte die Frau, dass die Hand an ihrer Schulter real war, denn ihre eigene Hand hatte sie berührt. Sie sah in das Gesicht jenes Mannes, der stets in ihren Gedanken gewesen war, in der letzten Zeit.

„Was für eine Teufelei habt ihr euch jetzt wieder ausgedacht“, fragte sie schwach, weil sie nicht glauben konnte, was sie sah.

„Feldwebel Onoro, ich bin es wirklich. Dean Corvin. Ich habe Ihnen versprochen, dass ich zurückkehren werde. Kommen Sie, wir verschwinden von hier.“

Dean Corvin ignorierte den momentan verwirrten Zustand der Frau. Sich auf die Kante der Pritsche setzend schob er einen Arm unter ihre Schulter hindurch und half ihr dabei sich aufzurichten.

Erst jetzt endgültig zu sich kommend sah Rian Onoro in das Gesicht des Mannes, von dem sie dachte, ihn nie wiederzusehen. Beinahe ängstlich streckte sie ihre zitternde Hand aus und berührte schließlich seine Wange. „Sie sind es wirklich?“

Corvin schluckte und lächelte aufmunternd. „Ja, ich bin es wirklich.“

Mit einer fahrigen Geste zog Rian Onoro sich die dünne Bettdecke weg und erhob sich, mit Corvins Unterstützung, von der Pritsche. Einen Moment lang sah sie den Kanadier einfach nur an, sah das Mitleid in seinen Augen und fiel ihm dann schluchzend um den Hals.

Sich so hilflos fühlend, wie nur einmal in seinem bisherigen Leben, nahm Corvin die Frau in seine Arme. Er bettete ihren Kopf ganz sachte an seine Schulter und ließ sie eine Weile gewähren, bevor er ruhig sagte: „Wir müssen hier weg. Können Sie gehen?“

„Ja“, erwiderte die Frau mit erstickter Stimme. Ein leises Schniefen folgte, bevor sie etwas sicherer sagte: „Sie haben Wort gehalten, Sir. Aber wie...“

„Später, jetzt haben wir keine Zeit für lange Gespräche.“

Sie verließen, hinter Ikari, die Zelle. Auf dem Gang des Traktes trafen sie auf Diana Spencer und Harin Krezirin, die ihrerseits dem baumlangen Schwarzhaarigen erklärt hatten, wer sie waren und warum sie hier waren.“

Als der Name Corvin fiel, da sah der männliche Gefangene zu Diana Spencer und fragte überrascht: „Sprechen Sie von Dean Corvin? Der ist hier?“

„Ja, der Major dort drüben“, gab die Frau bereitwillig Auskunft. „Warum fragen Sie?“

„Weil es hier jetzt gleich Zack-Wumm gehen wird!“, erwiderte Karambalos Papadopoulos erbost und stampfte auf den Kanadier zu.

Rian Onoros Augen weiteten sich, als der Grieche sich näherte. Schützend umarmte sie Corvin und ächzte dabei: „Karambalos, vergiss alles, was ich dir über Dean Corvin gesagt habe. Das war doch nur Theater für die Leute, die unsere Zellen überwachen. Ich wollte denen keine Munition gegen mich in die Hand geben.“

Etwas ratlos blieb Papadopoulos stehen und sah fragend auf Rian hinab. „Du meinst, du hast mich angelogen und dieser Kerl ist gar kein Arsch?“

„So in etwa“, gab Rian kläglich zu. „Tut mir leid.“

„Mann, das wäre aber fast schiefgegangen“, brummte der Hüne. Zu Corvin gewandt sagte er: „Das Missverständnis tut mir leid, Sir.“

„Vergessen Sie es“, gab Corvin drängend zurück. „Raus hier, jetzt!“

Sie setzten sich in Bewegung, wobei Corvin sich nach einer Weile den linken Arm von Rian Onoro um die Schulter legte und seinen rechten Arm um ihre Hüfte legte, damit sie schneller voran kamen. Dabei rief er Diana Spencer zu die Führung zu übernehmen.

Als sie den Geheimgang erreichten sah Rian Onoro den Kanadier etwas aufmerksamer an, als zuvor. Erst jetzt fiel ihr bewusst auf, dass er nicht die terranische Uniform trug, sondern die der Farradeen-Allianz. Außerdem trug er am Kragen seines Kampfanzuges nicht die Insignien eines Oberleutnants, sondern die eines Majors. Die Frau kannte sich aus, was den Beförderungstakt beim Militär betraf und auch in der Allianz wurden Offiziere nicht innerhalb von vier Monaten vom Oberleutnant zum Major befördert. Irgendetwas Seltsames musste in dieser Zeit passiert sein.

„Wie kommen Sie zu den Rangabzeichen eines Majors?“

Dean Corvin sah die Frau an seiner Seite ungläubig an. „Haben Sie keine anderen Sorgen, Feldwebel? Ich werde es Ihnen erzählen, aber die Geschichte ist zu lang, um das jetzt und hier zu tun. Später werden Sie alles erfahren, was sich in den letzten Monaten ereignet hat. Ich vermute mal, man hat Sie darüber weitgehend im Unklaren gelassen?“

„Sogar weitestgehend“, gab die Frau grimmig zurück. „Sagen Sie mal, ekeln Sie sich nicht vor mir? Ich stinke doch bestimmt ganz entsetzlich.“

Demonstrativ packte Corvin die Frau etwas fester in der Hüfte und gab bestimmt zurück: „Nein, Feldwebel, und jetzt halten Sie gefälligst den Mund, wenn´s gefällt!“

Die Frau seufzte schwach, weil sie nicht die Kraft hatte, sich mit dem Mann an ihrer Seite anzulegen. Doch das würde sie schon noch nachholen, schwor sie sich.
 

* * *
 

Als Hauptmann Marquant Gu, Kommandant der WIRBELWIND, die Verbindung zu Major Kim Tae Yeon unterbrochen hatte, sah er sich im Kommandozentrum seiner Fregatte um und meinte verständnislos zu seinem ersten Offizier, Corinne Fabienne: „Das ist doch der reine Wahnwitz. Was, bei allen Heiligen, will der Geheimdienst ausgerechnet mit meiner Fregatte anfangen? Darüber hinaus ohne jede Vorankündigung.“

„Ein wirklich merkwürdiger Befehl“, stimmte Oberleutnant Fabienne zu. „Ist denen vom Geheimdienst etwa langweilig? Was soll denn das?“

„Das werden uns die vom Geheimverein bestimmt nicht erzählen, und einem solchen Priorität-Befehl muss ich Folge leisten“, gab der Hauptmann grimmig zurück. „Aber sobald wir gelandet sind, werde ich bei denen vorstellig, das dürfen Sie wissen. Ich möchte zumindest eine Erklärung haben, was los ist.“

„Soll ich die Besatzung darauf vorbereiten, dass sie unter Umständen schnell wieder an Bord kommen, Sir?“, erkundigte sich Corinne Fabienne. „Nur für den Fall, dass mit diesem Befehl etwas nicht stimmen sollte.“

Der Hauptmann überlegte kurz bevor er zustimmend erwiderte: „Ja, tun Sie das.“

Abwesend beobachtete Gu, wie sein Erster Offizier seinen Befehlen Folge leistete. Dabei grübelte er darüber, dass ihm schon ordentlich Ärger drohen konnte, wenn er sich zu weit über seinen Kompetenzbereich vor wagte. Er hatte bereits zu Beginn seiner Karriere als ziemlich emotional gegolten und er war sich dessen bewusst, dass er gelegentlich über das Ziel hinaus schoss, wenn ihm diese Emotionalität seine Handlungsweise vorgab.

Doch andererseits schien dem Hauptmann dieser Befehl, den er von einem gewissen Major Kim bekommen hatte, mehr als seltsam. Was wollte der Geheimdienst mit seiner Fregatte? Eine solche Übernahme waren an sich nicht ungewöhnlich. Wohl aber die Tatsache, dass sie so kurzfristig und unangemeldet erfolgte, wie in diesem Fall.

Marquant Gu war davon überzeugt, nicht nur ein guter Offizier zu sein, sondern auch einen gewissen Instinkt zu besitzen, der ihm sagte, wenn etwas nicht stimmte. Und dieser Instinkt hatte sich vor einigen Minuten bei ihm zu Wort gemeldet. Dennoch überlegte er momentan, ob seine erste Reaktion die Richtige war.

Erst als sich die WIRBELWIND auf den Bodenbelag des zugewiesenen Landefeldes abgesenkt hatte und die Aggregate herunter fuhren, traf Gu die endgültige Entscheidung darüber, wie er weiter vorgehen würde.

„Oberleutnant Fabienne, beordern sie bitte die Besatzung der WIRBELWIND zur nahegelegenen Raumhafenkantine und begeben Sie sich selbst ebenfalls dorthin. Lassen Sie zuvor an jedes Besatzungsmitglied ein Plasmagewehr ausgeben, ich verantworte das. Bleiben Sie dort und achten Sie darauf, wenn ich über MFA mit Ihnen in Kontakt trete. Eventuell wird sich alles als vollkommen harmlos erweisen. Aber halten Sie sich und die Mannschaft bereit, um schnell zu handeln. In wie fern das dann sein könnte, wird sich dann schon erweisen.“

Die Frau nickte zustimmend. „Ja, Kommandant!“

Wenig später verließen genau 78 Raumfahrer der Konföderation Deneb die Fregatte WIRBELWIND. Eine einzelne Person trennte sich vom Rest der Besatzung, übergab seinem Ersten Offizier seine Waffe und hielt dann, gemessenen Schrittes, auf das weitgehend zerstörte Gebäude des ehemaligen Hauptquartiers der Terranischen Flotte zu. Hätte Hauptmann Marquant Gu geahnt, welche Hintergründe der seltsame Befehl an ihn und seine Mannschaft hatte; er wäre vermutlich nicht gegangen, sondern gerannt.
 

* * *
 

Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten wartete Diana Spencer auf Dean Corvin, der Rian Onoro für einen Moment losließ um den Code für das Schott einzugeben. Danach kümmerte er sich wieder um die misshandelte Technikerin, während Diana Spencer weiterhin die Spitze des Trupps übernahm.

Die blonde Frau entdeckte sofort die 147 Meter lange Fregatte, die etwas nach vorne versetzt neben dem Frachter gelandet war. Keiner der Besatzung war auf dem Raumhafen zu sehen. Dennoch schickte Diana Spencer Harin Krezirin los. Er sollte gemeinsam mit Léa Le Garrec erkunden, ob die Luft rein war. Besonders die Frau konnte sich natürlich unauffällig umsehen, da sie in ihrer nachtblauen Uniform keinen Verdacht erregte. Anders als der Rest des Stoßtrupps.

In den blauen Uniformen des Feindes wäre der Kommandotrupp weit weniger aufgefallen, doch sowohl in der Farradeen-Allianz, als auch beim Terranischen Imperium wurde das Tragen einer falschen Uniform mit dem Tod bestraft. Aus geradezu lächerlich erscheinenden Gründen waren Mitglieder der jeweiligen Geheimdienste von dieser Regelung ausgenommen.

Laut der Charta der Raumflotte des Terranischen Reiches, das seit dem Krieg in dem sich die Menschheit in fünf autarke Splitterreiche geteilt hatte, nicht mehr existierte. Die fünf Splitterreiche hatten diesen Passus dennoch, obwohl absolut nicht zeitgemäß, für ihre jeweiligen Kriegsgesetze übernommen.

In diesem Moment verwünschte Diana Spencer diesen Passus. Im Schatten der Lagerhalle wartete sie, zusammen mit dem Rest des Stoßtrupps, während die beiden Offiziere die Lage erkundeten. Über das Kom-Set gab Krezirin nach einigen Minuten bekannt: „Landefeld ist feindfrei, Hauptmann. Sie können den Trupp an Bord bringen.“

Diana Spencer wiederholte das, was Krezirin gesagt hatte und Dean Corvin setzte sich als Erster des Trupps in Bewegung. Der Rest des Stoßtrupps folgte, wobei Diana Spencer den Abschluss bildete.

Als der Kanadier über den Belag des Landefeldes auf die, ganz nach Kims Befehl nicht verriegelte, Fregatte zu hastete, überkam ihn ein Gefühl von Déjà Vu. Auch diesmal würde ein untergebener Offizier im Kommandanten-Sessel sitzen, während er selbst ein entwendetes Raumschiff steuerte. Zum Glück gehörte ein Semester Astronautik auch innerhalb der Farradeen-Allianz zu den Pflichtfächern für angehende Offiziere der Flotte. So konnten ihn Krezirin und Spencer weitgehend unterstützen. Ein Glücksfall war, dass Léa Le Garrec, letztlich zwangsläufig zu ihnen übergelaufen, ebenfalls etwas von der Materie verstand. Damit hatte er im Vorfeld nicht rechnen können.

Für einen kurzen Augenblick dachte er daran, dass er die Fregatte nur bis Alpha-Centauri mit einer Notmannschaft steuern musste. Nach Eris zurückzukehren empfand er als zu riskant, darum vertraute er darauf, dass die versprochene Unterstützung der Neunten Terranischen Raumflotte dort auf ihn wartete.

Im Laufen raunte er dabei seiner Begleiterin zu: „Feldwebel, sobald wir in der Schleuse sind, werde ich Sie einem der Sanitäter übergeben. Denn dann werde ich zum Kommandozentrum der Fregatte sprinten um so schnell wie möglich mit dem gestohlenen Raumschiff von hier zu verschwinden.“

„Wir klauen ein Kriegsschiff?“

Dean Corvin lachte lautlos in der Erinnerung an ihr letztes Zusammentreffen. „Das müssten Sie doch eigentlich schon von mir gewohnt sein, Feldwebel.“

Die Frau grinste breit. „Sie sagen es.“

Harin Krezirin wartete bereits am Fuß der ausgefahrenen Rampe auf sie, während Leutnant Léa Le Garrec bereits hinauf gerannt war, um das Schott zu öffnen.

Dean Corvin trug Rian Onoro mehr die Rampe hinauf, als dass sie selbst lief, wobei die Frau die Energie bewunderte, die dem Kanadier inne wohnte. Wie er es angekündigt hatte, setzte er sie auf dem Boden ab – hektisch und etwas unsanft.

„Etwas mehr Rücksichtnahme, wenn´s gefällt, Herr Major“, beschwerte sich die Frau, doch da war Corvin bereits im Innern der Fregatte verschwunden und seufzend lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand der geräumigen Schleusenkammer.

Diana Spencer bildete zusammen mit Oberfeldwebel Ikari den Abschluss des Trupps. Als Letzte verließ sie die Deckung der Lagerhalle. Fast in demselben Moment setzten die misstönenden Alarmgeber des Raumhafenkomplexes ein.

„Jetzt wissen die von der Konföderation, was Sache ist!“, rief Anaris Ikari grimmig und beschleunigte ihren Spurt zum Raumschiff, so wie auch ihre Vorgesetzte.

„Ach was!“, machte Diana Spencer. Dabei dachte sie wütend: Ich wüsste nur zu gerne, wie die so schnell drauf gekommen sind.

Bei einem Blick über die Schulter erkannte Anaris Ikari einige blau uniformierte Gestalten am Rand des Landefeldes auftauchen. Sie erkannte Waffen und machte ihre Vorgesetzte durch einen alarmierenden Warnschrei darauf aufmerksam.

Als erste die Rampe erreichend ging Anaris Ikari dort kniend in Deckung und riss das Plasmagewehr von ihrem Rücken. Die ersten Energieschüsse der Gegner jagte über ihren Kopf hinweg, als sie das Feindfeuer erwiderte. Mit Erschrecken sah sie, dass Hauptmann Spencer von einem Schuss des Gegners in der rechten Schulter getroffen wurde und nur wenige Meter von ihr entfernt zu Boden stürzte.

Inzwischen hatten die Soldaten des Landetrupps, die in der Schleusenkammer in Stellung gegangen waren und auf sie warteten, reagiert. Wütendes Plasmafeuer schlug den Soldaten der Konföderation von dort aus entgegen.

Anaris Ikari biss wütend die Zähne zusammen, hängte sich ihr Gewehr wieder um und hastete zu ihrer Vorgesetzten, die leblos auf dem Boden lag. Sie fasste unter, wuchtete sich die Frau über die Schulter und rannte, so schnell sie konnte, die Rampe hinauf.

Ein Plasmaschuss strich dicht an ihrer Wange vorbei, als sie die Schleuse beinahe erreicht hatte und Anaris Ikari schrie gellend ihren Schmerz hinaus.

Bevor ihr schwarz vor Augen wurde hechtete sie, mit ihrer Vorgesetzten über der Schulter, in die Schleusenkammer und brachte damit sich selbst und ihre Vorgesetzte außer Feuerreichweite des Gegners. Dass sie von ihren Kameraden weiter ins Innere der Schleusenkammer gezogen wurde, bekam sie nicht mehr mit. Auch nicht das Zittern, dass das Raumschiff in diesem Moment durchlief.

Im Kommandozentrum der Fregatte hatte Dean Corvin die Aggregate hochgefahren und wartete auf das Eintreffen von Diana Spencer, während sich Léa Le Garrec neben ihn setzte und sich mit der Konsole der Navigation vertraut machte.

Krezirin, der an der Ortung Platz genommen hatte, sah Corvin aus brennenden Augen an, als die Nachricht einging, dass Diana Spencer niedergeschossen worden war.

„Dann müssen wir es ohne den Hauptmann versuchen!“, rief Corvin aus. „Krezirin kümmern Sie sich darum, dass jemand den Feuerleitstand übernimmt!“

„Verstanden, Sir!“, gab der Oberleutnant zurück, als Dean Corvin sich längst wieder auf den Start der Fregatte konzentrierte. Dabei sprach er die Frau an seiner Seite, in einem fast tranceähnlichen Zustand an: „Leutnant Le Garrec, programmieren Sie einen Kurs zum System Alpha-Centauri. Wir wollen dicht am Alpha-Stern aus dem Hyperraum fallen. Achtung, die Fregatte hebt mit Notwerten ab.“

Auf dem Haupt-Bildschirm des Kommandozentrums konnten die drei Offiziere und der Hauptfeldwebel, der von Harin Krezirin herbestellt worden war, beobachten, wie der Mars immer schneller unter der Fregatte weg fiel. Eine optische Täuschung, denn es war natürlich die Fregatte, die sich mit hoher Beschleunigung vom Mars entfernte.

Corvin steuerte die Fregatte auf einen Kurs, der zur Wega führte, würde er ihn beibehalten. Dabei fragte er halblaut: „Haben Sie den Kurs programmiert, Leutnant?“

Léa Le Garrec bestätigte: „Ja, Sir!“

Corvin nickte schmunzelnd. Die Frau hatte sich schnell an seine Führungsrolle gewöhnt. An einen Verrat ihrerseits glaubte er ohnehin nicht mehr. „Dann übernehmen Sie für einen Moment das Steuer der Fregatte.“

Damit erhob er sich vom Platz des Piloten und die Frau rutschte auf seinen Sessel hinüber. Corvin begab sich inzwischen zur Konsole des Kommunikations-Offiziers. Nachdem er Eris als Ziel angewählt hatte sandte er einen Richtspruch zum zehnten Planet des Sol-Systems. Nur ein kurzer Impuls, der aus lediglich drei Buchstaben bestand und Irina Hayes darüber in Kenntnis setzen würde, nicht länger auf seine Rückkehr zu warten, sondern mit der NOVA SOLARIS umgehend in Richtung Wega-IX aufzubrechen. Denn spätestens mit der Flucht der Fregatte würde der verantwortliche Kommandeur im Sol-System umgehend einen systemweiten Alarm auslösen.

Wenn die Station auf Eris diesen Befehl nicht bestätigte dann würden die Verantwortlichen der Konföderation Deneb sehr schnell dahinter kommen, dass dort etwas nicht stimmte und dort Nachforschungen anstellen.

Nachdem Corvin die Symbolgruppe zweimal auf der festgelegten Frequenz wiederholt hatte, deaktivierte er die Konsole und nahm wieder seinen Platz ein.

Als die Fregatte WIRBELWIND sich weit genug vom Mars entfernt hatte, aktivierte Corvin die Überlichtaggregate und das Kriegsschiff verschwand aus dem Normalraum. Kaum in den Hyperraum eingedrungen änderte Dean Corvin den Kurs auf die Route, die Leutnant Léa Le Garrec programmiert hatte, nicht ohne den Kurs dabei zu prüfen. Zufrieden mit dem Ergebnis aktivierte Corvin den Autopiloten, der die Fregatte bei Maximalgeschwindigkeit auf Kurs Alpha-Centauri hielt.

„Oberleutnant Krezirin, Sie behalten den Kurs im Auge“, wies Corvin den Raumlandesoldaten an. „Bestellen Sie genügend Ihrer Leute hierher um alle Konsolen besetzen zu lassen und übernehmen Sie vorübergehend das Kommando. Falls der Gegner uns folgen sollte, so geben Sie mir umgehend über das Kom-System Bescheid. Ich möchte nach Hauptmann Spencer sehen. Rufen Sie mich spätestens dann an, wenn die Fregatte weniger als fünf Minuten vom Ziel entfernt ist.“

Krezirin bestätigte.

Mit dem Eintreffen der angeforderten Soldaten verließ Dean Corvin das Kommandozentrum und machte sich auf den Weg zum Krankenrevier der Fregatte.
 

* * *
 

Die beiden Sanitäter des Landetrupps empfingen Corvin mit ernsten Mienen und der Major erkundigte sich ohne große Umschweife: „Wie steht es um Hauptmann Spencer?“

Die ranghöhere Frau erwiderte mit eindringlicher Miene: „Wir konnten den Hauptmann stabilisieren, doch sie braucht innerhalb von zwei Stunden einen Arzt, sonst können wir für nichts garantieren.“

Dean Corvin sah beide betroffen an. „Die Fregatte fliegt bereits mit höchster Überlichtgeschwindigkeit. In etwas mehr als einer Stunde werden wir das Alpha-Centauri-System erreichen. Dort erwartet uns, falls nichts dazwischen gekommen ist, ein Kriegsschiff der Neunten Terranischen Raumflotte. Die werden ein Ärzte-Team an Bord haben. Was ist mit Oberfeldwebel Ikari?“

„Plasmaverbrennungen auf der linken Gesichtshälfte“, gab der andere Sanitäter Auskunft. „Wir haben diese Verletzung bereits behandelt. Der Oberfeldwebel hat reichlich Glück im Unglück gehabt. Nichts Ernstes, Sir.“

Corvin atmete leicht auf. „Wie geht es Feldwebel Onoro?“

„Mir geht es gut genug, um diese verdammte Krankenstation zu verlassen“, ließ sich die Frau aus dem Nebenraum vernehmen. „Alles was ich brauche ist eine Dusche.“

„Sie bedarf noch der Schonung, Sir“, widersprach der Sanitäter. „Es wäre bestimmt besser sie während des Fluges hier zu behalten.“

„Dann werden Sie mich schon hier festbinden müssen!“, kam es wütend aus dem Nebenraum und Corvin grinste breit.

„Legen Sie sich besser nicht mit dieser Frau an“, riet Corvin dem Sanitäter und nickte bedeutungsvoll. Dann meinte er amüsiert: „Dieser Feldwebel hat wirklich eine Dusche verdient. Ich werde Rian Onoro mitnehmen und verantworte das. Falls sie wirklich zu schwach sein sollte, dann werde ich Sie Ihnen zurückbringen, versprochen.“

Damit schritt Corvin in den Nebenraum, in dem sich Rian Onoro bereits auf die Liege gesetzt hatte, um ihm zu demonstrieren, dass es ihr wirklich besser ging.

Der Terraner hatte da so seine eigenen Vermutungen, doch er sah ein, dass eine Dusche und danach etwas Ruhe weitaus mehr bewirken konnten, als in diesem Krankenrevier zu liegen und sich selbst nicht riechen zu können. Abgesehen davon wollte sie nun vermutlich auch ein ihr vertrautes Gesicht sehen.

Als Rian Onoro aufstand wurde ihr prompt schwindelig und Dean Corvin fing sie auf, als sie ihm um den Hals fiel. Der Major legte sich erneut ihren linken Arm über die Schulter und legte wieder seinen rechten Arm um sie. Dabei meinte er raunend: „Lassen Sie bitte zukünftig diesen Blödsinn sein und warten Sie gefälligst, bis ich Ihnen helfe.“

Gemeinsam verließen sie das Krankenrevier, ohne dabei auf die Blicke der beiden Sanitäter zu achten. Zum Glück gab es ganz in der Nähe der Krankenstation einige Offiziersquartiere, von denen sie das am nächsten liegende betraten.

Dean Corvin brachte Rian Onoro in das Bad des Quartiers und die Frau deutete schwach auf den Mundreiniger, der neben dem Waschbecken in einer Wandhalterung hing.

Corvin schritt mit Rian zum Waschbecken, nahm das Gerät und wartete, bis sie den Mund geöffnet hatte, bevor er es vorsichtig hinein schob und aktivierte.

Das Gerät passte sich im Inneren der Mundhöhle nun automatisch in seiner Form an, sonderte ein Sekret ab, dass die Zähne und den gesamten Mundraum innerhalb weniger Augenblicke reinigte. Dabei gleichzeitig einen angenehmen Duft hinterlassend.

Als das Gerät sich, nach getaner Arbeit, selbsttätig wieder deaktivierte nahm Dean Corvin es Rian aus dem Mund und verstaute es wieder in der Halterung. Danach sah er Rian Onoro fragend an.„Können Sie sich selbst ausziehen und in die Nasszelle begeben?“

Die Frau antwortete erst nach einer Weile: „Ich glaube nicht, Sir. Sie werden mir helfen müssen. Das ist hoffentlich in Ordnung für Sie, denn ich will nicht mehr länger so erbärmlich stinken, wie in den letzten vier Monaten.“

„Ich helfe Ihnen, Feldwebel. An Ihrer Stelle würde ich dasselbe wollen, wie Sie. Können Sie wenigstens allein stehen?“

Rian Onoro, die diese Frage ohne weiteres mit einem Ja hätte beantworten können, erwiderte stattdessen unsicher: „Das wird sich zeigen, Sir.“

„In Ordnung, ich lasse Sie jetzt für einen kurzen Moment lang los“, gab Dean Corvin besorgt zurück, dem die Situation bis zu einem gewissen Grad peinlich wurde. Zunächst etwas befangen begann er damit, Rian Onoro zu entkleiden. Vorsichtig hob er den Stoff des zerschlissenen T-Shirts an und zog es der Frau über den Kopf aus. Da einer der beiden Sanitäter den Verband abgenommen hatte, sah Dean Corvin die dunklen Flecke, die von den Blutergüssen stammten, die Kim Tae Yeon ihr zugefügt hatte.

„Erinnerungen an Ihre Ex-Freundin“, murmelte Rian Onoro düster, als sie mit ihren Augen den Blicken des Mannes folgte.

Zorn loderte in den Augen Corvins auf, als er erwiderte: „Dafür werde ich die Verräterin irgendwann zur Rechenschaft ziehen.“

Für den Moment hatte er vergessen, dass Rian Onoro mit nacktem Oberkörper vor ihm stand. Wie selbstverständlich bückte er sich und öffnete die Magnetverschlüsse ihrer Kampfstiefel. Nachdem er sie und die Strümpfe, die sie darunter trug, ausgezogen hatte, wobei er sich Mühe gab nicht angewidert das Gesicht zu verziehen, richtete er sich wieder auf und öffnete ganz selbstverständlich die Verschlüsse der Uniform-Hose. Zusammen mit dem Slip schob er sie nach unten.

Sich bei Corvin festhaltend schlüpfte Rian Onoro aus den Kleidungsstücken, die nun um ihre Füße fielen, und sie klammerte sich dabei weiterhin an den Major.

„Alleine wird das wohl doch nichts“, seufzte der Mann entsagungsvoll und begann damit sich ebenfalls zu entkleiden, was einige Zeit erforderte. Seine Kleidung warf er dabei in das Nebenzimmer. Schließlich ebenfalls nackt hob Dean Corvin die Frau in seinen Armen einfach ein Stück an und trug sie in die Nasszelle.

Als Corvin die vektorisierbaren Wasserdüsen der Zelle aktivierte erzeugten diese einen feinen, wärmenden Wassernebel, der sie beide innerhalb weniger Augenblicke vollkommen durchnässte. Vorsichtig betätigte er den Duschgel-Spender während sich Rian Onoro fest an ihn klammerte und ein wohliges Schnurren von sich gab.

„Das warme Wasser tut so gut“, seufzte Rian, als Dean Corvin damit begann, zuerst ihre Haare, und danach ihr Gesicht und ihren Hals mit sanften, beinahe vorsichtigen Berührungen zu waschen. Nachdem er den Schaum aus ihrem Gesicht und aus ihren Haaren gespült hatte, rieb er ihre Schultern, ihre Arme, die Hände und ihren Rücken ein. Dabei vermied er zunächst unwillkürlich, seine Hände unterhalb ihrer Gürtellinie wandern zu lassen. Erst als Rian Onoro ihn spöttisch deswegen anlächelte wurde ihm bewusst, wie unsinnig das war, angesichts der Tatsache, dass er sie ohnehin am gesamten Körper würde einseifen müssen. Also ging er nach einem Moment des Zögerns in die Knie.

Rian stützte sich mit ihren Händen auf den Schultern Corvins ab, als dieser damit begann nun auch ihren Po und ihre Beine, bis hinunter zu ihren Füßen einzuseifen, die sie abwechselnd anhob. Dabei glaubte sie, ihre Haut würde Feuer fangen, als seine Hände sich an ihren straffen Beinen hinauf bewegten und er schließlich auch ihren Unterleib wusch. Am Ende wanderten seine Hände über ihren flachen Bauch, bis hinauf zu ihren festen Brüsten.

Als Corvin, nun wieder aufrecht vor ihr stehend, beide Brüste beinahe übervorsichtig berührte und ihre dunklen Knospen auf seine sanften Berührungen reagierten, errötete Corvin sichtlich. Umso mehr, als ihn Rian Onoro mit undefinierbarem Blick ansah. Er spürte eine ihrer Hände auf seinem Rücken, und die andere Hand in seinem Nacken, als sich ihr Gesicht seinem näherte. Im nächsten Moment küsste Rian Onoro ihn, und ohne sein bewusstes Dazutun erwiderte er den Kuss. Dabei zog er die junge Frau ganz sacht etwas enger an sich.

Es dauerte mindestens eine volle Minute, bis Corvin begriff, dass Rian Onoro nicht so geschwächt war, wie sie ihm vorgespielt hatte. Mit Nachdruck löste er sich von ihr und musterte sie, halb fassungslos, halb ungläubig.

Um Vergebung bittend sah Rian Onoro den Major von unten herauf an und sagte leise: „Ich fühle mich wirklich noch etwas geschwächt und unsicher auf den Beinen.“

Für einen langen Moment sahen sie sich nur an und Rian nutzte die Gelegenheit um zu fragen: „Weißt du, wann ich das zum ersten Mal tun wollte?“

„Sind wir plötzlich per Du?“

„Wir haben uns geküsst, oder etwa nicht?“

Dean Corvin schwieg und grinste nach einem Moment schwach. Fast gegen seinen Willen. Schließlich räumte er ein: „Das ist ein Argument… Rian. Um deine Frage zu beantworten: Ich vermute, seit wir uns auf Luna getrennt haben?“

Die Frau gab Corvin mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand einen leichten Nasenstüber. „Du bist entweder sehr vergesslich, oder aber du hast mich auf der Treppe zur Festhalle, beim Akademie-Ball in Casablanca, gar nicht richtig angesehen.“

Dean Corvin kramte in der Erinnerung bis ihm einfiel, auf was Rian anspielte. „He, ja klar. Du warst der Unteroffizier, den ich damals auf der Treppe versehentlich angestoßen habe. Hattest du nicht so einen unfreundlichen Kerl als Begleiter dabei?“

„Ja, ein Typ zum vergessen“, knurrte Rian finster. „Ich wollte mich seinerzeit bei dir für dessen Verhalten entschuldigen, doch bevor ich dazu kam, bist du mit deiner blonden Kameradin, die an Bord der KIROV starb, auf die Tanzfläche verschwunden. Später habe ich dich dann vollkommen aus den Augen verloren.“

„Dieses erste Zusammentreffen ist fast drei Jahre her“, erwiderte Corvin überrascht. „Dazwischen gab es doch bestimmt den ein oder anderen Partner?“

Nun war die Reihe an Rian, dass sich ihre Wangen röteten. „Nun ja… äh… Im Grunde meine ich nein. Während meiner Zeit auf Luna hatte ich fast ausschließlich nur Zeit für meine Arbeit. Das Projekt rund um die NOVA SOLARIS hat mich voll und ganz in Anspruch genommen.“

„Oh!“, machte Dean Corvin. Bevor er noch etwas sagen konnte hatte Rian sich wieder seinem Gesicht genähert und sie küssten sich erneut. Diesmal länger als zuvor. Dabei spürte der Kanadier, zum ersten Mal seit seiner Abfuhr bei Andrea von Garding, wieder genau jenes Kribbeln im Magen, wie damals, als er sich in die deutsche Kameradin verliebt hatte.

Schließlich war es Rian Onoro, die sich von Corvin löste und mit leiser Stimme meinte: „Meine Haut fängt an schrumpelig zu werden, Dean. Ich möchte mich jetzt abtrocknen und etwas ausruhen. Hilfst du mir beim Abtrocknen?“

„Übertreib es nicht“, warnte der Major spöttisch.

„Hat dir das Einseifen etwa nicht gefallen?“, fragte sie herausfordernd. „Ich hatte da eben aber einen ganz anderen Eindruck.“

Bei diesen Worten langte Rian mit einer Hand hinunter und ihre tastenden Finger spürten deutlich seine Erregung. Dabei sagte sie bedauernd: „Ich wollte, es ginge mir besser.“

Dean Corvin, dessen Wangen und Ohren sich erneut röteten, erwiderte nichts darauf. Stattdessen deaktivierte er die Wasserdüsen, aktivierte dafür die Warmluftanlage der Nasszelle und hielt Rian Onoro etwas auf Abstand zu sich selbst, damit sie beide vollkommen von dem belebenden Luftstrom erfasst werden konnten. Dabei meinte er belustigt: „Kein händisches Abtrocknen nötig. Ein Hoch auf die moderne Technik.“

„Du bist ja so romantisch“, beschwerte sich Rian, gespielt verdrossen. Dabei ließ sie es zu, dass Dean sie an die Hand nahm und aus der Zelle führte.

Als eine Art Wiedergutmachung legte Dean der jungen Frau eines der beiden flauschigen weißen Badetücher über die Schultern und wickelte sie behutsam darin ein, bevor er sich das zweite Badetuch nahm und um seine Hüften wickelte. Dann hob er Rian, die ihn überrascht musterte, auf seine Arme und trug sie in den Schlafraum des Quartiers. Vorsichtig bettete er sie auf das weiche Lager und legte sich dann neben sie.

Sanft ihre Wange streichelnd sah er sie an und sagte, plötzlich sehr ernst: „Ich bin sehr froh, dass du nicht länger in den Händen der Konföderation bist, Rian. Jeden verdammten Tag, in den letzten vier Monaten, habe ich mit dem Schicksal gehadert. Dich auf Luna zurücklassen zu müssen war beinahe unerträglich. So etwas will ich nie wieder tun müssen.“

Rian legte ihre Hand auf seine und umklammerte sie fest. Dabei füllten sich ihre Augen unaufhaltsam mit Tränen.

Dean Corvin, der ahnte, dass in diesem Moment der Ruhe alles nochmal an die Oberfläche gespült wurde, was Rian in den letzten Monaten erlitten hatte, so wie in der Zelle, nahm sie ganz liebevoll in die Arme und bettete ihren Kopf an seine Schulter. Dabei flüsterte er: „Lass jetzt auch das raus, was du in der Zelle noch zurückgehalten hast, Rian. Lass alles raus, dann wird es dir hinterher besser gehen. Ich werde ab jetzt für dich da sein.“

Rian Onoro zitterte am gesamten Körper, als sie ihrem seelischen Schmerz nachgab. Sie schrie zwischenzeitlich, wild und hemmungslos und krallte sich dabei so fest an Dean Corvin, als habe sie Angst, er könnte sich zwischen ihren Fingern auflösen, würde sie ihn auch nur etwas weniger stark festhalten.

Mit beruhigendem Tonfall versicherte der Major ihr immer wieder, dass ihr Martyrium nun endgültig vorbei sei und dass sie sich nun in Sicherheit befand. Dabei nahm er Zuflucht zu stereotypen Worten, die er ständig wiederholte. Leise und mit sanftem Tonfall verfehlten sie ihre Wirkung nicht.

Mit der Zeit immer ruhiger werdend schmiegte sich Rian an Dean Corvin, wobei ihre fast eiserne Umklammerung sich langsam lockerte. Schließlich hielt sie ihn so sanft in ihren Armen, wie er sie. Endlich rieb sie sich über die Augen und sah den Mann in ihren Armen fragend an. „Hast du das eben ernst gemeint? Ich meine, dass du für mich da sein wirst?“

Dean Corvin sah fest in Rians Augen. „Ja, das war mein voller Ernst. Ich werde Generalmajor Traren, ihm unterstehe ich aktuell, und General Mbena davon überzeugen, dass ich dich für den Dienst an Bord der NOVA SOLARIS unbedingt brauchen werde. Wenn du willst, heißt das. Du kennst dich mit diesem Kreuzer so gut aus, wie kaum sonst jemand, wenn ich mich nicht irre.“

Rian Onoro nickte schwach und fragte dann: „Wo ist die NOVA SOLARIS momentan? Wer kommandiert sie?“

„Das wird dir jetzt gefallen, schätze ich“, schmunzelte Corvin und machte eine kleine Kunstpause, bevor er damit herauskam: „Ich bin der Kommandant des Leichten Kreuzers. Wie es dazu kam werden wir aber an einem anderen Tag erörtern, denn diese Geschichte ist zu lang, um sie bis Alpha-Centauri auch nur zur Hälfte zu erzählen.“

Der Kanadier beugte sich vor und küsste Rian sanft auf die Lippen. „Jetzt solltest du aber wirklich ruhen und etwas Schlaf nachholen. Ich selbst werde mich wieder zur Zentrale der Fregatte begeben. Wenn wir das Terranische Kriegsschiff dort antreffen, dann werde ich dafür sorgen, dass man neben einem Ärzte-Team auch eine Uniform in deiner Größe und mit den entsprechenden Rangabzeichen zur WIRBELWIND schickt.“

Rian Onoro nickte, zaghaft lächelnd. Sie legte das Badetuch ab und schlüpfte unter die Bettdecke.

Dean Corvin deckte die junge Frau zu und legte noch einmal ganz sanft seine Hand auf ihre Wange, bevor er sich nach Nebenan begab, wo seine Uniform lag.

Auf Messers Schneide


 

8.
 

Auf Messers Schneide
 

Irina Hayes lachte verzweifelt auf und sah grimmig zu Oberleutnant Fatul Mahmalad, als Moana Adamina sie über Funk im Maschinenraum erreichte und davon in Kenntnis setzte, dass sie Code QQXAQ empfangen hatte. Dieser Code bedeutete nicht allein, dass der sofortige Aufbruch nach Wega befohlen worden war, sondern dass es gleichfalls einen zwingenden Grund dafür gab. Die Alarmierung der feindlichen Streitkräfte.

Seit der etwas rustikalen Landung der NOVA SOLARIS auf Eris stand es, in technischer Hinsicht, auf dem modernsten Kreuzer des bekannten Universums nicht zum Besten. Und das war, nach Ansicht der momentanen Kommandantin des Leichten Kreuzers, noch stark untertrieben.

„Jetzt wird es hier bald richtig gemütlich“, fluchte Irina Hayes und sah auf den halb zerlegten Energieverteiler, der zur Steueranlage des Hauptmaschinenraums gehörte. „Die Konföderation ist alarmiert, das bedeutet, dass auch der Zustand der Eris-Basis abgefragt werden wird, und Eris wird nicht antworten. Sie wissen was das heißt, Oberleutnant. Wann ist der Verteiler wieder einsatzbereit?“

„Das wird noch mindestens zwei Stunden dauern“, gab Mahmalad ungerührt zurück. „Und das ist wirklich schon sehr optimistisch gerechnet, Hauptmann. Mein Team und ich werden uns beeilen, doch am Ende soll der Kasten andererseits ja auch wieder fliegen.“

„Ich vertraue Ihnen und Ihrem Team.“ Damit wandte sich die Marsianerin ab und verließ den Maschinenraum. Sie war zwar Mahmalads Vorgesetzte, aber was die Maschinenanlagen der NOVA SOLARIS betraf nur Laie. Sie hätte sich von den Spezialisten, trotz ihres höheren Ranges, eine unverblümte Abfuhr eingehandelt, wenn sie ihnen dazwischen gefunkt hätte. Also störte sie lieber nicht, sondern ließ sie arbeiten. Im Kommandozentrum war sie bestimmt besser aufgehoben.

Auf dem Weg dorthin grübelte Irina Hayes darüber nach, dass Dean Corvin und der Landetrupp kaum zwei Tage lang weg waren. Er konnte kaum mehr, als einige Stunden auf dem Mars zugebracht haben. Luna hatte er in dieser kurzen Zeit unmöglich erreicht. Sie wünschte sich, sie hätte gewusst, was aus dem Major und den Spezialisten der Raumlande-Einheit geworden war. Besonders aus einer ganz bestimmten Spezialistin mit kurzen blonden Haaren, von der sie sich so emotional verabschiedet hatte. Irina Hayes hoffte inständig sie gesund und munter vorzufinden, wenn dieser Einsatz vorbei war.

Die Interims-Kommandantin der NOVA SOLARIS verscheuchte diese Gedanken, als sie das Kommandozentrum des Leichten Kreuzers betrat. Eilig schritt sie zu Moana Adamina, die den Funkverkehr im Sol-System überwachte.

„Wie schätzen Sie die Lage anhand des eingehenden Funkverkehrs ein, Leutnant Adamina?“, erkundigte sich Hayes mit gedämpfter Stimme bei der Samoanerin.

Moana Adamina sah kurz zu ihr auf. „Der Funkverkehr aus dem Gebiet des Mars hat deutlich zugenommen. Die meisten Sprüche gehen an die Wacheinheiten der Feindflotte, die sich zwischen der Bahn von Saturn und Uranus befinden. Sofern die alarmierten Einheiten nicht einen kurzen Hyperraum-Flug wagen, rechne ich damit, dass die ersten Kampfschiffe des Gegners, in etwa zwei bis drei Stunden über Eris erscheinen. Ich habe bereits den Ruf vom Hauptquartier aufgefangen, der an die Kontrollstation hier auf Eris gerichtet ist. Da Eris sich nicht meldet, wird der Feind die entsprechenden Schlüsse ziehen und nachsehen wollen, was hier nicht stimmt.“

„Sie denken also, der Feind befindet sich wirklich im Alarmzustand? Bisher hatte ich darauf gehofft, dass Corvin vielleicht den falschen Code gesendet hat.“

Moana Adamina blickte bezeichnend. „Diese deutliche Zunahme des Funkverkehrs lässt keinen anderen Schluss zu, Hauptmann.“

„Danke, Leutnant.“

Irina Hayes seufzte unterdrückt und schritt zu Stefanie Dornarran an der Ortungs-Konsole. Ruhig wies sie den Stabsfeldwebel an: „Koppeln sie die Passiv-Ortungssysteme mit dem Hauptbildschirm.“

Die Angesprochene kam der Aufforderung nach. Auf dem Hauptbildschirm des Kommandozentrums zeichnete sich die taktische Situation rund um Eris, bis hin zur Saturnbahn, ab. Rote Symbole, jeweils eins für ein feindliches Kriegsschiff, veränderten ihre Positionen. Einige bewegten sich näher zu den okkupierten terranischen Militär-Basen auf den großen Monden der Gasplaneten. Andere schwärmten in den Randbereich des Sol-Systems aus. Ein direkter Anflug auf Eris war dabei für Hayes zunächst nicht festzustellen.

„Ich glaube, dort haben wir einen Kunden, der zu uns möchte“, drangen Stefanie Dornarrans Worte in diese Überlegungen des Hauptmanns.

Irina Hayes sah auf die voraussichtlichen Ziel-Koordinaten und presste die Lippen aufeinander. Sie überprüfte die Scanner-Werte und meinte dann: „Eine einzelne Fregatte, so wie es scheint. Offensichtlich weiß der Feind noch nicht, dass wir hier sind.“

Mit einem letzten Blick auf den Bildschirm sagte die momentane Kommandantin des Leichten Kreuzers: „Weiter verfolgen, Stabsfeldwebel.“

Damit wandte sich Irina Hayes zu Hauptfeldwebel Jean-Claude Blanché. „Taktik: Zielscanner noch nicht aktivieren. Warten Sie, bis Sie vom Stabsfeldwebel die Bestätigung bekommen, dass dieses Feindschiff in Feuerreichweite ist und halten Sie sich ab da bereit. Solange wir nicht entdeckt werden verhalten wir uns still. Sollten wir jedoch geortet werden so handeln Sie umgehend und eröffnen eigenständig das Feuer. Die Fregatte darf in einem solchen Fall keinen Notruf absetzen können.“

„In Ordnung, Hauptmann, ich bin auf dem Posten“, gab der Mann an der Feuerleit-Konsole eifrig zurück.

„Tüchtig“, lobte Irina Hayes, schwach schmunzelnd. Sie schritt zu Leutnant Curtis Newton, und Leutnant Linaris Terrek, der Navigatorin von Wega-VIII, deren bläulich schimmernde Haut vermuten ließ, dass ihre Vorfahren relativ früh zu diesem Kolonialplaneten ausgewandert sein mussten.

„Sie beide halten sich für einen Alarmstart zur Verfügung“, wies Irina Hayes die beiden Offiziere an. „Sobald der Chief uns das Zeichen gibt werden wir hier verschwinden.“

Die beiden ruhigen und doch so unterschiedlichen Offiziere bestätigten knapp die Anweisungen und Irina Hayes setzte sich in den Sitz des Kommandanten. Dabei sah sie angespannt auf das einzelne, rote Symbol, dass sich langsam ihrer Position näherte.
 

* * *
 

Als das Kriegsschiff der Konföderation Deneb nahe der Alpha-Sonne des Sternensystems aus dem Hyperraum fiel gab die Kommandantin der des Leichten Kreuzers VESTERGAARD Gefechtsalarm. Mit einer Fregatte des Feindes hatte Ayasha Saif ad-Dīn nicht gerechnet. Dementsprechend überrascht sah sie zu Tarrik Barun an der Ortung, der diese Fregatte des Feindes gemeldet hatte.

„Geben Sie mir den Kurs der Fregatte, wir werden auf Abfangkurs gehen“, wies die Kommandantin ihren Hauptfeldwebel an. Danach wandte sie sich zum Mann an der Taktischen Konsole und befahl: „Stabsfeldwebel Armandez, halten Sie die Waffen in Bereitschaft. Feuern nur auf mein Kommando.“

„Ja, Sir“, bestätigte Fiasco Armandez.

„Dualschilde sind aktiviert!“, meldete Aldan Zaretas von der Maschinenkontrolle. „Triebwerk-Emitter laufen bei maximaler Energieaufnahme.“

Die VESTERGAARD ging mit voller Beschleunigung auf Abfangkurs und Major Ayasha Saif ad-Dīn verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Grimmig sah sie auf den Hauptbildschirm, auf dem das Feindschiff mit einer roten Umrandung hervorgehoben wurde. Der Anruf von der Navigation lenkte sie ab.

„Major, wir werden auf Flotten-Geheimfrequenz von der Fregatte aus gerufen.“

Erstaunen spiegelte sich im Gesicht der Kommandantin. „Seit wann kennen die von der Konföderation unsere Geheimfrequenz? Stellen Sie die Verbindung her und legen Sie das Gespräch auf Bildschirm und Lautsprecher.“

Die Bestätigung kam und einen Moment später tauchte das Konterfei eines jungen Mannes auf dem Bildschirm auf. Er trug die schwarze Uniform der Farradeen-Allianz mit den Insignien eines Majors am Kragen. Doch für diesen Rang wirkte der Mann viel zu jung.

„Hier spricht Major Dean Everett Corvin, vom erbeuteten Kriegsschiff WIRBELWIND. Ich rufe den Leichten Kreuzer der Terranischen Raumflotte. Ich vermute, Sie sind die uns zugesagte Unterstützung, die uns zur Wega geleiten soll.“

Ayasha Saif ad-Dīn sah mit unbewegter Miene auf den Bildschirm und antwortete distanziert: „Hier spricht Major Ayasha Saif ad-Dīn von der VESTERGAARD. Ein viel zu junger Mann, für den Rang an seinem Kragen, in der Uniform der Farradeen-Allianz ruft von einem Kriegsschiff der Konföderation Deneb auf Flotten-Geheimfrequenz, Major Corvin. Was würden Sie in diesem Fall an meiner Stelle tun?“

Die Kommandantin blickte fragend auf den Bildschirm, als sie dort erkannte, wie sich das ernste Gesicht des jungen Mannes aufhellte. „Wenn Sie wirklich die VESTERGAARD kommandieren, dann sollte sich mein bester Freund, Hauptmann Kimi Korkonnen, auf ihrem Schiff befinden, Major. Er wird Ihnen meine Identität bestätigen können. Wir kennen uns nämlich seit unserer Kindheit.“

Die Kommandantin der VESTERGAARD fragte sich, ob das ein Trick sein konnte, während sie antwortete: „Stoppen Sie Ihre Fahrt und warten Sie, bis ich wieder Kontakt aufnehme. Sollten Sie der Anweisung nicht folgen, so lasse ich die Fregatte vernichten. Und versuchen Sie nicht Schilde oder Waffen zu aktivieren.“

Der dunkelblonde Mann auf dem Bildschirm nickte und bat dabei drängend: „Bitte beeilen Sie sich Major. Ich habe an Bord eine Schwerverletzte, die dringend ein Ärzteteam benötigt um zu überleben. Corvin, Ende.“

Major Ayasha Saif ad-Dīn ließ die Verbindung unterbrechen. Drängend wies sie den Feldwebel, der momentan für die Kommunikation zuständig war: „Rufen Sie Hauptmann Korkonnen umgehend hierher.“

Von der Ortung kam die Meldung: „Fregatte hat ihre Fahrt aufgehoben und treibt relativ fahrtlos im Raum. Dual-Schilde und Waffen sind inaktiv.“

Die Kommandantin nahm die Meldung wortlos zur Kenntnis.

Als Kimi Korkonnen, keine drei Minuten später, das Kommandozentrum des Leichten Kreuzers betrat, schritt Major Saif ad-Dīn ihm entgegen und unterrichtete ihn von dem, was sich ereignet hatte. Beim freudigen Aufleuchten im Gesicht des Finnen mahnte sie: „Möglicherweise hat man Ihren Freund verhört und einen Doppelgänger geschickt, Hauptmann. Finden Sie heraus, ob das wirklich Ihr Freund ist.“

Korkonnen wurde um eine Spur ernster. „Natürlich, Major.“

Die Kommandantin ließ eine Verbindung zur WIRBELWIND herstellen und erneut zeichnete sich dort das Abbild des dunkelblonden jungen Majors ab. Er schien bereits ungeduldig auf die Kontaktaufnahme gewartet zu haben. Prüfend beobachtete sie die Reaktion des Mannes, auf dem Bildschirm, als Kimi Korkonnen an ihre Seite trat.“

Echte Freude zeichnete sich auf Dean Corvins Gesicht ab, als er Korkonnen erkannte, zumindest war sich Ayasha Saif ad-Dīn da ziemlich sicher. Ihr Blick schweifte zu Korkonnen, dessen Miene sich in ähnlicher Art und Weise verwandelte.

„He, Alter, was machst du an Bord einer Fregatte der Konföderation Deneb? Konntest du im Sol-System in Erfahrung bringen, wie es meinem Bruder geht?“

Ayasha Saif ad-Dīn sah, wie der Dunkelblonde auf dem Bildschirm entsagungsvoll den Kopf schüttelte.

„Ein toller Test ob ich es bin. Aber du kannst nicht wissen, ob ich bei einem eventuellen Verhör durch die Konföderation vielleicht ausgeplaudert haben könnte, dass du nur eine Schwester, namens Famke, hast. Aber was die bestimmt nicht gefragt hätten und unmöglich wissen könnten ist das, was ich dir auf der KIROV prophezeite, falls du mich noch einmal Alter nennst. Ich sagte, dass ich dann für gar nichts mehr garantieren könnte.“

Ein breites Grinsen zeichnete sich auf Korkonnens Gesicht ab, als seine Vorgesetzte ihn fragend musterte. „Letzteres kann wirklich niemand wissen, außer mir und Dean. Wir waren allein im Cockpit des abgeschossenen Frachters, und danach hätte ihn sicherlich auch kein Mensch gefragt, beim konföderierten Militär.“

Die Kommandantin der VESTERGAARD nickte und sah auf den Bildschirm. „Also schön, Major Corvin. Sie sagten, sie benötigen ein Ärzte-Team?“

Der Dunkelblonde bestätigte: „Ja, und jede Minute zählt, Major. Bitte gehen Sie längsseits, ich öffne die vordere Steuerbord-Schleuse für ihr Team. Wenn ich Sie um noch etwas bitten darf, Major: Ich bin etwas knapp an Leuten, die wirklich gut mit einem Raumschiff umgehen können. Ein Stellvertretender Leitender Ingenieur und vielleicht zwei bis drei Offiziere für die Zentrale der Fregatte wären hilfreich, bevor wir gemeinsam zum Wega-System aufbrechen.“

Ayasha Saif ad-Dīn bemerkte den schnellen Blick des Majors zu Korkonnen. „In Ordnung, Major Corvin. Ich überlasse Ihnen, für den Flug zur Wega meinen Ersten Offizier und drei weitere Offiziere, beziehungsweise Unteroffiziere. Öffnen Sie auch die vordere Backbord-Schleuse, ich schicke das Ärzte-Team voraus. Ayasha Saif ad-Dīn, Ende.“

Die Kommandantin sah mit angehobenen Augenbrauen zu Kimi Korkonnen. „Wen möchten Sie mitnehmen, Hauptmann?“

Das Strahlen auf dem Gesicht des Finnen sprach Bände, als er antwortete: „Leutnant Killkennen, Oberstabsfeldwebel Umberto Manetti und Leutnant Wolf. Alle drei haben momentan keinen Dienst.“

Die Kommandantin stimmte zu und der hochgewachsene Erste Offizier der VESTERGAARD meldete sich schnell ab. Ayasha Saif ad-Dīn ihrerseits gab die nötigen Anweisungen, um ein Ärzte-Team auf die WIRBELWIND zu entsenden.
 

* * *
 

Auf der NOVA SOLARIS steigerte sich die Anspannung. Irina Hayes, die unruhig im Sessel des Kommandanten hin und her rutschte, war klar, dass dies ein Wettlauf um Minuten werden würde. Ein Wettlauf, bei dem es keine Auszeichnung für den zweiten Platz gab. Zwar schützte die aktivierte Tarnung gegen eine optische Entdeckung, gegen eine Ortung, die zweifellos durch ein Kriegsschiff der Konföderation erfolgen würde, schützte sie nicht.

Alle zehn Minuten ließ sich Hayes von einem der Mitarbeiter des Chief Bericht erstatten, über den Fortgang der Reparaturen. Bis ihr der Techniker meldete: „Die Systeme des Kreuzers sind in drei Minuten wieder einsatzbereit.“

Dabei sah Hauptmann Irina Hayes auf die sich ständig aktualisierende Anzeige der Passiv-Ortungssysteme auf dem Hauptbildschirm. Die Feindfregatte würde in vier Minuten über Eris auftauchen. Das ließ kaum Spielraum.

Der momentanen Kommandantin wurde es unangenehm warm. In diesem Moment realisierte sie, welche Verantwortung auf Dean Corvins Schultern lastete, seit er das Kommando über die NOVA SOLARIS übertragen bekommen hatte, und sie bewunderte ihn ein wenig, weil ihm das bisher so gut wie nie anzumerken gewesen war. Die Frau nahm sich fest vor, ihn würdig zu vertreten.

Ihre Finger fest um die Lehnen des Sessels gekrallt, ließ Irina Hayes den Blick durch das Kommandozentrum des Leichten Kreuzers schweifen. Alle Anwesenden hatten bereits bei der Schlacht im Delta-Cephei-System ihre Feuertaufe bestanden. Sie alle hatten später ihre imperiale Staatsbürgerschaft aufgegeben und waren Dean Corvin und ihr gefolgt. In ein Abenteuer mit sehr ungewissem Ausgang.

Bei diesen Überlegungen erfüllte Stolz die Frau. Stolz auf diese Mannschaft. Ihr verkrampfter Griff lockerte sich langsam. Das Zittern ihrer Hände ließ nach. Obwohl sich der Feind ihnen mit jedem Herzschlag näherte. Eine Wandlung ging in diesen Momenten mit Irina Hayes vor sich. Sie selbst bemerkte dies kaum. Auch nicht, wie fest und ruhig ihre Stimme klang, als sie sagte: „Leutnant Newton, sobald der Chief die Systeme hochfährt heben Sie den Kreuzer ab. Maschinenkontrolle: Sie werden dann augenblicklich die Tarnung deaktivieren und die Dual-Schilde auf Leistung bringen. Taktik: Sie visieren das Feindschiff an und warten nicht auf besondere Befehle. Sobald die Fregatte sich in Feuerreichweite befindet handeln Sie und feuern mit Bordgeschützen und Torpedos.“

Die drei Angesprochenen bestätigten, wobei sie sich bezeichnende Blicke zuwarfen.

Jetzt nicht mehr so nervös, wie noch vor einigen Augenblicken, setzte sich Irina Hayes im Kommandanten-Sessel zurecht und beugte ihren Oberkörper leicht vor. Zwar schlug ihr Herz immer noch deutlich schneller als normal, doch auch das ließ langsam immer weiter nach und die fast unnatürliche Ruhe, die sie überkam, verwunderte sie selbst.

Nach einer weiteren Minute fragte Irina Hayes: „Ortung, wie lange noch?“

Stefanie Dornarran sah zu ihrer Vorgesetzten und erwiderte: „Noch eine Minute und siebenundvierzig Sekunden, Hauptmann.“

„Danke, Stabsfeldwebel“, gab Hayes knapp zurück. Dabei unterdrückte sie den Wunsch sich erneut im Maschinenraum nach den Fortschritten zu erkundigen. Das würde nicht das Geringste ändern, an dem was auf sie zu kam.

Fast schreckte Irina Hayes aus ihren Gedanken auf, als sie die vertraute Stimme von Fatul Mahmalad hörte. Überflüssig laut meldete der Chief: „Die Systeme des Kreuzers funktionieren wieder. Die System-Simulation besagt, dass wir es wagen können, Sir!“

„Danke, Chief!“, gab Irina Hayes zurück. Bereits im nächsten Moment ergingen ihre Befehle an die Zentrale-Besatzung.

Draußen, außerhalb des Leichten Kreuzers, erfolgte eine Verwandlung. Das bisher optisch fast perfekt getarnte Kriegsschiff wurde mit einem Mal gut sichtbar. Im nächsten Moment glühten die äquatorialen Emitter des Raumschiffstriebwerks und der Dual-Schilde in einem grell-gleißenden Weiß-Blau. In einer schwachen Schneewolke, beim Start von den eingesunkenen Landeschoren verursacht, hob der Leichte Kreuzer ab und strebte langsam seinem Element entgegen.

Beinahe erfreut lächelnd starrte Irina Hayes unverwandt auf den Hauptbildschirm und verfolgte die Annäherung an den Gegner, der immer noch unverändert seinen Kurs beibehielt. Dabei vermutete die Interims-Kommandantin der NOVA SOLARIS, dass man ihr Hiersein vielleicht schon bemerkt, aber noch nicht die richtigen Schlüsse gezogen hatte.

„Wir nehmen das Feindschiff frontal“, sagte Irina Hayes in Richtung des Piloten.

„Feindschiff ändert jetzt seinen Kurs!“, meldete Stefanie Dornarran. „Achtung: Wir unterschreiten jetzt die maximale Schussentfernung!“

Für einen kurzen Moment wurde Irina Hayes klar, dass sie sich bereits so weit von Eris entfernt hatten, dass sich die NOVA SOLARIS bereits im Erfassungsbereich der beiden polaren Ortungsstationen befinden musste. Die sicherlich weithin anzumessende Energieentfaltung des kommenden Gefechtes würde also keinerlei Unterschied mehr machen.

Wie Irina Hayes es angewiesen hatte eröffnete der Taktische Offizier umgehend das Feuer. Die grell-violetten Plasma-Impulse der Bordgeschütze, die von Jean-Claude Blanché auf maximale Impulsdauer eingerichtet worden waren, trafen das noch ungeschützte Kriegsschiff des Feindes, der die Gefahr zu spät folgerichtig eingestuft hatte. Zwei Torpedos trafen gleich darauf mittschiffs und die Fregatte der Konföderation Deneb brach in einer Energiekaskade auseinander. Mehrere Folgeexplosionen zerstörten dabei auch die größeren Wrack-Fragmente, so dass es kaum Aussicht gab, dass jemand diesen Angriff überlebt hatte.

Irina Hayes senkte kurz den Kopf, in Gedenken an die Opfer dort drüben, bevor sie nachdrücklich verlangte: „Volle Beschleunigung, Leutnant Newton. Navigation: Setzen Sie einen Fluchtkurs, der ein schnellstmögliches Eindringen in den Hyperraum zulässt. Wenn Sie dabei, nach Eindringen in den Hyperraum, auf Höhe der Oortschen-Wolke, die zu erwartenden Wirbel auswerten, so versuchen Sie, einen der schnelleren und größeren anzufliegen. Ich glaube nämlich nicht, dass der Feind uns einfach so ziehen lässt.“

„Bestätigt, Sir!“, warf Stefanie Dornarran sachlich ein. „Ich habe einen kleinen Kampfverband von sieben Kriegsschiffen in der Ortung der einen Abfangkurs einschlägt. Darunter auch zwei Schwere Kreuzer!“

„Richtig Spaß macht es erst, wenn es mindestens drei Schwere Kreuzer sind“, gab Irina Hayes trocken zurück.

Die Navigatorin grinste offen bei diesen Worten. Dabei wusste sie nicht, dass Dean Corvin, bei der Flucht aus dem Sol-System, vor vier Monaten, einen ähnlichen Spruch abgelassen hatte, als drei Schlachtkreuzer hinter dem Raumschiff her waren. Sie setzte zunächst einen Kurs, der sie nicht in Kontakt mit Asteroiden brachte, die vereinzelt einsam hier draußen um die ferne Sonne herum kreisten.

Als sich der Kreuzer weit genug von Eris entfernt hatte, gab Linaris Terrek ihrer Vorgesetzten Bescheid, doch sie verzögerte den Befehl in den Hyperraum einzudringen noch für einige Augenblicke. Beim Anflug war der Kreuzer stark in Mitleidenschaft gezogen worden und sie befürchtete Komplikationen bei einem erneuten Gewaltmanöver. Darum gab sie erst nach fast einer zusätzlichen Minute, die der Kreuzer im Normalraum beschleunigte, den Befehl die Überlicht-Aggregate zu aktivieren.

Ohne einen sichtbaren oder spürbaren Übergang drang der Leichte Kreuzer in den Hyperraum ein. Auf dem Bildschirm wechselte die sternengesprenkelte Schwärze des Weltalls mit dem beruhigenden Rot des Hyperraums. Doch überall vor dem Kreuzer zeichneten sich vor diesem Rot bereits orange und gelbe Schlieren ab; ein filigranes Netz, das dem Kreuzer möglicherweise gefährlich werden konnte. Grüne und blaue Bereiche waren auf diese Distanz noch nicht zu erkennen, doch das würde sich in etwa einer Viertelstunde signifikant ändern. Sie waren da, denn die Oortsche-Wolke besaß mehr als genug Materie um Vibrationen und Wirbel im Hyperraum zu generieren. Dazu Strömungen, wie bereits jetzt die gelben Bereiche verdeutlichten.

Bis auf Leutnant Curtis Newton, der sich bereits jetzt darauf zu freuen schien, seine Talente als Pilot ein weiteres Mal unter Beweis stellen zu können, machten die Anwesenden im Kommandozentrum des Kreuzers eine ernste Miene.

Irina Hayes, die Newtons Freude im Gesicht entdeckte, mahnte den Piloten: „Dieses unverschämte Grinsen erlaube ich Ihnen erst, wenn wir erfolgreich die Oortsche-Wolke durchflogen und den Feind endgültig hinter uns gelassen haben, Leutnant Newton.“

„Verstanden, Sir!“, gab der rothaarige Mann zurück, wobei das amüsierte Funkeln in seinen Augen seine Worte eindeutig Lügen strafte.

Irina Hayes, die auch das bemerkte ging nicht weiter darauf ein. Sie wusste, dass gute Piloten ein Völkchen für sich waren. Das beste Beispiel dafür war Dean Corvin, den sie inzwischen etwas hatte kennenlernen dürfen. Der Kommandant der NOVA SOLARIS verstand sich, so wie auch Curtis Newton, ausgezeichnet darauf, ein Raumschiff nicht nur anhand der einlaufenden Daten, sondern aus dem Gefühl heraus zu steuern. Sie hatte beide Männer verschiedentlich dabei beobachten können und festgestellt, dass sie dabei gleichermaßen zeitweise in einen fast tranceähnlichen Zustand verfielen.

In etwas mehr, als zehn Minuten, würde sich zeigen, was Newton wirklich konnte.
 

* * *
 

Auf der Krankenstation der WIRBELWIND kämpften die an Bord gekommenen Ärzte, unterstützt von den beiden Sanitätern der 501. Raumlande-Einheit, um das Leben von Hauptmann Diana Elodie Spencer.

Bereits nach den ersten Scanns ihrer Körperfunktionen wusste die Leitende Ärztin des Teams, dass Dean Corvin nicht übertrieben hatte, mit seiner Behauptung, es sei sehr ernst. Der Hitzestau im Oberkörper der schwer verletzten Frau hatte dazu geführt, dass die Durchblutung ihres Gehirns bereits auf ein gefährliches Minimum abgesunken war. Zudem war ein Teil des rechten Lungenflügels in Mitleidenschaft gezogen worden.

Trotz der modernen Einrichtung der Krankenstation blieb das Entfernen verbrannten Gewebes und das Ersetzen von zerstörten Blutbahnen und Nerven auch im 33. Jahrhundert ein höchst gefährlicher Eingriff, wenn er in dem Umfang stattfinden musste, wie bei dieser Verletzten. Sie lag auf dem Operationstisch und rang mit dem Tode.

Einer der Ärzte hatte Diana Spencer ein Gerät über Mund und Nase gelegt, dass sich nach seiner Aktivierung den Konturen ihres Gesichtes angepasst hatte. Gleichzeitig hatte das handliche Beatmungsgerät, nicht sichtbar für die Anwesenden, Form-Holo-Kanülen gebildet, die den leblos da liegenden Körper mit Sauerstoff und schmerzstillenden Mitteln versorgten. Das Gerät war so in der Lage für eine künstlich gesteuerte Beatmung zu sorgen. Diese Form-Holo-Technologie funktionierte ganz ähnlich jener, die im Bereich Information und Datenverarbeitung zum Einsatz kam und herkömmliche Tastaturen und Bildschirme weitgehend ersetzte.

Von all dem bekam Dean Corvin nichts mit, da er sich in diesem Moment im Kommandozentrum der Fregatte aufhielt. Ohne auf die Begleiter des Finnen zu achten hatte er ihn nach seiner Ankunft auf der WIRBELWIND herzlich umarmt, nachdem sich die Schleuse geschlossen hatte und der Druckausgleich erfolgt war.

Corvin hatte einen seiner eigenen Leute dazu abgestellt um den Stellvertretenden Leitenden Ingenieur der VESTERGAARD zum Haupt-Maschinenraum zu begleiten. Nachdem er seinen besten Freund begrüßt hatte, wandte er sich zu Renée Killkennen und Marius Wolf um sie an Bord willkommen zu heißen.

Renée Killkennen sah dabei aufmerksam von Dean Corvin zu Kimi Korkonnen und wieder zu dem Kanadier. Hinter ihrer Stirn arbeitete es dabei offensichtlich. Marius Wolf seinerseits ließ nicht erkennen, wie es in ihm aussah.

Noch während sie sich gemeinsam auf den Weg zum Kommandozentrum begaben erkundigte sich Kimi bei seinem Freund: „Was wurde eigentlich aus dem ursprünglichen Plan, mit der NOVA SOLARIS hier zu erscheinen? Wir haben außerdem nicht so schnell mit dir und deiner Truppe gerechnet.“

Ernst erwiderte Corvin den fragenden Blick des Freundes. „Die Konföderation Deneb hat sowohl die Störsender-Technik, als auch das Aggregat, um die Störsignale zu neutralisieren, bereits in alle ihre Kriegsschiffe eingebaut, die im Sol-System stationiert sind. Darum mussten wir nicht in die Luna-Werften eindringen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Flotten der Konföderation somit für einen Schlag gegen das Wega-System jetzt bestens vorbereitet sein dürfte. Ein Schlag gegen das zweitwichtigste System des ehemaligen Terranischen Imperiums ist damit in greifbare Nähe gerückt, nach meiner Ansicht.“

Corvin spürte die Blicke von drei Augenpaaren auf sich ruhen, als er das Wort Ehemalig aussprach. Er sah in die Runde und erklärte: „Das ist kein Defätismus. Ich spreche lediglich Fakten aus, denn de facto gibt es kein Terranisches Imperium, solange es keine offizielle Regierung gibt, deren Sitz, nach imperialem Gesetz, auf Terra liegen muss. Um den momentanen Status Quo wieder zu ändern sind wir alle hier.“

Im Lift, den die Gruppe benutzte um das Kommandodeck der Fregatte zu erreichen wechselte Renée Killkennen einige fragende Blicke mit Korkonnen und der Finne machte ein etwas ratloses Gesicht. Der Finne beschloss jedoch, seine Fragen an Dean zurückzustellen, bis sie auf dem Weg zum Wega-System aufgebrochen waren.

Die drei Angehörigen der Imperialen Flotte erwartete eine Überraschung, als sie die Zentrale der Fregatte betraten. Denn mir einer Frau, in der Uniform der Konföderation Deneb an den Kontrollen der Navigation hatten sie nicht gerechnet.

„Leutnant Léa Le Garrec hat uns auf dem Mars tatkräftig unterstützt und unsere Flucht vom Mars mitgemacht“, sagte Corvin zu seinen Begleitern. „Ich vertraue ihr.“

Dean Corvin hatte laut genug gesprochen, dass auch alle anderen in der Zentrale seine Worte hatten verstehen können. Er nickte der Frau an der Navigation kurz zu und sah auffordernd zu Kimi Korkonnen.

Der Finne wandte sich an seine Kameraden von der VESTERGAARD. „Leutnant Killkennen, Sie übernehmen die Steuerung der Fregatte. Leutnant Wolf, Sie übernehmen die Kommunikation.“

Damit sah Korkonnen seinen Freund an. „Mit deiner Erlaubnis.“

Dean erwiderte den Blick des Finnen. „Natürlich.“ Danach wandte sich der Kanadier an Harin Krezirin. „Sie behalten bis auf Weiteres das Kommando, Oberleutnant Krezirin.“

Corvin wartete die Bestätigung ab bevor er zu seinem besten Freund sagte: „Ich würde dich gerne für einen Augenblick unter vier Augen sprechen.“

Kimi Korkonnen nickte angedeutet. Gemeinsam mit Dean verließ er das Kommandozentrum und schritt mit ihm langsam den Gang hinunter. Er zögerte einen Augenblick, bevor er Dean auf das ansprach, weswegen ihn Renée Killkennen vorhin so fragend angesehen hatte: „Was ist mit dir, Dean? Du scheinst mir sehr verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Was ist denn passiert?“

„So Einiges“, erwiderte Dean vage, bevor er präzisierte: „Kim Tae Yeon ist passiert, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich habe sie wiedergesehen. Als Major des Militärischen Geheimdienstes der Konföderation Deneb. Das war offensichtlich der Preis, den sie für ihren Verrat am Imperium gefordert hat. Ich konnte sie zwischenzeitlich gefangennehmen und sie dazu zwingen, uns Zutritt zu dieser Fregatte zu verschaffen. Allerdings entkam sie später unserem Zugriff.“

Kimi Korkonnen, der die Wut in seinem Freund brodeln spürte, sah ihn forschend an. „Das ist nicht alles gewesen, also heraus damit.“

Corvin atmete tief durch,bevor er ausstieß: „Diese Verräter-Schlange hatte die Stirn anzudeuten, sie würde noch etwas für mich empfinden. Das mitzubekommen war für mich schlimmer, als alles, was sonst noch passierte.“

Kimi Korkonnen blieb stehen. „Was immer es auch war, Dean, es hat dich verändert. Du bist so ungewohnt ernst. So kenne ich dich nicht.“

Dean zögerte kurz, bevor er in knapper Form davon berichtete, was er auf Eris hatte tun müssen. Abschließend erklärte er dem Freund: „Es gab keine Alternative, denn wir hätten die Kommunikation nicht sabotieren können, ohne dass dabei Alarm ausgelöst worden wäre. Wir durften andererseits auch nicht zulassen, dass die Besatzung Alarm gibt, sobald sie aus der Schock-Starre erwacht, und hätten wir sie eingesperrt, so wären sie elendig verhungert und verdurstet. Darum musste ich so handeln, Kimi.“

Der Freund legte eine Hand auf die Schulter des Freundes. Dabei meinte er eindringlich: „Das ist die Schuld der Konföderation, Dean. Das Alles ist nur deren Schuld!“

Corvin schluckte trocken. „Danke, Kimi. Dasselbe habe ich mir auch bereits gesagt, doch es bleibt ein schwacher Trost.“

Der Kanadier sammelte sich und wechselte abrupt das Thema: „Hast du im Wega-System Miriam, Andrea und Jayden gesehen?“

Der Finne bestätigte und berichtete von seinem Treffen mit Andrea und Jayden. Danach erklärte er düster: „Das Treffen mit Miriam war dann weitaus weniger erfreulich. Etwas steht unüberbrückbar zwischen uns, Dean. Unsere Beziehung ist am Ende, und ich kann dir nicht einmal genau sagen wieso das so ist.“

„Tut mir leid, Kimi.“

Dean Corvin schritt gemeinsam mit dem Freund langsam wieder den Weg zurück den sie gekommen waren und berichtete: „Rian Onoro ist übrigens an Bord dieser Fregatte. Ich konnte auf dem Mars sie und einen weiteren Gefangenen befreien.“

Überrascht sah Kimi seinen Begleiter an. „Und das haust du mir einfach so trocken um die Ohren, Alter? Mensch, das ist doch toll!“

Etwas weniger ernst wirkend, als zuvor, gab Corvin zu. „Ja, das ist es. Dass wir sie vor vier Monaten zurücklassen mussten hatte mich bereits im Schlaf verfolgt. Ein ungeheurer Druck ist von mir abgefallen, seit ich sie in Sicherheit weiß. Kim hat ihr ziemlich zugesetzt, während der Gefangenschaft, und allein dafür hätte ich diese verdammte Verräterin am liebsten erschossen, Kimi.“

Impulsiv, wie sonst nie, legte Korkonnen seinen Arm um die Schulter des Freundes und drückte ihn kurz an sich. „Vergiss Kim. Gab es Verluste unter deinen Leuten?“

„Nein, aber die Kommandeurin der Raumlande-Soldaten hat es ernsthaft erwischt. Aber das hast du ja zum Teil bereits mitbekommen.“

Dean Corvin sah Kimi von der Seite an. „Ich möchte dich bitten vorübergehend das Kommando über die Fregatte zu übernehmen. Ich würde gerne die Krankenstation aufsuchen und mich persönlich davon überzeugen, wie es um Hauptmann Spencer steht.“

Sie erreichten wieder das Schott zu Zentrale und Kimi erwiderte verständnisvoll: „Kein Problem, ich werde dich würdig vertreten.“

„Wehe wenn nicht“, drohte Corvin scherzhaft. Er drückte kurz den Oberarm des Freundes und machte sich dann eilig auf den Weg zur Krankenstation.

Als Dean Corvin wenig später die Krankenstation betrat fiel keinem der Anwesenden auf, dass er da war. Der Major hielt sich seinerseits dezent im Hintergrund und beobachtete, durch eine Trennscheibe, was im Operationsraum passierte.

Als nach einigen Minuten spürbar Hektik um den Operationstisch herum ausbrach, war Dean Corvin, als würde eine eisige Hand nach seinem Herzen greifen. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das kurze Haar, legte schließlich seine Arme auf den Rücken und umklammerte mit seiner Rechten das linke Handgelenk, bis es zu schmerzen begann.

Nach einigen bangen Minuten beruhigten sich die Mediziner und Corvin befürchtete bereits das Schlimmste. Doch dann drehte sich einer der Ärzte zufällig in seine Richtung, bemerkte sein Hiersein und hob seinen Daumen.

Diese einfache Geste ließ Corvin erleichtert ausatmen. Er aktivierte die Sprechanlage und erkundigte sich knapp: „Wie geht es ihr?“

Der Mediziner, der den Daumen hochgehoben hatte erwiderte: „Wir haben die Patientin stabilisiert. Sie befindet sich außer Lebensgefahr und sie wird wieder ganz gesund werden, wenn wir sie innerhalb von zwei Tagen in ein Krankenhaus bringen können. Das sollte bei der relativ geringen Entfernung zum Wega-System kein Problem sein.“

Dean Corvin lächelte den Arzt erleichtert durch die Scheibe an. „Ich danke Ihnen und dem gesamten Team.“

Der Kanadier unterbrach die Verbindung und unterdrückte dabei das unbändige Verlangen mit den Fingern zu schnippen. So etwas machte sich für einen Offizier, der einen Leichten Kreuzer kommandierte, nach seiner Meinung, nicht gut. Aufatmend lenkte er seine Schritte zur Zentrale der Fregatte. Es wurde Zeit wieder das Kommando zu übernehmen.
 

* * *
 

„Die Maximalgeschwindigkeit der NOVA SOLARIS sinkt unter vier Lichtjahren pro Stunde ab!“, meldete Curtis Newton, ohne von seinen Kontrollen aufzusehen. „Eine der gegenläufigen Hyperraum-Strömungen hat uns erfasst und verlangsamt uns. Der aktuelle Zustand wird noch für zwei Minuten anhalten. Danach werden wir eine Strömung nutzen können, die uns aus dem Sol-System heraus beschleunigen wird. Das Problem wird der Wechsel zwischen den Strömungen und die Scherkräfte zwischen ihnen sein.“

Von der Ortung ließ sich gleich darauf Stefanie Dornarran vernehmen: „Bis dahin wird der feindliche Verband, der uns folgt, gerade eben auf Kernschussweite heran sein.“

Irina Hayes dankte und grübelte darüber nach, was sie tun konnten. Sie selbst konnten aus den hinteren Torpedorohren erst dann mit Aussicht auf Erfolg feuern, wenn auch der Feind ebenfalls heran war. Dieser Feind war eindeutig in der Überzahl. Außerdem hegte Irina Hayes den Verdacht, dass die Konföderation Deneb diese Kriegsschiffe bereits mit dem neuen Störsystem nachgerüstet haben könnte. Doch dann kam ihr eine Idee, und sie wandte sich an den Jean-Claude Blanché, den Mann an der Taktischen Konsole.

„Hauptfeldwebel Blanché, soweit mir bekannt ist funktionieren die Annäherungs-Zünder unserer Torpedos auch dann, wenn die Suchköpfe inaktiv sind. Könnten wir die Torpedos also auch als Mienen verwenden?“

Der Mann an der Taktik machte ein erstauntes Gesicht. „Das habe ich noch nie versucht, Sir, doch grundsätzlich sollte es gehen.“

„Dann laden Sie die hinteren Torpedorohre mit deaktivierten Torpedo-Suchköpfen und deaktivieren Sie ebenfalls die Antriebe der Torpedos. Sie sollen nicht auf den Gegner, gut zu orten, zufliegen, sondern sie sollen treiben ohne dabei Energie abzugeben. Nachdem Sie die Torpedos, auf meinen Befehl hin, ausgestoßen haben, setzen Sie selbsttätig weitere Torpedos, auf dieselbe Weise, aus, bis auf Widerruf.“

Blanché bestätigte und führte die Anweisung seiner Vorgesetzten umgehend aus. Als die ersten Torpedos geladen waren gab er bekannt: „Hintere Torpedorohre bereit, Sir.“

„Danke, Hauptfeldwebel. Ortung, laufend den Abstand des Feindverbandes melden.“

Stefanie Dornarran bestätigte und Irina Hayes fragte bei Curtis Newton nach: „Wie lange noch, bis wir die gegenläufige Strömung erreichen?“

„Exakt neunundzwanzig Sekunden, Hauptmann“, erwiderte Newton.

„Zählen Sie die letzten fünf Sekunden laut herunter“, wies ihn Irina Hayes an und wartete. Die Sekunden verstrichen quälend langsam.

Noch bevor Curtis Newton begann, meldete Blanché: „Feind in zehn Sekunden in Schussweite, Sir.“

Irina Hayes legte ihre Hände flach auf die Lehnen des Kommando-Sessels. „Ausstoß der Torpedos, Hauptfeldwebel Blanché.“

Der Angesprochene handelte umgehend. Aus den hinteren Torpedorohren des Leichten Kreuzers wurden die ersten Torpedos heraus katapultiert. Doch sie zündeten nicht ihren Antrieb sondern trieben mit der Hyperraum-Strömung auf den Feindverband zu. Weitere Torpedos folgten in dichten Abständen, wobei die neue energetische Geschoss-Zuführung dreimal schneller arbeitete, als die bisherigen mechanischen Ausführungen, an Bord anderer Kriegsschiffe. Dies war, neben der Tarnkapazität, eine der bedeutendsten Neuerungen an Bord dieses neuen Kreuzers-Typs.

Auf den Kriegsschiffen des Feindverbandes wurde die Gefahr zu spät erkannt. Gewaltige Explosionen leuchteten hinter der NOVA SOLARIS im Hyperraum auf.

Die Offiziere und Unteroffiziere im Kommandozentrum des Leichten Kreuzers sahen fasziniert auf dem Hauptbildschirm dieser schaurig-schönen Erscheinung zu. Noch niemand an Bord hatte ein Gefecht im Hyperraum erlebt. So etwas als Simulation zu erleben war ein Unterschied, wie die Anwesenden in der Zentrale nun erkennen mussten. Zu wissen, dass dies blutiger Ernst war und dort, wo es nun in kurzen Abständen aufleuchtete, Tote gab, ließ die meisten von ihnen erschaudern.

Curtis Newton begann ruhig mit seinem Countdown und Irina Hayes befahl im selben Moment, das Abfeuern der Torpedos einzustellen.

Gleich darauf meldete Newton: „Achtung ich versuche jetzt den Wechsel zwischen den Strömungen, Sir.“

Fast in demselben Moment begann der Leichte Kreuzer zu vibrieren; zuerst unmerklich, dann immer stärker werdend. Doch dann ließ dieser Effekt abrupt nach und so ruhig wie zuvor eilte die NOVA SOLARIS durch den Hyperraum. Die Farben Grün und Blau herrschten auf dem Bildschirm vor. Normalerweise bedeutete das nichts Gutes. Doch innerhalb einer Strömung konnte ein guter Pilot ein Raumschiff sicher an sein Ziel fliegen. Und Curtis Newton hatte bereits bewiesen, dass er ein guter Pilot war. Besonders aber in diesem Moment, denn nicht jeder Pilot hätte einen Übergang zwischen zwei gegenläufigen Hyperraum-Strömungen so elegant vollzogen.

Auf den Anzeigen der Navigation schnellte die Fahrtstufe nach oben und zeigte nun mehr an, als unter regulären Umständen im Hyperraum zu erreichen war.

Irina Hayes gab den Befehl den Haupt-Bildschirm auf Heckansicht umzuschalten und erneut mit der Taktik zu koppeln. Sie rechnete insgeheim damit, dass eines oder mehrere der verfolgenden Kriegsschiffe das Inferno, angerichtet durch ihre Torpedos, überstanden hatten. Doch die Ortung konnte kein verfolgendes Kriegsschiff ausmachen.

Stefanie Dornarran brachte es auf den Punkt, indem sie meldete: „Kein Verfolger feststellbar, Sir. Wir haben alle Feindschiffe erwischt, wie es scheint.“

Sich langsam im Sessel zurücklehnend, zwischen Erleichterung und Grauen gefangen, erwiderte Irina Hayes dunkel: „Ja, das haben wir wohl.“

Nach einigen Augenblicken gab sie Order: „Leutnant Newton, fliegen Sie mit Maximalgeschwindigkeit das Wega-System an.“

Dann schloss Irina Hayes für einen Moment ihre Augen und wünschte sich, Dean Corvin wäre anwesend. Dabei eilten Ihre Gedanken zu einer blonden Frau, die sich in dessen Begleitung befand und sie hoffte inständig, diese Frau gesund wiederzusehen.

Ernste Unterredungen


 

9.
 

Ernste Unterredungen
 

Drei Tage später stand Andrea von Garding an der Fensterfront eines Hotelzimmers, auf dem neunten Planeten des Wega-Systems, und blickte hinaus in die Finsternis. Aus besonderem Anlass hatten sie und Jayden gestern eine volle Woche Sonderurlaub beantragt, und der Kommandant des Schlachtkreuzers SATURN hatte ihn, nach einer längeren Unterredung mit ihnen beiden, am Ende bewilligt.

Vor einigen Stunden bereits hatte es zu regnen begonnen, und noch immer prasselten die schweren Tropfen des Wolkenbruchs gegen die Panoramascheiben der hellen und großzügig dimensionierten Zimmerflucht. Unter ihr lagen die, vom Regen glänzenden, Straßen der weganischen Stadt. Die Terranerin hatte das Licht soweit gedämpft, dass es einen angenehmen, warmen Ton im Zimmer erzeugte.

Während sie in die verregnete Nacht auf Wega-IX hinaus blickte, dachte sie an Dean Corvin und an ihre anderen Kameraden, die nun gemeinsam mit ihr auf diesem Planeten weilten. Letzteres hatte sie dazu bewogen, gestern ein langes Gespräch mit Jayden zu führen, an dessen Ende sie beide eine Entscheidung getroffen hatten, die weitreichende Folgen für ihr zukünftiges Leben haben würde.

So hatten sie beide darüber gesprochen, dass sich möglicherweise nie wieder die Gelegenheit ergeben könnte, dass sie alle je wieder lebend zusammen kamen. Zwar wollte die rotblonde Frau daran gar nicht denken, doch zumindest in Erwägung ziehen musste sie diese Möglichkeit, und so hatte sie auch darüber mit Jayden gesprochen.

Ihre Blicke schweiften gedankenverloren über die gewaltige Stadt, in der das Leben pulsierte, so als gäbe es keinen Krieg zwischen drei der fünf Sternenreiche. Zu ihrer Rechten erhob sich, hell erleuchtet, das wuchtige Verwaltungsgebäude des Raumhafens auf dem dutzende von Kriegsschiffen aller Größen darauf warteten zum Einsatz zu kommen. Ein Bruchteil der annähernd dreihundert Kriegsschiffe, die gegenwärtig im Wega-System zusammengezogen waren.

Die weitläufigen, weitgehend unterirdisch angelegten, Raumschiffswerften waren von hier aus nicht zu sehen. Sie lagen auf der entgegengesetzten Seite der riesigen Stadt. Dort wurden momentan mit Hochdruck neue Kriegsschiffe für die Imperiale Flotte gebaut.

Die, seit dem Überfall auf das Sol-System, Oberkommandierende der Terranischen Raumflotte, wusste natürlich um die militärstrategische, wie wirtschaftliche Bedeutung des Wega-Systems und so hatte sie bereits vor Monaten angeordnet, die Dritte Flotte, unter Generalmajor Nomu Tschuban, aus der Region von M-7 abzuziehen, so wie achtzig Prozent der Fünften Flotte, unter Generalmajor Ilana Stern. Die restlichen zwanzig Prozent der Fünften Flotte waren beim Hauptquartier dieser Einheit verblieben, einem Irrläufer-Planet auf halbem Weg zwischen Sol und dem Hantelnebel, etwa 700 Lichtjahre entfernt.

Andrea von Garding zuckte leicht zusammen, als in der Ferne, über den Gipfeln des Gebirges, ein greller Blitz zuckend aufleuchtete. Für einen kurzen Augenblick fiel grelles Licht auf den dichten Dschungel, weit jenseits der Metropole, bevor er gleich darauf, wieder in der Finsternis verschwand und einen nur zu erahnenden, dunklen Streifen am Horizont bildete. Es dauerte beinahe eine halbe Minute, bis ein leichtes Grollen zu vernehmen war. Das Zentrum des Gewitters schien sich zu entfernen.

Andrea von Gardings Gedanken kehrten zum Hier und Jetzt zurück. In den vergangenen Stunden hatte sie ihre Entscheidung wieder und wieder hinterfragt, und immer mit demselben, positiven Ergebnis. Allerdings war sie um eine Erkenntnis nicht herum gekommen, nämlich dass der Auslöser für dieses häufige Hinterfragen jedesmal Dean Corvin geheißen hatte.

Die Terranerin, die ihr Haar am Morgen sorgsam zu einem Bauernzopf geflochten hatte, den sie so gerne trug, lächelte unbewusst bei dem Gedanken an den Kameraden. Sie hatte ihn sehr vermisst, seit ihrem letzten Zusammentreffen.

Dean besaß eine irgendwie gewinnende Art. Sie war zwar seinem männlichen Charme nie erlegen, doch seit ihrem Abschluss an der Akademie vermisste sie ihn manchmal so sehr, dass es fast weh tat. Auch wenn sie das Jayden gegenüber nie andeutete war sie sich dennoch sicher, dass ihr Verlobter davon wusste. Dazu kannte er sie zu gut.

Die Frau blickte auf ihr Multi-Funktions-Armband, dessen Chronometer neben der Standardzeit auch die lokale Zeitrechnung einblendete.

Außer ihrem Verlobten, der etwas später kommen würde, hatten sich Dean und Kimi Korkonnen für den heutigen Abend bei ihr angemeldet. Auf ihre Einladung hin. Beide weilten seit zweieinhalb Tagen auf dem Planeten doch ihr Dienst hatte ein Treffen zu einem früheren Zeitpunkt nicht erlaubt. Was Andrea ganz recht gewesen war, denn sonst hätte sie keine Zeit für ihre nun getroffene Entscheidung gehabt.

Allein der Gedanke daran, die beiden Freunde schon in Kürze wiederzusehen, beschied ihr Glücksgefühle, die sie in den letzten Monaten schmerzlich vermisst hatte.

Die Terranerin warf einen letzten Blick hinaus, in die stürmische Nacht, bevor sie das Licht wieder auf ein normales Niveau heraufsetzte und ihre Uniform zurecht rückte. Sie war gerade fertig damit, als der Türsummer aktiviert wurde. Die Frau schmunzelte leicht. Es wäre sehr verwunderlich gewesen, wenn Dean und Kimi nicht etwas vor der Zeit erschienen wären. Sie legte eine Hand auf den Sensorkontakt der Multifunktionssäule, in der Mitte des Raumes, und gab den akustischen Befehl, das Schott des Zimmers zu öffnen.

Wie erwartet waren es Dean und Kimi, die das geräumige Zimmer betraten.

Andrea hatte Kimi, anders als Dean, vor wenigen Tagen erst gesehen und so lief sie rasch zu Corvin und fiel ihm um den Hals. Dabei schmiegte sie sich eng an den Kameraden, als er sie in seine Arme schloss, und sie legte vertraulich ihren Kopf an seine Brust.

„Ich bin so glücklich, dass du den Einsatz, von dem mir Kimi erzählt hat, gesund überstanden hast, und dass ich dich endlich wiedersehe, Dean. Nur deine neue, schwarze Uniform und die Rangabzeichen eines Majors sind etwas gewöhnungsbedürftig.“

Etwas befangen erwiderte der Dunkelblonde, ohne auf ihre letzte Bemerkung einzugehen: „Ich freue mich genauso sehr, Andrea. Meine Gedanken waren täglich bei dir, Kimi und Jayden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie geht es dir denn?“

Andrea von Garding löste sich von dem Freund und hielt ihn etwas von sich um ihm in die Augen sehen zu können. „Besser, als an dem Tag, als du die SATURN verlassen hast. Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“

„Mache ich aber“, gab Dean lächelnd zurück.

Eine kurze Pause entstand und erst als sich Kimi vernehmlich räusperte, begrüßte sie auch ihn und geleitete beide dann zur Sitzecke des Raumes. Dabei fragte sie: „Kann ich euch beiden etwas zu trinken anbieten?“

„Nein danke“, lehnte Kimi ab, während sich Dean erkundigte: „Gibt es Kaffee? Ich habe eine etwas andere Zeitrechnung in den Knochen und ich habe im Anschluss noch ein Gespräch mit General Mbena vor mir.“

Andrea von Garding besorgte Dean seinen Kaffee und nahm ihm, schräg gegenüber, auf einer der beiden breiten Couchen Platz. Dabei sah sie ihn, über die semi-transparente Oberfläche des Tisches hinweg, fragend an. „Hattest du Erfolg bei dem Einsatz, von dem du zurück bist?“

„Wie man es nimmt“, gab Dean düster zurück. Einerseits konnte ich eine Fregatte entwenden, auf der die Technik vorhanden ist, die wir benötigen um herauszufinden, wie wir die Störgeräte der Konföderation Deneb unwirksam machen können. Außerdem konnte ich jemanden aus der Gefangenschaft befreien, den ich bei unserer Flucht aus dem Sol-System, zu Beginn des Jahres, auf Luna zurücklassen musste. Andererseits ist mir bei der Aktion Kim Tae Yeon entkommen, weil einer meiner Leute sich hat überrumpeln lassen.“

„Du bist diesem Miststück begegnet?“, stieß Andrea heftig aus.

„Ja“, gab Corvin zurück und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Ich hätte sie gleich erschießen sollen, aber über verpasste Gelegenheiten zu jammern hilft nichts.“

Bevor Andrea von Garding etwas darauf erwidern konnte, öffnete sich das Schott der Zimmerflucht und Jayden Kerr trat ein. Der Jamaikaner steckte den Code-Schlüssel in seine Hosentasche und schritt rasch auf die Freunde zu, die sich beim Eintreten des Freundes erhoben hatten.

Sie umarmten einander herzlich, bevor sie gemeinsam wieder Platz nahmen. Dabei setzte sich Jayden zu Andrea auf die Couch und legte seinen Arm um sie.

Auch der Jamaikaner war neugierig darauf, zu erfahren, wie es Dean in den letzten Monaten ergangen war, und so sprach eine Zeitlang nur Dean, während die Übrigen gespannt zuhörten wovon er berichtete.

Schließlich war es Jayden, der nachdenklich meinte: „Dass ausgerechnet Kim dir wieder über den Weg laufen würde konntest du nicht ahnen, Dean. Ehrlich gesagt, ich an deiner Stelle hätte nicht gewusst, wie ich darauf hätte reagieren sollen. Ich kann schon verstehen, warum du sie nicht einfach umgelegt hast.“

„Dann verstehst du mehr, als ich“, knurrte Dean finster. Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse hart auf den Tisch.

„Schluss mit den düsteren Gedanken“, verlangte Andrea und blickte in die Runde. „Der Grund, warum wir heute Abend hier sind, ist nämlich ein erfreulicher.“

Dean und Kimi wechselten schnelle Blicke miteinander, bevor der Finne fragte: „Macht es nicht so spannend, ich will wissen was los ist, Freunde.“

Andrea, die eher damit gerechnet hatte, dass Dean der Ungeduldigere der beiden sein würde, sah beide lächelnd an: „Ihr wisst ja, dass Jayden und ich uns zu Weihnachten verlobt haben. Gestern haben nun Jayden und ich endgültig beschlossen, dass wir nicht länger warten wollen. Ihr seid momentan hier und ich möchte euch beide unbedingt dabei haben, wenn ich Jayden heirate. Darum haben wir unseren Kommandierenden Offizier um eine Woche Sonderurlaub gebeten und gestern die ersten Schritte eingeleitet, um uns bereits übermorgen das Ja-Wort zu geben. Außer euch beiden kommen einige Kameraden von der SATURN zu der Feier. Es wäre übrigens angebracht, dass ihr beide in Begleitung kommt.“

Das kam sowohl für Kimi, als auch für Dean unerwartet. Kimi lächelte wortlos, während Dean zunächst etwas abwesend nickte, bevor er mit angedeutetem Lächeln meinte: „Ich freue mich für euch beide.“

Damit erhob sich der Kanadier und umrundete umständlich den Tisch. Danach wartete er bis sich Jayden und Andrea erhoben um zuerst Andrea zu umarmen und danach auch den Freund. Als Kimi seinem Beispiel folgte, meinte er: „Das ist ein großer Schritt.“

„Ja, das ist es“, erwiderte Andrea strahlend. „Deshalb möchten wir auch eine Bitte an euch beide richten. Wir möchten, dass ihr unsere Trauzeugen seid, und dich Dean möchte ich zusätzlich um etwas ganz Besonderes bitten. Du sollst derjenige sein, der mich traditionell dem Bräutigam übergibt.“

Dean Corvin wusste, dass dies unter normalen Umständen der Vater der Braut tat. Dass Andrea ihn darum bat, an Stelle ihres Vaters, der beim Überfall auf das Sol-System, mit dem Rest ihrer Familie getötet worden war, diese Aufgabe zu übernehmen, erfüllte ihn mit Stolz. Aber auch mit einer gewissen Wehmut, die er sich jedoch nicht anmerken ließ. Er sagte mit weicher Stimme: „Ich fühle mich sehr geehrt und werde diese Aufgabe mit Dankbarkeit und mit Freude übernehmen.“

Spontan umarmte Andrea den Kanadier. „Danke, Dean, das bedeutet uns beiden sehr viel. Jayden und mir.“

Es war Kimi der fragte: „Wird Miriam auch dabei sein?“

Jayden, dem Kimi von dem Fiasko bei seinem Treffen mit Miriam erzählt hatte, machte ein bedauerndes Gesicht. „Eingeladen haben wir sie, doch ihr Schiff ist momentan als Kurier zum Hauptquartier der Fünften Flotte unterwegs. Es wird vermutlich mehrere Wochen dauern, bis die AURORA wieder hier eintrifft.“

„Vielleicht ist das ganz gut so“, murmelte Kimi und sah dabei entschuldigend zu Andrea, da er ahnte, dass die Freundin sie gerne dabei gehabt hätte.

„Ich hoffe, das mit der Begleitung wird kein Problem“, wechselte Andrea schnell das Thema, bevor die unbedachte Äußerung Kimi peinlich werden konnte.

Dean und Kimi schüttelten beide gleichzeitig den Kopf. Dabei erklärte Dean: „Das ist vielleicht eine gute Gelegenheit, dass ich dir Rian Onoro vorstelle. Die junge Frau, die ich aus der Gefangenschaft geholt habe. Sie steht mir nahe.“

Nur Kimi sah nicht überrascht zu Dean, denn mit ihm hatte der Kanadier, an Bord der gekaperten Fregatte, über Rian und sich gesprochen.

„Ho, gibt es da etwas, das du uns vielleicht etwas genauer erklären möchtest?“, erkundigte sich Jayden feixend, während Andrea ihn lediglich etwas verwundert musterte.

„He, das hat sich jetzt vielleicht dramatischer angehört, als es ist“, wiegelte Dean schnell ab und wich verlegen den Blicken der Freundin aus.

Andrea entspannte die Situation indem sie meinte: „Falls ihr zwei zudem noch ein paar Kameraden einladen wollt, nur zu. Aber daran denken: Paarweise.“

„Es wird also bestimmt getanzt“, freute sich Dean. „Heiratet ihr in Uniform?“

Andrea grinste breit: „Jayden ja. Ich selbst habe mich dazu entschieden ein Brautkleid zu tragen. Ich habe mir immer geschworen in Weiß zu heiraten.“

„Du wirst gewiss wunderschön aussehen.“

„Das wirst du als Erster feststellen, Dean“, prophezeite Andrea dem Freund mit einem pfiffigen Gesichtsausdruck. Denn du wirst derjenige sein, der mir bei der Auswahl des richtigen Kleides zur Seite steht. Es bring nämlich Unglück, wenn mich der Bräutigam vor der Hochzeitsfeier in diesem Kleid sieht.“

Mit schlecht verhohlener Schadenfreude klopfte Kimi seinem besten Freund auf die Schulter. „Auch das ist eine sehr große Ehre. Ich beneide dich darum, mein Freund.“

„Ja klar. Genau so siehst du aus“, grollte Dean, halb belustigt, halb ernsthaft grimmig. Zu Andrea gewandt fragte er seufzend: „Gibt es sonst noch irgendwelche Überraschungen? Vielleicht, dass ihr zwei heiraten müsst?“

Die Frau errötete leicht und schlug Dean im nächsten Moment spürbar mit der flachen Hand auf die Brust. „Was? Nein! Ich bin nicht schwanger. Wir heiraten aus Liebe.“

„Na, dann“, murmelte Dean Corvin und den Rest dachte er dabei nur.
 

* * *
 

Nachdem Kimi und Dean sich von ihren Kameraden verabschiedet hatten, ließ sich der Kanadier von seinem besten Freund, mit dessen gemieteten Gleiter am Hauptgebäude des aktuellen Militärischen Hauptquartiers der Terranischen Raumflotte absetzen. Er sah dem Freund kurz hinterher, als er sich auf den Rückweg zum Landeplatz der VESTERGAARD machte, bevor er sich abwandte und das gläserne Portal des Gebäudes durchschritt.

Corvin durchquerte die große Halle, auf deren Boden das Logo der Flotte prangte, und hielt auf den Informationsschalter zu, hinter dem einige Ordonanzen Dienst taten. Allein daran konnte der aufmerksame Beobachter erkennen, dass dieses Hauptquartier ein Provisorium war, denn auf dem Mars und auf Terra hatte es für Auskünfte ausgefeilte Automatiken gegeben, die keine Wünsche offen gelassen hatten. Offensichtlich war zur hier gültigen Lokalzeit kaum etwas los, überlegte Corvin, denn außer ihm selbst und den Ordonanzen war in der Empfangshalle dieses Komplexes kein Mensch zu sehen.

Als er sein Ziel erreicht hatte wandte er sich an eine junge Frau, im Rang einer Gefreiten, und sprach sie an, nachdem er ihren Gruß erwidert hatte. „Bitte, wohin muss ich mich genau wenden, um auf dem schnellsten Weg die Funkzentrale zu erreichen. Ich hatte mich heute Nachmittag bei einem Hauptmann Losmar für diese Zeit angemeldet.“

Die etwas dralle, junge Frau beeilte sich auf ihrem Holoschirm die entsprechenden Informationen aufzurufen und wies dann lächelnd zu einem der Lifte im Hintergrund der großen Halle: „Ebene Sieben und dann den blauen Markierungen an den Wänden der Gänge folgen, Sir. Sie werden bereits erwartet. Einen angenehmen Abend, Sir.“

Corvin dankte freundlich und folgte der Anweisung der jungen Frau. Unterwegs überlegte er kurz, ob die junge Frau, unten in der Halle, zu jenen Neulingen gehören mochte, die seit dem Überfall auf das Sol-System, im gesamten Imperium für Aufgaben in der Etappe rekrutiert wurden. Erfahrenere Soldaten, die schon länger dienten, wurden momentan vermehrt beim fliegenden Personal benötigt.

Schnell drehten sich seine Gedanken jedoch wieder um Andrea und dem, was sie ihm und Kimi vorhin eröffnet hatte. Die Frau, in die er sich verliebte, als er Siebzehn war, heiratete nun einen seiner besten Freunde. Damit war sie für ihn endgültig unerreichbar geworden. Dabei hatte in der Zimmerflucht alles in ihm danach verlangt, sie zu bitten es nicht zu tun und ihr zu gestehen, dass er sie nach wie vor liebte. Doch das hatte sich von selbst verboten. Einerseits konnte und wollte er das Andrea und Jayden nicht antun. Andererseits hatte er bemerkt, wie glücklich Andrea gestrahlt hatte, als sie ihm und Kimi von dem bevorstehenden Ereignis erzählte. Er musste die Realitäten akzeptieren.

Der Lift erreichte die siebte Ebene des Gebäudes und Dean Corvin verließ die Kabine um auf den hellen Gang hinaus zu treten. Er orientierte sich an einer Hinweistafel bevor er sich nach Rechts wandte. Dabei richteten sich seine Gedanken nun auf Rian Onoro. Als Andrea darauf hinwies, in Begleitung zu erscheinen, da hatte er sofort an sie gedacht. Er behauptete vorhin, sie würde ihm nahe stehen und das war nicht falsch. Tief in sich spürte er eine Art der Zuneigung für diese Frau, wie sonst nur für sehr wenige Menschen. Besonders nach der denkwürdigen, gemeinsamen Dusche.

Ohne dass es Dean Corvin bewusst war, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er grüßte eine ihm entgegen kommende Uniformierte, im Rang eines Oberstleutnants, als er an einer Gangkreuzung nach Links abbog. Einen Augenblick später erreichte er sein Ziel.

Corvin legte seine Hand auf den Individual-Scanner an der Seite des Schotts. Die Automatik prüfte seine Individual-Daten, die unten in der Halle aufgezeichnet worden waren, verglichen sie und das Schott öffnete sich für ihn, nachdem feststand, dass er tatsächlich für diese Zeit angemeldet war.

Corvin betrat den weitläufigen Raum, in dem ein gutes Dutzend Männer und Frauen ihren Dienst versahen. Wer nicht wusste, dass in dieser Abteilung lediglich die Hyperfunk-Verbindungen zu den am weitesten entfernten Kolonien hergestellt wurden, der wäre sicherlich enttäuscht gewesen von den relativ geringen Dimensionen dieser Abteilung.

Hauptmann Losmar, den er bereits am Nachmittag dieses Tages kennengelernt hatte, schritt ihm entgegen, als er Corvin wiedererkannte. Er grüßte und sagte freundlich: „Ich freue mich, sie wiederzusehen, Major Corvin.“

Dean Corvin erwiderte den Gruß. Obwohl er sich hier wie Zuhause fühlte musste er, als Angehöriger einer alliierten Nation, auf die übrigen Anwesenden dennoch wie ein Fremdkörper wirken. Das wurde ihm klar, als er den ein oder anderen Seitenblick von den hier Anwesenden auffing.

Hauptmann Losmar führte den Schwarzuniformierten zu einem durch dünne Glassit-Wände abgetrennten Bereich. Trotzdem war der Bereich schalldicht, sobald die Sende und Empfangs-Anlage aktiviert wurde.

Auf dem Weg dorthin meinte der Hauptmann: „Ich war gelinde überrascht, Major, als ich nach ihrer Anmeldung heute Nachmittag dieses Gespräch auf Outpost lanciert habe und kaum zehn Minuten später die Bestätigung herein kam. So schnell hat Outpost bisher nur auf Anfragen der hiesigen Flottenkommandeure reagiert.“

Corvin lächelte unsicher. „Vielleicht nur ein Zufall, Hauptmann.“

Sie betraten den abgeteilten Bereich und der Hauptmann stellte die Verbindung her, wobei sich Dean Corvin ins Gedächtnis rief, was er über die Hyperfunktechnik wusste.

Der Hyperfunk funktioniert nach einem ähnlichen Verfahren wie der konventionelle elektromagnetische Funk. Nur wurden beim Hyperfunk Trägerwellen eines dimensional übergeordneten Kontinuums moduliert – eben die des Hyperraums.

Diese Trägerwellen im Hyperraum bewegten sich, da sie nicht an das Einsteinsche Raum-Zeit-Kontinuum gebunden waren, mit einer sehr viel höherer Geschwindigkeit als der des Lichts. Selbst über die gewaltige Entfernung von gut 900 Lichtjahren hinweg benötigten die Hyperfunkwellen gerade einmal eine halbe Minute.

Die gängige Vorgehensweise ein Hyperfunksystem zu konstruieren war, den Sender mit einer Sendeantenne auszustatten, die in der Lage war einen feinen Hyperkanal zu erzeugen, durch die zunächst eine Auswahl der Trägerwelle erfolgte. Sozusagen wurde dabei die Frequenz gewählt. Danach wurde der eigentliche Funkspruch über diese Trägerwelle gesendet, was dadurch erfolgte, dass diese verstärkt, und mit beliebigen Signalen, von der Sendeanlage, moduliert wurde.

Zu einem vollständigen Hyperfunksystem gehörten aber noch einige weitere Baugruppen, wie ein Verstärker für Empfang und Sendung, oder auch Modifikationen, die eine gerichtete Sendung ermöglichten.

Theoretisch war die Reichweite eines Hyperfunk-Systems unbegrenzt. Tatsächlich aber war sie stark von der eingesetzten Sendeenergie, der gewählten Trägerfrequenz, der Bündelung, der Empfindlichkeit des Empfängers, und eventuell vorhandener Interferenzen innerhalb des Hyperraums abhängig, und variiert von einigen Lichtminuten bis zu rund eintausend Lichtjahren, je nach Stärke und Bauweise des verwendeten Systems.

Die Maximalreichweite eines Hyperfunk-Systems konnte dabei durch Relais-Stationen um ein Vielfaches erhöht werden. Ein Direktgespräch, ohne dass eine solche Relais-Station benötigt wurde, war nur mit Großanlagen, wie dieser auf Wega-IX, möglich.

Es dauerte kaum zwei Minuten, bis die Verbindung nach Outpost stand und das Portrait von General Hilaria Inira Mbena sich auf dem Holobildschirm abzeichnete.

Der Hauptmann meldete General Mbena den Gesprächsteilnehmer übergab dann an den Major und verließ eilig den abgeteilten Bereich.

Pflichtschuldig salutierte Corvin in Richtung des dreidimensionalen Abbildes der Oberkommandierenden der gesamten Terranischen Flotte. Im Gegensatz zu ihrem letzten Zusammentreffen trug sie nun die Rangabzeichen eines Kommandierenden Generals und die roten Streifen des Oberkommandos der Flotte an ihrer Uniform.

Nachdem die dunkelhäutige Frau seinen Gruß erwidert hatte nahm Corvin an der Konsole Platz und sagte höflich: „Ich gratuliere Ihnen zur Beförderung, General Mbena.“

„Danke, Major Corvin. Ich muss gestehen, dass ich etwas verwundert war, als ich vorhin davon erfuhr, dass Sie mich persönlich zu sprechen wünschen. Darf ich fragen, wie das, von Ihnen und Generalmajor Traren geplante, Unternehmen ausging?“

Sie verliert keine Zeit und kommt gleich zum Wesentlichen, dachte der Terraner. Er fasste das Unternehmen in einem knappen Bericht zusammen und endete nach zwanzig Minuten mit den Worten: „Das Unternehmen war also ein voller Erfolg, Sir. Wie es Generalmajor Traren zuvor mit Ihnen aushandelte, habe ich die Geräte, die zu der neuen Störsender-Technik der Konföderation Deneb gehören, dem Oberkommandierenden, hier auf Wega-IX übergeben. Die Geräte befinden sich an Bord einer Feindfregatte eingebaut, die mein Kommando und ich gekapert haben.“

„Ach“, machte Hilaria Mbena und ihre fast schwarzen Augen weiteten sich. „Sie haben also schon wieder ein Raumschiff entwendet, das Ihnen nicht zustand?“

„Diese Frage höre ich in der letzten Zeit andauernd, General“, konterte Corvin und grinste dabei amüsiert. Er wurde schnell wieder ernst und kam auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Etwas, das er zuvor ausgelassen hatte.

„Der hauptsächliche Grund meines Anrufs ist ein Anderer, Sir. Bei der ausgeführten Aktion ist es mir nebenbei gelungen, zwei Angehörige der Terranischen Raumflotte aus der konföderierten Gefangenschaft zu befreien. Es handelt sich dabei um Feldwebel Rian Onoro und Stabsunteroffizier Karambalos Papadopoulos. Ich würde die beiden Unteroffiziere gerne in meine Kreuzer-Besatzung integrieren. Zumindest Rian Onoro, weil sie, auf Luna, an dem Kreuzer mitgearbeitet hat und sie Aggregate kennt, wie kaum ein Anderer.“

„Einen Moment, Major Corvin“, bat Hilaria Mbena und wandte sich auf Outpost jemandem zu, der sich nicht im Erfassungsbereich der Holo-Kamera befand. Nach einigen Augenblicken wandte sie sich wieder ihm zu und sagte nachdenklich: „Die beiden genannten Unteroffiziere werden in unseren Datenbanken nicht geführt. Was nichts besagt, denn auf die Daten von Terra und Mars können wir, seit dem Angriff, nicht mehr zugreifen. Dennoch existieren die beiden Genannten nicht für das Imperium.“

Hilaria Mbena machte eine Kunstpause um Corvin die Gelegenheit zu geben, ihre Worte sacken zu lassen. Schließlich fuhr sie fort: „Natürlich könnten wir Nachforschungen anstellen um Personen zu finden, die deren Identität bestätigen können. Doch das kann unter Umständen Jahre dauern. Jahre, die beide als Staatenlose in einem Internierungslager fristen würden. Wenn Sie, Major Corvin, diese beiden Menschen, die für das Imperium nicht existieren, hingegen einfach vor ihrer Rückkehr nach Farradeen mit an Bord nehmen, und Ihre Vorgesetzten davon überzeugen können, sie in das Militär der Farradeen-Allianz einzugliedern, so würde das Imperium das vermutlich nie erfahren.“

Erstaunen spiegelte sich im Gesicht Corvins wider. „Sie raten mir also dazu, die beiden Genannten sozusagen einfach zu entführen?“

Hilaria Mbena grinste fast etwas verschlagen. Sie machte dabei eine übertrieben abwehrende Geste mit den Händen und tat sehr erstaunt: „Aber nicht doch, Herr Major. Ich habe eben lediglich laut gedacht, in der Hoffnung, dass mir dabei jemand zuhört, der in der Lage ist die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen. Mehr nicht.“

Das Zwinkern der beleibten Frau konnte Zufall sein, doch daran glaubte Dean Corvin keinen Moment lang.

Währenddessen schien Hilaria Mbena etwas einzufallen und schnell erkundigte sie sich: „Haben Sie und Ihr bester Freund sich übrigens wiedergesehen, Major?“

Das freudige Gesicht des Terraners nahm seine Worte vorweg. „Ja, General, und ich möchte Ihnen ganz herzlich danken.“

Gespielt erstaunt sah Hilaria Mbena Corvin über die gewaltige Distanz hinweg an und fragte gedehnt: „Wofür?“

Corvin durchschaute das kleine Manöver des Generals. Sie hatte jenen mütterlichen Blick aufgesetzt, der ihm bereits bei ihrem letzten Zusammentreffen aufgefallen war. Verabschiedend sagte er: „Ich werde die richtigen Schlüsse ziehen, General.“

„Dann bleibt mir nur, Ihnen Glück zu wünschen, Major Corvin.“

Im nächsten Moment hatte General Mbena die Verbindung unterbrochen und für einen Moment lang starrte Dean Corvin überlegend vor sich hin, bevor er sich erhob, die abgetrennte Funksektion verließ.

Der Kommandant der NOVA SOLARIS verabschiedete sich freundlich von Hauptmann Losmar, der sich insgeheim fragte, was ein einfacher Major der Farradeen-Allianz, fast eine halbe Stunde lang, mit der Oberkommandierenden der Terranischen Raumflotte zu besprechen gehabt hatte.
 

* * *
 

Am nächsten Vormittag besuchte Dean Corvin zunächst Rian Onoro und Karambalos Papadopoulos, die man beide in das nahe gelegene Militärkrankenhaus gebracht hatte. So, wie auch Diana Spencer. Während Letztere noch eine Weile brauchen würde um vollständig zu genesen, hatte man die beiden Unteroffiziere lediglich zur Beobachtung da behalten.

Zuvor hatte Corvin, von Bord der NOVA SOLARIS aus, dabei die Unterstützung einer geheimen Relais-Station der Farradeen-Allianz zu Hilfe nehmend, Kontakt zum Oberkommando auf Farradeen aufgenommen und eine kurze Unterhaltung mit Arolic Traren geführt, in Bezug auf Rian und den hünenhaften Griechen. Am Ende hatte Arolic Traren ihm dabei seine Entscheidung genannt, in Bezug auf diese beiden Unteroffiziere.

Als Dean Corvin das Krankenzimmer von Rian Onoro betrat fand er sie wach vor. Ihr bisher entspanntes Gesicht verzog sich erfreut, als sie ihn erkannte.

„Schön, dich zu sehen“, begrüßte Rian den Terraner, als er sich zu ihr auf die Bettkante setzte. Dabei legte er ein kleines Päckchen auf den Nachttisch neben dem Bett.

Corvin verspürte beim Anblick der Frau erneut ein seltsames Glücksgefühl. Es ließ ihn für den Moment vergessen, die halbe Nacht wachgelegen und über die bevorstehende Hochzeit von Andrea gegrübelt zu haben. Ohne darüber nachzudenken legte er sanft seine linke Hand auf Rians Wange, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie, ganz behutsam, so als habe er Angst sie zu verletzen.

Als sie sich nach einem Moment widerstrebend von einander trennten erwiderte Dean Corvin mit rauer Stimme: „Ich freue mich auch, Rian.“

Die junge Frau trug nur ein kurzärmeliges Nachthemd, und der Kanadier deutete auf ihren rechten Oberarm, an dem sie eine dünne Manschette trug. „Stabilisierungsmittel, über Form-Holo-Kanülen?“

„Ja“, bestätigte Rian und verzog etwas die Lippen. „Das Ding nervt. Zum Glück kommt es in einer halben Stunde ab.“

Ohne es bewusst wahrzunehmen fuhr Corvins Hand über ihre Schulter hinunter zu ihrer schmalen Hüfte. „Wie geht es dir denn insgesamt. Ich finde, du siehst schon wieder so aus, als könntest du es mit der gesamten Konföderation aufnehmen.“

„An deinen Komplimenten musst du wirklich arbeiten“, grinste Rian und ihre Linke bewegte sich zu seinem Nacken hinauf um ihn wieder zu sich heranzuziehen. Nach einem weiteren, diesmal längeren, Kuss sah sie ihn fragend an.

Corvin wusste den Blick zu deuten und erklärte, zufrieden lächelnd: „Ich habe gestern Nacht mit General Mbena und heute Morgen mit Generalmajor Traren gesprochen. Beide gaben mir grünes Licht, dich und diesen Papa-Dings-Bums in meine Crew zu integrieren. Dein Mitgefangener hat bereits zugestimmt, als ich eben bei ihm war. Mit viel Zack-Wumm, wie du dir vielleicht denken kannst.“

Rian lachte befreit auf. „Karambalos Papadopoulos ist ein echtes Original. Mit dem wirst du deine helle Freude haben, vermute ich mal.“

„Und was ist mit dir?“

„Das fragst du ernsthaft?“ Rian sah Dean Corvin entgeistert an. „Auf mich kannst du zählen. Aber kann ich auch auf dich zählen?“

Deans Augenbrauen hoben sich leicht. „Wie meinst du das?“

„Na, wie werde ich das wohl meinen?“, fragte die Frau in komischer Verzweiflung und zog ihn erneut zu sich herunter, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Sehr leise und eindringlich ermahnte sie ihn: „Ich werde es nicht zulassen, dass du weiterhin mit mir herumknutscht, ohne dass du es ernst mit mir meinst, Herr Major. Da wirst du schon eine Entscheidung treffen müssen, und zwar hier und jetzt.“

„Du meinst, so in Richtung dich zu einer Hochzeit einzuladen?“

Rian Onoro stieß den Mann grob von sich und kniff verachtend die Augen zusammen. „Das ist nichts, worüber du dich lustig machen solltest. Weißt du, das ist so...“

Dean, der bis unter den Haaransatz errötete, unterbrach die Tirade der jungen Frau, indem er seine Hand auf ihren Mund legte und erklärend meinte: „Ich habe nicht von unserer Hochzeit gesprochen, Rian. Ich meinte damit die Hochzeit einer Freundin, die morgen einen meiner besten Freunde heiratet. Kimi und ich werden dabei als Trauzeugen fungieren und ich hätte dich dabei sehr gerne an meiner Seite.“

Er zögerte nur kurz während er langsam seine Hand von ihrem Mund nahm um sie auf ihre Wange zu legen, bevor er entschieden hinzufügte: „Als meine Freundin, Rian.“

Für einen langen Moment starrte Rian ihr Gegenüber einfach nur an und kam sich reichlich albern vor. Dann umarmte sie den Mann und drückte ihn sanft wobei sie froh war ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, als sie sagte: „Ich bin ja so blöd.“

Dean drückte Rian sanft an sich. „He, ich war es, der sich unglücklich ausgedrückt hat. Du konntest ja gar nicht wissen, was ich gemeint hatte. Also vergessen wir das Missverständnis einfach.“

Ein flüchtiger Kuss auf seinen Hals war Rians Antwort.

Für eine ganze Weile hielten sie sich so in den Armen, bevor Dean sie vorsichtig wieder auf das Lager bettete. Dabei meinte er fast entschuldigend: „Da du offiziell für das Imperium nicht existierst, und die Farradeen-Allianz erst noch deinen Status offiziell bestätigen muss, kannst du bei der Feier weder in der Uniform des Terranischen Imperiums, noch in der Uniform der Farradeen-Allianz erscheinen. Du brauchst ein Kleid.“

Beinahe erschrocken sah Rian in die grauen Augen des Mannes. „Weißt du eigentlich, wie ewig lange es her ist, dass ich ein Kleid anhatte? Kometen, Sterne und Boliden – eine schöne Nummer wird das.“

Dean Corvin lachte vergnügt und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigte und meinte: „Du wirst bestimmt ganz toll in einem Kleid aussehen. Soll ich dir später bei der Auswahl helfen, oder kommst du damit allein zurecht?“

„Ich würde dich gerne damit überraschen doch ich bin vollkommen mittellos!“

„Mach dir deshalb keine Gedanken“, beruhigte sie Corvin. „Ich habe das bereits geklärt. Kauf dir ein hübsches Kleid und lass die Credits beim Hauptquartier der Flotte abbuchen. Ich werde dir den entsprechenden Code auf dein neues MFA übermitteln. Weiß trägt die Braut, also bitte jede andere Farbe, nur nicht diese. Und wenn das Kleid farblich etwas zu meiner Uniform passen würde, so wäre das auch nicht verkehrt.“

Bei seinen letzten Worten deutete Corvin auf das Päckchen, dass sie bisher nicht weiter beachtet hatte. Jetzt ahnte Rian was darin war.

„Deine Individualdaten sind bereits aufgenommen“, erklärte Dean. „Du kannst das MFA vollkommen normal benutzen, allerdings giltst du, wie bereits angedeutet, gegenwärtig als Staatenlose und so wird dir das MFA keinen Zutritt zu militärischen Anlagen gewähren. Nur dieses Krankenhaus – zumindest bis zu deiner Entlassung - und die NOVA SOLARIS sind von dieser Limitierung ausgenommen. Außerdem arbeitet es auf den Frequenzen, die von der Farradeen-Allianz genutzt werden.“

„War das Alles?“

Dean schüttelte den Kopf und schmunzelte unterdrückt. „Noch nicht ganz. Das ausgehandelte finanzielle Limit liegt nach der Codeeingabe bei zehntausend Credits. Das sollte für ein Kleid so gerade eben reichen.“

Rian, der sein Sarkasmus nicht entging, legte ihren Kopf etwas auf die Seite und fragte gespielt finster: „Und was ist mit Schuhen? Die brauche ich ja auch noch.“

Dean Corvin seufzte übertrieben und gab Rian einen schnellen Kuss auf die Lippen, bevor er leise antwortete: „Willst du wirklich das Imperium an den Bettelstab bringen? Die haben nebenbei auch noch einen Krieg zu finanzieren.“

„Du stellst also den verdammten Krieg über meine Schuhe?“, erkundigte sich Rian spitz und lachte im nächsten Moment über das verblüffte Gesicht.

Wieder küssten sie sich, bevor Rian den Mann in ihren Armen lange ansah und ernsthaft sagte: „Ich freue mich schon jetzt auf den ersten Tanz mit dir. Nachdem ich darauf fast drei Jahre lang gewartet habe.“

Dean, der sich daran erinnerte, was Rian ihm an Bord der NOVA SOLARIS erzählt hatte, stimmte zu: „Ja, ich auch, Rian.“
 

* * *
 

In demselben Moment saß eine Ebene tiefer Irina Hayes am Krankenbett von Diana Spencer, die sich zwar auf dem Weg der Besserung befand, sich aber noch sehr schwach fühlte, was nach der schweren Verletzung kein Wunder war. Am gestrigen Tag hatte Irina sie zwar auch schon besuchen dürfen, doch da hatte sie Diana nur schlafend vorgefunden. So hatte sie für einige Minuten still an ihrem Bett gesessen und war dann wieder gegangen.

Heute hatte Irina mehr Glück gehabt. Als sie das Krankenzimmer betrat da war Diana wach gewesen und hatte sie mit einer Mischung aus Neugier und Freude angesehen. Nach einer etwas unbeholfen wirkenden Begrüßung hatte sich die Marsianerin zu der Kranken ans Bett gesetzt und gefragt, wie es ihr ging.

Diana Spencer hatte knapp versichert, es ginge ihr bereits besser und danach Irina gebeten, davon zu berichten, wie sie mit der beschädigten NOVA SOLARIS wieder von Eris entkommen waren.

Irina Hayes berichtete ausführlich davon, was sich an Bord des Leichten Kreuzers ereignet hatte, nachdem sie mit Dean und dem Stoßtrupp von Bord ging. Nachdem sie geendet hatte, sah sie die blonde Frau für eine Weile nur stumm an, bevor sie zögerlich nach ihrer Hand griff und sie ganz leicht drückte. Dabei erklärte sie: „Ich würde gerne über etwas reden, zu dem wir durch Ihre Verletzung nicht gekommen sind, Diana. Bevor Sie von Bord gingen, da habe ich mich wohl nicht gerade so verhalten, wie es sich für einen Hauptmann der Flotte von Farradeen gehört, fürchte ich. Aber ich wollte Sie nicht von Bord der NOVA gehen lassen, ohne dass Sie wissen...“

Irina Hayes wurde verlegen und suchte nach den passenden Worten. Bevor es dazu kam, spürte sie, wie Diana ihre Hand in ihrer bewegte, bis sich die Finger der Verletzten mit ihren Fingern verschränkten.

„Ich habe schon verstanden, was der Grund war“, half Diana schwach lächelnd aus. „Aber um herauszufinden was es genau ist sollte ich zuerst einmal wieder ganz gesund werden, möchte ich vorschlagen.“

„Dann wollen Sie also herausfinden, was es ist?“, fragte Irina hoffnungsvoll.

Diana zog Irina an der Hand langsam näher zu sich heran, bis sich die Rothaarige endlich von ihrem Stuhl erhob und zu ihr auf die Bettkante setzte. Mit einem angedeuteten Lächeln legte sie die Hand der jüngeren Frau auf ihre Wange und meinte mit leiser Stimme: „Wenn du jetzt auch nur noch einmal Sie sagst, dann ist was los.“

„Nur noch im Dienst“, versprach Irina und Freude spiegelte sich in ihren Augen. Dabei streichelte sie fast übervorsichtig die noch etwas blasse Wange der Verletzten. „Du ahnst ja nicht, welche Sorgen ich mir in den letzten Tagen um dich gemacht habe. Ich hatte furchtbare Angst, dass ich dich auch noch verlieren könnte, nachdem ich kürzlich erst vom Tod meiner Lebensgefährtin erfuhr.“

Diana Spencer lächelte wissend. „Dein Major erzählte mir davon. Offensichtlich ahnt er etwas von deinen Gefühlen für mich.“

Die Wangen der rothaarigen Frau röteten sich leicht. „Er ahnt es nicht nur sondern er weiß von meinen Gefühlen für dich. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, weil ich irgendwo hin musste, mit meinem Gefühlschaos. Ich vertraue Dean.“

„Herrje, das ist ja schlimmer, als die Tratscherei an der Akademie“, beschwerte sich Diana mit gespielter Verzweiflung. „Du bist dir sicher, dass Corvin nichts weitergibt?“

„Vollkommen sicher“, gab Irina überzeugt zurück. Sie zog umständlich den Stuhl heran und nahm wieder darauf Platz, erneut die Hand der Verletzten ergreifend. Bedauern lag bei den nächsten Worten in ihrer Stimme. „Eine gute Freundin des Majors heiratet morgen. Zu schade, dass du hier liegen musst. Ich wäre gerne mit dir gemeinsam dorthin gegangen.“

„Das nächste Mal“, tröstete Diana sie und drückte schwach ihre Hand. „Du musst mir später unbedingt erzählen, wie es war.“

„Ich weiß gar nicht, ob ich hingehen soll.“

Diana runzelte leicht die Stirn. „Was ist denn los? Bist du nun mit dem Major befreundet, oder bist du es nicht?“

„Natürlich, aber was hat...“

„Dann gehst du gefälligst auch hin, wenn dich eine gute Freundin von ihm eingeladen hat zu kommen“, erklärte Diana bestimmt. „Das gehört sich einfach so. Außerdem bin ich momentan noch keine so ausdauernde Gesellschafterin. Bereits jetzt merke ich die Anstrengung dieses Gesprächs.“

Entschuldigend sah Irina Diana in die Augen. Nach einem Moment erhob sie sich widerstrebend und setzte sich wieder auf die Bettkante. Diesmal jedoch um sich von Diana zu verabschieden. „Dann will ich nicht noch länger so gedankenlos sein, dich zu überanstrengen. Ich komme aber ganz bestimmt morgen wieder.“

Damit beugte sich Irina zu Diana hinunter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich erhob und mit einem Lächeln auf den Lippen den Raum verließ.

Als Irina Hayes in der Lobby aus der Liftkabine schritt, lief sie fast Dean Corvin in die Arme, der sie amüsiert ansah und fragte: „Wie geht es Hauptmann Spencer?“

„Diana ist noch ziemlich schwach, doch es geht aufwärts mit ihr“, erwiderte Irina erleichtert und erkundigte sich ihrerseits: „Wie lange wird Rian Onoro noch hier behalten?“

„Die wird heute Nachmittag entlassen. Wird auch Zeit, die Gute muss sich noch ein Kleid besorgen.“ Corvin sah die Frage in den Augen der Kameradin und fügte an: „Das erkläre ich dir später, jetzt habe ich erst einmal eine Verabredung mit Andrea. Dieselbe Problematik, wenn auch aus einem anderen Grund.“

„Ich verstehe heute kein Wort von dem, was du sagst“, beschwerte sich Irina. „Wenigstens hast du eine Begleiterin, aber mit wem soll ich morgen zur Hochzeit erscheinen. Diana fällt aus, weil du nicht auf sie aufgepasst hast.“

Corvin runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts auf den leisen Vorwurf. Während sie auf den Ausgang zuhielten, überlegte Corvin: „Anstandshalber kommt nur ein Mann in Frage. Wie wäre es mit Oberleutnant Krezirin?“

„Absolut nicht! Aber vielleicht frage ich diesen Hünen, den du zusammen mit Rian befreit hast. Vielleicht freut sich Rian Onoro ja, wenn er auch dabei ist.“

Dean Corvin nickte. „In dem Fall musst du ihm nur einen Anzug kaufen, denn Uniformen fallen aus. Und: Auch das erkläre ich dir später.“

„Falls du dir das überhaupt alles merken kannst“, spottete Irina gutmütig. „Solange ich nur den Anzug als dienstliche Ausgabe absetzen kann.“

„Mal sehen“, grinste Corvin. Sie erreichte den Ausgang und trennten sich vorerst.

Liebe und Freundschaft


 

10.
 

Liebe und Freundschaft
 

Zwei Stunden später verwünschte Dean Corvin sich jemals darauf eingelassen zu haben, Andrea beim Kauf eines passenden Brautkleides zu helfen. Dabei hatte er zunächst genossen, Andrea in den verschiedensten Brautkleidern zu bewundern. Denn in einigen von ihnen sah sie fast wie ein Engel aus. In diesen Momenten entflammten seine Gefühle für sie erneut wieder voll und ganz. Diese innere Zerrissenheit frustrierte ihn zunehmend.

Ein paar Kleider hingegen fanden so rein gar nicht seinen Geschmack, und je länger die Suche nach dem Kleid sich dahin zog, desto ermüdender wurde die Aktion. Womit Dean Corvin, in männlicher Naivität, so gar nicht gerechnet hatte war, die Unentschiedenheit des weiblichen Geschlechtes und langsam gewann er eine Ahnung, dass er endlich ernsthaft seiner Aufgabe walten musste. Nämlich Andrea aktiv zu beraten und nicht nur zu bewundern, wie sie in dem ein oder anderen Kleid aussah.

Also erhob er sich aus dem Kundensessel als Andrea mit dem elften Kleid aus dem Umkleidebereich zu ihm kam, das anzuziehen ihr auch diesmal zwei Angestellte des exklusiven Kleidergeschäftes geholfen hatten. Dieses viel zu kurze Kleid war in Deans Augen das bisher unpassendste Kleid überhaupt. Obwohl es ihre sportlich schlanken Beine sehr gut zur Geltung brachte, wie er zugeben musste.

„Nein, das ist es nun wirklich nicht“, erklärte Dean bestimmt und schüttelte seufzend den Kopf. „Aber ich gehe mal davon aus, dass du schon eine gewisse Vorstellung davon hast, wie dein Brautkleid in etwa aussehen soll.“

„Schon, irgendwie“, räumte Andrea ein. „Doch ich muss ja auch mal sehen, welche gar nicht in Frage kommen.“

„Dir ist aber schon klar, dass du bereits morgen heiraten wirst?“

Andrea bedachte ihren Freund mit einem vernichtenden Blick. „Etwas weniger sarkastisch, wenn ich bitten darf.“

Na, ist doch wahr, dachte Corvin mürrisch. Dann erkundigte er sich: „Wenn ich nicht ganz falsch liege, dann kommt ohnehin nur ein langes Kleid für dich in Frage? Außerdem habe ich bemerkt, dass dir die Kleider mit Figur betonendem Oberteil stehen. Die mit Trägern dabei besser, als die schulterfreien Kleider.“

„Kommt schon ganz gut hin“, stimmte Andrea zu und grinste dabei. „Ich wusste schon, warum ich dich gebeten habe mitzugehen.“

Klar, um mich zu quälen, überlegte Dean Corvin etwas frustriert. Tief durchatmend erklärte er dann: „Gut, dann werde ich jetzt einmal zwei oder drei Kleider heraussuchen, von denen ich glaube, dass es dir ideal stehen könnten.“

Damit ging er zu der Auswahl an Brautkleidern in Andreas Größe und sah sie durch, bevor er sich schließlich für zwei Kleider entschied. Er drückte sie Andrea in die Hand und meinte: Wenn es von denen keins ist, dann weiß ich nicht mehr weiter.“

Zweifelnd nahm Andrea die beiden Kleider und verschwand erneut in den Umkleidebereich um das erste der beiden Kleider anzuprobieren.

Dean Corvin gewann den Eindruck, dass es diesmal deutlich mehr Zeit in Anspruch nahm, bis Andrea endlich wieder zum Vorschein kam.

Dean Corvin, der sich vor einem Moment erst wieder auf die Kante des Sessels gesetzt hatte, sah Andrea dabei zu, wie sie mit einem der beiden Kleider, die er ausgesucht hatte wieder zu ihm kam. Seine Augen waren unverrückbar auf die Freundin gerichtet und nahmen den Gesamteindruck auf. Langsam, fast wie in Zeitlupe, kam Dean aus dem Sessel nach oben und machte einen halben Schritt auf Andrea zu. Dabei weiteten sich seine Augen und sein Mund öffnete sich, ohne dass er etwas sagte.

Das A-Linie Trägerkleid schmiegte sich von den Schultern bis knapp unter den Bauchnabel eng an ihren schlanken Leib. Dabei betonte der V-Ausschnitt ihre fraulichen Rundungen zusätzlich. Ein Traum aus Seide und besticktem Batist, der im Rücken, ebenfalls in V-Form, tief ausgeschnitten war.

Bei der Reaktion des Kameraden traten Tränen in die Augen der rotblonden Frau und prüfend drehte sie sich mehrmals vor den Spiegeln, die es hier zuhauf gab. Bis sie am Ende über die Schulter hinweg zu Dean sah und neckisch fragte: „Du meinst, das ist es?“

Dean nickte zunächst nur mechanisch, bevor er sich wieder gesammelt hatte und kratzig bestätigte: „Und wie es das ist. Das und kein anderes.“

Glücklich strahlend lief Andrea, auf Zehenspitzen zu Dean und umarmte ihn; vorsichtig um das Kleid nicht zu zerdrücken. Dann lief sie schnell wieder zurück in den Umkleidebereich und sprach mit den beiden Angestellten, während sie diesmal wieder in ihre Uniform schlüpfte. Als sie schließlich wieder bei Dean war umarmte sie den Kameraden gleich noch einmal und meinte: „Wenn Jayden auch nur halb so begeistert ist von diesem Kleid, dann hat sich die Ausgabe gelohnt.“

„Was ist mit Schuhen?“, fragte Corvin in einem Anflug schrägen Humors, als er sich an die zurückliegende Unterhaltung mit Rian erinnerte. Im nächsten Moment schimpfte er sich in Gedanken einen Trottel, denn das würde nochmal eine ähnliche Tortur werden.

„Die habe ich schon“, erwiderte Andrea leichthin, ohne zu ahnen, welche Felsen ihrem Freund dabei vom Herz fielen. „Gehen wir noch irgendwo einen Kaffee trinken? Ich würde nämlich gerne etwas mehr über diese ominöse Rian Onoro erfahren, die dir so nahe steht, wie du sagtest. Gestern hast du bei dem Thema ja schnell abgeblockt.“

„Gestern schien mir nicht der passende Moment dafür zu sein. Die Geschichte ist etwas länger und ich wollte sie nicht zwischen Schott und Führungsschiene erzählen.“

„Dann kommt meine Idee ja genau richtig“, legte Andrea nach und Dean stimmte zu.

Als sie eine halbe Stunde in exakt dem Park-Café saßen, in dem sich Andrea und Jayden vor drei Wochen mit Kimi getroffen hatten und sie beide vor einem großen Kaffee saßen, sah Andrea den Freund prüfend an, bevor sie nachdenklich feststellte: „Du hast dich sehr verändert, seit wir zusammen an der Akademie waren, Dean.“

„Ach, wirklich?“ Etwas überrascht davon, dass Andrea ihm nun sagte, was auch Kimi bereits angedeutet hatte, fragte Dean neugierig: „Zum Besseren oder zum Schlechteren?“

„Zum Besseren. Eindeutig zum Besseren.“

Der Freund hob fragend seine Augenbrauen und Andrea führte etwas genauer aus: „Na ja, mir ist so, als hättest du dieses jungenhafte, etwas übermütige, Gehabe abgelegt. Das macht dich irgendwie erwachsener. Männlicher. Es passt zu deinem Rang.“

Der Kanadier grinste schief. „Keine Beförderung in den nächsten sieben Jahren. Du wirst mich also irgendwann wieder einholen.“

Andrea grinste breit. „Das sowieso. Aber nun heraus mit der Sprache: Wann und wie ist es passiert, dass dir diese Rian Onoro, die du erwähntest, so nahe steht?“

Dean Corvin nahm einen Schluck von seinem Kaffee und begann dann davon zu berichten, wie er Rian kennenlernte, und wie sie sich während des Angriffs auf das Sol-System erneut begegneten.

An mehreren Stellen seiner Geschichte zeigte Andrea offen ihre Heiterkeit. Besonders an der Stelle, als Rian ihm, nach dem Eindringen in die Geheimbasis auf Luna, ziemlich Kontra gegeben hatte. Doch erst nachdem er geendet hatte, sagte sie nachdenklich: „Ich muss zugeben, dass ich jetzt wirklich gespannt darauf bin, sie morgen näher kennenzulernen. Sie muss, nach dem, was du eben von ihr erzählt hast, eine bemerkenswerte junge Dame sein.“

„Die ist noch schneller auf Hundert, als du“, bemerkte Dean düster, wobei er sich an die Reaktion der Freundin erinnerte, nachdem er eine Übung an der Sektion-Venus verhauen hatte. Angeblich verhauen, denn dasselbe Manöver hatte im Gefecht funktioniert.

„Vielleicht brauchst du das ja?“, orakelte Andrea belustigt. „Ich finde es zumindest bemerkenswert, dass ihr zwei euch einerseits so wenig kennt, und dass es andererseits trotzdem so heftig gefunkt hat zwischen euch. Möglicherweise ist das ein Zeichen.“

„Oder das alles ist reiner Zufall“, spottete Corvin und trank von seinem Kaffee. „Du weißt, dass ich nicht an Zeichen und Wunder glaube.“

Andrea, die ihre Tasse in beiden Händen hielt streckte die Zeigefinger in seine Richtung aus und grinste amüsiert. „Abwarten.“

Dean sah, wie sich die Miene der Freundin plötzlich veränderte. Sie stellte ihre Tasse auf den Tisch zurück und sah ihn eigentümlich an. Nach einem Moment fragte sie: „Du hast also dieses Wahnsinns-Manöver, das im Simulator an der Sektion-Venus so spektakulär schief ging, in einem realen Gefecht geflogen? Bist du eigentlich völlig durchgedreht?“

Diese Stimmungsänderung kam für Corvin unerwartet und er versuchte sich aus der Situation zu retten, indem er meinte: „Ich lebe ja noch. Was übrigens ein Anzeichen dafür ist, dass ich damals bei der Simulation mit der RUBICON Recht hatte.“

Andrea beugte sich in ihrem Stuhl vor und giftete zurück: „Wenn mir jemals zu Ohren kommen sollte, dass du so einen Wahnsinn nochmal veranstaltest, dann musst du dir keine Sorgen mehr machen, ob die von der Konföderation Deneb dich umbringen. Denn dann werde ich diejenige sein, die das erledigt, klar?“

Dean hob kapitulierend seine Hände. „Ich werde mich bemühen.“

Andrea von Garding gab sich damit zufrieden. Erneut abrupt das Thema wechselnd sagte sie, jetzt wieder deutlich sanftmütiger: „Ich danke dir, dass du mir bei der Auswahl des Kleides zur Seite gestanden hast. Nach unserem Gespräch, damals in Wellington, nachdem ich dir sagte, dass ich Jayden liebe, da hatte ich kaum zu hoffen gewagt, dass wir beide irgendwann genau so miteinander umgehen können werden, wie gerade jetzt.

„Du meinst, dass du mich zur Schnecke machen kannst?“

„Alberner Kerl“, schimpfte Andrea grinsend. „Du weißt ganz genau, was ich meine.“

Dean unterdrückte ein gequältes Seufzen, riss sich zusammen und erwiderte: „Ja, ich weiß was du meinst, und so wird es in Zukunft auch sein.“

Über den Tisch hinweg griff Andreas Hand spontan nach seiner und drückte sie. „Ich hoffe, du kannst erahnen, was das für mich bedeutet.“

Und ich hoffe, du wirst nie erahnen, was ich dir jetzt am liebsten sagen würde, dachte der Kanadier bitter. Gleichzeitig spürte er dabei wieder diese innere Zerrissenheit, als er an seine Gefühle für Rian dachte, bevor er zur Antwort gab: „Das kann ich, Andrea.“

Dabei war das nicht einmal gelogen, auch wenn Dean Everett Corvin in diesem Moment nicht in der Lage war, die Zuneigung und die Freundschaft der Kameradin in dem Umfang zu honorieren, wie es angemessen gewesen wäre.

* * *
 

Am Abend traf sich Dean Corvin in einem Restaurant, im Zentrum von Erron, mit seinem besten Freund. Corvin wusste, dass Kimi Jayden beim Kauf der Ringe unterstützt hatte, als er selbst mit Andrea wegen des Brautkleids unterwegs gewesen war.

Um sie herum brummte das Nachtleben der Millionenmetropole, wobei auffällig viele Uniformierte unter den Menschen waren, die sich in das Getümmel der Großstadt geworfen hatten. Obwohl schätzungsweise drei Viertel der Männer und Frauen Zivilisten waren. Dennoch entsprach der Anteil von Uniformierten keinesfalls dem Normalfall. Der Krieg warf seine Schatten nun auch bis hierher.

Während des Essens sagten die beiden Freunde nur sehr wenig. Erst als sie beim Nachtisch saßen, kam Kimi auf den Tagesablauf zu sprechen.

„Ein wenig beneide ich dich darum, dass du unsere Andrea bereits in voller Pracht in ihrem Hochzeitskleid gesehen hast“, erklärte der Finne nachdenklich. „Ich hoffe, du bist dir darüber im Klaren, welch ein tiefer Freundschaftsbeweis das ist. Dass du zudem Andrea dem Bräutigam übergeben darfst zeigt, wie viel du ihr bedeutest. Ich hoffe, das ist dir klar.“

Dean, der bereits nach seinem Treffen mit Andrea über all das nachgedacht hatte, nickte ernsthaft und sah Kimi direkt in die Augen. „Ja, mein Freund, das ist es. Ich bin auch mächtig stolz darauf, dass ich in dieser Form für Andrea da sein darf. Du weißt, was ich immer noch für Andrea empfinde, denke ich, doch irgendwie bin ich auch glücklich, dass Andrea so glücklich ist, mit Jayden an ihrer Seite. Und ja: Natürlich sticht es auch.“

„Aber du kommst offensichtlich damit klar?“

Dean nickte und erwiderte aufrichtig: „Ja, und das liegt irgendwie auch an Rian Onoro. Weißt du, obwohl sich die beiden schon deutlich voneinander unterscheiden sind sie sich in mancherlei Hinsicht auch ungeheuer ähnlich. Vielleicht hatte Andrea heute Nachmittag Recht, als sie mir sagte, es wäre vielleicht ein Zeichen, dass wir uns auf Luna erneut begegnet sind, nachdem wir uns beim Akademie-Ball nur beinahe kennenlernten.“

Kimi wirkte auf Dean beinahe so, als würde er sich königlich amüsieren, als er eindringlich entgegnete: „Du klingst verdächtig so, als wärst du verliebt. Aber nicht in Andrea, sondern in Rian Onoro. Das fände ich übrigens richtig gut.“

„Ach, wirklich?“ Etwas erstaunt sah Dean seinen besten Freund an.

Kimi erwiderte ernsthaft den Blick des Kanadiers. „Ja, wirklich. Wenn du mich fragst dann ist es auch langsam an der Zeit, dass dir eine Andere mal den Kopf verdreht. Denn Andrea heiratet morgen Jayden, und da wirst du nicht dazwischen funken.“

Dean sah den Freund entrüstet an. „Was denkst du denn von mir?“

Es bleib eine Weile still zwischen ihnen, bis Dean schließlich wieder das Wort ergriff. „Rian Onoro ist wirklich eine Frau, für die ich, seit ich sie aus der Gefangenschaft auf dem Mars befreien konnte, starke Gefühle entwickelt habe. Ich glaube, zuerst war es nur eine Art von Schuldgefühl, weil ich sie auf Luna zurücklassen musste. Doch seit einigen Tagen sind da noch sehr viel intensivere Gefühle dazu gekommen. Sie verwirrt mich manchmal und im nächsten Moment habe ich wiederum das Gefühl, als würden wir uns perfekt verstehen.“

Kimi grinste breit und machte eine zustimmende Geste. „So beginnen nur die guten Geschichten, würde ich sagen.“

Dean nickte unbewusst und meinte nach einem Moment: „Ich freue mich wirklich darauf, Rian morgen an meiner Seite zu haben. Vielleicht sollte ich diesmal einfach nur versuchen, nicht wieder etwas übers Knie zu brechen und einfach abwarten, wie sich alles entwickelt. Was meinst du, Kimi.“

„Oh ja“, stimmte Kimi gedehnt und irgendwie spöttisch klingend zu. „Geduld ist ja auch ganz genau dein Ding.“

Von einem Moment auf den anderen verfiel Dean in eine seltsam melancholische Stimmung und erst auf Kimis fragenden Blick hin sagte er nachdenklich: „Ich musste eben daran denken, was mir Tabea auf Titan sagte, als wir uns über Beziehungen unterhielten. Sie meinte, ich sollte der Richtigen, wenn sie mir über den Weg läuft, eine faire Chance geben und all das vergessen, was ich mit Kim durchgemacht habe. Sie hat mir dann später auch vor den Kopf geknallt, dass ich es vermutlich vermasseln werde. Davor habe ich etwas Angst.“

„Dann vermassel es einfach nicht“, riet Kimi eindringlich. „Hör zu, wir haben gemeinsam in diesem Krieg einen Experimental-Kreuzer, unter den Augen der Konföderation Deneb, gekapert und gegen eine Überzahl ihrer Kriegsschiffe gekämpft. Du selbst bist bis zum schwer bewachten Mars vorgestoßen und konntest dabei zwei Gefangene befreien und nebenbei noch eine Feindfregatte entwenden. Und da redest ausgerechnet du von Angst?“

„Na ja“, wand sich Dean etwas und sah Kimi unsicher an. „Gegen die Konföderation Deneb haben wir ein paarmal bestanden, aber das hier ist Rian Onoro!“

Die Miene des Finnen erfuhr eine eigenartige Veränderung, an deren Ende er in schallendes Gelächter ausbrach, bis ihm die Tränen kamen.

Einige der anderen Gäste des Restaurants sahen, teils fragend, teils unangenehm berührt zu ihnen und Dean machte einige entschuldigende Gesten in ihre Richtung.

Endlich beruhigte sich Kimi wieder und immer noch mit seiner Heiterkeit kämpfend meinte er heiser zu seinem Freund: „Du bist manchmal ganz schön schräg, Dean. Ich sag dir jetzt was: Schnapp dir Rian – oder lass ein für allemal die Finger von sämtlichen Frauen.“

Dean sah etwas finster drein. „Das ist dein Rat? Toller Rat!“

Wieder ernster werdend legte Kimi seine Unterarme auf die Tischplatte und beugte sich zu Dean vor. „In Ordnung, dann pass jetzt mal gut auf. Dieser Rat ist der einzig vernünftige Rat, den ich dir geben kann. Andrea musst du dir aus dem Kopf schlagen und Kim musst du schlicht vergessen. Dann ist Rian überhaupt kein Problem, denn wenn ich dich richtig verstanden habe, dann interessiert sie sich für dich, und du auch für sie.“

Von Kimi war Dean einen solchen Ton im Grunde nicht gewohnt, weshalb der Kanadier seinen Freund zunächst schweigend ansah. Schließlich räumte er ein: „Ich denke, du hast Recht und ich sollte mit diesem Gefühlschaos endlich mal aufräumen. Von diesem ganzen Tohuwabohu hatten wir, seit der Akademie, wirklich zu viel.“

„So gefällst du mir schon besser“, lobte Kimi aufmunternd und sah auf sein MFA. „Wir sollten uns langsam zurückziehen, denn der morgige Tag dürfte lang werden.“

Zustimmend trank Dean den Rest von seinem Wein, bevor sie zahlten und sich dann auf den Weg zum nächsten Magnetzugbahnhof machten.
 

* * *
 

Der nächste Tag stand für Dean Corvin naturgemäß ganz im Zeichen der Hochzeit von Jayden Kerr und Andrea von Garding. Doch die besondere Überraschung des Tages hielt Rian Onoro für Dean bereit, als er sie in ihrem Quartier auf der NOVA SOLARIS abholte.

Gleich nachdem der Major das Quartier der Frau betreten hatte, blieb er wie angewurzelt stehen und blickte sprachlos auf die junge Frau.

Rian Onoro stand in dem Kleid vor ihm, dass sie sich am Tag zuvor in einer Boutique in Erron besorgt hatte. Dabei schien sie auch bei einem Friseur hereingeschaut zu haben, der ihre etwas länger gewordenen Haare kunstvoll zu Cornrows geflochten hatte.

Das tiefschwarze, Kleid das im Kunstlicht seidig glänzte, wies bei genauem Hinsehen ein filigranes Schuppenmuster auf. Das Material bestand aus der Haut einer Seeschlangen-Art, die es nur auf dem Planet Bona-Dea gab, dem dritten Planeten des Praesepe-Systems, dessen Oberfläche zu 83 Prozent von Wasser bedeckt war.

Ursprünglich von hellem Grau, färbte sich die Haut dieser Tiere erst nach seinem Abstoßen tiefschwarz. Erst dann nahmen diese Häute auch jene weiche Konsistenz an, für die sie berühmt waren. Eine besondere Eigenschaft dieser Häute bildete die Tatsache, dass sie, egal welchen äußeren Umständen sie ausgesetzt wurden immer eine konstante Temperatur, von exakt 19,73 Grad Celsius, beibehielten.

Der tiefe V-Ausschnitt betonte den festen, athletischen Körper der Frau. An einer Seite war dieses Kleid raffiniert und hoch geschlitzt. Am Nackenhalter des Kleides erkannte Corvin azurblaue, gestickte Symbole.

Dazu passend hatte Rian einen glitzernden Lidschatten in derselben Farbe aufgelegt. Mit einem Make-Up-Sensorstift hatte sie innerhalb weniger Augenblicke den exakten Farbton der Symbole kopiert und durch ein simples, kurzes Auflegen der Spitze, ihre Zehen- und Fingernägel mit Glanzeffekt in derselben Farbe pigmentiert. Schon vor Jahrhunderten hatte diese Technik den bis dahin gebräuchlichen Nagellack ersetzt.

An den nackten Füßen trug Rian Riemchensandalen, die mit demselben Material überzogen waren, aus dem auch das Kleid gefertigt war.

Rian Onoro freute sich über die Reaktion des Majors und mit hinter den Kopf gelegten Händen drehte sie sich zweimal vor seinen Augen um ihre eigene Achse. Dabei erkundigte sie sich kokett: „Gefällt dir, was du siehst?“

Dean Corvins Reaktion fiel ähnlich aus, wie am Tag zuvor, als er Andrea in ihrem Brautkleid gesehen hatte. Es dauerte eine Weile, bis er begeistert sagen konnte: „Du siehst wunderschön aus, Rian. Mir fehlen die Worte um es besser zu beschreiben.“

Beinahe andächtig näherte sich Dean der jungen Frau, die innerhalb weniger Tage eine so unglaublich erscheinende Verwandlung erfahren hatte. Dicht vor Rian blieb er stehen, sah in ihre strahlenden Augen und nahm ihre Hände in seine. Er hob sie an und küsste ihre Fingerspitzen, bevor er leise raunte: „Neben dem Brautpaar wirst du an diesem Abend wohl die meisten Blicke auf dich ziehen. Ich bin sehr stolz darauf, dich an meiner Seite zu haben.“

Im nächsten Moment streckte Dean seine Arme aus und betrachtete Rian mit etwas Abstand. „Aber eine Kleinigkeit scheint da noch zu fehlen.“

Neugier spiegelte sich in den Augen der Frau, während sie ihr Gegenüber dabei beobachtete, wie er ein Kästchen aus der Jackentasche seiner Paradeuniform zutage förderte.

Corvin hielt es in ihre Richtung und öffnete es. Zum Vorschein kam eine Kette aus Weißgold mit einem ovalen Anhänger aus demselben Material. In den Anhänger war eine Symbol, bestehend aus poliertem Onyx, eingelassen. Das stilisierte Zeichen für einen Stier.

Lächelnd registrierte Corvin, dass ihm die kleine Überraschung gelungen war und dass sie offensichtlich sehr gut ankam. „Solche Anhänger mit den Sternzeichen zu tragen, unter denen man geboren wurde, ist zwar nicht ganz zeitgemäß, aber ich dachte mir, du würdest dich dennoch darüber freuen.“

Rian nickte mit glänzenden Augen und sie drehte sich auffordernd herum. „Die Kette ist toll. Leg sie mir bitte an, Dean.“

Der Mann kam ihrer Aufforderung nach, wobei seine Finger etwas zitterten, als er die Kette in ihrem Nacken schloss. Nachdem er es geschafft hatte, drehte er Rian an den Schultern sanft zu sich herum. „Jetzt ist alles perfekt.“

Rian ließ es nur zu gerne zu, dass Dean ihr einen Kuss auf die Wange hauchte, bevor er fragte: „Bist du bereit, mir bei der Hochzeit einer Freundin zur Seite zu stehen.“

Rian hakte sich bei Dean unter und legte ihre Hand auf sein Handgelenk. „So bereit, wie man nur sein kann, Dean.“

Gemeinsam verließen sie das Quartier der Frau und schritten gemeinsam durch die Gänge der NOVA SOLARIS, wobei einige Besatzungsmitglieder, die ihnen auf dem Weg zu einer der vorderen Schleusen entgegen kamen, respektvoll grüßten und, teils erstaunte, teils bewundernde, Blicke auf sie richteten.

Mit dem von Corvin bereits am Vormittag gemieteten Gleiter hielten sie auf eine Location abseits der eigentlichen Metropole Erron zu. Es handelte sich dabei um ein kleines Lokal abseits an einem kleinen See gelegen. Eine Kameradin von Andrea auf der SATURN, die auf Wega-IX geboren und aufgewachsen war, hatte ihre Beziehungen spielen lassen. So hatten sie dieses Lokal an diesem Nachmittag für sich.

Als sie auf dem Gleiterparkplatz, vor dem Lokal, hielten wartete Kimi Korkonnen, der sich in der Begleitung einer rothaarigen Frau befand, bereits ungeduldig auf sie.

„Ihr zwei kommt auf den letzten Drücker“, benutzte der Finne eine Redewendung, die er von seinem Freund Jayden kannte. Dabei warf auch er Rian einige bewundernde Blicke zu und meinte augenzwinkernd zu Rian gewandt: „Aber ich kann verstehen warum.“

Sie beeilten sich, die kleine Vorhalle zu betreten, in der sie auf Andrea trafen. Auch sie wirkte etwas ungeduldig. Zudem schien sie reichlich nervös zu sein darum übernahm es Kimi, Dean zu erklären: „Du wartest hier, zusammen mit Andrea, bis die Türen geöffnet werden. Erst dann geleitest du Andrea nach vorne zum Beamten des Bürgeramtes, bei dem Jayden und ich auf euch zwei warten werden. Ein ganz einfacher Kampfauftrag, Alter.“

Lachend begab sich der Finne, gemeinsam mit Rian und seiner Begleiterin in den angrenzenden Saal, in dem der Beamte schon sehr bald die Trauung vollziehen würde. Die Zeiten, in denen Raumschiff-Kommandanten dieses Privileg genossen hatten, waren bereits sein einigen Jahrhunderten vorbei.

Kimi und Dean waren am gestrigen Abend überein gekommen, dass Kimi die Ringe an die beiden Brautleute übergeben sollte, da er, Dean, ja bereits das Vorrecht genoss, die Braut dem Bräutigam zu übergeben.

Als sie allein waren in dem kleinen Vorraum sah Dean seine Kameradin an. Er spürte, dass sie in seinem Herzen immer mehr sein würde, als das und eine Spur von Bitterkeit erfüllte ihn. Um sich etwas von diesem Gefühl abzulenken deutete er auf die Kette an ihrem Hals, die aus fünf Schnüren funkelnder, blutroter Steine bestand.

„Ist die von Jayden?“

Andrea strahlte glücklich. „Ja, das ist sein Hochzeitsgeschenk.“ Dabei fuhren ihre Finger ganz leicht über die Kettenschnüre.

Passenderweise nannte man diese, nur auf Capella-IV vorkommenden, Kristalle Blut-Korund. Auf der Erde in reiner Form farblos wiesen diese Kristall in reiner Form eben jenen blutroten Farbton auf. Als Besonderheit dieser Kristalle konnte angesehen werden, dass die Facetten nach dem Schliff solcher Kristalle das einfallende und durchscheinende Licht mal mehr, mal weniger stark brachen, so dass ihr Inneres so erschien, als sei es eine Flüssigkeit, die in permanenter Bewegung zu sein schien.

„Die Kette passt perfekt zu dir“, meinte Dean sinnend. Er bot Andrea seinen Arm an, denn lange konnte es nun nicht mehr dauern, bis sich die breiten Türen wieder öffnen würden. Die Freundin von der Seite ansehend, rang er sich zu der Frage durch: „Du bist dir ganz sicher, dass du Jayden heute heiraten willst?“

Andrea sah den Freund an ihrer Seite fragend an. „Was soll denn das jetzt, Dean?“

„Es ist eine einfach Ja-oder-Nein-Frage.“

„Ja!“

Dean Corvin lächelte entschuldigend. „Für mich gehörte diese Frage zu meinen Pflichten, an diesem Tag. Bist du bereit?“

Mit Erleichterung in der Stimme gab Andrea zurück. „Ja, das bin ich.“

Fast in demselben Moment öffneten zwei der Anwesenden die Türen und Dean setzte sich, gemeinsam mit Andrea an seinem Arm, in Bewegung. Im Gleichschritt begaben sie sich durch die Gasse der etwa fünfzig Gäste nach vorne zur Fensterfront, wo der imperiale Beamte, Jayden und Kimi bereits auf sie warteten. Als sie die drei Männer erreichten bat der Beamte, zu Dean Corvin gewandt: „Bitte übergeben Sie die Braut nun dem Bräutigam.“

Mit einem dankbaren und gleichzeitig glücklichen Lächeln löste Andrea ihren Linken Arm von Dean und legte dafür ihren rechten Arm auf den von Jayden.

Gleichzeitig trat Dean symbolisch einen halben Schritt zurück, so dass er und Kimi nun flankierend etwas hinter dem Brautpaar standen. Bei einem kurzen Blickwechsel der Freunde deutete Kimi ein amüsiertes Nicken an und zwinkerte Dean belustigt zu, was wohl heißen sollte: Sehr gut gemacht. Im nächsten Moment sahen beide wieder nach vorne und achteten auf die Ansprache des Beamten. Dabei verschwammen Dean Corvins Gedanken zwischenzeitlich immer wieder. Besonders an den Stellen der Rede, an der von Gemeinsamkeit, Verantwortung und das zukünftige Füreinander die Rede war.

Der Kanadier gewann den Eindruck, aus einer Art Trance zu erwachen, als der Beamte sich Kimi zu wandte und ihn um die Ringe bat. Die entscheidende Phase der Zeremonie war herangekommen.

Kimi reichte den beiden Brautleuten die Ringe, die sie sich gegenseitig ansteckten. Danach drehten sich die Brautleute zueinander hin und Andrea legte ihre Hände in die ihres Bräutigams. Anders, als zu früherer Zeit, begann, seit mehr als zweihundert Jahren Standardzeitrechnung, die Braut mit ihrem Eheversprechen.

„Ich liebe dich, Jayden. Du bist mein bester Freund. Heute gebe ich mich dir mit unserer Hochzeit. Ich verspreche, dich zu ermutigen und zu inspirieren, mit dir zu lachen und dich zu trösten in Zeiten voll Sorge und Unsicherheiten. Ich verspreche, dich zu lieben, in guten wie in schlechten Zeiten, wenn das Leben leicht scheint und vor allem wenn es schwer scheint, wenn unsere Liebe einfach ist und wenn sie eine Herausforderung ist. Ich verspreche, dich zu ehren und dich immer zu respektieren. Diese Dinge verspreche ich dir heute und für alle Tage unseres Lebens.“

Als sie verstummte schimmerten sowohl ihre, wie auch Jaydens Augen gleichermaßen feucht. Jayden räusperte sich unterdrückt und begann dann mit seinem Versprechen.

„Von heute an verspreche ich Dir diese Dinge: Ich werde mit dir lachen in Zeiten der Freude und dir Trost spenden in Zeiten der Sorge. Ich werd deine Träume teilen und dich unterstützen, deine Ziele zu erreichen. Ich werde dir mit Begeisterung und Verständnis zuhören und dir aufbauende Worte sagen. Ich werde dir helfen, wenn du Hilfe benötigst und dir deinen Freiraum lassen, wenn du ihn brauchst. Ich werde dir in guten und in schlechten Zeiten vertrauen, in Zeiten von Krankheit und Gesundheit. Ich werde dich immer respektieren und lieben. Denn du bist auch mein bester Freund.“

Der schon etwas ältere Beamte legte beiden Brautleuten, in fast väterlicher Geste, seine Hände auf die Schultern und sagte feierlich vor den Anwesenden jenen Jahrtausende alten Segensspruch auf, mit dem die Trauung als besiegelt galt, zu dem jungen Paar:
 

Ab heute werdet ihr keinen Regen mehr spüren,

denn ihr beide seid einander Schutz und Zuflucht.

Ab heute werdet ihr keine Kälte mehr spüren,

denn ihr gebt einander Wärme und Geborgenheit.

Ab heute werdet ihr keine Einsamkeit mehr spüren,

denn ihr werdet einander Kameraden sein.

Ihr seid zwei Personen,

doch ihr werdet ein Leben miteinander teilen.

Lebt sie gut, die Tage eures Zusammenseins.

Möget ihr ein langes und erfülltes Leben miteinander führen.
 

Wie viele heiratende Paare vor ihnen folgten auch Jayden und Andrea der seit einem halben Jahrtausend nicht mehr angewandten Aufforderung einander zu küssen. Wofür ihnen der Applaus der Anwesenden sicher war. Nach einer Zeitspanne, die gesellschaftlich gerade noch als anständig angesehen wurde, trennten sich beide voneinander und wandten sich pflichtschuldig ihren Trauzeugen zu, die als erste Gäste gratulierten.

Nachdem Dean Andrea sacht an sich gedrückt und auf die Wange geküsst hatte, wechselte er Kimi dabei ab, Jayden zu umarmen und ihm herzlich auf die Schulter zu klopfen. Dabei sagte er: „Meinen aufrichtigen Glückwunsch, mein Freund. Ich hoffe, dir ist klar, was für ein besonderes Glück du hast.“

Jayden erwiderte den Druck des Freundes und sagte gerührt: „Im Gegenzug hoffe ich, das du weißt, wieviel mir und Andrea bedeutet, dass du heute für uns da warst.“

Corvin löste sich von dem Freund. „Das weiß ich, Jayden.“

Der Kanadier wurde abgelenkt, als Kimi kameradschaftlich eine Hand auf seine Schulter legte und sie fest drückte. Leise sagte der Finne zu ihm: „Ich bin sehr stolz auf dich, mein Freund. Das hast du großartig gemacht.“

Dean lachte, obwohl im im Moment irgendwie nicht danach zumute war. „Hattest du vielleicht etwas anderes erwartet?“

Der Finne blieb die Antwort schuldig, doch sein Blick sagte Corvin alles. Er drückte nochmal kräftig die Schulter des Freundes und wandte sich dann kurz zur Seite. „Bei der Gelegenheit, Dean, möchte ich dir meine Kameradin von der VESTERGAARD vorstellen. Dies ist Leutnant Renée Aeryn Killkennen. Leutnant Killkennen: Dies ist mein bester Freund, Major Dean Everett Corvin.“

Corvin reichte der rothaarigen Frau seine Hand und sagte freundlich: „Sehr angenehm, Leutnant Killkennen.“

Die Frau erwiderte das Kompliment und noch bevor Dean wieder das Wort an sie richten konnte meinte Kimi entschieden: „Und nein, du wirst sie nicht zum Tanz auffordern.“

Damit reichte der Finne Renée Killkennen seinen Arm und führte sie in Richtung des Buffets mit sich, das soeben von Angestellten des Lokals aufgebaut wurde. Dabei meinte er schmunzelnd zu seiner Begleiterin: „Ich erkläre Ihnen das später, Leutnant.“

Die Miene von Dean Corvin, der Kimi und seiner Kameradin etwas verständnislos hinterher sah, heiterte sich auf, als er Rian erkannte, die nach ihrer Gratulation an das Brautpaar, zu ihm kam und sich bei ihm unterhakte.

„Das war eine sehr schöne und anrührende Zeremonie“, meinte Rian. „Und das glückliche Brautpaar ist wirklich ein toller Anblick. Besonders das Hochzeitskleid ist ein Traum. Daran kann ich mich gar nicht sattsehen.“

Mit einem gewissen Stolz in der Stimme erwiderte Corvin. „Das habe ich für sie ausgesucht. Andrea konnte sich gestern gar nicht entscheiden.“

Erneut einen schnellen Blick zu der Braut werfend legte Rian eine Hand auf Deans Brust und versicherte ihm: „Das wird deine Freundin dir nie vergessen, Dean. Du hast eine perfekte Wahl für sie getroffen, denn dieses Kleid lässt sie fast wie eine Göttin aussehen.“

„Du ziehst mindestens ebenso die Blicke der Gäste auf dich, wie sie“, behauptete der Kanadier im Gegenzug. Du siehst wunderschön aus. Tanzt du mit mir?“

Sie sahen hinüber zu der Tanzfläche wo das Brautpaar in diesem Moment den ersten Tanz eröffnete. Mit freudiger Miene gab Rian zurück. „Was für eine Frage, Herr Major. Darauf warte ich immerhin seit fast drei Jahren.“
 

* * *
 

Kimi Korkonnen, der Renée und sich selbst etwas zu trinken besorgt hatte, deutete mit einem Kopfnicken zur Tanzfläche hinüber und sagte grinsend: „Und schon geht es los. Sie müssen wissen, Leutnant, dass Dean leidenschaftlich gerne tanzt. Wenn der Sie auffordert, dann brauchen Sie sich für die nächsten paar Stunden nichts weiter vorzunehmen.“

„Stunden?“, echote die rothaarige Frau ungläubig.

Der Finne lachte leise. „Wenn es ums Tanzen geht, dann gibt es für meinen besten Freund kein Halten mehr. Das war früher schon so.“

„Was ist denn mit Ihnen, Hauptmann?“

Kimi sah die Frau fragend an. „War das eine Aufforderung, Leutnant?“

Die Irin lächelte verlegen. „Nun ja, es muss nicht gleich Stunden dauern, aber den ein oder anderen Tanz mit Ihnen würde ich schon gerne wagen, Sir.“

„Dagegen ist nicht das Geringste einzuwenden“, gab der Hauptmann seine Zustimmung. Er nahm Renée das annähernd leere Glas aus der Hand und stellte es zusammen mit seinem eigenen auf einem der Tische ab. Dann sah er die Frau auffordernd an und bot ihr seinen Arm. „Wenn Sie gestatten, Leutnant?“

Mit zufriedener Miene legte Renée Killkennen ihre linke Hand auf seinen Arm und ließ sich zur Tanzfläche führen. Dort legte Kimi seinen rechten Arm um die schlanke Hüfte der Frau und nahm ihre Rechte in die andere Hand.

Renée Killkennen, die sich ob der Körpergröße ihres Begleiters für die Kostüm-Variante der Parade-Uniform entschieden hatte, da zu dieser hochhackige Schuhe gehörten, ließ sich von ihrem Tanzpartner führen und meinte nach den ersten beiden Tänzen, mit Blick zu Corvin und seiner Begleiterin: „Die beiden tanzen wirklich sehr gut.“

Kimi, der zwischen ihren Körpern hindurch kurz zum Tanzboden peilte, lächelte schwach. „Ich wollte, ich könnte das von uns beiden auch behaupten.“

Etwas irritiert sah die Irin zu Kimi auf. „Das verstehe ich jetzt nicht. Was stimmt denn an unserem Tanz nicht?“

Ironisch gab der Finne zurück: „Sie halten mich zu fest, Leutnant. Man könnte sogar behaupten, Sie erdrücken mich förmlich.“

Etwas ratlos sah sie von sich zu Kimi und ihr fiel der Sicherheitsabstand auf, den sie bisher respektvoll eingehalten hatte.

Im nächsten Moment wurde ihr bewusst, wie er seine Worte gemeint hatte und mit einem grimmig entschlossenen Lächeln trat sie ganz nahe an den Mann heran, was ihr nicht gerade unangenehm war. Den nächsten Tanz eng an den Hauptmann geschmiegt beginnend, fragte sie von unten herauf blickend: „Besser?“

Das Gesicht des Finnen wirkte ungeheuer zufrieden. „Viel besser.“

Nach einem weiteren Tanz verließen sie die Tanzfläche und Kimi deutete auf Dean und Rian. „Was habe ich Ihnen prophezeit?“

Renée Killkennen schmunzelte offen. „Ihr Freund findet wirklich kein Ende. Da braucht seine Begleitung aber eine Menge Ausdauer.“

„Die wünsche ich ihr“, stimmte Kimi zu. Etwas leiser erklärte er: „Wissen Sie, mein Freund hatte bisher ziemliches Pech mit den Damen und ich hoffe, dass ihn diese junge Frau vielleicht wieder in die richtige Spur bringt. Aber diese Geschichte ist zu lang. Vielleicht können wir später einmal darüber reden.“

„Und was ist mit Ihnen, Sir?“

Kimi machte eine wiegende Geste mit der Hand. „Auch kein Ruhmesblatt, möchte ich behaupten. Vielleicht liegt das am Dienst in der Flotte.“

„Alles nur Ausreden, Sir.“

Etwas unwillig musterte Korkonnen seine Begleiterin. „Sie gehören anscheinend auch zu jener Art von Jung-Offizieren, die der Meinung ist, vorgesetzten Offizieren alles sagen zu dürfen, solange man nur ein Sir am Ende anfügt?“

„Immerhin sind wir gerade nicht im Dienst… Sir!“, konterte Renée etwas gereizt, wegen der vorangegangenen Worte des Finnen, und wandte sich leicht zur Seite.

Kimi, der seine Worte nicht so ernst gemeint hatte, wie sie offensichtlich bei Renée angekommen waren, seufzte schwach. „Was halten Sie dann davon, wenn wir draußen etwas spazieren gehen und sie mir dabei erklären, wie Sie ihre Worte eben gemeint haben?“

Überlegend sah Renée Killkennen zu dem blonden Mann an ihrer Seite und zeigte sich schließlich einverstanden, indem sie sich bei ihm unterhakte und ihn auffordernd ansah.

Mit einem etwas seltsamen Gefühl in der Magengrube deutete Kimi auf eine der großen Glastüren, die hinaus auf die umlaufenden Arkaden führte, und setzte sich mit seiner Begleiterin in Bewegung.
 

* * *
 

Im Innern des Lokals verließen Dean und Rian erst nach fast zwei Stunden in denen sie ununterbrochen getanzt hatten, die Tanzfläche und begaben sich gemeinsam zum Buffet. Nach einer kleinen Stärkung schritten sie, mit einem Glas Wein in den Händen, zum frisch verheirateten Paar und Dean stellte Rian nun endlich Jayden und Andrea offiziell vor.

Die Vier sprachen eine ganze Weile miteinander, bevor Andrea ihrem Mann unauffällig ein Zeichen gab und dieser Rian zum Tanz aufforderte.

Andrea wartete, bis beide außer Hörweite waren, bevor sie Dean mit sich zog. Sie benutzten einen Ausgang nach draußen, der dem gegenüber lag, den Kimi und Renée vor einigen Stunden benutzt hatten.

Draußen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Nachdem Andrea mit Dean ein paar Schritte gegangen war, kam sie darauf zu sprechen, was sie im Moment bewegte. „Deine Begleiterin gefällt mir, Dean. Sie scheint wirklich sehr nett zu sein. Wenn man sie so sieht, dann glaubt man kaum, dass sie sich so lange in der Gefangenschaft der Konföderation Deneb befunden hat.“

Sie blieben an einer der Säulen stehen und Dean lehnte sich an die steinerne Brüstung dieses, schon offensichtlich älteren, Gemäuers. Dabei nahm er das Abbild der Freundin in sich auf und sagte endlich. „Du hast Recht, Andrea. Ich bekomme dieses Bild nicht aus dem Kopf. Wie hilflos und verloren sie aussah, als ich sie befreit habe. Ich weiß, dass es nicht meine Schuld gewesen ist, sie auf Luna zurücklassen zu müssen. Doch ich fühle mich immer noch dafür verantwortlich.“

„Nach dem, was du mir in den letzten Tagen erzählt hast, gab es keine Alternative“, beruhigte Andrea den Freund. „Wenn es eine gegeben hätte, dann hättest du sie auch ergriffen, so weit kenne ich dich.“

Der Kanadier atmete tief durch. „Danke.“

„Aber deine Gefühle für sie entspringen nicht dieser Verpflichtung heraus und auch nicht Mitleid, oder etwa doch?“

„Nein“, gab Corvin zurück, ohne überlegen zu müssen. „Was ich für Rian empfinde, das war irgendwie von Beginn an da. Selbst in jenem Moment, unmittelbar nach dem Abschuss der KIROV, als sie mich, wenig sensibel, so unmittelbar nach dem Tod einer guten Kameradin, etwas harsch zur Eile mahnte.“

Andrea kam etwas näher zu Dean heran. Ihm tief in die Augen sehend riet sie: „Dann halte sie gut fest, mein Freund. Denn man merkt, wenn man euch zwei zusammen sieht, dass da etwas zwischen euch ist. Eine fast körperlich spürbare Verbundenheit. Ihr zwei seid ein wirklich tolles Paar, wenn ich das sagen darf.“

Bei den Worten der Freundin spürte Dean Corvin, zu seiner gelinden Verwunderung so etwas wie Erleichterung. Diese Bestätigung, ausgerechnet von Andrea, löste die innere Verkrampfung, die er bisher den gesamten Tag über verspürt hatte. Ein überwältigendes Gefühl ungeheurer Erleichterung erfüllte ihn mit einem Mal und erst jetzt wurde ihm plötzlich klar, dass er Andrea innerlich endlich loslassen konnte.

Für einen Moment lang vollkommen von diesen Gefühlen übermannt wandte er sich ab, lehnte sich mit den Händen auf die Balustrade und sah in die umliegende Landschaft hinaus. Er bemerkte, dass sich Andrea zu ihm begab und riss sich wieder zusammen.

Leise sagte er: „Ich bin sehr froh, dass wir die Freunde sind, die wir sein sollten. Was ich heute für dich tun durfte, das bedeutet mir ungeheuer viel, Andrea.

Dean spürte die Hand der Freundin auf seiner Schulter und immer noch in die anbrechende Nacht hinaus sehend lachte er leise. „Weißt du, was ich zu Kimi sagte, bevor wir zwei uns das erste Mal unterhalten hatten? Ich sagte zu ihm, du wärst vermutlich eine hochnäsige und sehr eingebildete Person. Die Baroness Andrea von Garding, die auf die lange Militärtradition ihrer Familie stolz ist – innerlich kalt wie Eis. Bei Rian habe ich ähnlich daneben gelegen. Ich hielt sie anfangs für eine ungehobelte und unsensible Person.“

„Du lernst es noch“, spöttelte Andrea. „Spätestens wenn du so etwa siebzig oder achtzig Jahre alt geworden bist.“

Der Kanadier gab ein Knurren von sich. „Glaubst du wirklich, dass ich so alt werden kann, als Soldat in Kriegszeiten?“

„Nur wenn dich eine Frau an deiner Seite, mit etwas Vernunft, von künftigen Himmelfahrt-Kommandos abhalten kann“, erwiderte die Frau trocken. Sie fröstelte etwas. „Komm, lass uns wieder hinein gehen, bevor mein Mann mich vermisst und einen Rettungstrupp losschickt um mich zu finden.“
 

* * *
 

Karambalos Papadopoulos, der als einer der Wenigen in Zivil erschienenen Gäste etwas auffiel in dieser Runde, stand etwas Abseits und sagte in diesem Moment zu seiner Begleiterin, Irina Hayes: „Ich möchte mich nochmals herzlich bei Ihnen für die Einladung bedanken. Dabei wäre es um ein Haar Zack-Wumm gegangen, als ich dem Major auf dem Mars zum ersten Mal begegnet bin.

Irina Hayes blickte den Hünen verständnislos an und er beeilte sich davon zu berichten, was sich auf dem Mars beinahe, durch ein Missverständnis ereignet hätte.

Irina Hayes lachte hinter vorgehaltener Hand und fragte erheitert: „Sie wollten dem Major wirklich eine Abreibung verpassen?“

„Woher hätte ich denn wissen sollen, dass Rian den Major nur deshalb so schlecht hat aussehen lassen, um die von der Konföderation zu überlisten?“ Der Grieche zupfte zum wiederholten Mal an seinem Hemdkragen und grummelte dabei: „Eine Uniform wäre mir jetzt viel lieber.“

„Kriegen Sie ja bald wieder“, besänftigte Irina den Mann. „Waren Sie auf dem Mars stationiert, als der Überfall stattfand? Ich frage nur, weil ich dort geboren wurde und Sie mir vielleicht etwas dazu sagen könnten, wie es dort in Hinsicht auf zivile Opfer aussieht.“

Der Schwarzhaarige machte mit seinen großen Händen eine bedauernde Geste. „Nein, ich war in einem Werftkomplex auf Luna tätig. Nicht diese hoch geheime Anlage, in der Rian ihren Dienst verrichtet hat, sondern einer der bekannten Komplexe. Dort wurden Flotteneinheiten aufgerüstet und umgerüstet. Darum muss ich auch dringend mit dem Major sprechen, sobald wir auf Farradeen gelandet sind. Aber das sagte ich Ihnen bereits.“

„Und Sie wollen mir immer noch nicht sagen, worum genau es sich handelt?“

Karambalos Papadopoulos verneinte entschieden. „Diese Information möchte ich vorerst nicht zu breit streuen. Sicher ist sicher.“

Irina Hayes gefiel es nicht, was der Mann damit eventuell andeuten wollte. Aber sie nahm sich zusammen und erwiderte kühl: „Ganz wie sie meinen, Herr Papadopoulos.“

Entschlossen das Thema wechselnd, erkundigte sich Papadopoulos neugierig: „Wo der Major mit der Braut wohl abgeblieben ist? Die zwei sind schon ziemlich lange weg.“

„Soweit ich weiß, sind beide sehr gut und lange befreundet“, erwiderte Hayes. „Dasselbe gilt für ihn und den Bräutigam. Der Major wird also wohl kaum mit ihr durchbrennen, wenn Sie das vermuten.“

Der Hochgewachsene lächelte breit. „Dann würde es hier vermutlich auch sehr bald Zack-Wumm gehen. Obwohl ich den Major durchaus verstehen könnte, denn die Braut ist wirklich außergewöhnlich hübsch.“

„Und wie man weiß fast ebenso explosiv, wie Rian Onoro“, gab Irina Hayes schmunzelnd zurück. „Also lassen Sie sich besser nicht von ihrem Aussehen täuschen.“

„Hu“, machte Karambalos. „Solche Frauen sind mit Vorsicht zu genießen. Der Major scheint aber genau auf diesen Typ zu stehen, denn mit Rian scheint er sich sehr gut zu verstehen. Ich glaube, sie ist mächtig in den Major verliebt.“

Irina Hayes nickte zustimmend. „Ich glaube das beruht auf Gegenseitigkeit.“

Sie sahen dem bunten Treiben eine Weile zu, bevor sich der Schwarzhaarige räusperte und fragte: „Würden Sie mit mir tanzen, Hauptmann? Aber ich warne Sie vor, bei meiner Schuhgröße 53 sollten Sie besser gut auf Ihre Füße achten.“

Die Frau lachte amüsiert und reichte ihm ihre Hand. „Da habe ich schon ganz andere Gefechte überlebt, in der letzten Zeit.“

Nach einigen Tänzen, bei denen die Füße der Frau, wider erwarten, nicht hatten leiden müssen, begaben sich Irina Hayes und Karambalos Papadopoulos zu Jayden Kerr und Rian Onoro, zu denen sich vor wenigen Augenblicken auch die Braut und Dean wieder hinzugesellt hatten.

Dean machte Jayden und Andrea mit seinem Ersten Offizier und dem Griechen bekannt. Als sich Rian Onoro dabei wieder bei Corvin einhakte, schmunzelte der Bräutigam und meinte vielsagend, mit einem flinken Blick zu den beiden, in die Runde: „Wau-wau, wieherte die Nachtigall.“

Verständnislose Blicke schlugen dem Jamaikaner entgegen und er klärte auf: „Sie müssen wissen, dass ich seit meiner Akademiezeit historische Studien betreibe. Dieses alte Sprichwort sollte in früherer Zeit ausdrücken, dass der Betreffende einen bestimmten Verdacht, oder eine bestimmte Vermutung, hegte.“

„Aha“, machte Rian Onoro, während Irina, die auf dem Mars aufgewachsen war, nachhakte: „Aber was, bei Phobos und Deimos, ist eine Nachtigall?“

„Ein mächtiger, prähistorischer Flugsaurier - mein Wort drauf“, führte der Jamaikaner großartig aus, gegenwärtig voll und ganz in seinem Element.

Während sich Andrea und Dean bezeichnende Blicke zuwarfen, sagte Karambalos begeistert zu Jayden Kerr: „Sie sind ein Könner, wie es scheint.“

Andrea beherrschte geradezu meisterhaft, während Dean verdächtig zu husten begann. Als sich der Kanadier wieder beruhigte, ächzte er: „Sie haben ja keine Ahnung.“

Die Braut drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und wechselte galant das Thema, bevor eventuell Dinge ans Licht gebracht werden konnten, die Jayden hätten peinlich sein müssen. Immerhin wusste Dean, wie weit her es tatsächlich mit der historischen Exaktheit seiner sogenannten Studien her war. Dabei sah sie sich suchend in der Menge nach Kimi um und fragte sich insgeheim, wo der Freund stecken mochte.
 

* * *
 

Auf der Anderen Seite des Lokals hatten sich Kimi Korkonnen und Renée Killkennen in den letzten Stunden angeregt unterhalten, ohne dabei zu merken, wie lange sie bereits hier draußen zwischen zwei Säulen der Arkaden weilten. Zunächst war diese Unterhaltung zwischen ihnen ziemlich hitzig verlaufen, da Renée ihrem Vorgesetzten vorgeworfen hatte, den Kopf in den Sand zu stecken, nur weil er eine persönliche Niederlage erlitten hatte. Erst nach und nach hatten sie es beide geschafft, ihre Diskussion in friedlichere Bahnen zu lenken, an deren Ende sie sich beide entschuldigt hatten, für ihre Unbeherrschtheit.

Dabei hatte es Kimi im Nachhinein etwas verwundert, dass er zwischenzeitlich selbst ziemlich emotional geworden war, denn das war sonst gar nicht seine Art.

Letzteres hatte wohl auch Renée nicht auf der Rechnung gehabt.

Inzwischen war es hier draußen fast vollkommen finster geworden. Sich ähnlich auf die Balustrade stützend, wie sein bester Freund auf der anderen Seite des Lokals, sah der Finne, an den Bäumen eines angrenzenden Waldstücks vorbei, auf den See hinaus.

Renée, die dicht neben ihm stand folgte seinem Blick. Für eine Weile standen sie so, still im Schatten einer der Säulen.

Renée Killkennen wollte bereits etwas sagen, um das momentane Schweigen zu durchbrechen, als sie hinter sich leise Männerstimmen hörten und Schritte auf dem Steinboden vernahmen. Gleichermaßen reglos blieben Kimi und Renée im Schatten stehen und sahen interessiert über die Schulter hinweg den beiden Männern zu. Kimi vermutete, dass es sich bei diesen beiden Männern um Kameraden des Brautpaares handelte, die mit ihnen auf der SATURN dienten.

Die beiden Männer schienen sie nicht zu bemerken. Offensichtlich waren sie sehr mit sich selbst beschäftigt, wofür nicht zuletzt die Tatsache sprach, dass sie Hand in Hand gingen. Nur zwei Säulen weiter setzte sich der höher gewachsene der beiden schlanken Männer halb auf die Balustrade, mit dem Rücken gegen die Säule gelehnt. Sein Begleiter, der einen Dreitagebart trug, trat dicht zu ihm heran und legte eine Hand auf die Hüfte seines Gegenübers. Die andere legte er vertraulich auf dessen Brust.

Die beiden Männer unterhielten sich so leise miteinander, dass weder Kimi, noch Renée etwas von der Unterhaltung verstehen konnten. Sie selbst wandten sich wieder einander zu und Kimi fragte, mit leiser Stimme, um die beiden Neuankömmlinge nicht zu erschrecken: „Sie glauben also wirklich, dass es besser für mich wäre, wenn ich konsequent mit meiner ehemaligen Beziehung zu Miriam abschließe, statt noch einmal einen Versuch zu machen mit ihr darüber zu reden?“

„Was, glauben Sie, würde sich denn dadurch ändern?“, kam die ebenso leise Gegenfrage der Irin. „Sagt Ihnen denn Ihr Gefühl nichts anderes, Sir?“

Ein leises Seufzen war die Antwort des Finnen. Gefolgt davon, dass er meinte: „Dieses Sir geht mir jetzt wirklich auf die Nerven. Ich schlage vor, dass wir dieses verdammte Sir zukünftig sein lassen, wenn wir, so wie jetzt, unter uns sind. Nennen Sie mich außerhalb des Dienstes bitte zukünftig Kimi, sofern Sie keine Einwände haben heißt das.“

„Nur wenn Sie mich nicht länger mit Leutnant Killkennen anreden, sondern Renée sagen, Kimi. Denn das nervt mindestens ebenso sehr.“

„Nicht Renée Aeryn“, erkundigte sich der Finne, froh darüber, dass sie sein Schmunzeln nur erahnen konnte. Er wusste, dass sie ihren Zweitnamen nicht mochte.

„Wollen Sie etwa, dass ich so laut und schrill anfange zu schreien, dass sämtliche Glasscheiben dieses Lokals zu Bruch gehen?“

Kimi Korkonnen lachte lautlos. „Dann wohl besser nicht, Renée. Aber um es nicht unerwähnt zu lassen: Ich mag Ihren Zweitnamen. Darf ich Sie fragen, was er bedeutet?“

„Einfach: Tochter Irlands. In früherer Zeit hatte er wohl eine größere Bedeutung, aber ich kann damit nicht sehr viel anfangen. Ich bin Terranerin.“

Eine kleine Pause entstand in denen ihnen beiden auffiel, dass es etwas weiter recht still geworden war. Neugierig sahen beide Offiziere zu den beiden Männern hinüber.

Die beiden Schemen schienen miteinander verschmolzen zu sein und erst nach einer Weile realisierten Korkonnen und seine Begleiterin, dass die beiden Männer sich eng umarmt hielten und dabei innig küsste. Alles um sich herum hatten sie anscheinend vergessen.

Flüsternd meinte Renée Killkennen zu Kimi. „Wenigstens haben die beiden keine Probleme damit, zu ihren Gefühlen zu stehen und sie herauszulassen.“

„Ah“, machte Kimi, ebenso leise. „Darum dreht es sich also. Wollen Sie vielleicht auch etwas heraus lassen, Renée.“

„Schon seit Stunden“, fauchte die Frau, wieder etwas giftiger werdend, zurück. „Aber mein Gesprächspartner ist leider etwas schwer von Begriff, müssen Sie wissen.“

Wieder folgte eine Pause, bevor Kimi erwiderte. „Es liegt nicht am Begreifen, Renée. Es für mich nur nicht so einfach, mal eben meine allererste Beziehung hinter mir zu lassen um gleich etwas Neues zu beginnen.“

Renée Killkennen sog bei seinen Worten hörbar die Luft ein. „Miriam war ihre erste Beziehung? Aber… Ich dachte Sie sind… Nun, was ich wirklich meine ist...“

„Psst: Das Wort, nach dem Sie suchen lautet: Spätzünder.“

Renée Killkennen spürte, dass sie bis über beide Ohren errötete und sie war heilfroh darüber, dass es viel zu dunkel war, um es sehen zu können. „Entschuldigen Sie, Kimi, aber das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Sie sind ein Frauen-Typ und da hatte ich angenommen, dass Sie… Nun ja...“

„Schon klar“, gab der Finne erheitert zurück. Nach einer Weile fragte er etwas ungläubig: „Finden Sie wirklich, dass ich ein Frauen-Typ bin?“

„Irgendwie schon.“

Wieder entstand eine Pause, in der sie beide zu den beiden Männern blickten, die sich nicht hatten unterbrechen lassen. Noch immer tauschten sie sanft Zärtlichkeiten aus.

Als sie sich wieder in die Augen sahen, erklärte Kimi: „Ich mag Sie, Renée. Sehr sogar, denn sonst hätte ich Sie nicht darum gebeten, mich heute zu begleiten. Und wenn Sie etwas Geduld mit mir haben, dann würde ich gerne herausfinden, was es ist. Aber im Moment sperrt sich da noch etwas in mir.“

Renée fasste sich ein Herz und ergriff in der Dunkelheit seine Hände. Dabei wertete sie es als ein gutes Zeichen, dass er sie ihr nicht entzog. „Dann werde ich darauf warten, dass Sie einen Schritt auf mich zu machen, wenn sich das ändert.“

Die Irin trat näher an Kimi heran und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie seine Hände zögerlich los ließ. Zu ihrem gelinden Erstaunen spürte sie, wie er ihre linke Hand in seine nahm.

„Kommen Sie, Renée. Lassen wir die beiden Verliebten jetzt besser allein.“

„Ja“, erwiderte die Frau und folgte dem Finnen langsam in Richtung des nächsten Eingangs zum Festraum.
 

* * *
 

Das Hochzeitsfest zog sich bis zum frühen Morgen hin, und immer noch hervorragender Stimmung und zu allem bereit, verabschiedete sich Dean Corvin, zusammen mit Rian, als einer der Letzten von dem Brautpaar.

Nach unzähligen Glückwünschen und Umarmungen saßen sie schließlich in dem Mietgleiter, in dem sie zur Feier gekommen waren und ließen sich von der automatischen Steuerung zurückbringen, nach Erron.

Zunächst hatte Dean Corvin den Raumhafen als Ziel angegeben, doch Rian Onoro hatte den Zielort geändert und eine Adresse in Erron selbst angegeben.

„Wohin bringst du mich denn“, fragte Dean die Frau an seiner Seite. Dann wechselte er das Thema und meinte beschwingt: „Seltsam, ich fühle mich noch vollkommen fit, obwohl wir beide bestimmt einen neuen Rekord im Dauertanzen aufgestellt haben.“

„Spätestens morgen werden wir das in allen Knochen spüren“, spottete Rian gutmütig. „Schämst du dich eigentlich gar nicht, mich gleich wieder so sehr zu belasten, nach all dem, was mir in den letzten Monaten widerfuhr?“

Beinahe erschrocken sah Corvin die Frau an, bis er ihr amüsiertes Grinsen bemerkte. „Du bist erwachsen und weißt ganz genau, was du willst und was nicht, würde ich sagen. Darum vermute ich mal, es hat dir gefallen mit mir zu tanzen.“

„Das hat es“, flüsterte Rian verführerisch. „Was mir aber noch mehr gefällt ist, dass von den zehntausend Credits noch genug übrig blieb, um eine Suite in einem der besseren Hotels von Erron zu mieten, wo wir den angebrochenen Abend ausklingen lassen können. Als kleiner Tipp: Das Bad besteht aus Marmor und besitzt ein großes Bassin zum Entspannen.“

Von einem Moment auf den anderen war Dean Corvin endgültig wieder munter und sah Rian ernst an. „Du bist dir ganz sicher, das du das willst?“

„Ja. Was ist mit dir?“

Ein befreites und glückliches Lächeln war die Antwort. „Ja, ich möchte dasselbe, wie du, Rian. Besonders nach diesem tollen Tag, mit dir.“

Rian schmiegte sich an ihn. Dabei meinte sie: „Seit deinem Gespräch mit Andrea, vorhin, da bist du irgendwie verändert. Vorher hast du so grüblerisch und unentschlossen gewirkt und jetzt scheinst du mir irgendwie sicher und befreit zu sein. Das gefällt mir. Deine Freundin hat einen sehr guten Einfluss auf dich.“

„Ja, das hat sie“, bestätigte Dean. „Und sie hat mir etwas sehr Wichtiges klargemacht, als wir uns vorhin unterhielten. Sie meinte auch, dass ich dich gut festhalten soll.“

„Ich mag deine Freundin immer besser leiden.“

Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht, und Dean Corvin war froh, als er endlich mit Rian die Suite betreten hatte. Schnell betätigte er die Verriegelung des Schotts. Das Licht blieb deaktiviert. Sacht zog Dean seine Begleiterin in seine Arme und küsste sie, lang und ausdauernd. Als sie sich etwas außer Atem trennten lachte der Kanadier leise. „Das wollte ich schon den gesamten Tag über machen, doch es schickt sich nicht für einen Offizier, auf einer Hochzeit wild mit seiner Freundin herum zu machen.“

„Leider“, stimmte Rian belustigt zu. „Aber jetzt komm.“

Die Frau zog Dean mit sich zum riesigen Badezimmer. Sie programmierte die Automatik, ein Bad einzulassen, gab die gewünschte Temperatur an und begab sich danach zu Dean, der das Licht im Bad auf einen sehr geringen Wert gedämpft hatte.

Rians Finger bewegten sich langsam zu den Magnetverschlüssen von Dean Corvins Uniformjacke. Sehr langsam und bedächtig öffnete sie einen nach dem anderen und schälte ihn aus der Jacke heraus. Das Hemd darunter folgte und ihre Hände glitten über den nackten Oberkörper des Mannes; spürten das Spiel der festen Muskeln darunter.

Dean seinerseits blieb nicht untätig. Er ließ seine Fingerspitzen über den schlanken Hals der Frau wandern bevor er den Verschluss am Nackenhalter ihres Kleides öffnete und den fließenden Stoff des Kleides über ihre elastischen Brüste hinabgleiten ließ.

Als die festen Spitzen ihrer Brüste den Oberkörper des Mannes in ihren Armen berührten gab Rian ein leises Seufzen von sich. Im nächsten Moment schmiegte sie sich enger an ihn und ihre Finger strichen so sanft über seinen Rücken, wie die seinen über ihren. Als seine Fingerspitzen sich sanft von ihren Hüften an aufwärts bewegten spürte sie das leichte Spannen der Haut an den Seiten ihrer Brüste und ein wohliger Schauer rieselte immer stärker werdend durch ihren Körper.

Sie selbst lenkte ihre Hände an seinem Körper hinunter, fand die Verschlüsse seiner Uniformhose und öffnete sie mit einem leisen Gurren.

Dean schlüpfte schnell aus Schuhen und Socken und unterstützte Rian dabei ihm die Hase auszuziehen, bevor er selbst Rian das Kleid vollständig über die Hüften streifte. Der kostbare Spitzenslip folgte gleich darauf.

Nachdem Rian auch Dean vollständig entkleidet hatte, nahm sie ihn mit einem verschmitzten Lächeln bei den Händen und zog ihn hinter sich her zu dem großen Becken, in dem das Wasser mittlerweile eingelassen war. Ohne Dean aus den Augen zu lassen stieg sie rückwärts in das Becken und küsste ihn erneut. Eng umschlungen sanken sie hinab in das warme Wasser wo sich Rian planschend auf Dean legte und sein Gesicht mit einer Flut von Küssen eindeckte. Erst nach einer ganzen Weile begann sie damit, sich mit den diversen Gels zu beschäftigen und seifte Dean schließlich übermütig damit ein. Dabei lachte sie und meinte: „Heute kann ich mich bei dir für deine Hilfe, unter der Dusche, revanchieren.“

Dean rieb sich prustend Schaum aus den Augen und erwiderte: „Ich finde, du übertreibst es etwas.“

Beide seiften sich vergnügt ein und aus der ersten Wasserschlacht, die sich daraus entwickelte wurde ein immer sanfteres, gegenseitiges Liebkosen wobei sich ihre Lippen immer wieder zu kurzen, heftigen Küssen fanden.

Fast eine ganze Stunde verbrachten sie im Bad, bis sie es beide nicht länger aushielten. Sie verließen das Bad, eingewickelt in flauschige Badetücher. Dabei verzichteten sie auf die Trockenautomatik um sich lieber gegenseitig trocken zu rubbeln.

Im Schlafraum angekommen zog Dean das Badetuch von Rian zur Seite. Sein eigenes ließ er gleich darauf fallen. Er zog sie mit sich auf das breite, weiche Lager. Dabei sandten ihre liebkosenden Hände Feuer über die Haut des jeweils Anderen.

Dean drehte Rian mit sanftem Nachdruck auf den Rücken und küsste sie auf den Mund, den Hals und auf ihre Brüste. Dabei spürte er, wie sich ihr Rücken leicht durchbog, als er an den empfindlichen Knospen ihrer Brüste saugte. Von dort aus glitten seine Lippen langsam tiefer, über ihren flachen Bauch hinweg, bis zu ihrer intimsten Stelle.

Als Rian die Zunge des Mannes dort spürte gab sie einen leisen langgezogenen Laut von sich. Erst nach einer Weile nahm sie sanft sein Gesicht in ihre Hände und zog ihn langsam aber fordernd wieder zu sich herauf. Sie zögerte den Moment der Vereinigung jedoch noch etwas hinaus, indem sie nun ihrerseits ihn auf den Rücken drehte und seinen Oberkörper seinen Bauch und schließlich sogar seine Männlichkeit mit Küssen überzog.

Sie zerfloss fast, als sie sich endlich über Dean schob und ihm dabei half, im Dunkel des Zimmers, die richtige Stelle zu finden. Als er in sie eindrang stieß sie hörbar ihren Atem aus und ließ sich auf ihn sinken. Wild und verlangend küsste sie Dean und bewegte dabei ihren Unterleib in zunächst verhaltenem Takt. Nach einer Weile würde ihre Küsse immer fordernder; ihre Bewegungen immer schneller.

Als sie es nicht länger aushielten schienen sie gemeinsam von einem Strudel in unbekannte Tiefen mitgerissen zu werden, ohne Angst. Schwerelos tauchten sie wieder auf.

Noch eine ganze Weile, nachdem sie Entspannung gefunden hatten, lagen sie, schwer atmend, dicht an einander gedrängt; streichelten und küssten einander. Rian erschrak fast, als sich Deans Körper mit einem Mal anspannte. Im nächsten Moment stöhnte er unterdrückt auf und fragte schließlich mit vibrierender Stimme: „Hast du eigentlich an Verhüten gedacht?“

„Zischend erwiderte die junge Frau: „Das fällt dir erst jetzt ein? Das kannst du auf deine Liste mit Dingen setzen, die sich nicht schicken, für einen Offizier.“

Damit nahm Rian nachdrücklich seine rechte Hand in ihre und führte die Fingerspitzen an ihre Halsschlagader. „Spürst du das, Dean?“

„Meinst du diese leichte, merkwürdig rechteckige Erhebung?“

„Ja, die meine ich“, zischte Rian. „Das ist ein Hormonpflaster. Ich denke, dir ist klar, wofür die gut sind.“

„Das ist mir den gesamten Tag über gar nicht aufgefallen“, flüsterte Dean, obwohl dafür gar kein Grund bestand.

„Kann es auch nicht“, kicherte Rian. „Die wirken ohne Verzögerung deshalb habe ich es auch erst aufgeklebt, nachdem wir hier ankamen. Aber selbst dann sieht man diese Pflaster kaum, weil sich ihre Oberfläche dem Hautton anpasst.“

„Ah, ich verstehe“, erwiderte Dean und atmete erleichtert auf. „Diese Pflaster haben also einen Tarnmodus, wie meine NOVA SOLARIS. Sehr raffiniert.“

„Oh, du bist so ein Militarist“, schimpfte Rian unterdrückt und gab ihm mit der flachen Hand einen derben Klapps auf den Unterleib, dass er mit einem unterdrückten Stöhnen zusammenfuhr. „Bin ich dir auch nur halb so wichtig, wie dein Kreuzer?“

„He“, machte Dean beschwichtigend und streichelte sanft ihre Wange. „Ich habe das Schiff beinahe zuschanden geflogen, nur um dich zu retten.“

„Hm...“

Dean küsste Rian ganz liebevoll auf die Augenlider, die Wangen und schließlich auf die Lippen, bis sie endlich ihren Widerstand aufgab und den Kuss erwiderte.

„Mmmh...“

Der Kuss dauerte eine ganze Weile, bis Rian sich von Dean löste und leise sagte: „Dieses Argument war aber Rettung im letzten Augenblick, mein Lieber.“

Mit Rian endlich unter die Bettdecke schlüpfend zog Dean die Frau darunter eng zu sich heran und drückte sie sanft. „Ich bin glücklich, Rian. Glücklich und zufrieden, wie schon sehr lange nicht mehr. Die nächsten Jahre werden nicht einfach werden, aber mit dir an meiner Seite werde ich damit fertig, dessen bin ich mir sicher.“

Für eine Weile hörten Dean und Rian nur ihre gleichmäßigen Atemzüge. Dann fragte Rian rau: „Werden wir irgendwann Terra wieder befreien können, Dean? Ich würde gerne wissen, was aus meiner Familie geworden ist. Ob meine Eltern und Geschwister noch leben.“

Dean atmete tief durch, bevor er ehrlich antwortete: „Ich weiß es nicht, Rian. Kimi und Jayden fragen sich das sicherlich auch. Beide haben ebenfalls Familie dort.“

Rian horchte auf. „Was ist mit dir und Andrea?“

„Meine Eltern starben bei einem Unfall, während einer Gebirgswanderung, als ich gerade fünf Jahre alt war. Danach wuchs ich bei einem Onkel, in Helsinki auf, wo ich etwas später Kimi Korkonnen kennengelernt habe. Dieser Onkel lebt aber nicht mehr. Die Familie von Andrea starb beim Angriff der Konföderation Deneb zu Beginn des Jahres. Jayden, Kimi und ich sind die einzige Familie, die ihr geblieben ist.“

„Das tut mir leid, Dean. Dann hat es ihr bestimmt sehr gutgetan, dass Kimi und du bei ihrer Hochzeit dabei gewesen seid.“

Dean brummte zustimmend. „Ja, die beiden haben überhaupt so kurzfristig beschlossen zu heiraten, damit Kimi und ich ganz sicher dabei sein können.“

Rian gähnte schläfrig. „Ich wünsche ihr und ihrem Mann, dass sie glücklich werden. So, wie ich es in diesem Moment mit dir bin.“

Sie küssten sich ein weiteres Mal, bevor Rian ihren Kopf an Deans breite Schulter bettete. Einen Moment später wurden ihre Atemzüge flacher und gleichmäßiger.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht dachte Dean an ihre letzten Worte und flüsterte fast unhörbar: „Ja, das wünsche ich mir auch.“


 

Resistance


 

11.
 

Resistance
 

In der Hocke, leicht gegen die Natursteinmauer gelehnt, spähte die bewaffnete, junge Frau, fast noch einem Mädchen gleichend, um die Ecke des halb zerstörten Gebäudes. Damit das lange, blonde Haar ihr nicht im unpassendsten Moment die Sicht nahm, hatte sie hinter dem Kopf zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Das Plasmagewehr, eine Waffe, die sie bereits vor Monaten vom Feind erbeutet hatte, hielt sie dabei fest in ihren schlanken Händen. Ebenso eine Beute der letzten Monate war das Kom-System, das sie trug und die Frequenzbrille, die gegenwärtig die Nacht beinahe zum Tag für sie werden ließ. Dabei war es nicht einfach gewesen, das Kom-System auf eine Frequenz zu eichen, die der Feind nicht benutzte und diese willkürlich gewählte Frequenz zusätzlich gegen eine zufällige Entdeckung durch Frequenzpeiler zu sichern.

Bei ihrem Blick um die Ecke, wäre die junge Frau, noch vor wenigen Monaten, erschrocken zusammengezuckt. Mittlerweile blieb sie kühl wenn sie Soldaten der Konföderation entdeckte, die kaum mehr als zwanzig Meter von ihr entfernt waren. Die Ruhe bewahrend zählte sie insgesamt vier Soldaten der Konföderation Deneb und prägte sich genau ein, wo sie sich aufhielten, bevor sie sich wieder vollkommen in den Sichtschutz der dicken Mauer zurückzog. Dort formte sie lautlos Worte, die von ihrem Kehlkopfmikrofon aufgenommen und an die jungen Männer und Frauen ihres Teams weitergeleitet wurden.

„Sperber-Zwei, hier Sperber-Eins: Vier Wölfe im Zielbereich bestätigt. Hat deine Gruppe ihren Ausgangspunkt eingenommen? Kommen.“

Es dauerte einen Moment, bis eine leise Männerstimme aus ihren Kopfhörern drang. „Sperber-Eins, hier Sperber-Zwei. Vier Wölfe bestätigt. Irgendwie habe ich das Gefühl, die suchen etwas. Keine weiteren Rudel auf einen Klick Radius. Bereit zum Einsatz, Kommen.“

„Sperber-Zwei, hier Sperber-Eins. Ja, sieht fast so aus. Wir rücken vor. Eröffnet erst das Feuer, nachdem wir den Feind abgelenkt haben. Ende und Aus.“

Bei diesen Worten griff sie zum Regler der Nachtsichtbrille und senkte die Leistung auf das absolute Minimum herunter. Hätte sie das nicht getan, dann würde bereits ein einzelner Plasmaschuss sie für eine halbe Minute blenden.

Ein hartes Lächeln huschte bei diesem Gedanken über das ovale Gesicht der jungen Frau. In den letzten zehn Monaten hatte sie sich angewöhnt, bei Beginn eines Feuergefechts, den ersten Schuss ungezielt und dafür in Augenhöhe des Gegners abzufeuern, um ihn zu blenden. Denn die Soldaten der Konföderation Deneb benutzten nachts die gleichen Sehhilfen, wie sie und ihr Team. Erst den zweiten Plasmaschuss gab sie dann gezielt ab. Bisher war diese Taktik bei ihren nächtlichen Guerilla-Überfällen stets aufgegangen.

Sie hielt, für die zwei Kameraden die sie begleiteten gut sichtbar, drei Finger ihrer Linken hoch und deutete dann zweimal auf die gegenüberliegende Seite der Straße. Gleich darauf verrieten ihr einige kaum vernehmbare Geräusche, dass Kelvin Gorlan, Code-Name: Sperber-Drei, seine Deckung hinter ihr verließ und sich auf die andere Straßenseite vorarbeitete. Die Zwanzigjährige verfolgte seinen dunklen Schemen, bis er hinter einem zerstörten Bodengleiter verschwand. Da niemand Alarm gab und auf ihn feuerte, war er offensichtlich unentdeckt geblieben.

Die junge Frau wandte sich zu dem ihr verbliebenen Begleiter um, deutete mit der Hand nach vorne, wo der Feind patrouillierte und schlich lautlos, die Waffe im Anschlag, aus ihrer bisherigen Deckung. Kenji Tanaka, alias Sperber-Sieben, folgte ihr dichtauf. Beide wussten, dass am anderen Ende der Straße Moshe Melnik, mit dem die blonde Frau eben über Funk geredet hatte, gespannt abwartete was nun geschah.

Etwa zehn Meter weiter ging die Hochgewachsene mit Tanaka wieder in Stellung und die Frau spähte vorsichtig über die verbeulte Außenhaut eines zerstörten Bodengleiters. Dem Zustand des Fahrzeuges nach lag es schon eine Weile hier auf der Straße. Den Kopf schnell wieder zurückziehend flüsterte sie ihrem Begleiter zu: „Die scheinen wirklich etwas zu suchen. Ich wüsste nur zu gerne was.“

Tanaka ging nicht darauf ein. Lakonisch erkundigte er sich: „Bereit?“

Die Frau nickte grimmig. „Auf Los geht´s los.“ Eine Sekunde später gab sie das Angriffssignal, erhob sich aus ihrer Deckung und feuerte den ersten Schuss ab.
 

* * *
 

Darweshi Amani Karume verwünschte in Gedanken seine Unachtsamkeit. Am Abend war er von einem Trupp Soldaten der Konföderation Deneb an Bord eines Luftgleiters entdeckt worden, nachdem er seinen Unterschlupf verließ und sich offensichtlich zu weit vorgewagt hatte. Doch die Knappheit an Wasser und Nahrung hatte ihn dazu gezwungen. Zudem hatte er an diesem abgelegenen Zipfel der Welt nicht mit einer Patrouille gerechnet.

Das war heute bereits sein zweiter Fehler gewesen.

Der erste und gravierendere Fehler, den er sich geleistet hatte, war, dass er seine Waffe und seine komplette Sanitäts-Ausrüstung in seinem Versteck zurückließ, das er nicht mehr rechtzeitig hatte erreichen können. So kauerte er nun, mehr oder weniger ohne die Chance sich wirksam zu verteidigen, hinter der Theke dieses ehemaligen Geschäftes für Antiquitäten. In einer menschenleeren Ortschaft und darauf hoffend, vielleicht nicht entdeckt zu werden.

Die Sekunden schienen sich zu einer halben Ewigkeit zu dehnen. Erbittert die Invasoren der Konföderation Deneb verfluchend, zogen innerhalb weniger Augenblicke die Schlüsselmomente der letzten Monate an ihm vorbei.

Er hatte mit seiner Familie, in Tansania, das neue Jahr begrüßt. In der Stadt Musoma, am Westufer des Viktoria-Sees gelegen. Dort war er vom Angriff der Konföderation Deneb auf das Sol-System überrascht worden. Eilig brach er von Zuhause auf, um sich, als Kadett der Terranischen Raumflotte, an seinem Standort zu melden. Der Sektion-Terra in Wellington, Neuseeland. Sein Fluggleiter war unterwegs mitten in den Generalangriff der Invasorenflotte geraten, die vom Weltall aus die großen Städte der Erde unter konzentrischen Beschuss aus den schweren Plasmakanonen ihrer Kriegsschiffe genommen hatte.

Ein Streifschuss hatte seinen Gleiter getroffen, als die Westküste Australiens bereits in Sicht gewesen war. Mit mehr Glück, als es einem einzelnen Menschen zukam, konnte er sich auf das Festland retten, nachdem er den Gleiter, südlich der Insel Tasmanien, notwassern konnte. Nur das nackte Leben retten könnend hatte er sich zunächst in der Küstenstadt Hobard mit dem Nötigsten und Sanitäts-Utensilien versorgt. Schnell feststellend, dass es in Hobard keine Möglichkeit gab, nach Neuseeland überzusetzen, hatte er sich auf den Weg nach Launceston, der zweitgrößten Stadt im Norden von Tasmanien, gemacht.

Einen Gleiter hatte er nicht auftreiben können. So hatte er ein uraltes Gefährt, ein sogenanntes Fahrrad, aufgetrieben und sich auf den Weg gemacht.

Damit hatte seine Odyssee begonnen.

Noch bevor er die Stadt erreichte war die Invasion Terras erfolgt. Zu seinem Glück konzentrierten sich die Raumlandetruppen der Konföderation zunächst auf strategisch wichtige Punkte auf Terra. So hatte er, nach einer Woche die nördliche Küste Tasmaniens erreicht. In einer abenteuerlichen Fahrt über Wasser war er schließlich auf dem eigentlichen, australischen Kontinent angekommen, etwa 250 Kilometer Süd-östlich von Melbourne. Mühsam hatte er sich zu der Metropole durchgeschlagen, um mit Entsetzen festzustellen, dass Melbourne nur noch eine Ansammlung ausglühender Trümmer war. Die phasengesteuerten Plasmakanonen der Armada von Deneb hatten ganze Arbeit geleistet.

Wieder war das Glück ihm hold gewesen. Auf einer verlassenen Farm, etwas westlich der Stadt, war er auf einen Bodengleiter gestoßen, der technisch in Ordnung war. Wo die Besitzer des Gleiters geblieben waren hatte er nicht herausfinden können. Nebenbei hatte er zusätzlich Nahrung und eine Waffe gefunden. Kein modernes Plasmagewehr, sondern eine altertümliche jedoch voll funktionsfähige Projektilwaffe. Wobei er schnell herausfand, dass es sich nicht um eine Jagdwaffe handelte. Viel mehr um ein militärisches Sammlerstück – eine der letzten Railguns, die gebaut worden war bevor moderne Plasmagewehre diese Waffengattung beim Militär ablöste.

Vorsichtig, immer nur bei Nacht und dabei nie mehr, als 50 Kilometer pro Tag zurücklegend, war er die Küste entlang in Richtung Canberra gefahren. Dort hatte er zum ersten Mal Truppen der Invasoren ausgemacht. Die blau uniformierten Soldaten hatten sämtliche Ausfallstraßen kontrolliert, und so kam er zu der Entscheidung einen Bogen um Canberra zu machen, um sich weiter nach Norden durchzuschlagen. Wenn es vielleicht im Hafen von Sydney ein Boot gab, so bestand vielleicht doch noch die Möglichkeit unbemerkt nach Neuseeland zu gelangen.

Umso enttäuschender war es gewesen, auch Sydney in Schutt und Asche vorzufinden. Den Hafen hatte er komplett zerstört vorgefunden, und in dem Tansanier hatte sich zu diesem Zeitpunkt die nüchterne Erkenntnis breitgemacht, möglicherweise für längere Zeit in Australien festzusitzen. Damit rechnend, dass auch die weiter nördlichen Küstenstädte entweder in Feindeshand, oder vernichtet, waren, hatte er sich schließlich nach Westen gewandt. Mit dem Gleiter unbemerkt des Nachts fahrend, bis es mit dem Gefährt nicht mehr weiterging. Am Ende war er wieder zu Fuß unterwegs gewesen.

Am Ende seiner Kräfte und Vorräte hatte er irgendwann, Anfang Juli, die alte, ehemalige Minenstadt Broken Hill erreicht. Zunächst hatte er hier nur zu neuen Kräften kommen wollen und sich in einem der Häuser am Rande der Ortschaft einigermaßen häuslich eingerichtet, nachdem er sich versichert hatte, dass es Energie gab und er somit den noch funktionierenden Nahrungssynthesizer des Hauses benutzen konnte. Mitten in tiefster Nacht angekommen, hatte er bei seinen ersten Erkundungen innerhalb der Ortschaft schnell festgestellt, dass niemand mehr in Broken Hill lebte. Insgeheim hatte er zu diesem Zeitpunkt begonnen sich zu fragen, was mit den Zivilisten der Städte passiert sein mochte, denn auch unterwegs war ihm kaum eine Seele begegnet.

Eine Antwort darauf hatte er bis dato nicht erhalten. Von hier wieder fort zu kommen hatte sich noch in derselben Woche als schwer durchführbar erwiesen. Denn funktionierende Gleiter gab es hier nicht und die feindliche Lufttätigkeit hatte schon zwei Tage nach seiner Ankunft rege zugenommen. So war er vor etwa drei Monaten zu dem Entschluss gekommen, auf einen günstigeren Zeitpunkt zu warten, zumal er in diesem Ort alles hatte, um zu überleben. Und so lag er heute Nacht in einem ehemaligen Geschäft dieser Ortschaft, und versteckte sich vor einer Patrouille der Invasoren.

Sie waren vor etwa einer halben Stunde mit einem Bodengleiter erschienen, wobei sich der Mann insgeheim fragte, ob sie zufällig hier waren oder aber ob sie gezielt nach ihm gesucht hatten, was ihm wenig wahrscheinlich erschien. Viel mehr glaubte er, dass die Patrouille generell nach versprengten Überlebenden forschten.

Dabei wäre Darweshi Karume sehr vieles klarer gewesen, hätte er von der Tätigkeit der Terranischen Resistance gewusst, die sich in den letzten Monaten auf Terra formiert hatte, und deren Aktionen nun langsam von den Besatzern als ernste Bedrohung eingestuft wurden. Doch er war seit seiner Ankunft auf diesem Kontinent von allen Nachrichten abgeschnitten, ein Zustand, der für den Tansanier noch vor einem Jahr absolut undenkbar gewesen wäre.

Irgendwo in dem Geschäft klirrte es leise. Darweshi verharrte absolut reglos und stellte die Vermutung an, es könne in diesem Laden Ratten geben. Doch dann hörte er ein schleifendes Geräusch. Entweder handelte es sich um eine Fünfzig-Kilogramm-Ratte, oder aber noch ein Mensch hielt sich in diesem Raum auf. Es wurde wieder still und Darweshi hätte fast einen Herzschlag erlitten, als eine leise Stimme aufklang, die flüsterte: „Bleiben Sie ganz ruhig hinter der Theke liegen, die suchen nach mir und nicht nach Ihnen. Ich bin desertiert, und wenn die mich entdecken, dann werde ich kämpfen. Tut mir leid, dass ich Sie da nun mit hinein ziehe.“

Darweshi erwiderte nichts darauf, denn vor dem Laden klangen jetzt lautere Stimmen auf. Die rechte Hand des Tansaniers tastete jedoch nach seinem Kampfmesser, das im Moment sein einziges Mittel zur Verteidigung war. Darweshi Karume war sich im klaren darüber, wie schlecht somit seine Chancen standen, falls er etwas unternehmen musste. Doch noch während der Mann fieberhaft nach einem Ausweg aus dieser brenzligen Situation suchte und dabei gleichzeitig überlegte, in wie weit er der Deserteurin helfen konnte und sollte, nahm auf der Straße eine Entwicklung seinen Lauf, mit der Karume, an diesem einsamen und gottverlassenen Ort, nie und nimmer gerechnet hätte.
 

* * *
 

Ganz so, wie es sich die Anführerin des Sperber-Trupps der Resistance vorgestellt hatte, wurden die vier Angehörigen der Invasoren-Truppe von ihrem ersten Schuss geblendet, als sie sich einem der Läden zuwandten. Der nächste Schuss traf den Soldaten der ihr am nächsten stand, und geradezu unheimlich still ging er zu Boden.

Gleichzeitig handelten Moshe Melnik und dessen drei Begleiter. Aus dem Rücken des Gegners auftauchend bewirkten sie Panik bei den verbliebenen Gegnern.

Lediglich die vierte Person des feindlichen Trupps reagierte schnell genug, um dem Feuerüberfall zu entgehen.

Der erste Schuss, den Kelvin Gorlan auf den verbliebenen Soldaten abgab verfehlte ihn. Doch diesem Soldaten war kein Glück beschieden, denn Gorlan traf ein Fass mit einer brennbaren Flüssigkeit und brachte es zum explodieren. Wenn auch nur zufällig.

Der Soldat wurde von der Druckwelle erfasst und auf der Stelle getötet. Scharfkantige Splitter durchschlugen eine der großen Glasscheiben.

Im Innern des Ladens hatte sich die Frau, die mit Darweshi gesprochen hatte, vom Sperber-Trupp unbemerkt, erhoben um ihre Stellung zu wechseln. Ein Metallsplitter des Fasses sirrte hinter ihr her und traf sie in Höhe der Hüfte. Mit einem gellenden Schrei schlug die Deserteurin irgendwo im Laden auf. Danach war Stille. Die vier Soldaten der Konföderation Deneb lebten zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr.

Wie schon zu einigen anderen Gelegenheiten kam den sieben Widerstandskämpfern das kurze Gefecht im Nachhinein viel länger vor, als es tatsächlich gewesen war.

Als aus dem Innern des Geschäftes ein Schrei ertönte, rannte die Anführerin des Trupps zur Eingangstür und sah durch deren Scheibe. Dabei gab sie Dheran Collard, dem zumeist freundlich wirkenden Aborigine im Team, ein unmissverständliches Zeichen zu folgen und ihr Vorgehen zu sichern.

Mit der Waffe im Anschlag betrat sie den Laden. Was sie sah, ließ sie abrupt stehen bleiben und alarmiert brachte ihr Kamerad seine eigene Waffe in Anschlag.

Am Boden bewegte sich schwach eine weitere feindliche Soldatin, doch das war es nicht, was die Team-Führerin so sehr überrascht hatte. Über die Verletzte gebeugt war ein dunkelhäutiger Mann mit kurzem Haar. Es machte den Anschein, als würde er sie untersuchen. Zumindest schien seine Anwesenheit ebenso mysteriös, wie die der uniformierten Frau auf dem Boden.

Der kräftig gebaute Mann sah zu ihr auf und fragte mit sonorer Stimme: „Woher, zum Teufel, kommen Sie? Nicht dass ich mich über Ihr Hiersein nicht freuen würde, doch bisher hatte ich mich in dieser Ortschaft völlig allein gewähnt und ich hatte mich in Gedanken schon als Gefangener der Konföderation gesehen.“

Immer noch etwas verwundert musterte die Team-Führerin den am Boden knienden Mann und fragte nach einem langen Moment: „Wer sind Sie und was tun Sie hier?“

„Mein Name ist Darweshi Karume und die Geschichte, wie ich herkam, ist zu lang, junge Frau. Helfen Sie mir jetzt lieber mit dieser Verletzten.“

„Das haben wir gleich“, gab die bewaffnete Frau hart zurück und legte dabei auf die am Boden liegende Frau an.

Die Augen des Dunkelhäutigen weiteten sich und entschlossen schob er seinen Körper zwischen die Verletzte und die angeschlagene Waffe. Dabei fluchte er: „Sind Sie völlig von Sinnen? Sie können doch keine Wehrlose erschießen.“

„Diese Verbrecher haben nicht gezögert Zivilisten zu ermorden. Zu Millionen und Abermillionen. Also treten Sie beiseite.“

Statt der Aufforderung nachzukommen untersuchte der Mann die Verletzte wieder und erneuerte seine Aufforderung: „Ich bewohne ein kleines Haus am Rand dieser Ortschaft. Helfen Sie mir jetzt gefälligst, sie dorthin zu bringen. Ein Metallsplitter hat ihren Körper durchbohrt und sie verliert eine Menge Blut. Zu Ihrer Information, die Patrouille war hinter ihr her, weil sie desertiert ist.“

Wütend kam der Mann schließlich hoch und funkelte sein Gegenüber zornig an. „Wenn Sie diese Frau ermorden, sind Sie nicht besser, als die, welche Sie so sehr verachten!“

Für einen Moment maßen sie sich mit Blicken, wobei die Anführerin des Sperber-Teams feststellte, dass der Mann höher gewachsen war, als er zuvor, in kniender Haltung gewirkt hatte. Zudem bemerkte sie erst jetzt seine kräftige Statur. Sie musterte den Unbekannten einem Moment lang und traf eine vorläufige Entscheidung. Dheran Collard ein Zeichen gebend meinte zu ihrem Kameraden: „Hilf ihm mit der Verletzten.“

Damit wollte sie sich abwenden, doch die Stimme von Karume hielt sie zurück.

„Wollen Sie mir nicht sagen, wer Sie sind und wie Sie heißen, junge Frau?“

Die immer noch zornig wirkende Frau musterte ihr Gegenüber, bevor sie antwortete: „Mein Name ist Famke Korkonnen. Truppführerin des Sperber-Teams der Resistance.“
 

* * *
 

Auf der Straße angekommen versammelte Famke Korkonnen die Mitglieder ihres Teams um sich und erklärte ihnen rasch, was sich im Innern des Ladens ereignet hatte.

Verwunderung spiegelte sich in den Gesichtern der beiden Frauen und der drei Männer wider, als sie von der Halsstarrigkeit des Fremden berichtete.

„Ich schlage vor, wir machen alle beide kalt“, stieß Kelvin Gorlan hervor, der stets für direkte Maßnahmen zu haben war. „Vielleicht gehört der Knilch auch zur Konföderation und das mit der Deserteurin ist nur vorgeschoben.“

Von Alexandra Marsden, Sarah Anderson und Moshe Melnik kam Widerspruch. Die aus Melbourne stammende Alexandra brachte es auf den Punkt. „Kann aber auch stimmen. Wenn wir Unschuldige töten dann wären wir nicht einen Deut besser, als Die.“

Jeder wusste, wen die Schwarzhaarige mit Die gemeint hatte.

Jetzt, da Famke sich wieder etwas beruhigt hatte, war sie geneigt ihr zuzustimmen. Was sie eben zu dem Fremden gesagt hatte, war im ersten Affekt, nach einem Gefecht, passiert. Insgeheim schämte sie sich jetzt für ihre harten Worte, die sie ihm gesagt hatte.

„Wir bringen Sie zu dem Haus, dass dieser Darweshi Karume bewohnt“, entschied sie. „Danach sehen wir weiter. Ich will außerdem wissen, was dieser Kerl hier zu suchen hat. Noch dazu vollkommen allein.“

Die Übrigen bestätigten und Famke wies sie an: „Schnappt euch die Leichen und bringt sie zu ihrem Gleiter. Danach sprengt ihr ihn. Das Ganze soll wie ein Unfall aussehen. Ach, und bringt deren Waffen, Kom-Systeme und Frequenzbrillen mit, soweit diese Gegenstände noch zu gebrauchen sind.“

„Das alles könnte eine Falle der Verletzten sein“, legte Gorlan nochmal nach.

„Darum wirst du auch, gemeinsam mit Kenji, das Terrain erkunden, sobald wir auf dem Weg zu dem Unbekannten sind. Sollte der Fremde Verrat planen, dann werde ich ihn eigenhändig umlegen. Zufrieden?“

Kelvin Gorlan, dessen Haar etwas weniger hell war, als das der Frau, akzeptierte die Entscheidung. Trotz seiner Vorbehalte gegen die beiden Fremden. Danach half er seinen Kameraden mit den toten Soldaten der Konföderation. Die Sprengung des Gleiters, oder besser gesagt die Folgen, würden die Leichen zerreißen und anschließend verbrennen. Die Schussspuren würden dadurch nicht mehr nachweisbar sein.

Famke sahen hinüber zum Ladeneingang, als Darweshi Karume, mit der Verletzten auf seinen Armen, aus dem Laden auf die Straße hinaus trat. In einigem Abstand folgte ihm der Aborigine, ebenso dunkelhäutig wie Karume aber deutlich weniger muskulös.

„Was für ein Brocken“, entfuhr es Sarah Anderson und sie strich sich dabei eine Strähne ihrer schulterlangen, dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht.

Trotz der finsteren Gedanken, denen Famke Korkonnen nachhing, konnte sie nicht umhin zu grinsen, bei den Worten der Kameradin. Wie auch Alexandra stammte sie von diesem Kontinent, wenn auch nicht aus Melbourne sondern aus Geelong, am anderen Ende der Port-Philip-Bucht. Einmal mehr lag ihr das Herz auf der Zunge, wie es schien.

„Werde deswegen nur nicht nachlässig“, mahnte Famke ihre Kameradin. „Besser, wir achten darauf, dass uns keine weitere Patrouille überrascht.“

Sie machten sich auf den Weg. Als sie bereits um die Straßenecke verschwunden waren brüllte hinter ihnen eine Explosion auf. Den Gleiter hatte es, mitsamt der vier Leichen, zerrissen und die thermische Energie dabei löschte alle verräterischen Spuren.

Knapp drei Minuten später verlangsamte Darweshi Karume seine Schritte und sah vielsagend auf eines der Häuser am Ende der Straße. Die Verletzte so auf seinen Armen haltend, als würde er lediglich einen Beutel Federn tragen, sah er zu Famke Korkonnen und sagte ruhig: „Dort drüben ist es. Ich vermute, Sie werden erst einmal das Gelände sichern wollen, um sich davon zu überzeugen, dass ich Sie nicht in eine Falle locken will?“

Die geradezu aufreizende Ruhe des Mannes reizte die normalerweise kühle Blondine und sie musste sich beherrschen, als sie zurückgab: „Das werden wir tatsächlich.“

Sie schickte die zuvor eingeteilten Männer vor und folgte ihnen, zusammen mit dem Fremden an ihrer Seite. Dabei sagte der kräftig gebaute Mann besorgt: „Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass für die Verletzte jede Minute wichtig sein kann. Zum Glück scheint der Splitter einen größeren Blutverlust vorläufig zu verhindern. Aber er muss dennoch raus.“

Erst jetzt kam Famke Korkonnen auf die Idee zu fragen: „Sie scheinen sich in medizinischer Hinsicht etwas auszukennen?“

Der Mann nickte. „Ich hätte normalerweise, im letzten Juni, die Akademie abgeschlossen. An der Sektion-Terra, als Sanitäter bei den Raumlandetruppen. Doch der Angriff der Konföderation hat mir dabei einen Strich durch die Rechnung gemacht.“

„Sektion-Terra, sagen Sie? Wie kommen Sie dann hierhin?“

„Wie ich Ihnen eben bereits sagte, die Geschichte ist zu lang“, erwiderte der Mann ironisch. „Aber falls Sie mir gleich mit der Verletzten helfen möchten, werden wir vielleicht Zeit finden, um uns darüber zu unterhalten. Was halten Sie von dem Vorschlag?“

„Also schön, Sie Nervensäge.“

Einen Augenblick später gaben Kenji Tanaka und Kelvin Gorlan Entwarnung und zusammen mit Darweshi Karume setzte sich Famke wieder in Bewegung.

„Die Tür ist unverschlossen“, gab der Kräftige Auskunft und die Finnin hielt, mit einer übertrieben galanten Geste, die windschief in den Angeln hängende Holztür für ihn und seine Last, die er auf seinen Armen trug, auf.

Das Innere war gemütlicher eingerichtet, als es der äußere Eindruck des Hauses vermuten ließ. Außerdem hielt der Bewohner offensichtlich auf Sauberkeit.

Der Sperber-Trupp verteilte sich im Haus und sah sich um. Nur Famke Korkonnen blieb bei dem Fremden. Inzwischen glaubte sie nicht mehr an einen Verrat durch ihn. Sie wusste, dass es ein Risiko war, doch sie spürte kein Falsch an diesem Mann.

In einem Raum, von der Straße weg, bettete Darweshi Karume die Verletzte auf ein breites Sofa. Danach begab er sich nach Nebenan, wo ihn Famke, die bei der Bewusstlosen blieb, eine Weile rumoren hörte. Mit einem Kunststoffkasten, Tüchern, einer Flasche Scotch und einer Schüssel heißen Wassers kam er wieder in den Raum zurück.

Die Sachen und die Schüssel stellte er ordentlich auf einen niedrigen Tisch. Er entnahm dem Kunststoffkasten einen Medo-Scanner mit dem er die Verletzte durchleuchtete, wobei er nachdenklich vor sich hin summte. Endlich nicke er zufrieden, legte den Scanner deaktiviert zur Seite und sah Famke auffordernd an: „Machen Sie bitte den Oberkörper der Verletzten frei, wenn ich sie anhebe. Aber zuerst nur auf der unverletzten Seite. Den Splitter möchte ich so spät wie nur möglich entfernen, denn dann beginnen die Probleme.“

Der misstrauische Blick, mit dem die Finnin den ihr fremden Mann plötzlich bedachte, war nicht zu missdeuten und etwas verstimmt meinte er: „Okay, ich gestehe Ihnen ja zu, dass Sie mich nicht kennen. Doch wenn ich tatsächlich bei einer Frau auf dumme Gedanken käme, dann ganz sicher nicht bei einer Halbtoten. Und jetzt: Bitte.“

Er hob die Bewusstlose an und Famke schälte sie auf ihrer linken Seite aus der Uniform. Dabei röteten sich die Wangen der Finnin sichtlich.

Darweshi Karume achtete nicht darauf. Jetzt galt es ein Leben zu retten. Dafür war er ausgebildet worden. Einen leisen Fluch voraus schickend meinte er ruhig. „Ich werde den Splitter nach vorne aus der Wunde ziehen. Zum Glück ist er relativ glatt, wie mir der Scanner zeigte. Außerdem wurden keine Organe geschädigt. Trotzdem besteht die Gefahr, der Frau damit noch mehr Verletzungen zuzufügen, wenn ich nicht aufpasse. Sobald der Splitter raus ist werde ich den Oberkörper der Frau ganz entkleiden und Sie legen sie zurück auf das Sofa. Sobald das passiert ist, kommen Sie hierher, heben die Verletzte an und schieben eins von diesen Tüchern unter die Austrittswunde. Alles verstanden soweit?“

Famke Korkonnen bestätigte und sah gespannt dabei zu, wie der Mann an ihrer Seite eines der Tücher vorsichtig um den scharfkantigen Splitter wickelte, der aus dem Körper der Frau ragte. Dann legte er vorsichtig seine Finger darum.

„Achtung, ich ziehe ihn jetzt heraus. Fixieren Sie den Oberkörper der Frau.“

Mit einer fließenden und dennoch vorsichtigen Bewegung zog Darweshi Karume an dem Splitter, der sich zu seiner Erleichterung nirgendwo verhakte. Als er das blutige Metallstück ganz aus dem Körper der Verletzten gezogen hatte, legte er ihn schnell auf den Tisch und hob die Frau etwas an um ihren Oberkörper ganz freizulegen.

Famke war bereits bei ihm und schob, so wie er sie zuvor angewiesen hatte, eins der weißen sauberen Tücher unter die Austrittswunde der Verletzten.

„Das haben Sie sehr gut gemacht“, lobte der Mann abwesend und griff nach dem Alkohol. Beim Öffnen der Flasche erklärte er: „Leider habe ich kein Desinfektionsmittel, also muss dieser gute Tropfen herhalten. Tränken Sie bitte inzwischen ein Tuch mit heißem Wasser, die Wunde muss zuerst gereinigt werden.“

Famke kam auch jetzt seiner Aufforderung umgehend nach. Dabei beobachtete sie ihn dabei, wie er ein weiteres Tuch mit dem Scotch tränkte und die längliche Wunde damit abwischte. Blut strömte jedoch sofort nach und er reichte mit einer Hand hinter sich.

Famke legte ihm automatisch das mit heißem Wasser ausgewaschene Tuch hinein und der Mann presste es auf die Wunde der Verletzten. Dabei fischte er gleichzeitig nach einem Instrument im Kunststoffkasten, dass entfernt an eine Pistole erinnerte. Allerdings endete der Lauf dieses Instrumentes in einer feinen Kanüle.

Der Mann führte die Spitze der Pistole vorsichtig in die Wunde ein und betätigte eine der Sensortasten. Erst als ein leiser Ton erklang entfernte er das Gerät. Vorsichtig tupfte er erneut die Wunde ab, die jetzt nur noch schwach blutete. Dabei erklärte er: „Das Heil-Gel, dass ich der Verletzten verabreicht habe, fließt nun in ihrem Körper entlang der Wunde und versiegelt dabei die verletzten Gefäße. In einer Minute etwa kann ich damit beginnen, die Eintrittswunde zu nähen. Leider besitze ich kein Instrument zum Versiegeln der äußeren Verwundungen. Also muss ich das nach der guten, alten Steinzeit-Methode erledigen. Zum Glück wird einem das an der Akademie auch beigebracht.“

Famke Korkonnen beobachtete ungläubig, wie der Mann zu Nadel und Faden griff. „Sie wollen die Wunden zunähen? Damit?“

„Ich bin offen für jeden vernünftigen Alternativvorschlag Ihrerseits“, spöttelte Darweshi Karume. Damit begann er, die Eintrittswunde der Verletzten zu vernähen. Nach einigen Minuten verknotete er die Enden der Fäden und sagte abwesend zu Famke: „Sie könnten mir jetzt dabei helfen, die Verletzte vorsichtig auf den Bauch zu drehen.“

Famke Korkonnen kam der Aufforderung auch diesmal nach. Die Austrittswunde hatte bereits komplett aufgehört zu bluten.

Darweshi Karume säuberte die Wundränder nochmals, bevor er auch die Austrittswunde ordentlich vernähte. Zu guter Letzt griff der Mann erneut in seinen Kasten und legte der Verletzten einen Verband an.

„Bitte helfen Sie mir, der Frau wieder etwas anzuziehen“, bat der Mann schließlich, nachdem er erleichtert ihren Puls gefühlt hatte. „Sie wird es hoffentlich schaffen.“

Gemeinsam zogen sie die Soldatin der Konföderation Deneb wieder an, und erst jetzt betrachtete Famke Korkonnen die Bewusstlose eingehender. Ihr Gesicht ließ den Schluss zu, dass es irgendwann einmal asiatische Vorfahren in ihrer Familie gegeben hatte. Die feingeschnittenen entspannten Züge wirkten sympathisch. Etwas, das der Finnin zu schaffen machte, denn damit verwischte sich ihr bisher so starres Feindbild.

Darweshi Karume nahm einen Schluck von dem Scotch und hielt Famke die Flasche hin. „Möchten Sie vielleicht auch etwas?“

„Nein, danke.“

Gerade so, als habe der Mann in ihre Seele geschaut, sagte er nachdenklich zu Famke: „Es fällt schwer in einem Menschen, der so hilflos daliegt, den Feind zu sehen.“

„Ja“, gab die Frau beinahe widerwillig zu. Das Thema wechselnd meinte sie dann feststellend: „Sie haben die Zimmer des Hauses mit einer Schicht isoliert, die es unmöglich macht, Infrarotstrahlung anzumessen. Wir sind hier also sicher, wenn das Bergungsteam der Konföderation auftaucht. Dann will ich jetzt endlich Ihre Geschichte hören, Herr Karume.“

„Darweshi“, verbesserte der Mann, sympathisch lächelnd. Er sah in die strahlend blauen Augen der jungen Frau und begann damit, ihr zu erzählen, was er in den Monaten, seit dem Überfall der Konföderation Deneb auf das Sol-System, erlebt hatte.

Als er endete, erkundigte sich Karume seinerseits: „Wie ist es mit Ihnen, Famke? Was hat Sie nach Australien verschlagen? Oder leben Sie hier schon länger?“

Die blonde Frau lächelte verzweifelt. „Überhaupt nicht. Ich war ebenfalls Kadett im letzten Jahr, an der Sektion-Venus, als der Überfall der Konföderation erfolgte. Hier in Australien hatte ich mit Freundinnen Silvester gefeiert, als es losging. Mit Alexandra und Sarah, die Sie bereits kennengelernt haben. Alexandra ist übrigens ebenfalls Kadett an der Sektion-Venus, so wie ich. Sie war es auch, bei der wir gefeiert haben, bis zu dem Überfall. Der Rest hat sich uns, mehr oder weniger zufällig, angeschlossen. Da es kein Wegkommen gab, beschlossen wir, in den Untergrund zu gehen und Widerstand zu leisten. In den letzten Monaten hatten wir sporadischen Kontakt mit anderen Widerstandszellen. Dadurch erfuhren wir, dass sich überall auf Terra die Resistance formiert und gezielt Sabotage betreibt. Doch wir handeln, nun fast seit Beginn der Invasion, im Grunde weitgehend unabhängig.“

„Das war und ist sicherlich nicht einfach“, meinte Karume und warf einen Blick auf die Bewusstlose. „Wissen Sie, ich glaube trotzdem nicht, dass Sie so hart sind, wie es vorhin in dem Laden den Anschein gehabt hat. Zumindest würde ich das gerne glauben.“

Famke Korkonnen schluckte und erwiderte leise, wobei sie dem Mann zum ersten Mal etwas länger in die Augen sah: „So hatte ich mir meine Zukunft wirklich nicht vorgestellt, Darweshi. Doch die von der Konföderation Deneb haben mir dieses Leben aufgezwungen, und Ihnen wohl auch, würde ich sagen.“

Der Mann sah Famke Korkonnen eindringlich an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr Haar länger war, als es zuerst in dem Laden den Anschein gehabt hatte. Die zusammengebundenen und von Natur aus gewellten Haare fielen bis zur Mitte ihres Rückens hinab.

Nach einem langen Moment deutete Darweshi Karume auf die Verwundete, nahm ihr das MFA ab, dass sie noch immer am Handgelenk trug, und sagte entschlossen: „Ich werde diese Frau jetzt nach oben, in den ersten Stock hinauf, bringen. In eins der beiden Schlafzimmer dort. Sie braucht jetzt nämlich dringend Ruhe. Vermutlich wird sie später noch ordentlich Fieber bekommen und leider habe ich keinerlei Antibiotika oder sonstige fiebersenkende Medikamente. Ich kümmere mich um sie, doch es wäre nett, wenn Sie jemanden abstellen könnten, der mich in ein paar Stunden ablöst. Denn ich selbst könnte auch etwas Schlaf vertragen.“

Mit nun wieder etwas finsterer Miene erwiderte die Frau: „Also schön, Darweshi. Ich werde Ihnen in vier Stunden jemanden schicken. Mein Trupp und ich können ohnehin nicht hier weg, bevor die Konföderation ihre Leute gefunden und abtransportiert hat. Aus der Luft wären wir, auf offenem Gelände, selbst bei Nacht, leicht auszumachen und da ihr Haus sicher ist, werden wir also die Gelegenheit nutzen selbst etwas Ruhe zu finden.“

Darweshi Karume nickte, hängte seine Waffe über den Rücken und nahm danach die Bewusstlose vorsichtig auf seine Arme. Famke ein Lächeln schenkend sagte er leise: „Sie sind mir willkommen. Ich hoffe, nachher mit Ihnen über Verschiedenes reden zu können.“

Damit wandte er sich ab und ging, wobei er eine sehr nachdenkliche Frau zurückließ.
 

* * *
 

Oben saß Darweshi Karume am Bett der Verletzten und sah sinnend vor sich hin, während er ab und zu die Temperatur an der Stirn der Bewusstlosen fühlte. In regelmäßigen Abständen tauchte er einen Lappen in eine Schüssel kalten Wassers und legte ihn der Frau auf die Stirn. Dabei kühlte er sporadisch auch die Schlagadern an ihrem Hals und wusch ihr den Schweiß vom Gesicht, dass er mittlerweile eingehender betrachtet hatte.

Die Unbekannte trug an ihrem Uniformkragen die unverkennbaren Rangabzeichen einer Obergefreiten; zwei schmale, goldene Querbalken, übereinander liegend. Sie wirkte noch sehr jung. Möglicherweise war sie noch keine zwanzig Jahre alt, so wie er.

Bei diesem Gedanken grinste der Mann schwach. Sein Geburtstag lag gerade erst einige Tage zurück und er hatte ihn in vollkommener Einsamkeit gefeiert. Bei dieser schmerzlichen Erinnerung wurde ihm klar, dass er von hier weg musste. Unter anderem darüber gedachte er, später mit Famke Korkonnen zu reden. Vielleicht konnte er sich Famke und ihrem Team anschließen. Einen Sanitäter konnten sie bestimmt gebrauchen. Aber was würde dann aus dieser schwerverletzten, jungen Frau werden?

Es frustrierte Darweshi, dass er vorerst keine Antwort darauf finden konnte. In dem Geschäft, in dem sie sich vorhin beide versteckten, da hatte diese Soldatin des Feindes behauptet, desertiert zu sein. Aber stimmte das denn wirklich? Vielleicht hatte dieser blonde Heißsporn in Famkes Team Recht? Vielleicht war das alles wirklich eine geschickt gestellte Falle? Darweshi musterte die Bewusstlose intensiver, so als würde seine Chance dadurch verbessert, die Wahrheit herauszufinden. Sein Gefühl neigte zu der Annahme, dass sie keinen Verrat geplant hatte. Dafür sprach, dass sie ohne sein Eingreifen gestorben wäre. Dass er Sanitäter war, konnte sie wohl kaum gewusst haben.

Darweshi Karume seufzte schwach und wischte der Frau erneut den Schweiß von der Stirn, der sich immer wieder darauf bildete. Ihr Körper begann allmählich auf die Verletzung zu reagieren. Noch immer war nicht gewiss ob sie es schaffen würde.

Es dauerte beinahe zwei Stunden, in denen der Mann immer wieder mit dem kühlen Lappen über das Gesicht und die Halspartien der Frau fuhr, bevor sie eine erste Reaktion zeigte. Ihr Kopf bewegte sich leicht hin und her und ihre Augen bewegten sich sichtlich unter den Lidern. Darweshi vermutete, dass Fieberträume sie in ihren Klauen hielten.

Vorsichtig schob der Mann eine Strähne ihrer braunen Haare aus dem Gesicht der Frau und legte sanft seine kräftige Hand auf ihre Wange, als sie leicht ihren Mund öffnete und ein leises Stöhnen von sich gab.

Mit ruhiger Stimme, im Ungewissen, ob die Frau sie überhaupt wahrnahm, sagte Darweshi rau: „Sie sind in Sicherheit. Versuchen Sie ruhig zu liegen. Sie wurden verletzt aber ich konnte die Verletzung behandeln.“

Die Augenbewegungen der Frau unter den Lidern wurden unruhiger und krächzend fragte sie schließlich, kaum zu verstehen: „Wo bin ich?“

„Vorläufig in Sicherheit“, erwiderte Darweshi einfach. „Haben Sie Durst?“

Die Frau nickte schwach und schnell griff Darweshi Karume zu der Isolierflasche, die er auf dem Nachttisch bereitgestellt hatte. Er schüttete das daneben stehende Glas halb voll, schob seinen linken Arm unter ihre Schultern um ihren Oberkörper etwas anzuheben und führte das Glas an ihren Mund. Zufrieden beobachtete er, wie die Frau trank, bis sie das Glas fast geleert hatte. Danach ließ er die Frau wieder auf das Lager zurück sinken.

Das Glas auf dem Nachttisch abstellend erkundigte sich Karume: „Wie ist Ihr Name?“

„Yunai“, gab die Frau schwach zurück. Im nächsten Moment erschlaffte ihr Körper und erschrocken maß der Mann an ihrem Bett ihren Puls.

Erleichtert nahm Darweshi Karume nach einem Moment seine Finger von ihrer Halsschlagader und murmelte leise: „Hallo, Yunai.“

Für einige Augenblicke hing er seinen Gedanken nach und nahm schließlich die Tätigkeit mit dem feuchten Lappen wieder auf. Diesmal dauerte es nur eine Viertelstunde, bis die Frau erneut zu sich kam und ihre Augen aufschlug.

„Gut, Sie sind wieder da?“

Ein leises Seufzen klang auf und es genügte Karume vorerst als Antwort. Dafür meinte er seinerseits. „Um unsere Vorstellung abzuschließen. Mein Name ist Darweshi.“

„Klingt eher nach einem Beruf“, gab Yunai schwach zurück. Ihr Blick irrte durchs Zimmer und mit etwas festerer Stimme fragte sie, dabei zu einem Sessel deutend: „Würden Sie mir bitte noch diese Decke dort drüben holen?“

Karume nickte. „Gerne.“

Er wandte sich ab und bekam nicht mit, dass die Verletzte, alle Kräfte zusammennehmend, sich aus dem Bett wand um sich die Waffe zu greifen, die er vorhin achtlos an die Wand gelehnt hatte. Erst als er sich mit der Decke in den Händen wieder zu Yunai wandte, sah er sie vor dem Bett stehen; ihn mit seiner eigenen Waffe bedrohend.

Karume fluchte in Gedanken. Das war bereits der dritte Fehler des Tages. Er hatte schlicht die Kraft und die Widerstandsfähigkeit dieser Frau unterschätzt, wie es schien.

Yunai wollte offensichtlich etwas sagen, doch sie öffnete nur langsam den Mund, ohne dass sie ein einziges Wort sprach. Im nächsten Moment entglitt die Waffe ihren Händen und polterte zu Boden. Einhergehend damit, dass die Frau die Augen verdrehte.

Karume ließ in demselben Moment die Decke fallen und machte einen Satz nach vorne. Gerade rechtzeitig um die Frau noch aufzufangen, bevor sie zu Boden fallen konnte. Er bettete sie wieder auf das Lager, hob seine Waffe auf und stellte sie hinter der Tür, in die Ecke, wo Yunai sie nicht wieder so schnell würde erreichen können. Danach deckte er die Frau zu und grummelte dabei: „Ha, das machst du mir aber nicht noch einmal, Mädchen.“

Als Yunai nach einer Weile erneut zu sich kam und spürte, dass Darweshi ihre Stirn kühlte, fragte sie matt: „Warum tun Sie das? Ich habe doch eben...“

„Halten Sie jetzt einfach mal den Mund und ruhen sich aus. Ich registriere den Versuch mit meiner Waffe unter: Partielle Unzurechnungsfähigkeit. Kein Wort mehr davon.“

Die gleichmäßigen Atemzüge der Frau sagten Karume, dass sie seiner Empfehlung bereits Folge leistete. Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen.
 

* * *
 

Es war Sarah Anderson, die Darweshi Karume nach vier Stunden ablöste. Der Mann, der sich vor einiger Zeit schon in den Sessel gesetzt hatte und die Verletzte seitdem sinnend beobachtete, sah beinahe verwundert auf, als das etwas mollige Mädchen eintrat. Seine Waffe nehmend, die er über die Knie gelegt hatte, erhob er sich und schritt leise zu seiner Ablösung.

„Sie schläft“, flüsterte Karume und sah kurz hinüber zum Bett. „Ach, und achten Sie bitte gut darauf, Ihre Waffe nicht unbeaufsichtigt zu lassen.“

Im Gehen bekam Darweshi Karume noch mit, wie Sarah etwas befremdet meinte: „Wer macht denn so was?“

In dem Wissen, dass Sarah ihn durch die Tür, die er hinter sich geschlossen hatte, nicht sehen konnte, hob er schuldbewusst die Hand. Er stieg die Treppe hinab zum Erdgeschoss des Hauses und traf im Wohnzimmer, wie erhofft, auf Famke Korkonnen.

Die blonde Frau saß auf dem Sofa, auf dem er Stunden zuvor die Verletzte behandelt hatte und beugte sich über die erbeuteten Waffen. Die Frequenzbrillen und Kom-Systeme hatte sie bereits zuvor durchgecheckt und zur Seite geschoben.

Als Karume sich, ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, in einen Sessel fallen ließ, sah Famke kurz zu ihm auf und deutete auf die Gerätschaften. „Bedienen Sie sich, Darweshi, heute haben wir Frequenzbrillen und Kom-Systeme im Sonderangebot. Die Waffen kontrolliere ich gerade. Zumindest zwei von ihnen scheinen in Ordnung zu sein, im Gegensatz zu dieser Mistkrücke hier. Für die ist der Krieg wohl gelaufen.“

Der Mann lächelte bestätigend und sagte unvermittelt: „Ich würde Sie gerne um etwas bitten, Famke. Eigentlich eher um Zweierlei.“

Famke beendete ihre Untersuchung der Waffe, legte sie seitlich neben die Couch und musterte ihn fragend. „Dann heraus mit der Sprache.“

„Nun, zum Einen würde ich mich gerne dem Team anschließen. Auf mich allein gestellt, werde ich auf Dauer nicht in Freiheit bleiben. Zum Anderen wäre es mir lieb, wenn wir uns nicht so förmlich Siezen würden. Dabei fühle ich mich nicht wohl.“

Ein amüsiertes Lächeln umspielte die Lippen der Frau. „Das ist jetzt irgendwie komisch, denn immerhin war nicht ich es, die damit begonnen hat.“

Darweshi überlegte kurz und stimmte nach einem Moment zu: „Richtig, ich war es ja, der im Laden damit anfing. Das war mir gar nicht mehr so bewusst. Vielleicht kam das durch die Bedrohung zweier mir Fremder, die ihre Waffen auf mich richteten.“

Der feine Spott entging Famke nicht. Sie ging jedoch darüber hinweg und erwiderte beschwichtigend: „Na schön. Also ab jetzt du Nervensäge. Ein Punkt, der in diesem Zusammenhang vielleicht keine ganz unwichtige Rolle spielt: Was wird in dem Fall aus der Frau da oben im ersten Stock?“

„Wie ich sagte: Yunai, das ist ihr Vorname, hatte vor zu desertieren. Sie könnte von Wert für das Team sein, denn sie dürfte ein paar Interna des konföderierten Militärs kennen. Möglicherweise könnten wir davon profitieren.“

„Legst du für sie deine Hand ins Feuer?“

Darweshi Karume rollte mit den Augen. „Das kann ich ebenso wenig für sie, wie du es für mich tun könntest, denn dazu kennen wir einander viel zu wenig. Hör zu Famke: Es war nur eine Bitte. Wenn du dich gegen Yunai entscheidest, dann werde auch ich darauf verzichten dem Team beizutreten und es vielleicht lieber zusammen mit ihr allein versuchen. In dem Fall wäre es nett, wenn du mir trotzdem wenigstens eins der erbeuteten Gewehre und jeweils zwei der Kom-Systeme und Frequenzbrillen dalassen würdest.“

Famke presste die Lippen zusammen. Die kompromisslose Art und Weise des Mannes passte ihr nicht. „Du stellst Forderung nach Forderung. Irgendwann wirst du vermutlich genauso unerschütterlich verlangen, das Kommando über mein Team zu übernehmen.“

„Über diesen Sauhaufen?“, entfuhr es Darweshi prompt. Launig lachend lehnte er sich im Sessel zurück. „Hör zu, wenn es nur das ist, was dir Probleme bereitet, so kann ich dich beruhigen. Denn keine zehn Bodengleiter würden mich dazu bewegen können diese wilde Truppe anzuführen. Außerdem ist der Posten, meiner Meinung nach, bereits sehr gut besetzt. Es ist, wie ich es sagte: Ich bin hier draußen alleine auf Dauer aufgeschmissen und dein Team wiederum könnte vielleicht zukünftig einen Sanitäter ganz gut gebrauchen.“

Hinter der sommersprossigen Stirn der Blondine arbeitete es. Sie sah Karume lang in die Augen, bevor sie endlich meinte: „Nun gut, Darweshi. Du bist in meinem Team willkommen. Aber ich mache dich dafür verantwortlich, falls diese Yunai doch Verrat plant. In dem Fall werde ich nicht nur sie an die Wand stellen, sondern dich gleich mit dazu.“

Etwas verblüfft sah der Tansanier die Frau an, die sich süffisant grinsend bei ihm erkundigte: „Willst du immer noch, zusammen mit dieser Yunai, ins Team?“

Darweshi Karume erwiderte ernst ihren Blick. „Ja, das will ich.“

Zielpunkt Mars


 

12.
 

Zielpunkt Mars
 

Das Sperber-Team verbrachte einige Tage im Haus, das Darweshi Karume in Broken Hill bewohnte. Ein Bergungsteam der Konföderation Deneb kam und ging, ohne dass ihre Anwesenheit bemerkt wurde. Die Konföderierten bargen die Leichen ihrer Kameraden, untersuchten den Ort des angeblichen Unfalls und zogen nach einem Tag wieder ab.

Erst fünf Tage danach hatte Famke Korkonnen den Befehl zum Aufbruch gegeben. So wie die übrigen Mitglieder ihres Teams, schien auch sie froh zu sein, den Ort zu verlassen. Yunai Lee hatte sich inzwischen weit genug erholt um den Ortswechsel mitmachen zu können. Erst unterwegs erfuhren sie und Darweshi, wo ihr Ziel lag. Ein gebirgiges Gelände, westlich vom Lake Frome, etwa 250 Kilometer von Broken Hill entfernt. Zunächst in westlicher Richtung unterwegs, bogen sie nach etwas mehr als der Hälfte der Strecke in Richtung Norden ab. Die letzten zehn Kilometer zu ihrer Basis legten sie zu Fuß zurück, nachdem sie die Gleiter in einem, dafür wie geschaffenen, Höhlensystem versteckt hatten.

Darweshi half Yunai dabei, die schwierigeren Passagen zu überwinden, wobei es schließlich Sarah Anderson war, die ihm dabei gelegentlich zur Hand ging.

Darweshi Karume hatte es mit einem dankbaren Lächeln quittiert und die junge Frau hatte es, etwas verlegen wirkend, erwidert.

Als sie schließlich die kleine Lichtung am Ende eines tiefen Einschnitts in den Felsen rings herum erreichten staunte Darweshi mit großen Augen. Weniger wegen der perfekten Tarnung nach oben hin, als wegen der unberührten Schönheit dieses Fleckchens Erde.

Aus dem Dickicht des Urwaldes, der sich zur Öffnung der Lichtung hin erstreckte, mäanderte ein flacher Flusslauf am Rande der Lichtung entlang. Am anderen Ende des Taleinschnitts floss er in einen Teich, der an keiner Stelle tiefer zu sein schien, als etwa einen Meter. Soweit man das erkennen konnte.

Darweshi, der Yunai weiterhin stützte, vermutete, dass der schmale Fluss über ein Höhlensystem, unterhalb der klaren Wasseroberfläche, weiter floss. Sonst wäre dieser Flecken vermutlich längst überflutet worden.

In einer Höhe von mehreren Metern spannten sich einige Tarnnetze, die eine optische Sicht von oben, auf die Lichtung, unmöglich machten. Ein uraltes Prinzip, aber dennoch wirksam, solange keine modernen Ortungssysteme zum Einsatz kamen. Dabei dachte der Tansanier anerkennend, dass es eine schwierige Arbeit gewesen sein musste, die Netze in dieser Höhe über die gesamte Lichtung zu spannen. Immerhin besaß die Lichtung die ungefähre Größe mehrerer Speedball-Felder.

Aus den Beständen des Sperber-Teams hatten die Männer und Frauen, ausgenommen der Verletzten, ein zusätzliches Zelt an einer windgeschützten Stelle, am Rand der Lichtung, in der Nähe der übrigen Unterkünfte aufgebaut. Darweshi und Yunai sollten es sich teilen, was dem Sanitäter ganz recht war, denn so konnte er den noch nicht besonders guten gesundheitlichen Zustand der Frau im Auge behalten.

Famke Korkonnen, die inzwischen mehrmals ernsthaft mit Yunai Lee, einmal davon im Beisein von Darweshi Karume, gesprochen hatte, war in dieser Beziehung emotional zwiegespalten. Einerseits hatte ihr Yunai versichert, dass sie wirklich keinen Verrat plante sondern bereits vor Wochen desertiert sei. Dabei hatte sie Famke gleich nochmal ihrerseits darum gebeten, sich dem Sperber-Team anschließen zu dürfen. Zum Anderen spürte die Finnin, dass Yunai mit irgendetwas zurückhielt. Möglicherweise war das nicht von Belang, möglicherweise aber auch doch. Zumindest verursachte es eine gewisse Unruhe in ihr, die sie so gar nicht mochte.

Darüber hinaus war da auch noch Darweshi, den sie im Moment noch nicht ganz einzuschätzen vermochte. Zwar traute sie dem Mann grundsätzlich, denn sie spürte immer deutlicher, dass an ihm kein Falsch war, doch an seine Art, sie zu behandeln, war sie nicht gewöhnt. Seine selbstbewusste und gleichzeitig so ruhige Art verwirrte sie etwas. Was Letzteres betraf so ähnelte Darweshi ihrem Bruder Kimi.

Auf einem großen Stein am Ufer des Teiches sitzend starrte Famke Korkonnen über die Wasserfläche, ohne sie wirklich zu sehen. Sie sah über die Schulter, als sie Schritte vernahm, die sich ihrer Position näherten.

Famke Korkonnen erkannte den Tansanier, der zwei Schritt von ihr entfernt stehen blieb und sie fragend ansah. „Darf ich mich zu dir gesellen? Mir ist aufgefallen, dass du dich in den letzten Tagen etwas abgesondert hast.“

Famke deutete auf die freie Fläche, links neben sich und Karume nahm neben ihr Platz. Einen Moment lang, so wie die blonde Frau, über die Wasserfläche blickend, fragte der Mann schließlich: „Du bist dir immer noch nicht sicher, ob du Yunai und mir über den Weg trauen kannst. Das kann ich dir nicht verdenken.“

Famke beugte sich vor, so wie der Mann. Sie legte die Unterarme dabei auf ihre Oberschenkel und verschränkte die Finger ihrer Hände umständlich ineinander. „Nein, ich denke, dass ich zumindest dir trauen kann, Darweshi. Bei Yunai bin ich mir hingegen noch nicht ganz sicher, da hast du Recht. Irgendetwas hält sie zurück, das spüre ich.“

Vielleicht etwas, dass sie während der Flucht vor der Konföderation erlebt hat“, gab Darweshi zu bedenken. Nachdenklich sah er zu Famke, die in demselben Moment zu ihm herüber blickte. Ihre Blicke verschmolzen für einen Moment lang.

Schließlich räusperte sich der Tansanier kurz und fragte mit verändertem Tonfall: „Aber da ist noch mehr, was dich gerade umtreibt?“

Famke nickte mit melancholischem Blick. „Ja. Ich musste an meinen Bruder denken, kurz bevor du herkamst. Weißt du, er ist ein ebenso ruhiger Typ, wie du.“ Sie blickte zum Abendhimmel hinauf, an dem der zunehmende Mond sichtbar war. „Zuletzt war er dort oben, auf Luna, bevor der Angriff der Konföderation erfolgte. Bei einer Silvesterfeier mit seinen Freunden von der Akademie. Ich frage mich, was aus ihm wurde. Wird er vielleicht in genau diesem Moment von irgendeinem Soldat der Konföderation verhört? Vielleicht ist er auch in einem der zahlreichen, sogenannten Umerziehungslager der Konföderation gelandet, die überall auf Terra von den Invasoren errichtet wurden. Falls er überhaupt noch lebt.“

Die Frau wandte sich ab.

Darweshi Karume hatte bemerkt, dass Tränen über ihre Wangen rannen und er besaß genügend Feingefühl einen Moment lang zu schweigen, bevor er beruhigend meinte: „Diese Art von selbstzerstörerischen Gedankengängen führt meistens zu nichts. Man stellt sich alles Mögliche vor, aber man trifft damit nicht die Wahrheit, sondern nur sich selbst. Ich habe zu Beginn meiner Odyssee auch permanent solche Überlegungen angestellt. Irgendwann habe ich damit ganz bewusst aufgehört. Das bedeutet nicht, dass ich nicht mehr an meine Familie denke. Ich habe nur dieses sinnlose Orakeln aufgegeben.“

Eine Pause entstand in ihrer Unterhaltung und erst, als Famke sich mit den Händen über die Wangen wischte, fragte Karume leise: „Dein Bruder ist also bei der Flotte? Darf ich fragen, wie alt er ist?“

Famke sah den Mann erneut an. „Er heißt Kimi und er wird in genau zwei Wochen vierundzwanzig Jahre alt.“

„Also am neunundzwanzigsten Oktober“, stellte Darweshi nüchtern fest. Dann lächelte er und sagte aufmunternd: „Immerhin hast du selbst gerade wird gesagt. Das zeigt mir, dass du die Hoffnung nicht aufgegeben hast. Ich halte das für sehr wichtig.“

Der Tansanier legte seine Hand ganz sacht auf die Schulter der Frau. Dabei sah er sie an und ein Lächeln überflog sein Gesicht, bis Famke die Stirn runzelte.

„Warum starrst du mich so an?“

Ertappt setzte Darweshi Karume ein verlegenes Gesicht auf. „Nun ja, ich versuche die Sommersprossen in deinem Gesicht zu zählen. So viele habe ich noch nie gesehen.“

Famke grinste schief. „Der beste Freund meines Bruders hat mir mal gesagt, dass mir nur ein paar Dutzend Sommersprossen fehlen würden, für eine nahtlose Bräune. Was diese Art von Plasmaschuss-Komplimenten betrifft: Da könnt ihr zwei euch die Hand reichen.“

„Entschuldige, bitte.“ Darweshi sah verlegen zum Himmel hinauf. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, doch es war immer noch drückend warm. Das Thema wechselnd fragte der Tansanier unvermittelt: „Hat die Resistance Informationen darüber, wie viele Truppen die Konföderation auf Terra und den anderen Planeten und Monden gelandet hat?“

„Es heißt, dass es zwischen fünf und zehn Millionen Raumlandesoldaten sind“, gab Famke Korkonnen Auskunft. Das Gros davon befindet sich natürlich auf Terra. Aber auch auf der Venus, dem Mars und auf den äußeren Monden und Planeten sollen sie gelandet sein.“

Erstaunen und Schrecken spiegelte sich auf Darweshi Karumes Gesicht. „So viele feindliche Soldaten? Damit hatte ich nicht gerechnet. Dann ist die Lage ernster, als ich es mir in meinen düstersten Träumen ausgemalt hatte.“

„Ich halte es für notwendig, dich und Yunai, gleich morgen, auf unseren Informationsstand zu bringen. Vielleicht habt ihr zwei ja auch etwas beizusteuern. Jetzt möchte ich mich noch mit Yunai unterhalten. Ungestört.“ Sie erhob sich.

Darweshi stand ebenfalls von dem Stein auf, allerdings gemächlicher. Dabei sah er Famke Korkonnen sinnend nach auf ihrem Weg zum Zelt, das er sich mit Yunai teilte.
 

* * *
 

Yunai Lee hatte sich in den letzten Tagen zunehmend von ihrer Verletzung erholt. Fragend sah sie zu Famke Korkonnen auf, als diese das Zelt betrat.

Die Finnin verzichtete auf großartige Umschweife und sagte ganz offen: „Ich bin gekommen, um mit dir über den Grund zu sprechen, aus dem du desertiert bist.“

Yunai richtete sich im Feldbett auf und stellte die Füße auf den Boden. Dabei erwiderte sie den forschenden Blick der blonden Frau und rang sich dabei zu einer Entscheidung durch. „Vielleicht sollte ich damit beginnen, was ich in den bisherigen kurzen Unterhaltungen verschwiegen habe. Ich wusste ja nicht, ob ich unter Druck gesetzt werde, oder nicht, also habe ich das Wichtigste bisher für mich behalten.“

„Darf ich?“, fragte Famke und deutete dabei auf die Bettkante.

Yunai machte eine einladende Geste. Nachdem sich die Anführerin des Sperber-Teams gesetzt hatte begann sie: „Wie du vielleicht an meinen Uniformstreifen erkannt hast war ich bei der Abteilung Logistik tätig. Ich habe hauptsächlich, vom Hauptquartier auf dem Mars aus, den Transport wichtiger Güter ins und aus dem Sol-System organisiert. Dabei fiel mir vor mehreren Wochen auf, dass eine Menge Garrett-Hellmann-Prozessoren von Transportraumschiffen der Nimrod-Handelsgesellschaft zu verschiedenen Planeten des Bundes von Harrel geliefert werden. Es handelt sich um jene Art von Prozessoren, die bei der Eroberung des Sol-Systems eine entscheidende Rolle spielten.“

Famke musterte Yunai verwundert. „Wie denn das?“

Yunai Lee erklärte Famke, warum diese Prozessoren eine wichtige Rolle in den Eroberungsplänen des Diktators von Denebarran spielten. Sie informierte die Finnin damit gleichzeitig davon, wie es hatte geschehen können, dass es zu fatalen Missweisungen der Zielscanner und Ortungssysteme auf terranischer Seite hatte kommen können. Wohl wissend, dass sie damit ihren einzigen Trumpf bei Verhandlungen über ihre Zukunft bei diesem Team der Resistance aus der Hand gab.

Auch Famke Korkonnen war sich dieser Tatsache bewusst und sie registrierte es insgeheim als einen Pluspunkt für die Deserteurin. Mit ausdrucksloser Miene fragte sie: „Aber was hat das mit den Lieferungen zum Bund zu tun?“

„Der Umfang der Lieferungen kann nur bedeuten, dass langfristig auch die Grenzwelten des Bundes von Harrel angegriffen werden sollen. Der Bund von Harrel ist neutral und ein wichtiger Handelspartner für die Menschen des Wega-Systems. Diese Nachschublinie zu kappen wäre eine Katastrophe für die Reste des Imperiums. Andererseits würde dieser Schritt endgültig alle fünf Sternenreiche destabilisieren und am Ende den Krieg derart ausweiten, dass der Letzte dagegen wie ein Picknick wirken würde. Denn bereits jetzt munkelt man, dass der Diktator mit dem Imperator des Antares-Sternenreiches in Verhandlungen steht, wegen einer Allianz. Bereits im letzten Krieg hat Antares insgeheim an der Seite der Konföderation Deneb gestanden.“

Yunai machte eine kurze Pause um ihre Worte wirken zu lassen, bevor sie fortfuhr: „Die meisten Offiziere glauben, wir unteren Chargen würden nicht mitkriegen, was die so alles planen und ausführen. Doch ich höre stets gut zu, was so alles von denen gesprochen wird und manch einer sagt im Laufe eines Tages sehr viel. Mit etwas Verstand kann man sich aus all diesen spärlichen Einzelinformationen ein gutes Gesamtbild machen.“

Famke Korkonnen deutete ein Lächeln an. „Das werde ich mir gut merken, falls ich es jemals doch noch zum Offizier bringen sollte.“ Sie wurde schnell wieder ernst. „Hast du zufällig auch erfahren können, ob es einen präzisen Zeitplan für das gibt, was du vermutest?“

„Nein. Doch ich bin mir sicher, dass der Befehlshaber des Konföderierten Geheimdienstes darüber Bescheid weiß. Ich habe, kurz bevor ich mich von der Truppe abgesetzt habe und nach Terra floh, von einem Kameraden, der als Ordonanz des Oberstleutnants dient, erfahren, dass der bei dem Flug eines Transporters, der am einunddreißigsten diesen Monats abfliegt, mit an Bord sein wird. Inoffiziell wohlgemerkt. Zunächst den Anflug der Außenwelten des Bundes überwachend soll er, auf dem Rückweg im Antares-System abgesetzt werden. Er ist beauftragt, im Auftrag des Diktators persönlich dort mit dem Imperator Geheimverhandlungen führen.“

„Ich werde zukünftig die, wie du es nanntest, unteren Chargen, nie wieder unterschätzen, das kann ich dir versichern.“ Famke überlegte fieberhaft. Dann fragte sie nachdenklich: „Siehst du eine Chance, falls wir die passenden Uniformen auftreiben können, dass wir vor dem Abflug des Transporters den Mars erreichen können? Um dann dort wiederum unbemerkt an Bord des Frachters zu gelangen.“

Yunai machte eine wiegende Geste mit ihrer Linken. „Vom Raumhafen bei Adelaide fliegt alle zwei Tage ein Transporter zum Mars zurück, nachdem er seine Ladung für die Provisorische Militärbasis dort gelöscht hat. Dieser Raumhafen wird nur sehr sporadisch bewacht. Dort haben wir vermutlich mehr Glück, als anderswo. Außerdem liegt er, von unserer jetzigen Position aus, am nächsten.“

Famke lächelte zufrieden. „Sehr gut. Dann besprechen wir morgen Vormittag alles Weitere. Ich hatte ohnehin vor, dich und Darweshi auf den aktuellen Stand zu bringen. Danach werden wir darüber beraten, ob wir einen Ausbruch zum Mars wagen wollen.“

Yunai machte ein zweifelndes Gesicht, sagte aber nichts dazu.

Famke Korkonnen erhob sich und verabschiedete sich schnell von ihr. Sich wieder auf das Feldbett sinken lassend, denn noch fühlte sie sich ziemlich zittrig, hörte sie, wie die Finnin draußen vor dem Zelt einige Worte mit jemandem wechselte. Gleich darauf erschien Darweshi Karume im Zelt und nickte ihr aufmunternd zu. „Wie war das Gespräch mit ihr?“

Yunai zeigte ein zaghaftes Lächeln und antwortete: „Besser, als ich befürchtet hatte. Sie scheint mir nicht mehr völlig zu misstrauen. Ich hoffe nur, dass sich ihr Misstrauen, und das des gesamten Teams gegen mich irgendwann legen wird.“

„Ein paar von denen haben bestimmt auch noch Vorbehalte gegen mich. Aber das wird schon irgendwann werden.“

„Bei diesem Kelvin Gorlan bin ich mir da nicht so sicher.“

Das Lächeln des Mannes verlor sich. „Ja, in dessen Nähe heißt es aufpassen. Wir sollten ihm keinen Grund geben, an uns zu zweifeln. Noch mehr zu zweifeln, meine ich.“

Draußen war es mittlerweile fast vollkommen finster geworden. Darweshi entkleidete sich zwanglos, bis auf die Unterhose, und schlüpfte danach schnell unter die leichte Decke auf seinem Feldbett. Wie an den Abenden zuvor unterhielten er und Yunai sich noch eine Weile, bevor der Mann ihr eine Gute Nacht wünschte und ihr den Rücken zu drehte.

Für eine Weile lag Yunai noch wach, bevor sie ihre Augen ebenfalls schloss und leise meinte: „Ich wollte, ich wüsste, wie das alles enden wird.“
 

* * *
 

„Das alles wird kein gutes Ende nehmen“, prophezeite Irina Hayes überzeugt.

Vor einigen Minuten war sie, als Letzte von drei Leuten erschienen, die Dean am Abend in seinen Bungalow eingeladen hatte. Sie sah von Dean Corvin zu Rian Onoro und zuletzt zu Karambalos Papadopoulos, die gemeinsam mit ihr und Dean Corvin, bei einem kleinen Snack und einem Tee, im Wohnraum saßen. Beide trugen seit einigen Monaten bereits die schwarze Uniform der Farradeen-Allianz. „Ihr seid, vor knapp einem halben Jahr erst, glücklich vom Mars entkommen und jetzt wollt ihr da wieder hin?“

„Die Crew der NOVA SOLARIS hat sich freiwillig gemeldet, für das geplante Landeunternehmen, während des Großangriffs auf die Flottenverbände der Konföderation Deneb im Sol-System.“

Irina Hayes schnappte nach Luft. Sie wusste natürlich um die für Anfang November geplante Offensive der alliierten terranischen und farradeenischen Raumflottenverbände. Dabei sollte der Angriff der vereinten Flotten aus verschiedenen Vektoren erfolgen.

Vor drei Monaten hatte der gegenwärtig höchste, zivile Regierungsvertreter des ehemaligen Terranischen Imperiums überraschend entschieden, die Welten des Terranischen Imperiums als Protektorate an die Farradeen-Allianz abzutreten. Dabei hatte er, nach einigem Zögern, dem Druck der führenden terranischen Militärs nachgegeben, deren Flotten wegen der Aberkennung des Kombattanten-Status für terranische Militärs, durch den Diktator von Denebarran, quasi handlungsunfähig waren. Die folgenden, komplizierten Verhandlungen waren auf Farradeen erfolgt. In Dauersitzungen, die sich aneinandergereiht hatten. Am Ende waren die Vertreter des ehemaligen Imperiums und der Farradeen-Allianz überein gekommen, beide Sternenreiche, nach und nach, zu einem einzigen zusammenzuschließen. Doch bis dieses Ziel erreicht sein würde, konnten noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, vergehen. Aber der erste Schritt war gemacht worden, mit der Ratifizierung des Vertrages, vor knapp vier Wochen.

Immerhin erlaubte die Abtretung der Terranischen Planeten, als Protektorate der Regierung auf Farradeen, die Flotten des ehemaligen Terranischen Imperiums unter ihren Oberbefehl zu stellen. Somit war das Argument des Diktators, in Bezug auf den Status der ehemaligen Terranischen Raumflotte, hinfällig. Zumindest in den Augen der terranischen und farradeenischen Rechtsgelehrten. Seit der Ratifizierung des Vertragen trugen die terranischen Soldaten, zum Übergang nun dunkelgraue Uniformen, statt der hellgrauen. Gleichfalls wurden gegenwärtig, bei den letzten terranischen Kriegsschiffen, die Markierungen des Terranischen Imperiums entfernt und die des Farradeen-Protektorats angebracht.

Dass dieser Prozess am Ende dann doch so schnell in Gang gesetzt werden würde, damit hatte im ehemaligen Imperium niemand wirklich gerechnet. Die terranischen Generale, unter der Führung von General Hilaria Inira Mbena, hatten es verstanden, den aktuell verantwortlichen Politikern anhand mehrerer Holosimulationen eindringlich zu erläutern, was militärisch passieren konnte, wenn die ehemalige Terranische Raumflotte noch weiter handlungsunfähig bleiben würde. Man hatte ihnen klargemacht, dass die neun Flotten die Initiative zurückerlangen mussten. Eine reine Verteidigung der Planeten spielte am Ende der Konföderation Deneb in die Hände. Das hatten die Verantwortlichen eingesehen. Vermutlich auch deshalb, weil die verantwortlichen terranischen Politiker, offiziell in beratender Funktion, in die Regierung von Farradeen integriert worden waren.

All das war Irina Hayes bekannt, als sie ihre momentane Überraschung überwand und sich giftig bei Corvin erkundigte: „Wieso freiwillig?“

Dean Corvins Augenbrauen hoben sich leicht. „Du kennst die Antwort. Unser Kreuzer ist für die Landung auf dem Mars am besten geeignet, sobald sich die Flotten, rings um Mars herum, miteinander prügeln. Die NOVA SOLARIS ist schnell und wendig, und wie wir bei Eris erlebt haben, hält sie auch etwas aus.

„Die NOVA war annähernd schrottreif, als wir von dem letzten Einsatz im Sol-System zurückkehrten“, versetzte Irina erbost. „Jetzt versuchst du, das Schiff endgültig zu ruinieren.“

Perplex wegen dieses unsachlichen, verbalen Angriffs konterte Corvin unwillig: „Gerade du müsstest wissen, dass das nicht stimmt, Irina. Die NOVA SOLARIS liegt mir am Herzen, und noch mehr die Besatzung. Natürlich könnten die vereinten Flotten mit Torpedos das Hauptquartier auf dem Mars dem Erdboden gleichmachen, doch wir wollen lieber den befehlshabenden Militärgouverneur schnappen, damit er die Kapitulation befehlen kann. Das würde uns eine Menge Verluste ersparen.“

Irina Hayes nahm einen Schluck von ihrem Tee. Sie wusste natürlich, dass die Argumente des Majors nicht von der Hand zu weisen waren. Sie hatte nur gehofft, dass sich Corvin nicht mehr so sehr um solche Risikoeinsätze bemühen würde, nachdem er in Rian Onoro seine Lebensgefährtin gefunden hatte, wie es schien. Deshalb blieb ihr Blick auch letztlich bei der Dunkelhäutigen hängen. Die Hände in die Hüften stemmend meinte sie finster: „Von Ihnen bin ich schwer enttäuscht, Rian. Ich hatte gehofft, Sie würden einen besseren Einfluss auf Dean haben.“

Bevor Rian Onoro etwas darauf erwidern konnte, winkte Irina Hayes ab und seufzte: „Vergessen Sie es, der Major wird sich ja doch nie ändern.“

„Es gibt noch einen zweiten Grund, warum wir wieder da runter müssen“, warf Karambalos Papadopoulos ein. Wie ich bereits vor einiger Zeit erklärte, haben ich und das Team, dem ich angehörte, an etwas gearbeitet, dass von den Ingenieuren als Autonomes-Taktisches-System, kurz ATS, an Bord einer neuen Flotte von Raumschiffen eingebaut worden ist. Zu Beginn des nächsten Jahres wäre die Zehnte Flotte in Dienst gestellt worden, die dieses neue System hätte testen sollen. Ich denke, dass die Konföderation diese Flotte fertigstellen will und dann selbst bemannen wird. Allerdings wissen die nichts von ATS. Zumindest bin ich auf dem Mars nie danach gefragt worden. Vielleicht misst man innerhalb der Konföderation aber diesem System auch nicht die Bedeutung bei, die es verdient.“

Dean Corvin nickte zustimmend in Richtung des Griechen. „Wenn ich das richtig verstanden habe, so sind die Raumschiffe, wenn das System aktiviert wird, nicht nur dazu in der Lage, ohne jegliche menschliche Einflussnahme, alle notwendigen taktischen Manöver auszuführen, sondern die Computer der einzelnen Kriegsschiffe sind auch untereinander vernetzt, so dass sie ihre Vorgehensweise untereinander abstimmen können.“

„Das ist korrekt, Major. Falls die Besatzungen der Kriegsschiffe ausfallen, so soll dieses System gewährleisten, dass die Raumschiffe nicht zur leichten Beute für den Feind werden. Dass dieses System sehr viel weitreichender funktioniert, das fand man erst nach einigen Simulationen mit diesem neuen System heraus.“

Irina Hayes wandte ein: „Was macht Sie so sicher, dass die Techniker der Konföderation nicht längst von diesem System wissen?“

Der Hüne grinste offen. „Dazu müssten die erst einmal wissen, wonach sie dabei zu suchen hätten. Die zusätzlichen Systeme sind relativ klein und verraten ihre Funktion nicht. Die einzig verdächtige Komponente dieses Systems befindet sich innerhalb des Haupt-Schiffscomputers. Sie fällt also gar nicht auf. Dazu müsste man schon das Computersystem der neuen Raumschiffe zerlegen. Ich glaube jedoch, dass die Konföderation eher bestrebt ist, die neuen Raumschiffe fertigzustellen um sie schnellstmöglich in den Einsatz zu schicken.“

„Dafür sprechen auch einige Bemerkungen, die ich während meiner Gefangenschaft von den Wachsoldaten der Konföderation aufschnappen konnte“, stimmte Rian Onoro zu. „Das habe ich auch bei meinem Gespräch mit Generalmajor Traren zu Protokoll gegeben.“

„Woraufhin er den Kommandoeinsatz befürwortet hat“, fasste Dean Corvin mit einem Lächeln zusammen und wechselte ein paar schnelle Blicke mit seiner Freundin. Wieder ernst werdend erklärte er: „Im Computer des Provisorischen Hauptquartiers der konföderierten Invasoren, auf dem Mars, werden die Daten zu finden sein, die uns verraten, wo sich die Einheiten der Zehnten Flotte momentan befinden. Nach letzten Geheimdienst-Erkenntnissen sollen die Raumschiffe auf einem der kleineren Raumhäfen, in der Nähe eines Werftkomplexes, liegen. Sobald wir es genau wissen kommt der wirklich schwierige Teil. Wir müssen an Bord eines dieser Raumschiffe gelangen, die Schiffssysteme aktivieren und den Kommando-Code eingeben. Einmal aktiviert sendet dieses eine Kriegsschiff das Prioritätssignal an die übrigen Raumschiffe, das sie vom Warte-Modus in den Aktiv-Modus versetzt. Und dort wird dann ebenfalls das ATS hochgefahren.“

„Und dann geht es für die Raumschiffe Zack-Hopp und Weg“, frohlockte Karambalos Papadopoulos und rieb sich die übergroßen Hände.

Rian Onoro sah ihn grimmig an und meinte, etwas gereizt: „Dein ewiges Zack-Und-So-Weiter geht mir langsam auf die Nerven, mein Freund.“

„Grundsätzlich hat unser Stabsunteroffizier Recht“, schmunzelte Corvin. „Sobald das Prioritätssignal gesendet worden ist, werden die einhundert Kriegsschiffe ein, zumindest für die Konföderierten, gespenstisches Eigenleben entwickeln. Der Code, der in einen der Bordcomputer eingegeben wird, enthält auch das Ziel für diese Flotte.“

Irina Hayes sah fragend zu Dean Corvin und wandte kritisch ein: „Aber die Konföderierten werden diese Raumschiffe doch fraglos verfolgen.“

Der Kanadier stimmte beinahe fröhlich zu: „Ja und genau darauf hofft Generalmajor Traren. Er hat nämlich nicht vor, die Raumschiffe ohne Besatzung allzu weit fliegen zu lassen. Eine halbe terranische Kriegsflotte wird mit Offizieren und Mannschaften, für diese Raumschiffe, am Treffpunkt warten, wo die Schiffe von ihnen übernommen werden. Es steht zu vermuten, dass der Feind keine ganze Flotte abziehen wird, für die Verfolgung. Die Verfolger werden also einer Übermacht gegenüber stehen, sobald sie den Hyperraum verlassen um die Flotte wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Vermutlich wird man sogar eher an einen technischen Defekt glauben, anstatt dass wir daran gedreht haben.“

„Ah“, machte Irina Hayes. „Der Feind soll also zusätzlich auch noch Kriegsschiffe verlieren. Sehr schön ausgedacht – nur funktionieren muss das Ganze noch.“

„Wird es“, gab sich Corvin zuversichtlich. „Der psychologische Effekt wird dabei eine weitaus wichtigere Rolle spielen, als der militärische Erfolg. Die Terranische Flotte musste beim Überfall auf das Sol-System hart einstecken. Wir haben das am eigenen Leib erfahren, Irina. Das nagt natürlich am Selbstbewusstsein der Männer und Frauen und somit an der Moral der Terraner. Ein erster, kleiner Sieg wird ihnen neuen Auftrieb geben.“

Dean Corvin blickte in die Runde, als er geendet hatte. Ihm war nicht verborgen geblieben, dass ihn drei Augenpaare intensiv musterten.

„Was ist denn?“

Es blieb für eine Weile still, in der Papadopoulos zu Rian sah, Rian zu Irina und Irina zu den beiden neuesten Besatzungsmitgliedern der NOVA SOLARIS. Schließlich fasste sich Irina Hayes ein Herz und sprach das aus, was ihnen allen dreien aufgefallen war. „Es ist die Art, wie du eben von Terranern gesprochen hast. So als wärst du nicht ebenfalls auf der Erde aufgewachsen, sondern hier auf Farradeen.“

Dean Corvin sah die Anwesenden nach der Reihe an. Als seine Freundin sacht, beinahe entschuldigend, mit dem Kopf nickte, sagte er ruhig: „In meinem Herzen werde ich immer ein Terraner bleiben. Doch seit ich diese schwarze Uniform trage, hat sich etwas verändert. Zuerst ist mir das nicht bewusst geworden, doch mittlerweile spüre ich es. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich Loyalität als sehr wichtig erachte. Solange ich die Uniform der Farradeen-Allianz trage möchte ich sie, und das wofür sie steht, in Ehren halten. Doch das wird schwer, bei geteilter Loyalität. Solange ich also die Uniform der Farradeen-Allianz trage, gilt der Allianz auch meine ganze Loyalität. Ich empfinde so. Ich erwarte nicht von euch, dass ihr das genauso empfindet. Zumindest nicht außerhalb des Dienstes. Doch macht euch bitte klar, dass ihr drei denselben Eid geschworen habt, wie ich.“

Karambalos Papadopoulos lehnte sich im Sessel zurück und schlug das rechte Bein über das Linke. „Es ist nicht für jedermann einfach, Terra hinter sich zu lassen und den Verein zu wechseln. Einigen von uns fällt das schwer.“

Für diese Bemerkung erntete der Grieche einen unwilligen Blick von Rian Onoro. Sie ergriff schnell eine Hand ihres Freundes, der auf dem Sofa neben ihr saß, und drückte sie für einen kurzen Augenblick.

Doch anders, als Rian es befürchtet hatte, brauste Dean nicht auf sondern erwiderte etwas eindringlicher: „Das ist mir, zu Beginn dieses Jahres, mindestens genauso schwer gefallen, wie jedem von euch. Ich habe zwar keine eigene Familie auf Terra, doch die Familien von Jayden und Kimi liegen mir nicht weniger am Herzen. Besonders Kimis Schwester Famke steht mir so nah, wie eine eigene Schwester. Was wir momentan tun, das tun wir nicht zuletzt auch für sie und jeden Menschen im Sol-System.“

Wieder blieb es für einen Moment still, bevor sich Irina erhob, wobei sie dem Griechen einen beschwörenden Blick zuwarf. „Es ist spät geworden. Wird Zeit, dass ich mich auf den Weg zu mir mache.“

Papadopoulos erhob sich ebenfalls schnell und meinte: „Ich komme mit. Natürlich nicht mit zu Ihnen, Hauptmann. Ich meinte, für mich wird es ebenfalls Zeit.“

Dean und Rian begleiteten die beiden Kameraden zum Schott, dass hinaus auf die Straße führte. Sie verabschiedeten sich rasch und Arm in Arm sahen sie ihnen nach, bevor der Kanadier das Schott schloss und sich seiner Freundin zu wandte.

„Karambalos meinte es eben bestimmt nicht böse“, sagte Rian leise und sah Dean dabei inständig an. Dabei beobachtete sie, wie sich seine Züge langsam entspannten. „Er wollte dich ganz bestimmt nicht verurteilen, wegen deiner Ansicht. Die ich übrigens verstehen kann, Dean.“

Papa ist etwas direkt, doch das kann ich ihm nicht verübeln“, erwiderte der Mann ruhig. „Mir ist das lieber, als würde er hinter dem Berg halten, mit seiner Meinung.“

Rian lächelte beruhigt. Sie küsste Dean sanft, bevor sie ihn an die Hand nahm und mit sich in Richtung des Schlafraums zog. Dabei fragte sie, mit unschuldigem Augenaufschlag: „Was machen wir zwei nun mit dem angebrochenen Abend, nachdem dein Erster Offizier es für richtig hielt so überstürzt aufzubrechen.“

Dean lachte leise. „Das ist also nicht nur mir aufgefallen. Irina ist einerseits schon ziemlich hart, wenn es um den Dienst geht, und mitunter auch mal ziemlich direkt. Doch im Grunde ihres Herzens sehnt sie sich nach Harmonie, dessen bin ich mir sicher.“

Rian aktivierte das Licht des Schlafraumes nicht. Durch das Fenster fiel nur ein sehr schwacher Lichtschein und im Dunkel des Zimmers legte sie ihre Arme um Corvins Nacken.

„Ihr seid euch verdammt ähnlich“, flüsterte Rian und küsste Dean sacht auf die Lippen. „Ihr beide könntet glatt Geschwister sein.“

Es dauerte eine Weile, bis Dean Corvin erwiderte: „Manchmal wünschte ich mir, sie wäre tatsächlich meine Schwester. Ich hatte nie eigene Geschwister. Was dem am nächsten kommt ist meine Freundschaft zu Kimi und seiner Schwester Famke. Und seit Beginn des Jahres eben auch die Freundschaft, und die damit verbundenen geschwisterlichen Gefühle, die mich mit Irina verbindet. Davon habe ich bisher niemandem erzählt.“

„Wenn ich nicht wüsste, dass sie mit Diana Spencer glücklich ist, dann würde ich jetzt glatt eifersüchtig werden. Na ja, so wie du von ihr sprichst.“

Corvin zog seine Freundin etwas enger zu sich heran und gab leise zurück: „Vermutlich habe ich bisher deshalb keinem Menschen davon erzählt.

„Nicht einmal Kimi?“

„Nicht einmal Kimi. Ich frage mich, was inzwischen aus Famke geworden ist.“
 

* * *
 

Famke Korkonnen lag, fast mit dem Untergrund verschmolzen und im Schutz einiger niedriger Büsche, hinter einer kleinen Anhöhe. Zusammen mit den Mitgliedern des Sperber-Teams, zu dem nun auch Darweshi Karume und Yunai Lee zählten.

Der militärisch genutzte Raumhafen von Adelaide lag im hellen, grellweißen Licht der Tiefenstrahler. Abseits des erleuchteten Gebietes herrschte noch tiefe Finsternis. Die Morgendämmerung würde erst in gut einer Stunde einsetzen. Hier bereits nach lokaler Zeit den 31. Oktober schreibend, war es nach gültiger Standardzeit noch der 30. Oktober.

Sie beobachteten gemeinsam das vor ihnen stattfindende, geschäftig wirkende, Treiben auf dem Raumhafengelände. Die Frequenzbrillen hatten sie auf die niedrigste Leistungsstufe eingestellt, denn sonst wären sie von den Tiefenstrahlern, die rund um den Raumhafen herum installiert waren, geblendet worden. Die geschäftige Betriebsamkeit auf dem Landefeld des Raumhafens war selbst bis zu diesem Versteck spürbar.

„Da ungesehen auf einen feindlichen Frachter zu gelangen wird bestimmt nicht einfach werden“, unkte Kelvin Gorlan. „Wenn das nur gut geht.“

„Ruhe jetzt, Sperber-Drei!“, fauchte Famke heiser. „Wir schaffen das. Dort hinten, an der westlichen Ecke der Lagerhallen, werden wir Deckung nehmen. Von dort aus ist es nicht weit zu dem Militärfrachter, der eben gelandet ist. Das ist unser Transportmittel zum Mars, würde ich sagen. Alle anderen Raumschiffe tragen zivile Markierungen.“

„Am besten wird es sein, wir verstecken uns zwischen den Frachtstücken“, raunte Moshe Melnik. „Dann werden wir, ganz gemütlich, an Bord transportiert.“

Famke sah von ihrer Linken, wo Moshe auf dem Boden lag, zur anderen Seite und warf Yunai Lee einen fragenden Blick zu.

Die dunkelhaarige Frau machte eine zustimmende Geste und sah wieder nach vorne. Dabei flüsterte sie: „Von hier aus werden bestimmt keine Güter zum Mars gebracht, die einer besonderen Kontrolle bedürfen. Somit dürfte es relativ leicht werden unbemerkt an Bord des Frachters zu gelangen, wenn wir uns nicht ungeschickt anstellen.“

„Falls sich jemand zufällig absichtlich ungeschickt anstellt, werde ich ihn erschießen“, prophezeite Gorlan düster und Yunai wusste, dass er sie damit gemeint hatte. Sie ließ sich davon jedoch nichts anmerken. Angestrengt sah sie weiter geradeaus.

Darweshi, der sich an ihrer Seite hielt, legte dafür seine Hand beruhigend auf ihren Unterarm und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, als sie ihn ansah.

„Das gilt für jeden“, betonte Famke Korkonnen vermittelnd. „Wir halten uns hinter dieser Anhöhe und umgehen das Landefeld etwa einen Kilometer in westlicher Richtung. Dort nähern wir uns im Sichtschutz einiger Baumgruppen. Ausführung.“

Sie zogen sich in tiefster Gangart zurück, bevor sie sich erhoben und im Sichtschutz des Hügels geduckt in Richtung Westen marschierten. Dabei übernahm Dheran Collard, der über das beste räumliche Wahrnehmungsempfinden von ihnen allen verfügte, automatisch die Führung. So hatten sie es beim Sperber-Team von Beginn an gehalten.

Darweshi Karume fiel dieser eingespielte Automatismus auf, während er sich, dicht an Yunai Lee haltend, hinter dem Aborigine durch die Graslandschaft pirschte. Sie brauchten fast zehn Minuten bis zu der nächsten Baumgruppe, hinter der sie sich aufrichteten.

Um einen der dicken Baumstämme herum spähend erklärte Famke Korkonnen zufrieden: „Sehr gut, einige der Baumgruppen stehen fast ideal hintereinander, von hier aus gesehen. Das vereinfacht die Annäherung an die Lagerhallen. Zum Glück ist dieser Raumhafen in der Vergangenheit niemals abgesperrt worden. Trotzdem sollten wir damit rechnen, dass es hier Patrouillen gibt. Deshalb warten wir hier jetzt ein paar Minuten und beobachten wieder. Besser ist besser. Also die Augen auf und den Mund geschlossen halten.“

Sie verhielten sich lautlos, knieten sich ab und hielten aufmerksam Umschau. Dabei vertraute Darweshi Karume bei der herrschenden Finsternis mehr auf seine Ohren, als auf seine Augen. Nach seiner Meinung hörte man im Dunkeln mehr, als man mit seinen Augen sah. Doch außer den Geräuschen einiger nachtaktiver Tiere konnte er nichts feststellen.

Während sich die Zeit zu dehnen begann, machte sich Karume Gedanken zu Famke Korkonnen. Sie führte diesen Trupp, zumindest nach dem, was er bisher mitbekommen hatte, sehr gut. Offensichtlich hatte sie sich in die Rolle der Anführerin hineingefunden. Er spürte auch, dass diese Rolle von keinem Mitglied des Trupps in Frage gestellt wurde. Auch von ihm selbst nicht und Yunai schien ihre Funktion ebenfalls zu akzeptieren. Bei diesem Gedanken warf er der Überläuferin einen schnellen Blick zu. Zwar vertraute Karume ihr grundsätzlich, doch er war natürlich nicht so naiv, wie es vielleicht ein Kelvin Gorlan glaubte. Er hatte schon vor ihrem Aufbruch von Broken Hill beschlossen, sie sehr genau im Auge zu behalten. Wie hatte es Famke eben so treffend formuliert? Besser ist besser.

Endlich gab Famke Korkonnen das Zeichen zum Vorrücken. Im Dunkel des frühen Morgens huschten neun Menschen von Baumgruppe zu Baumgruppe und kamen den anvisierten Lagerhallen des Raumhafens immer näher.

Als sich Kelvin Gorlan bei der letzten schützenden Baumgruppe als Erster löste hielt Yunai Lee ihn überraschend am Arm zurück und deutete nach vorne zur Ecke der Lagerhalle.

Kelvin Gorlan fluchte unterdrückt. Es dauerte einen Augenblick, bis Gorlan den Wachposten entdeckte, der im nächsten Moment am Rand des Landefeldes entlang davon schritt. Weder er, noch Famke auf seiner anderen Seite, hatten den Posten vorher bemerkt.

„Seien wir froh, dass Yunai bessere Augen hat, als wir zwei“, flüsterte die Famke Korkonnen. „Ich denke, wir wissen jetzt, dass sie keinen Verrat plant.“

Kelvin Gorlan wirkte nicht völlig überzeugt, widersprach aber auch nicht.

Sie warteten einige Minuten, um sicher zu sein, dem Wachposten nicht doch noch in die Arme zu laufen, bevor sie sich wieder in Marsch setzten. Darweshi Karume sah in dieser Zeit kurz zu Yunai und hob den Daumen in ihre Richtung.

Dicht an die Außenwand der Lagerhalle geschmiegt arbeiteten sich die Mitglieder des Sperber-Teams weiter vor. Zum Glück reichte das Licht der Tiefenstrahler nicht bis ganz an diese, etwas abseits liegende, Halle heran.

Famke Korkonnen kniete sich an der Ecke der Halle ab und warf einen raschen Blick um die Ecke. Niemand war zu sehen und so huschte sie einen Moment später um die Ecke, mit dem Handzeichen, ihr zu folgen.

Darweshi Karume bildete jetzt, zusammen mit Sarah Anderson, die Nachhut. Nebeneinander rannten sie in Richtung des Frachters, der sie nun gegen eine Sicht aus der Richtung des deutlich belebteren anderen Endes des Raumhafens schützte. Unangefochten erreichten sie den Frachter und Yunai übernahm, zusammen mit Famke Korkonnen die Spitze. Dabei flüsterte die dunkelhaarige Frau: „Ich hoffe nur, dass man in den letzten Wochen die Standard-Codes, die ich noch kenne, nicht geändert hat.“

Famke nickte nur.

Als die Anderen aufgeschlossen hatten gab Yunai Lee den Code zum Öffnen des Schotts ein. Zu ihrer Erleichterung funktionierte er.

Mit einem leisen Zischen glitten die beiden Hälften des äußeren Schotts zur Seite. Rasch drangen die Männer und Frauen ein und Yunai schloss das äußere Schott wieder. Das spärliche Licht der Minimal-Beleuchtung im Innern der Schleuse reichte Yunai Lee aus um den Öffnungsmechanismus des inneren Schotts zu erkennen. Es dauerte einen Augenblick, bevor sich die beiden Schotthälften teilten und den Weg ins Innere des Frachters freigaben.

Im Innern des Frachters drangen vielfältige Stimmen an ihre Ohren und Yunai zischte überrascht: „Das ist jetzt seltsam. Hier sollten im Grunde nur die beiden Piloten des Frachters anwesend sein.“

„Das scheint aus einem der Frachträume zu kommen“, flüsterte Moshe Melnik zurück. „Wir sollten nachsehen, was da los ist.“

Sie schlichen durch den Gang, durchquerten das leere Passagier-Abteil des Standard-Frachters und begaben sich weiter in Richtung der Laderäume. Das Schott von einem der Räume stand offen. Aus dem Innern des betreffenden Laderaumes kamen die Stimmen, die sie im Gang gehört hatten. Es mussten mindestens ein halbes Dutzend sein, eher noch mehr.

„Verdammt!“, fluchte Famke Korkonnen unterdrückt. „Verdammt, verdammt! Wir können uns nicht mit so vielen Gefangenen belasten.“

Darweshi Karumes Miene versteinerte, denn er wusste, was diese Worte bedeuteten. Gleichzeitig war ihm klar, dass sie Recht hatte. So war der Krieg.

„Wir werden zuerst einige Informationen einfordern“, flüsterte Famke und gab dann das Zeichen einzudringen.

Sie überraschten die beiden Piloten des Frachters, zusammen mit acht Soldaten der Konföderation Deneb. Aus ihren Gesprächen hatte das Sperber-Team unschwer erkennen können, dass sie zum Mars mitfliegen sollten. Offensichtlich hatten sie den beiden Piloten dabei geholfen, die Fracht zu überprüfen, um rascher hier weg zu kommen.

Mit vorgehaltenen Waffen hielt das Sperber-Team die Anwesenden in Schach. Famke übernahm es, den Soldaten zu befehlen: „Die Piloten des Frachters folgen mir zum Cockpit. Der Rest verhält sich ruhig und zieht die Uniformen aus.“

Ein Mann und eine Frau traten etwas zur Seite und verließen, auf Famke Korkonnens Zeichen hin den Frachtraum. Moshe Melnik und Alexandra Marsden übernahmen es, sie vor sich her in Richtung des Cockpits zu treiben.

Die restlichen Anwesenden kamen der Aufforderung nach, die Uniformen abzulegen. Dabei erklärte Famke ihrem Team unterdrückt: „Die Uniformen werden uns auf dem Mars unter Umständen nützliche Dienste leisten.“

Den hell-gelben Uniformstreifen und den Abzeichen auf ihren Uniformen nach handelte es sich bei den drei Offizieren und fünf Unteroffizieren um Angehörige des Fliegenden Personals.

Famke ließ die sechs Männer und zwei Frauen etwas zurücktreten, während Sarah Anderson und Darweshi Karume die Kleidung einsammelten. Sie sah zu Karume und Sarah und meinte: „Bringt die Sachen am besten ins Passagierabteil.“

Darweshi Karume, der ahnte, was mit den Gefangenen passieren würde, war versucht zu widersprechen, doch er verzichtete darauf. Einerseits war ihm klar, dass Famke Recht damit hatte, dass sie sich nicht mit Gefangenen belasten konnten. Andererseits hätte es die Autorität der Finnin untergraben. Etwas, das er vermeiden wollte, denn in ihrer Situation konnten sie so etwas ganz und gar nicht gebrauchen. Dennoch verspürte er einen imaginären Knoten im Magen, während er Sarah aus dem Lagerraum hinaus auf den Gang folgte.

Im Passagierabteil sah Sarah Anderson zu dem Tansanier und meinte, gerade so, als habe sie seine Gedanken gelesen: „Es geht nicht anders, Darweshi. Aber falls es dich tröstet, mir tut es auch weh, was da gleich passieren wird.“

Darweshi Karume sah in die Augen der Frau, in denen sich tatsächlich Kummer abzeichnete. Mühsam beherrscht nickte er und erwiderte tonlos. „Ich weiß, Sarah. Aber ich will verdammt sein, an dem Tag, an dem ich mich an so etwas gewöhne.“

Sarah sah ihn verstehend an und gab leise zurück: „Ich auch.“

Beide legten die Sachen auf zwei der Sitze des Passagierabteils. Sie verzichteten darauf, zum Lagerraum zurückzukehren, froh darum, nicht dabei sein zu müssen. Dabei fragte sich Darweshi Karume, ob Famke wohl absichtlich Yunai dabehalten hatte. Vielleicht wollte sie die Loyalität der Überläuferin noch auf eine weitere Probe stellen.

Nur unterbewusst nahm er wahr, dass die Stimmen aus dem Lagerraum verstummten. Als das leise Zischen der Plasmagewehre aufklang sah er verzweifelt zu Sarah Anderson, die impulsiv, für einen Augenblick lang, ihre Hand auf seine Schulter legte.

Als Famke und der Rest des Sperber-Teams zu ihnen ins Passagierabteil kamen sah Darweshi Karume sie an. Allen schien es ähnlich zu gehen, wie ihm selbst. Selbst Kelvin Gorlan, der bisher stets einen etwas anderen Eindruck bei ihm erweckt hatte.

Deprimiert sah Famke Korkonnen ihn an und sagte rau: „Wir haben Glück gehabt, den Frachter noch zu erwischen. Fast wären die weg gewesen. Ich werde die Piloten des Frachters jetzt anweisen, um Starterlaubnis zu ersuchen.“

Damit schritt sie an Karume vorbei. Von ihr zu Sarah Anderson blickend murmelte Karume: „Sieht so aus, als wären wir auf dem Weg zum Mars.“

Theorie und Praxis


 

13.
 

Theorie und Praxis
 

Am Abend des 31. Oktobers nach Terranischer Standardzeit hielten drei gewaltige Flottenverbände auf das Sol-System zu. Einer war vor zwei Wochen von Outpost aus aufgebrochen. Admiral Hilaria Inira Mbena hatte es gewagt eine komplette Flotte aus dem Gebiet von Delta-Cephei abzuziehen und auf den Weg zu schicken. Es handelte sich dabei um die Siebte Flotte, unter dem Kommando von Generalmajor Jonathan Joseph Montana. Diesem Mann sagte man nach dass er das riskante Spiel liebte. Seine Flotte traf sich mit der Zweiten Flotte, unter dem Kommando von Generalmajor Nadia Kaszmarek, innerhalb des Aldebaran-Systems.

Nadia Kaszmarek ihrerseits kannte sich nicht nur sehr gut in der Gegend des Aldebaran-Systems aus. Sie galt, wie auch Montana, als eine der fähigsten Flottenkommandeure, über die Hilaria Mbena aktuell verfügte. Nadia Kaszmarek wusste stets sehr gut einzuschätzen, wo ihr taktischer Vorteil lag. Dabei unterschied sie sich dennoch frappierend in ihren Anlagen von ihrem Kollegen Joe Montana.

Aus Richtung der Plejaden kommend hatte sich der zweite Verband mit der Zweiten und Siebten Flotte außerhalb des Aldebaran-Systems vereinigt. Dabei handelte es sich um die Sonnenwind-Flotte, die Mondschatten-Flotte und die Sternenlicht-Flotte der Farradeen-Allianz. Das Oberkommando über die drei Flotten hatte die Oberkommandierende der Raumflotte von Farradeen, Admiral Faora Ty-Verrin in die Hände von Generalmajor Arolic Traren, dem Kommandeur der Sonnenwind-Flotte, gelegt.

Der Dritte Verband hatte den kürzesten Weg ins Sol-System. Er war vom Wega-System aus aufgebrochen und bestand aus der Dritten Flotte und dem Großteil der Fünften Flotte, unterstützt durch zwanzig Raumkreuzer der Ersten Flotte, die Azadeh Hazrat, für diesen Einsatz, an Generalmajor Ilana Stern abgetreten hatte. Damit besaß dieser Verband die Stärke zweier Flotten.

Insgesamt hielten mehr als siebenhundert Kriegsschiffe auf das Sol-System zu. Der Angriffsplan sah vor, dass die Verbände, die aus dem Wega-Sektor anflogen, um zwei Stunden früher angreifen sollten. Ihre Aufgabe war es, über Titan zu erscheinen und den Rest der konföderierten Flotte auf sich zu ziehen, bevor die alliierte Hauptstreitmacht über dem Mars erschien und dort den Hauptangriff einleiten sollte. Während dieses Angriffs sollte die NOVA SOLARIS auf die Oberfläche hinabstoßen, landen und einen Stoßtrupp ausschleusen. Er sollte in Erfahrung bringen, wo exakt die Flotte lag, die man entführen zu können hoffte.

Nur ein Teil dieses Angriffsplans war Andrea von Garding bekannt, als sie die SATURN in Richtung des Sol-Systems steuerte. Dabei schien es ihr geradezu wie ein seltsamer Scherz, dass dieses Raumschiff nach jenem Planet benannt worden war, den sie nun anflogen. Die SATURN gehörte zu jenen zwanzig Raumkreuzern, die nun unter dem Oberbefehl von Generalmajor Ilana Stern standen.

Gelegentlich einen schnellen Blick mit ihrem Mann wechselnd, der an der Konsole der Waffensteuerung saß, dachte sie daran, dass auch Dean Corvin wieder mit von der Partie sein würde - und wieder sollte er mitten im Geschehen stehen. Dieser Gedanke beunruhigte die junge Frau und machte sie gleichzeitig wütend. Dean schien sich hervorragend mit seinem derzeitigen Kommandeur zu verstehen. Anders konnte es sich Andrea nicht erklären, wie er es schon wieder geschafft hatte, dass man die NOVA SOLARIS für den gefährlichsten Teil dieses Unternehmens ausgewählt hatte.

Der hat das Anrecht auf die wildesten Kommandounternehmen gepachtet, dachte die junge Frau grimmig. Aber falls er und ich diesen Wahnsinn überleben sollten, werde ich ihm was erzählen, sobald wir uns das nächste Mal sehen. Ist doch unerhört.

Der Teil von ihr, der im Dienst stets konzentriert blieb, achtete derweil darauf, dass der Schlachtkreuzer seine Position, am Rechten Flügel der Formation, hielt. Dabei fragte sie sich, was sie am Ziel des Fluges erwarten mochte. Mehr als siebenhundert Kriegsschiffe gegen etwa Fünfhundert der Konföderation Deneb. Vor einem Jahr hätte Andrea von Garding bei diesem Kräfteverhältnis auf einen klaren Sieg gesetzt, doch die Niederlage der Terranischen Raumflotte, zu Beginn des Jahres, hatte auch an ihrem Selbstbewusstsein genagt. Zwar waren alle Angriffsschiffe nun mit einem neuen System ausgestattet, das die Störsignale des Feindes absorbieren sollte, doch es war noch unerprobt.

Außerdem waren da noch die Abwehrstationen, die sicherlich mittlerweile von den Streitkräften der Konföderation übernommen worden waren. Sie würden das Kräfteverhältnis ziemlich ausgleichen, vermutete die Pilotin der SATURN.

Bei diesem Gedanken verfinsterte sich die Miene der Frau. Der Vorteil, den sich die Konföderation Deneb vor dem Angriff auf das Sol-System erschlichen hatte, war dahin. Diesmal würde es auf das Können der Soldaten ankommen, und die Soldaten des Terranischen Imperiums galten als die besten, aller fünf Sternenreiche. Diesmal würden sie dem Feind das Fürchten lehren.

Doch trotz aller Zuversicht war da diese Stimme im Hintergrund ihres Bewusstseins, die ihr zuflüsterte, vorsichtig zu bleiben.

Andrea von Garding kontrollierte wiederholt die Entfernung zum Sol-System. Noch drei Minuten Flug im Hyperraum, bevor die anfliegenden beiden Flotten, nahe des Saturn, in den Normalraum zurückfallen würden. Gleichzeitig gab der Kommandant Gefechtsalarm. Ähnliches würde sich auch auf den über zweihundert anderen Kriegsschiffen abspielen. Die beiden terranischen Kampfverbände machten sich bereit für den ersten Gegenschlag.
 

* * *
 

Rund neunhundert Lichtjahre vom Geschehen im Sol-Sektor entfernt brütete Oberleutnant Rodrigo Esteban, in seinem kleinen Büro, im militärischen Forschungszentrum auf Outpost, über zwei verschiedenen Schaltplänen. Im Grunde hätten sie sich viel weniger voneinander unterscheiden sollen, denn es handelte sich in beiden Fällen um einen Schaltplan für einen Garrett-Hellmann Prozessor.

Der Südländer sah etwas frustriert von den Plänen auf und erinnerte sich an ein Gespräch, dass fast ein Jahr zurücklag. Damals hatten ihn Dean und Kimi auf Luna besucht. Direkt von der Erde kommend, wo sie seinerzeit Cole Hauser, den Geschäftsführer der Garrett-Hellmann Incorporated, getroffen hatten. Die beiden Freunde waren damals jener Teufelei der Konföderation Deneb auf die Spur gekommen, die für die katastrophalen Missweisungen terranischer Ortungsanlagen verantwortlich gewesen war.

Doch bevor beide an handfeste Beweise gelangen konnten hatte die Konföderation bereits zugeschlagen.

Esteban schüttelte diese Gedanken ab und versuchte, sich wieder auf die beiden Pläne zu konzentrieren. Dabei summte er leise ein Lied vor sich hin, das ihm seine Freundin, Nayeli Gabriela García Herández beigebracht hatte. Er mochte es. Natürlich besonders deshalb, weil er dabei stets unbewusst an Nayeli dachte. Hier auf Outpost gehörte sie zu seinem Team, das hatte er bei seinen Vorgesetzten durchsetzen können. Dabei hatte er gute Gründe anführen können, denn außer dass er Nayeli liebte war sie eine exzellente Technikerin, die ihn bei seinen Forschungen gut beraten konnte. Sie ergänzten sich somit auch beruflich sehr gut.

Momentan arbeitete Nayeli an etwas, worum er sie vor einigen Stunden gebeten hatte. Er hatte herausgefunden, dass es bauliche Unterschiede gab, zwischen GH-Prozessoren, die vor dem Sommer 3220 produziert worden waren, und denen, die danach die Werke der Garrett-Hellmann Incorporated verlassen hatte. Die Mexikanerin sollte für ihn überprüfen, worin genau der Unterschied zwischen beiden Baureihen lag. Kein Mensch wäre besser dazu geeignet gewesen, denn die Frau hatte bereits daran mitgewirkt, jenes Anti-Stör-System zu entwickeln, durch das die alliierten Flotten in der Lage sein würden, die Störsysteme der Konföderation Deneb zu neutralisieren.

Zumindest hatte Rodrigo Esteban das geglaubt. Bis vor einem Tag. Zu diesem Zeitpunkt war ihm nämlich zum ersten Mal dieser Unterschied in den Schaltplänen aufgefallen. Eine Tatsache die ihm nicht gefiel. Zuerst hatte er umgehend seinen Vorgesetzten informieren wollen, doch was hätte er ihm ohne Beweis erzählen sollen. Nur aufgrund eines Bauchgefühls konnte er nicht erwarten, dass dieser die Flottenführung rebellisch machte.

Esteban griff nach der Tasse mit dem vierten Kaffee an diesem Abend. Drei Tassen Militär-Kaffee und deine Eingeweide sind wund, hatte es zu seiner Kadettenzeit geheißen. Vielleicht war heute ein guter Tag um herauszufinden, was fünf Tassen anrichten würden. Achtlos nach der Tasse angelnd verfehlte er sie und warf sie vom Tisch. Klirrend zerschellte sie auf dem Boden und der Spanier fluchte unterdrückt.

Mürrisch erhob er sich, sammelte die Scherben auf und entsorgte sie über den Abfallvernichter. Vielleicht war das ein Fingerzeig einer übernatürlichen Macht doch besser keinen weiteren Kaffee zu trinken, orakelte Esteban und gähnte herzhaft. Dabei setzte er sich wieder an seinen Arbeitstisch und schnitt sich einen Finger an der Kante des Plans auf, der etwas über die Tischkante heraus schaute.

Mit einem wütenden Schmerzlaut nahm er den Finger in den Mund, saugte einen Tropfen Blut auf und sah dabei mit funkelnden Augen auf den betreffenden Plan. Nach einem Augenblick erstarrte er und blickte unverwandt auf jenen Teil des Plans, an dessen Kante er sich den Finger aufgeschnitten hatte.

Als er sich endlich wieder aus seiner Starre löste, dachte er, mit einem ganz und gar unguten Gefühl in der Magengrube: Bei allem, was mir heilig ist, lass das ein Irrtum sein.

Den Schmerz in seinem Finger vergessend legte er den zweiten Plan so neben den Ersten, dass jene Bereiche, auf die es Esteban ankam, dicht nebeneinander lagen. Zweimal kontrollierte er, was er entdeckt zu haben glaubte. Dann war er sicher, dass er sich nicht geirrt hatte und verfiel in einen Zustand gepflegter Hektik. Wenn das wirklich wahr ist, dann gibt es neben Kim Tae Yeon noch einen Verräter, der von Terra stammt, dachte er schreckensbleich und aktivierte dabei gleichzeitig sein Computerterminal. Mit fliegenden Fingern tippte er, über zwei Holo-Tastaturen gleichzeitig, die zu prüfenden Parameter ein und startete eine Simulation für das neue terranische Anti-Stör-System. Einmal mit den Parametern für die GH-Prozessoren älterer Fertigung, und einmal mit den Parametern für die Kontakte, die nach dem Sommer 3220 von der Garrett-Hellmann Incorporated ausgeliefert worden waren.

Das Ergebnis der Simulation, die nur wenige Minuten in Anspruch nahm und die Auswirkung dessen, was es bedeutete, ließ ihn schlagartig munter werden. Er aktivierte den Interkom auf seinem Arbeitstisch und ließ sich mit der Zentrale des Hauptquartiers verbinden. Nachdem er den Diensthabenden Offizier um eine Verbindung zum Chef der Forschungsabteilung gebeten hatte, wartete er ungeduldig darauf verbunden zu werden.

Nach knapp einer Minute erschien wieder das Konterfei des Diensthabenden auf dem kleinen Holobildschirm des Kommunikationsgerätes. „Tut mir leid, der Chef der Forschungsabteilung ist gegenwärtig nicht auf Outpost, Oberleutnant.“

„Dann verbinden Sie mich mit General Mbena, Leutnant. Aber etwas dynamisch, es ist außerordentlich dringend.“

Das Abbild des jungen Leutnants verschwand erneut vom Holoschirm und Rodrigo Esteban fasste sich einmal mehr in Geduld. Dabei schienen sich die Sekunden ins Endlose zu dehnen, bis nach weiteren zwei Minuten endlich das Konterfei von Hilaria Inira Mbena auf dem kleinen Bildschirm erkennbar wurde.

Die Oberkommandierende sah ihn vom Holobildschirm missbilligend an und fragte, mit etwas gereiztem Tonfall. „Ich hoffe, das ist wirklich so wichtig, wie Sie dem Diensthabenden gegenüber behauptet haben, Oberleutnant. Ich war nämlich eben im Begriff ein Bad zu nehmen und das ist mir fast heilig.“

Esteban nahm vor dem Gerät unwillkürlich Haltung an. Stockend begann er, General Mbena davon zu erzählen was er entdeckt hatte. Nach dem Ende seiner beinahe überhasteten Ausführungen sah ihn Mbena aus großen Augen an. „Und Sie sind sich ganz sicher, dass das, was Sie da eben gesagt haben, wirklich zutrifft?“

„Jawohl, General. Absolut sicher, ich habe es zweimal überprüft.“

Mbena nickte mit versteinerter Miene. „Danke, Oberleutnant. Kommen Sie bitte auf dem schnellsten Weg ins Hauptquartier. Mbena, Ende.“

Einen Moment später hatte Hilaria Mbena die Verbindung bereits unterbrochen. Esteban fuhr sich fahrig mit den Fingern beider Hände durch das dichte, schwarze Haar und fluchte erbittert: „Verdammte Scheiße, warum ist das Niemandem eher aufgefallen?“ Dann besann er sich und eilte aus seinem Büro.
 

* * *
 

Exakt zum festgelegten Zeitpunkt fielen, etwa zehn Millionen Kilometer vom Saturn entfernt, mehr als zweihundert Kriegsschiffe aus dem Hyperraum und nahmen Kurs auf Titan, dem einzigen Himmelskörper von Interesse in diesem Sektor des Sol-Systems.

Die beiden terranischen Flotten wurden von den empfindlichen Ortungssystemen der Konföderation Deneb beinahe augenblicklich erfasst. Im Hauptquartier der Armada von Deneb, auf dem Mars, gab die amtierende Militärgouverneurin des Sol-Systems, Generalleutnant Khermina Skrin, gleich nachdem sie unterrichtet worden war, Großalarm für sämtliche Einheiten. Sie beorderte drei ihrer fünf Flotten in das Gebiet des Saturn, denn natürlich rechnete sie damit, dass die zweihundert Raumschiffe, die in das System eindrangen und auf Titan zu hielten, nur ein Ablenkungsmanöver sein könnten. Darum behielt sie zwei ihrer fünf Flotten in der Nähe des Mars. Im Notfall konnten sie von dort aus schnell Terra erreichen, doch Khermina Skrin glaubte nicht daran, dass Terra das Ziel einer Attacke werden könnte. Nein, wenn dann würde sich der Angriff der Terraner auf Mars und Titan richten.

Auf dem Mars hatte die Armada von Deneb momentan ihr Hauptquartier und auf Titan lagen die größten Umschlag-Raumhäfen des Systems. Man musste darum kein Genie sein, um zu erkennen, wo die Hauptziele für einen Angriff lagen.

Und Khermina Skrin war alles andere, als dumm. Erst vor wenigen Monaten war sie vom Diktator, kurz nach ihrer Beförderung zum Generalleutnant, belobigt worden, für ihren Einsatz als Befehlshaberin einer jener Flotten, die beim Angriff auf das Sol-System beteiligt gewesen waren, und für das harte Vorgehen gegen die terranischen Großstädte. Ihr Einsatz hatte Millionen terranischer Zivilisten den Tod finden lassen. Etwas, das Khermina Skrin keine schlaflosen Nächte bereitete. Sie persönlich vermutete, dass es genau diese Skrupellosigkeit war, die den Diktator auf sie hatte aufmerksam werden lassen.

Genauso hart, wie gegen die Zivilbevölkerung auf Terra, würde sie jetzt gegen die Flotten Terras vorgehen. Der Feind hatten sich endlich zu jenem Angriff entschlossen, mit dem Khermina Skrin schon seit einigen Wochen rechnete. Sie war bereit und ihre Flottenkommandeure ebenfalls. Bald schon würden sie, unter ihrem Oberbefehl stehend, den Gegenangriff der Terraner zerschmettern, dessen war sie sicher. Denn es gab etwas, von dem die Terraner vermutlich keine Ahnung hatten.

In ihrem Büro, im ehemaligen Hauptquartier der Terranischen Raumflotte, auf dem Mars, erhob sich Khermina Skrin aus ihrem Sessel, wobei sie unbewusst mit den Fingern der rechten Hand über den Zopf strich, der über ihrer rechten Schulter lag. Wie immer vor Dienstantritt hatte sie sich das früh ergraute Haar, von ihrer Ordonanz, flechten lassen. Von einem Major, der bereits seit fast zehn Jahren in dieser Position war. Ein Mann der lange gemeinsam mit ihr diente und dem sie bedingungslos vertraute.

Natürlich wusste sie von der Entführung der Fregatte, vor einem guten halben Jahr. Immerhin hatte sie persönlich dafür gesorgt, dass diese Entführung auch gelungen war. Glaubhaft gelungen wie es den Anschein hatte, denn ansonsten wären die Terraner nach wie vor in der Defensive geblieben.

Als der Diktator der Konföderation ihr die Gesamtplanung in die Hände legte, unmittelbar nach ihrer Auszeichnung, da hatte sie kaum an einen Erfolg dieser Strategie geglaubt. Doch nun stellte sich heraus, dass er richtig gerechnet hatte. Natürlich hatte auch Skrin, seit der Okkupation des Sol-Systems, erwartet, dass sich die Terraner, über Kurz oder Lang, in den Besitz ihres neuartigen Ortungs-Stör-Systems bringen würden. Aber dass sie es direkt hier in diesem System versucht hatte, das hatte selbst sie überrascht.

Um so zufriedener war Diktator Laskarin Carom mit ihr gewesen, weil sie bei dem Überfall der Terraner, vor einem halben Jahr, so schnell und umsichtig improvisiert hatte, nachdem der feindliche Stoßtrupp die WIRBELWIND unter seine Kontrolle brachte.

Sie hatte damals spontan entschieden, die WIRBELWIND nicht abzufangen oder zu vernichten, was ihren Flottenverbänden durchaus möglich gewesen wäre. Stattdessen hatte sie den Dingen ihren Lauf gelassen. Auch wenn sie das ein paar Kriegsschiffe gekostet hatte. An die Opfer unter den Besatzungen dachte Khermina Skrin dabei zu keinem Augenblick. Es handelte sich lediglich um Soldaten der Konföderation Deneb; nur um Schachfiguren auf dem Spielbrett der fünf Sternenreiche, in ihren Augen. Mehr nicht.

Khermina Skrin verließ ihr Büro und schritt mit raumgreifenden Schritten durch den Gang zur Kommandozentrale, die nicht weit von ihrem Büro entfernt lag. Dabei lag ein kaltes und nur leicht angedeutetes Lächeln auf ihren harten Gesichtszügen.

Als die hagere Frau den Kommandobereich betrat schien ein spürbarer Ruck durch die Haltung der anwesenden Männer und Frauen zu gehen. Obwohl Khermina Skrin zwischen den Männern und Frauen, die fast alle höher gewachsen waren, körperlich eher weniger auffiel, gebot allein ihre stolze Haltung Respekt. Dazu kam das kalte Funkeln ihrer ausdrucksstarken, eisgrauen Augen, das alle Menschen, denen sie begegnete, davon abhielt, sie fälschlicherweise zu unterschätzen.

Ihr Stellvertreter, Brigadegeneral Foril Astanak, wandte sich ihr zu, nahm Haltung an und meldete ohne Umschweife, weil er wusste, dass seine Vorgesetzte so etwas hasste: „Es handelt sich um etwas mehr als zweihundert feindliche Kriegsschiffe, Sir. Sie halten momentan direkt auf den Saturnmond Titan zu. Die Entfernung zu Titan unterschreitet gegenwärtig die Marke von einer Million Kilometern. Unsere Einheiten bei Saturn nehmen Abfangposition ein. Die beiden Flotten, die von hier aus gestartet sind, werden nach einem kurzzeitigen Flug im Hyperraum, inklusive Formierung, in etwa zehn Minuten vor Ort sein.“

„Danke, Brigadegeneral“, gab Skrin mit glockenheller Stimme zurück. „Achten Sie mir darauf, ob eventuell weitere Feindverbände im System erscheinen. Ich traue diesem Angriff auf Titan nicht so recht. Wäre ich der feindliche Befehlshaber, so würde ich anders vorgehen und auch den Mars attackieren.“

„Kommt vielleicht noch“, brummte der kräftig gebaute Mann erwidernd. „Vielleicht vermuten die Terraner aber auch eine Falle und versuchen zunächst einmal herauszufinden, ob wir ihre Ortungssysteme immer noch stören können.“

Ein fast verschmitzter Zug lag auf dem schmalen Gesicht der Militärgouverneurin, als sie meinte: „Diese Angst werden wir ihnen erst einmal nehmen, nicht wahr? Unsere Reizimpulssender werden erst dann in Aktion treten, wenn ich persönlich den Befehl dazu erteile – auf gar keinen Fall eher.“

Foril Astanak bestätigte. Er wusste um diese neuen, starken Sendeanlagen, die, während der letzten Monate, auf verschiedenen Planeten und Monden des Sol-Systems, entstanden waren. Die Pläne dazu hatte die Garrett-Hellmann Incorporated geliefert. Dabei fragte sich Astanak, ob die Terraner nicht inzwischen herausgefunden haben könnten, dass Cole Hauser dieses Unternehmen, schon seit Jahren, ganz im Sinne der Konföderation Deneb leitete. Allerdings musste der Mann zugeben, dass es einer guten Portion an Fantasie und Einfallsreichtum erfordern würde, Hausers Machenschaften zu durchschauen. Er ahnte nicht, dass es im Delta-Cephei-System einen Mann gab, der über diese Anlagen verfügte und der in diesem Moment, aus Ungeschick, eine Tasse Kaffee auf den Boden seines Büros warf.
 

* * *
 

Es wird Zeiten geben wo Sie hassen werden, was Sie im Dienst der Terranischen Raumflotte tun. An diesen Satz, den einer seiner Ausbilder an der Akademie zu ihm und seinen Kommilitonen gesagt hatte, musste Jayden Kerr denken, als die Flottenverbände die Entfernung von einer Million Kilometer zu Titan unterschritten und er die Waffensysteme der SATURN bereit machte. Sie waren bei dieser ersten Attacke nicht als Eroberer hier, sondern in erster Linie als Zerstörer. Sollten sie das System irgendwann schlussendlich dann doch wieder zurückerobern würden Terraner mühsam alles wieder aufbauen müssen, was nun von ihnen vernichtet werden sollte.

Jayden Kerr zwang sich nicht daran zu denken. Die Ziele, die er unter Feuer zu nehmen hatte, sobald sich der Verband in Schussreichweite befand, waren klar definiert.

Bereits vor dem Überfall der Konföderation hatten auf Titan nur wenige Zivilisten gelebt und Kerr vermutete, dass diese Wenigen mittlerweile zu einem der inneren Planeten gebracht worden waren. Zumindest hoffte er, dass man sie nicht einfach getötet hatte.

Einrichtungen zu beschießen, die von Terranern errichtet worden waren – das ging gegen Alles was man Jayden Kerr während der Ausbildung zum Offizier beigebracht hatte und gegen das, was seine Gefühle ihm einflüsterten. Obwohl er nicht zögern würde, das zu tun, was nun getan werden musste. Momentan befand sich der Titan unter feindlicher Kontrolle und er war somit ein Ziel, gegen das vorgegangen werden musste. Ungeachtet dessen, was seine Gefühle im sagten.

Noch verblieben einige Minuten und Kerr sah kurz in die Gesichter der übrigen Anwesenden im Kontrollzentrum. Den Männern und Frauen, inklusive seiner Frau, schien es nicht viel anders zu ergehen, als ihm selbst. Doch auch sie würden ihrer Pflicht nachkommen, ebenso wie er selbst. Noch schien bei den Einheiten der Konföderation Schockstarre zu herrschen, doch das änderte sich, als die terranischen Kriegsschiffe angriffen.

Weit querab der anfliegenden Verbände leuchtete ein heller Stern. Die heimatliche Sonne. Auf dem Hauptbildschirm konnte Jayden Kerr den Saturn und den etwas nach Grün verschobenen Mond Titan deutlich erkennen. Die errechneten Positionsangaben für die beiden stellaren Objekte waren korrekt.

Aus den bekannten, astronomischen Daten hatte man die mittlere Sonnenentfernung und Bahngeschwindigkeit des Gasplaneten und seiner Monde bestimmen können.

Nach diesen Grundlagen hatten terranische Mathematiker, im Militärischen Hauptquartier des Wega-Systems, den Eintauchpunkt in den Einstein-Raum berechnet. Das Manöver war so genau gelungen, dass die Flotten, die zusammen immerhin siebzehn Schlachtkreuzer aufboten, mit dem richtigen Vorhaltewinkel, zur Ekliptik von schräg unten kommend, auf den Saturnmond niederstießen.

Eine Minute verging bevor in der Schwärze des Raumes die ersten Kunstsonnen aufgingen. Jede von ihnen identisch mit einem vernichteten Feindkreuzer. Auch Jayden Kerr betätigte automatisch die Holo-Kontrollorgane die seine Konsole generierte. Bei einem Ausfall des Form-Holo-Systems gab es alternativ die Möglichkeit eine frei konfigurierbare Sensoroberfläche an der Konsole zu nutzen.

Die Geschütze der SATURN beschossen einen Zerstörer der Konföderation Deneb. Die Salve lag deckend. Jayden Kerr, der im Vorfeld dieses Angriffs insgeheim mit Komplikationen bei den Ziel-Scannern gerechnet hatte, atmete erleichtert auf. Er beobachtete auf seinen Holo-Anzeigen, wie das kleinere Kriegsschiff in einer Energiekaskade auseinander brach. Für einen Moment dachte der Jamaikaner an die Opfer, bevor er sich schnell wieder konzentrierte und das nächste Ziel ins Visier nahm.

Gleichzeitig meldete die Ortung: „Drei Flotten aus dem Bereich der Inneren Planeten haben sich formiert und sind vor einem Moment in den Hyperraum verschwunden. Mit ihrem Eintreffen ist in wenigen Minuten zu rechnen.“

Jason Haehrfoehr bestätigte knapp und befahl der Crew erhöhte Wachsamkeit. Fast gleichzeitig kamen die Basen auf Titans Oberfläche in Schussweite der Torpedos. Siebzehn Schlachtkreuzer feuerten beinahe synchron aus ihren jeweils vier frontalen Torpedoschächten ihre tödliche Fracht ab. Mit grell leuchtendem Antrieb jagten die Weltraumtorpedos auf die Oberfläche des Mondes hinab. Auch die kleineren Kriegsschiffe eröffneten das Wirkungsfeuer auf die Oberfläche des Mondes.

Es dauerte einige Augenblicke, bis es auf auf Titan in schneller Folge aufblitzte. Dort wo es passierte vergingen Verwaltungsbauwerke, Frachter, Werften, Depots, Nachschub und Menschen in einer Hitze von mehreren tausend Grad Kelvin.

Jayden Kerr dachte Grauen geschüttelt daran, dass die Hälfte des Angriffsverbandes, auf der gegenüber liegenden Seite des Saturnmondes, nun dasselbe Inferno auslöste.

Nach mehreren Folgesalven drehten die Kriegsschiffe von Titan ab. Nur einen Herzschlag später schrillte der Ortungsalarm durch das Kommandozentrum, und es folgte eine Meldung, die alle an Bord insgeheim erwartet hatten. Die Feindflotten waren da.
 

* * *
 

„Wir haben keine Möglichkeit den Angriff noch abzubrechen“, sagte Hilaria Mbena zu Rodrigo Esteban, nachdem er ihr von seiner Entdeckung berichtet hatte. „Die Kommandeure der Angriffsverbände haben strikte Order, die befohlene Funkstille einzuhalten, um eine vorzeitige Warnung des Feindes zu vermeiden. Ihre Entdeckung kommt um ein paar Wochen zu spät, Oberleutnant Esteban.“

Verbittert sah der Spanier seine höchste Vorgesetzte an. „Können wir denn gar nichts tun, um die Kommandeure zu warnen?“

Hilaria Mbena, die Esteban mit Brigadegeneral Guido Camparelli am Tisch des kleinen Besprechungsraumes gegenüber saß, verschränkte ihre Finger ineinander. Es war der Brigadier, der anstelle der Frau erwiderte: „Der Angriff der Verbände, die von Wega aus angreifen sollen, läuft bereits seit etwa einer halben Stunde. Falls es dabei zu jenen unerwarteten Zwischenfällen gekommen wäre, die Sie eben in Aussicht gestellt haben, so wären im Wega-System sicherlich Notrufe der beiden Flotten eingegangen. Ich bin sicher, der dortige Sektoren-Kommandant hätte uns in dem Fall umgehend in Kenntnis gesetzt.“

Hilaria Mbena nickte nachdenklich. „Vielleicht wissen die von der Konföderation gar nicht, was für einen taktischen Vorteil sie nutzen könnten, Oberleutnant Esteban. Sie sagten selbst, dass Sie die mögliche Beeinflussung der Garrett-Hellmann Prozessoren älteren Datums nur durch einen Zufall entdeckten.“

Rodrigo Esteban seufzte schwach. „General Mbena, bitte denken Sie nicht, ich würde mir ein Fiasko wünschen, doch ich glaube nicht an einen Zufall. Bereits vor dem Angriff der Konföderation, zu Beginn des Jahres, waren Dean und Kimi… Verzeihung, ich meinte, Major Corvin und Hauptmann Korkonnen, auf Terra, bei Cole Hauser. Der Geschäftsführer der Garrett-Hellmann Incorporated. Die beiden vermuteten bereits damals, dass irgendetwas an den Lieferungen dieser Prozessoren nicht mit rechten Dingen vorgeht. Nach dem, was mir die beiden später auf Luna berichteten, hat sich Hauser damals ziemlich bedeckt gehalten.“

„Das allein macht Hauser aber noch nicht zu einem Verräter“, warf Guido Camparelli ein. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er Estebans Befürchtungen nicht teilte.

Rodrigo Esteban sah von ihm zu Hilaria Mbena. „Vielleicht nicht, aber die Summe der einzelnen Verdachtsmomente ergibt ein etwas anderes Bild. Fakt ist: Wenn die Konföderation ein starkes Hyperfunk-Signal auf der richtigen Frequenz sendet, dann schalten sich sämtliche Garrett-Hellmann Prozessoren auf unseren Kriegsschiffen ab. Was das bedeutet muss ich Ihnen nicht erläutern. Die Raumschiffe wären anschließend zwar nicht komplett hilflos, doch so träge, dass sie jedem Angreifer hoffnungslos unterlegen wären. Bis auf jene wenigen unserer Kriegsschiffe, in denen bereits die neuen Prozessoren verbaut wurden. Eine Technikerin, mit der ich auf Luna zusammenarbeitete, fiel unmittelbar vor der Fertigstellung der NOVA SOLARIS auf, dass wegen einiger fehlerhafter GH-Prozessoren der Fertigungsprozess so weit nach hinten geschoben worden war, dass die Konföderation Deneb den Kreuzer gerade fertig hätte übernehmen können. Doch das wurde in letzter Sekunde durch Major Corvin und einiger mutiger Männer und Frauen verhindert. Wenn ich diese Tatsache mit einrechne, dann ergibt sich ein düsteres Bild, in Bezug auf Cole Hauser. Denn ich glaube nicht an so viele Zufälle, General.“

„Hilaria Mbena wandte sich zu Camparelli. „Informieren Sie, via Hyperrichtstrahl-Spruch, den Sektoren-Kommandant Wega. Geben Sie ihm alle Informationen in Bezug auf Oberleutnant Estebans Verdacht. Er soll uns sofort informieren, falls aus dem Sol-Sektor entsprechende Meldungen über fatale Fehlfunktionen der GH-Prozessoren eingehen.“

Der Brigadegeneral bestätigte, erhob sich vom Tisch und verließ eilig den Raum. Hilaria Mbena sah ihm sinnend nach, bevor sie sich wieder zu Esteban wandte. Sie sah den jungen Offizier eindringlich an und meinte: „Ihnen ist klar, dass wir in nächster Zeit nicht an neue GH-Prozessoren kommen werden. Auf Terra befinden sich die einzigen Fertigungsstätten für dieses Bauteil. Was also können wir mit den Mitteln unserer Raumschiff-Werften tun, um unsere Kriegsschiffe wieder sicher zu machen?“

Der Blick des jungen Mannes, mit dem er Mbena bedachte, sprach Bände. „Sir, es wird uns mindestens zwei Jahre kosten, bis wir das letzte Raumschiff umgerüstet haben. Bei optimistischer Schätzung. Dasselbe gilt für die Flotten von Farradeen. Ich halte es für nicht machbar, die GH-Prozessoren umzuändern und wieder in unsere Raumschiffe einzubauen. Wir müssen neue, annähernd ähnlich effiziente Prozessoren entwickeln und einbauen. Wenn Sie mir ein Spezialisten-Team zur Verfügung stellen und die entsprechenden Ressourcen dann mache ich mich gleich morgen an die Arbeit, General.“

„Wie effizient werden solche neuen Prozessoren voraussichtlich sein?“

Rodrigo Esteban, der mit dieser Frage gerechnet hatte, sah Mbena offen an: „Selbst wenn wir sehr gut arbeiten, werden diese Prozessoren nicht jene Effizienz erreichen, wie die GH-Prozessoren. Bestenfalls wird die Effizienz, im Vergleich, bei etwa achtzig…“

„Nicht etwa, Oberleutnant! Wie hoch genau?“

„Fünfundsiebzig Prozent, voraussichtlich. Das ist der Wert, den ich Ihnen garantieren kann, um unsere Verteidigungskapazität in einem angemessenen Zeitraum zu sichern.“

Hilaria Mbena schlug die Hände vor den Mund und murmelte unterdrückt: „Fünfundsiebzig Prozent, Oberleutnant. Wissen Sie, was das bedeutet?“

Rodrigo Esteban sah seine Vorgesetzte eindringlich an. „Die Angehörigen der Terranischen Raumflotte gelten als die besten Soldaten aller fünf Sternenreiche. Das gleicht einige Prozent zusätzlich aus. In der Gesamtsumme sehe ich den Wert bei etwa neunzig Prozent. Dieser Unterschied ist dann nicht so groß, Sir.“

Hilaria Mbena nahm die Hände vom Gesicht und lächelte nachsichtig. „Ihr jugendlicher Optimismus in Ehren, Oberleutnant, aber ich bin verpflichtet mit den tatsächlichen Werten zu rechnen. Auch wenn Sie vielleicht recht haben mögen.“

„Wenn es unerwartet gut läuft schaffen wir vielleicht ja auch die achtzig Prozent.“

Hilaria Mbena schmunzelte fein. Dann atmete sie tief durch und sagte: „Sie bekommen alle Spezialisten und Ressourcen, die Sie benötigen, Hauptmann Esteban.“

Rodrigo Esteban sah seine Vorgesetzte überrascht und fragend zugleich an und die Frau lächelte dünn, als sie erklärte: „Ich werde die Beförderung morgen Früh vornehmen, aufgrund besonderer Befähigung ihrerseits. Sie können wegtreten.“

Esteban erhob sich rasch, salutierte vorbildlich und verließ den Raum. Für einen Moment verspürte Hilaria Mbena eine ungewohnte Schwäche. Doch dann richtete sie sich abrupt auf. Es gab Hoffnung, solange sie auf Offiziere wie Esteban zurückgreifen konnte.
 

* * *
 

Als die kombinierten Flotten der Farradeen-Allianz und des ehemaligen Terranischen Imperiums aus dem Hyperraum in den Einstein-Raum zurück fielen, sah Major Dean Corvin im Kommandozentrum der NOVA SOLARIS auf den Hauptbildschirm. Der Mars zeichnete sich dort apfelgroß ab. Für einen Moment überkam ihn dabei ein Gefühl von Déjà-vu. Er dachte dabei kurz an Léa Le Garrec, die auf Farradeen weilte und erst den nächsten Einsatz mitmachen würde. Corvin schüttelte diese Gedanken und Gefühle schnell ab und befahl ruhig: „Stabsfeldwebel Dornarran: Taktische Anzeige auf den Hauptbildschirm. Leutnant Adamina: Kontakt halten zum Flaggschiff der Flotte.“

Die angesprochenen Besatzungsmitglieder bestätigten, was Corvin mit einem Ohr zur Kenntnis nahm. Seine Aufmerksamkeit galt dabei der eingespielten, taktischen Anzeige auf dem Hauptbildschirm, auf dem sich der Mars und der umgebende Sektor nun als dreidimensional berechnete Computerdarstellung abzeichneten. Inklusive der beiden Marsmonde Phobos und Deimos, und der dort befindlichen Feindverbände.

Curtis Newton hielt den Leichten Kreuzer exakt an seiner zugewiesenen Position innerhalb der befohlenen Formation und so brauchte Corvin hier nicht einzugreifen. So nutzte er die Gelegenheit, kurz vor dem bevorstehenden Gefecht, noch einmal schnell an seine Freundin zu denken, die nun zum Team von Oberleutnant Fatul Mahmalad gehörte. Ebenso, wie Karambalos Papadopoulos, der seinen neuen Vorgesetzten mit seiner Zack-Wumm-Marotte bereits mehr als einmal in den Wahnsinn getrieben hatte.

Insgesamt hatten sich beide sehr gut in die Mannschaft der NOVA SOLARIS integriert, ebenso, wie Diana Spencer, Harin Krezirin und die übrigen Raumlandesoldaten der neu ins Leben gerufenen 506. Raumlandeeinheit. Im letzten halben Jahr war es seine und Irina Hayes´ Hauptaufgabe gewesen, die angewachsene Mannschaft zusammenzuschweißen, wozu auch Hauptmann Spencer wesentlich beigetragen hatte. Zusammen hatten sie, in den letzten Monaten, eine homogene, gut funktionierende, Mannschaft geformt. Darauf war Dean Corvin sehr stolz denn er spürte diese unsichtbare Verbundenheit zu der Crew. Ein Teil dieser verschworenen Gemeinschaft zu sein erfüllte ihn mit einer Zufriedenheit, die er gerade in den Jahren auf Titan am meisten vermisst hatte.

Dabei spürte Corvin ebenfalls sehr deutlich, dass die Anwesenheit von Rian auf diesem Kreuzer gleichfalls sehr viel zu dieser Zufriedenheit beitrug. Obwohl sie sich, wegen der mitunter unterschiedlichen Schichten, weniger sahen, als es ihnen lieb war. Andererseits machte dieser Umstand aber auch ihre gemeinsame Zeit umso wertvoller. Mitunter gewann Dean Corvin den Eindruck, dass sich dieser Umstand sogar positiv auf ihre Beziehung auswirkte. Sie bekamen auf diese Weise keine Gelegenheit einander überdrüssig zu werden.

Es hatte sich viel ereignet, in den letzten Monaten. Noch zu Beginn des Jahres hatte sich Corvin gewünscht, das alles mit Andrea von Garding zu erleben. Nun war sie eine verheiratete Frau und er ein Mann, der in einer glücklichen Beziehung lebte. Mit Rian Onoro, was er zu Beginn des Jahres nicht einmal ansatzweise für möglich gehalten hätte.

„In der Nähe des Titan tobt eine heftige Raumschlacht“, meldete Stefanie Dornarran. „Etwa sechzig Prozent der Invasions-Flotten sind dort im Einsatz.“

„Danke, Stabsfeldwebel!“

Dean Corvin überschlug in Gedanken, dass sich der Hauptstreitmacht somit zunächst nur zwei Flotten entgegenstellen würden. Andererseits bedeutete dies aber auch, dass den Wega-Flotten eine Überzahl gegenüber stand. Er dachte kurz an Andrea und Jayden. Hoffentlich überstanden die Freunde diesen Einsatz.

An Corvins Kommandosessel aktivierte sich der holografische Bildschirm der direkten Schiff-zu-Schiff-Verbindung und das markante Abbild von Generalmajor Traren entstand vor dem Kommandanten des Leichten Kreuzers.

„Generalmajor Traren an Major Corvin“, klang die raue Stimme des farradeenischen Flottenkommandeurs auf. „Die Flotten formieren sich zum Angriff auf den Mars. Stoßen Sie, wie geplant, mit den terranischen Fregatten HUMBOLDT und HEISENBERG vor und landen Sie schnellstmöglich auf dem Mars. Das Zeitfenster für diese Aktion dürfte eng bemessen sein, denn im Moment wird der Sektoren-Kommandant vermutlich alle Flotten, die sich in der Nähe des Saturn befinden, zum Mars zurückrufen.“

„Major Corvin an Flottenkommandeur. Verstanden. Das Signal an die beiden Fregatten geht bereits raus. Wir stoßen vor, wie geplant. Corvin, Ende.“

Der Generalmajor lächelte humorlos und unterbrach die Verbindung. Dean Corvin wandte sich bereits zu Curtis Newton und Linaris Terrek: „Navigation: Einen Anflugkurs zum Mars setzen, der uns schnellstmöglich ins Zielgebiet bringt! Pilot: Kurs folgen und bereitmachen für eine etwas überhastete Landung auf dem Mars!“

Beide Offiziere bestätigten und Curtis Newton entfuhr dabei: „Mann, das ist doch mein Lieblingsmanöver!“

Irina Hayes räusperte sich bei dieser Bemerkung, sagte aber nichts. Sie wusste, dass solche kleinen Disziplinlosigkeiten mitunter die Kampfmoral zusätzlich anhoben. Zumindest hob die Bemerkung deutlich die Stimmung innerhalb des Kommandozentrums und lockerte die Anspannung einiger Anwesender deutlich. Sie wechselte einen schnellen Blick mit Corvin, dessen Gesicht ein Grinsen zeigte. War ja klar, dass dem das gefällt.

Dean Corvin nutzte die Gelegenheit und sagte unterdrückt: „Sie übernehmen jetzt, wie zuvor vereinbart, das Kommando, Hauptmann. Ich selbst werde mich bereit machen, das Landeteam zu begleiten.“

Irina Hayes bestätigte. Dabei verfiel auch sie ganz selbstverständlich in das dienstliche Sie, da sie nicht unter sich waren. „Ich übernehme, Sir!“

Rasch erhob sich Corvin aus seinem Sessel und Irina Hayes nahm an seiner Stelle Platz darin. Dabei sah sie ihm nach, als er die Zentrale verließ. Erinnerungen an den Einsatz auf Eris wurden dabei wieder in ihr wach. Auch dort hatte Dean den Landetrupp begleitet. Sie hoffte nur, dass es diesmal keine Schwerverletzten, oder gar Tote, gab. Obwohl sie wusste, dass diese Hoffnung höchst unrealistisch war.

Begegnung unter Beschuss


 

14.
 

Begegnung unter Beschuss
 

„Etwas ist passiert!“, meldete Moshe Melnik knapp, als Famke Korkonnen zu ihm in das Cockpit des Frachters kam.

„Geht das auch etwas genauer“, erkundigte sich die Blondine gereizt und warf sich in den Sessel, neben den Kameraden. Ihre Stimmung entsprang der Tatsache, dass sie sich nach dem Start auch der beiden Piloten entledigt hatten.

Melnik, der das wusste, beschwerte sich darum nicht ob des etwas rüden Tonfalls, sondern erklärte sachlich: „Nach dem, was ich herausfinden konnte, findet ein Angriff auf den Saturnmond Titan statt. Mindestens zwei Flotten nehmen den Mond unter Feuer.“

„Für solche Scherze bin ich im Moment nicht aufgelegt“, gab Famke grob zurück. Erst als sie in die ernste Miene des Kameraden sah, wurde sie stutzig und sie erkundigte sich mit schwankender Stimme: „Das war kein Scherz?“

„Nein, unsere Flotten sind hier und greifen an“, wiederholte Melnik und Begeisterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

„Aber warum greifen die nur auf Titan an?“ Famke Korkonnen, die sich zunächst im Sitz nach vorne gebeugt hatte, ließ sich nun mit dem Rücken langsam gegen die Lehne des Sitzes sinken. „Wenn ich an der Stelle unseres Flottenkommandeurs wäre, so würde ich mehrere Ziele gleichzeitig angreifen. Vor allen Dingen…“

Als sich Famke abrupt unterbrach, sah Moshe Melnik sie fragend an. „Was ist?“

„Oh, verdammt Moshe. Wir sollten uns lieber beeilen zum Mars zu kommen. Dieser Angriff auf Titan ist bestimmt nur der Auftakt. Ich verwette meine potenzielle Ernennung zum Offizier, dass in Kürze auch ein Angriff auf den Mars erfolgen wird.“

Etwas ungläubig blickte Moshe Melnik in die Augen der Kameradin. „Die Wette gilt und wenn du sie verlieren solltest, dann wirst du, bis zum Lebensende Kadett bleiben. Wie kommst du darauf, dass die bis zum Mars vorstoßen können?“

„Nicht die“, wehrte Famke Korkonnen nachdenklich ab. „Ich vermute viel mehr, dass es noch einen zweiten Flottenverband gibt, der bald gegen den Mars losschlagen wird.“

„Sollten wir dann nicht stoppen und abwarten, was passiert?“

„Nein!“, erwiderte Famke entschieden. „Wir wissen ja überhaupt nicht, wie diese Auseinandersetzung ausgehen wird. Die Konföderation wird das Sol-System sicherlich sehr gut befestigt haben, in den letzten Monaten. Außerdem haben wir die vielleicht einmalige Gelegenheit einen ranghohen Offizier der Konföderation Deneb in unsere Hände zu bekommen. Wir bleiben bei unserem Plan.“

Melnik nickte. „Also schön, dann werde ich den Antrieb des Frachters mal an seine Grenzen bringen.“

„Ich bitte darum. Wir müssen dort landen, bevor ein Angriff erfolgt“, sinnierte die blonde Frau. „Wenn dort erst einmal alles drunter und drüber geht, dann dürfte es ziemlich schwer werden, unser Vorhaben auszuführen. Sag Bescheid, wenn es soweit ist.“

Damit erhob sich die junge Frau aus dem Co-Piloten Sitz und verschwand in Richtung des Passagierbereiches. Sie begab sich zu den Kameraden, die dabei waren herauszufinden, welche der erbeuteten Uniformen ihnen am besten passte. Sie kam dazu, als Darweshi Karume gerade eine Uniformjacke schloss, deren Ärmel ihm knapp bis über die Ellenbogen reichten. In komischer Verzweiflung packte er dabei das Brustteil der Jacke und zog es nach vorne um anzuzeigen, dass er dort noch Platz für eine zweite Person hatte, was trotz der gedrückten Stimmung zu vereinzeltem, unterdrückten Gelächter führte.

„Diese Uniform ist definitiv nicht für meine Statur geeignet“, konstatierte der Tansanier mit unbewegter Miene und arbeitete sich aus der Jacke heraus, wobei ihm Sarah zur Hand ging, da der Mann die kurzen Ärmel nicht zu fassen bekam.

Famke Korkonnen sah dem Treiben eine Weile zu, bevor sie die Aufmerksamkeit der Kameraden auf sich lenkte und sie von der aktuellen Entwicklung unterrichtete. Sie sagte ihnen auch, was ihre Vermutung war, in Hinsicht auf die weiteren Ereignisse.

Kelvin Gorlan machte ein verdrießliches Gesicht. „Das hätte uns gerade noch gefehlt. Mitten in einen Angriff zu geraten, wenn wir, wie eine fette Ente, auf dem Mars hocken.“

„Den Geheimdienstoffizier sollten wir trotzdem kassieren“, warf Darweshi Karume ein. „Auch wenn der Angriff erfolgreich verläuft könnte es wichtig sein, ihn unseren Truppen lebend zu übergeben. Er könnte kriegswichtige Informationen besitzen.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Famke Korkonnen ihm zu. „Wir landen zunächst wie vorgesehen. Alles andere wird davon abhängen, welche Situation wir dann vorfinden.“

In den Gesichtern der Kameraden erkannte die Finnin Zustimmung. Sie beteiligte sich daran, als die Anprobe der Uniformen fortgesetzt wurde. Am Ende fanden alle Mitglieder des Sperber-Teams passende Uniformen, selbst für Darweshi Karume war eine dabei, die annähernd passte, auch wenn sie über seiner breiten Brust etwas spannte. Es würde für ihre Zwecke genügen, befand die blonde Frau.

Als sich die Kameraden, nun gekleidet wie Offiziere der Konföderation, auf die verschiedenen Sitzgelegenheiten des Passagierabteils verteilten, um sich für das, was sie auf dem Mars erwarten würde, auszuruhen, gesellte sich Sarah Anderson zu Famke.

Der Tansanier war ebenfalls auf dem Weg zu der Finnin gewesen. Er zögerte kurz, bevor er sich umentschied und neben Yunai Lee niederließ.

Famke und Sarah bekamen davon nichts mit. Für einen Moment sah Sarah ihre Kameradin von der Seite an, bevor sie sich ein Herz fasste und fragte: „Darweshi scheint irgendwie ein besonderes Vertrauen zu dir gefunden zu haben, habe ich Recht?“

Etwas verwundert erwiderte Famke den Blick des jüngsten Mitgliedes ihres Teams. Nach einem Moment meinte sie: „Es gibt Momente, da frage ich mich, ob das tatsächlich der Fall ist. Dann wieder fühle ich dass es da schon eine besondere Vertrautheit gibt. Ja, ich denke, er vertraut mir. Zumindest soweit ich das beurteilen kann. Vielleicht erweist sich aber auch noch, dass es ganz anders ist. Warum fragst du?“

Eine gewisse Melancholie spiegelte sich in Sarahs grau-grünen Augen und nach einigen Augenblicken verstand Famke und seufzte „Herrje, das hat uns gerade noch gefehlt.“

Sarah warf ihr dunkles Haar zurück und schüttelte unmerklich den Kopf. „Ich habe schon gemerkt, dass er sich nicht sonderlich für mich zu interessieren scheint. Ich wollte nur sichergehen, ob da vielleicht zwischen dir und ihm…“

Impulsiv legte Famke ihren Arm um die Freundin und zog sie kameradschaftlich zu sich heran. „Nein, Sarah. Für so etwas wird ohnehin erst einmal keine Zeit bleiben. Und wer weiß, vielleicht siehst du da ja auch bei ihm mehr, als tatsächlich vorhanden ist.“

Sarah lächelte schwach.

Außer Hörweite der beiden Frauen fragte Darweshi Karume in diesem Moment, zu Yunai Lee gewandt: „Es war vorhin bestimmt hart, sich der Gefangenen zu entledigen.“

Düsternis lag in den Augen der Frau, als sie leise erwiderte: „Ja. Es war das erste Mal, dass ich Menschen getötet habe. Ich spüre immer noch ein Gefühl im Magen, als würde sich darin ein riesiger Eisblock befinden. Es tut immer noch weh, Darweshi.“

„Wir hatten keine Wahl. Ich weiß, das ist kein Trost.“

Die Frau schluckte und erwiderte: „Nein, ist es nicht. Ich wollte, den verfluchten Diktator würde dasselbe Schicksal ereilen. Er ist letzten Endes der wirklich Schuldige an unserem Schicksal und am Schicksal derer, die wir bisher in diesem Krieg getötet haben. Denn er war es, der diesen Krieg begonnen hat.“

Darweshi Karume nickte wortlos und deutete mit dem Kopf zu Famke und Sarah. „Wir sind anscheinend nicht die Einzigen, denen es momentan so ergeht.“

Der Tansanier beobachtete Famke dabei, wie sie sich erhob, leicht Sarahs Schulter drückte und danach in Richtung des Cockpits davon schritt. Dabei breitete sich ein angenehm zufriedenes Gefühl in ihm aus. Ein Gefühl, dass ihn all die schrecklichen Dinge irgendwie leichter ertragen ließ. So zumindest fühlte es sich für ihn an.

Als wenig später Moshe Melnik ins Passagierabteil kam, nutzte Darweshi Karume die Gelegenheit. Er erhob sich, warf Yunai, die ihn etwas spöttisch ansah, ein schiefes Grinsen zu und schritt in Richtung das Cockpits davon.

Im Cockpit des Frachters blickte Famke Korkonnen etwas überrascht auf, als Darweshi herein kam und sich zwanglos in den Sessel des Co-Piloten setzte. Ihr fielen Sarahs Worte wieder ein, als er ihr ein sanftes Lächeln schenkte.

Für einige Augenblicke blieb es still bevor Famke nervös mit den Füßen zu wippen begann und schließlich ablenkend fragte: „Wie geht es Yunai?“

„Sie wird mit den Ereignissen fertig“, gab der Tansanier zurück. Wieder folgte eine kurze Pause, bevor sich der Mann seinerseits erkundigte: „Sarah scheinen die Ereignisse mehr zu schaffen zu machen, wie es eben den Anschein hatte.“

Famke Korkonnen sah Karume nun direkt an. „Sie ist die Jüngste, aber sie hält sich bisher tapfer. Sie wollte nie zum Militär oder auch nur eine ähnlich geartete Karriere einschlagen, deshalb ist dieser Krieg noch weniger ihre Welt, als für uns.“

Hinter der Stirn des Mannes arbeitete es. Überlegend murmelte er: „Ja, diesen Eindruck hatte ich vorhin auch.“

Famke rang etwas mit sich, bevor sie zögerlich meinte: „Sie mag dich, Darweshi.“

„Oh, ich mag Sarah auch.“

Famke schüttelte seufzend den Kopf. „Nicht so, sondern… anders.“

Mit ungläubigem Blick sah Karume die Finnin an. „Aber wie denn das? Sarah kennt mich doch gar nicht. Hat das Mädchen momentan keine anderen Sorgen?“

Amüsiert grinsend erwiderte Famke entsagungsvoll: „Offensichtlich nicht. Vielleicht ist es auch ganz gut so. Auf diese Weise zermartert sie sich nicht den Kopf, wegen dem, was uns auf dem Mars bevorstehen könnte.“

„Da wir gerade beim Thema sind“, wechselte Darweshi Karume schnell das Thema. „Was denkst du? Werden wir rechtzeitig den Mars erreichen, bevor wir in etwas hinein geraten, wo wir vielleicht so schnell nicht wieder herauskommen?“

„Da müsstest du schon den Oberbefehlshaber der Terranischen Flotte fragen“, entgegnete Famke ironisch. „Ich hoffe, die lassen sich noch etwas Zeit.“

„Falls wirklich ein Angriff auf den Mars erfolgt“, zweifelte Karume. „Vielleicht wollen unsere Leute auch erst einmal nur die Umschlaghäfen auf Titan lahmlegen.“

Famke machte eine wiegende Geste mit ihrer Rechten. „Möglich.“

„Aber du glaubst es nicht?“

„Nein.“

Darweshi machte ein finsteres Gesicht. Doch dann hellte sich seine Miene auf und er meinte: „Wenn Chaos herrscht, fallen wir andererseits weniger auf.“

„Was uns hervorragend weiterbringt, falls wir von einem verirrten Plasmaschuss erwischt werden“, spottete Famke Korkonnen düster.

Halb ernsthaft, halb humorvoll erkundigte sich Darweshi Karume bei ihr: „Sag mal, bist du immer so herzerfrischend optimistisch?“

„Nein, manchmal bin ich auch wirklich finster drauf“, gab die Frau trocken zurück und lachte hell, als sie in das Gesicht ihres Gegenübers sah.

Sie zuerst nur aus großen Augen ansehend, fiel Darweshi Karume nach einen Moment in das Lachen mit ein. Erst nach einer Weile beruhigten sie sich wieder. Dieses Abschütteln der Spannung tat ihnen beiden gut. Wieder schwiegen sie eine Weile, bevor Karume leise fragte: „Wie lange noch?“

Auf ihre Anzeigen blickend erwiderte Famke ruhig: „Noch zwanzig Minuten.“

Sie sagte es, als der Angriffsverband aus Richtung Aldebaran etwas weniger als eine halbe Stunde vom Wiedereintrittspunkt aus dem Hyperraum entfernt war.
 

* * *
 

Als der Mars, selbst ohne Vergrößerung, fast den gesamten Hauptbildschirm ausfüllte, meldete Curtis Newton, mit leichter Anspannung in der Stimme: „Die NOVA SOLARIS schwenkt jetzt in die Bremsspirale um den Mars ein. Verzögerung mit Maximalwerten. Die HUMBOLDT und die HEISENBERG machen das Manöver, wie geplant, mit.“

Irina Hayes dankte und sah mit Spannung auf den großen Holo-Bildschirm, der das Geschehen so getreu wiedergab, als würde man durch eine Glasscheibe direkt ins All blicken.

Einige tausend Kilometer querab hatte die anfliegende, kombinierte Streitmacht die Verteidigungsflotten der Konföderation Deneb gestellt und verwickelte sie in einen heftigen Kampf bei dem momentan die Angreifer mehr als 2:1 in der Übermacht waren. Doch auch einige, ehemals terranische, Abwehrstationen, die in einem hohen Orbit um den Mars kreisten, nahmen an dem Gefecht teil.

Die kampfstarken alliierten Schlachtkreuzer griffen frontal an, wobei die kleineren Einheiten für Flankenschutz sorgten. Beim ersten Feuerüberfall vernichteten die Angreifer auf diese Weise ein Dutzend Kreuzer der Konföderation, bevor die erste Reaktion erfolgte.

Davon bekam die Crew des Leichten Kreuzers NOVA SOLARIS kaum etwas mit. Nur Stefanie Dornarran verfolgte die Manöver der verschiedenen verbündeten und feindlichen Verbände, mit Hilfe ihrer Instrumente und Holo-Anzeigen.

Von Dean Corvin kam die Meldung, dass der Kommandotrupp bereit sei. Dabei überflog ein grimmiges Lächeln die Züge des Ersten Offiziers, des Kreuzers. Irina Hayes erinnerte sich noch gut daran, was bei Eris passiert war und hoffte inständig, diese Landung würde etwas angenehmer verlaufen – für Crew und Schiff.

Plasmaschüsse von den Abwehrstellungen auf der Oberfläche des Mars und von den orbitalen Abwehrstationen jagten mit annähernd Lichtgeschwindigkeit ins All hinaus. Weit an ihnen und den beiden Geleitfregatten vorbei, in Richtung der Hauptstreitmacht.

Irina Hayes rechnete indessen nicht damit, dass das lange so bleiben würde. Dem Feind konnte nicht lange verborgen bleiben, was sie planten. Aber vielleicht lange genug.

Ein Plasmaschuss einer Bodenstellung streifte die Dual-Schilde des Kreuzers und Irina Hayes verwünschte, dass der Gegner schneller handelte, als sie erhofft hatte.

Ohne eine besondere Anweisung begann Curtis Newton den Kurs des Leichten Kreuzers zu variieren und in unvorhersehbaren Abständen abrupt den Anflugkurs zu ändern. Der Boden des Mars schien auf den Kreuzer zu zu rasen, als der Pilot das Kriegsschiff für einen Sekundenbruchteil durchsacken ließ.

Zum Glück waren die schwerfälligen Lafetten der gewaltigen Abwehrgeschütze nicht in der Lage, einem sich schnell bewegenden Objekt zu folgen. Sie waren eher für die Abwehr von Raumschiffen in weiter Distanz vorgesehen. Nicht für den Nahkampf.

Einen Moment später hatten die drei Raumschiff die Zone mit den Abwehrgeschützen hinter sich gelassen. Tiefer und tiefer sank die NOVA SOLARIS nun beim Umrunden des Mars, wobei die beiden Fregatten bei rund zwanzig Kilometern Höhe nicht mehr weiter mit zur Oberfläche hinunterstießen.

Nur wenige Minuten, die Irina Hayes vorkamen, wie eine halbe Ewigkeit, tauchte vor den drei Kampfschiffen die Silhouette von Red Sands am Horizont auf. Und damit begann der Beschuss aufs Neue. Zumindest einer der Verteidiger hatte mitgedacht und ihr wiederkommen von der anderen Seite des Planeten erwartet, wie es schien. Ansonsten wären die Geschütze nicht bereits auf diesen Vektor und so tief ausgerichtet gewesen.

Diesmal reagierten die Waffenoffiziere aller drei Kriegsschiffe und erwiderten das Feindfeuer. Sie waren entdeckt und nun spielte es keine Rolle mehr.

Vernichtende Waffenenergien und die Fusionsladungen der Torpedos vernichteten eine Stellung nach der anderen, bis das Feindfeuer verstummte. Sie hatten den großen Raumhafen der Hauptstadt des Mars nun fast erreicht. Nur noch die HEISENBERG und die HUMBOLDT schossen sich mit einigen Abwehrstellungen herum.

„Jetzt gilt es“, entfuhr es Curtis Newton, als er die Landeschoren des Leichten Kreuzers ausfuhr und den Kreuzer rasch nach unten brachte. Er hatte die Restfahrt des Kreuzers noch nicht ganz aufgehoben, als die Schoren den Bodenbelag des Landefeldes berührten und so entstand ein kreischendes Geräusch, dass sich durch die gesamte Zelle des Kriegsschiffes fortpflanzte.

Nicht nur Irina Hayes warf dem Piloten einen finsteren Blick zu, als sie Kontakt zu Corvin aufnahm: „Sie haben es sicher mitbekommen, Sir: Wir sind unten. Viel Glück.“

„Danke, Hauptmann“, gab der Kanadier zurück. „Meine Empfehlung an den Piloten. Wir steigen jetzt aus. Corvin, Ende.“

Im Kommandozentrum atmete Irina Hayes tief durch. Mit ihren Gedanken war sie bei den Teilnehmern des Kommandotrupps. Dabei machte sie sich nicht nur Sorgen um die Männer und Frauen um Corvin, sondern sie fragte sich auch, wie lange sie hier verweilen konnten, bevor der Gegner auf ihre Anwesenheit vernichtend reagieren würde.
 

* * *
 

In der Kommandozentrale des Hauptquartiers sahen Generalleutnant Khermina Skrin und Brigadegeneral Foril Astanak auf die Holo-Bildschirme und verfolgten vordringlich die Attacke, die von den zuletzt angekommenen Flotten der Terraner und der Farradeen-Allianz vorgetragen wurde. Dabei sah der Brigadier ungeduldig immer wieder zu seiner Vorgesetzten, die jedoch immer noch zögerte, den Befehl zum Aktivieren der Sender zu geben, die das Reizimpulssignal ausstrahlen sollten.

Als die Militärgouverneurin bemerkte, was in ihrem Stellvertreter vor sich ging, lächelte sie fein und sagte halblaut: „Nur nicht nervös werden, Brigadegeneral. Ich warte auf ein ganz bestimmtes Ereignis. Es dauert nicht mehr lange.“

Die Ruhe der Frau färbte etwas auf Astanak ab und er gab sich Mühe, sich seine Ungeduld fortan nicht mehr so deutlich anmerken zu lassen. Nach einer Weile fragte er: „Was unternehmen wir wegen des gelandeten Kreuzers?“

„Um den kümmern wir uns, sobald das Signal gesendet wird. Warten Sie dann nicht auf einen Befehl von mir, sondern befehlen Sie dann sofort mindestens zehn Einheiten zum Mars zurück. Vorher brauchen wir jedes Kriegsschiff zur Verteidigung.“

Der Brigadegeneral bestätigte und machte langsam einen halben Schritt nach vorne, um das Geschehen auf den Anzeigen der Zentralebesatzung noch besser verfolgen zu können.

Draußen im All wurden die Flotten der Konföderation Deneb langsam immer weiter in Richtung des Mars zurückgedrängt. Als sich die kämpfenden Einheiten noch rund zehntausend Kilometer vom Mars entfernt befanden bekam Generalmajor Arolic Traren, auf der STELLARIS die Meldung, dass die Feindflotten die Verteidigung des Titan aufgaben und Kurs in den inneren Bereich des Sol-Systems nahmen.

Arolic Traren musste nicht lange rätseln, wohin diese Verbände unterwegs waren. Sie würden in wenigen Minuten in ihrem Rücken auftauchen, und so wies er seine Kommandeure an, die Flotte umzustrukturieren, um dem zu erwartenden Angriff besser begegnen zu können. Er rief die beiden terranischen Flotten zur Unterstützung heran, ohne zu ahnen, dass er damit Khermina Skrin genau in die Karten spielte.
 

* * *
 

Der gekaperte Frachter der Konföderation Deneb war ohne Zwischenfälle, nahe der Lagerhallen, am Rande des großen Raumhafens, bei Red Sands, niedergegangen. Es hatte sich somit erwiesen, dass die getöteten Piloten des Frachters ihnen die richtigen Angaben zum Landeprotokoll gegeben hatten.

Im Cockpit sah Famke Korkonnen zu Darweshi Karume, der immer noch neben ihr im Sitz des Co-Piloten kauerte. „Den ersten Teil des geplanten Unternehmens, haben wir erfolgreich absolviert. Jetzt kommt der schwierige Part.“

Karume nickte. Er war froh darüber, dass das Team im Vorfeld übereingekommen war, dass er, zusammen mit Famke und Kelvin Gorlan, auf dem Mars bleiben sollte, während Moshe Melnik den Rest des Teams führen würde, bei dem Versuch, den Frachter des Bundes von Harrel zu erreichen und den Geheimdienst-Oberst gefangen zu nehmen. Sie hatten den ursprünglichen Plan kurzerhand modifiziert. Die Chance, Kontakt zur Terranischen Flotte aufzunehmen und zu berichten, welche Gefahr möglicherweise durch die Ausschaltung des Bundes von Harrel drohte, durfte nicht leichtfertig vertan werden.

Bereits bei der Landung hatten Karume und die Finnin festgestellt, dass der besagte Frachter, der unweit ihrer Landezone lag, gegenwärtig mit Gütern beladen wurde.

Moshe Melnik hatte sich, unmittelbar nach dem Aufsetzen, mit seinem Team abgemeldet. Vermutlich waren er und seine fünf Begleitern bereits dabei, sich unbemerkt an Bord des Frachters der Nimrod-Handelsgesellschaft zu schmuggeln. Bei dem geschäftigen Treiben am Rande des Raumhafens würde es ein Leichtes für sie sein, sich unbemerkt zwischen den Frachtstücken zu verstecken, wenn sie an Bord gebracht wurden, da die Ladeplattformen allesamt ohne menschliches Zutun gesteuert wurden. Der Einfachheit halber blieben beladene Ladeplattformen an Bord von Frachtschiffen, damit ein Umschichten des Ladegutes am Ziel entfiel. Sie wurden der jeweiligen Frachtfirma in Rechnung gestellt, sofern der Frachter nicht seine eigenen Ladeplattformen mitbrachte.

Hier würde es also keine Probleme geben. Schwieriger war das, was Karume, Gorlan und Famke Korkonnen vorhatten. Einen hochrangigen Geheimdienstoffizier vom Mars zu entführen und ihn den eigenen Truppen auszuliefern würde sich ungleich schwieriger gestalten. Möglicherweise klappte dieses Vorhaben überhaupt nicht.

Momentan konnten Famke Korkonnen und die beiden Männer nur abwarten. Was der Frau sichtlich Unbehagen bereitete.

Darweshi Karume nahm den Faden ihres letzten Gesprächs auf, als er meinte: „Diese neue Flotte, von der Yunai mir erzählt hat, soll, von hier aus gesehen, hinter dem südpolaren Gebirge liegen. Nahe der drittgrößten Stadt des Mars. Ich war schon mal da, während der ersten zwei Jahre meiner Ausbildung, an der Akademie.“

„Du sagtest, dass Yunai der Ansicht ist, dass man diese Flotte schon bald zum Einsatz bringen könnte“, erinnerte sich Famke nachdenklich. „Ob das stimmt?“

„Warum sollte es nicht stimmen?“

Diese Gegenfrage brachte die junge Frau etwas aus dem Konzept. „Nun ja, ich frage mich schon, ob das nur ein Gerücht ist, oder einen realen Hintergrund hat. Falls diese Flotte tatsächlich existiert, dann wäre sie ein lohnendes Angriffsziel.“

„Aber doch wohl nicht für uns drei?“, fragte der Tansanier verwundert.

Ein Lachen der Finnin war die Antwort. „So verrückt bin nicht einmal ich. Nein, ich dachte da mehr an einen Angriff aus dem Raum.“

„Eigentlich schade drum. Wenn Yunai Recht hat, dann sind diese Kriegsschiffe die modernsten aller fünf Sternenreiche. Gerade die arg gebeutelte Terranische Raumflotte könnte diese Flotte wirklich gut gebrauchen. Aber bevor sie von den Konföderierten eingesetzt wird, sollte sie wirklich zerstört werden.“ Der Mann machte eine kleine Pause, bis ihm ein Gedanke kam, und er aufgeregt sagte: „Moment mal. Glaubst du etwa, wenn tatsächlich weitere verbündete Flotten aufkreuzen, dann werden sie sich auf diese Raumschiffe stürzen? In dem Fall hätten wir hier wenig zu befürchten.“

Famke wiegte leicht den Kopf. „Möglich, aber das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Wir müssen weiterhin mit einem Angriff auf das Hauptquartier rechnen.“

Die beiden wurden abgelenkt, als Kelvin Gorlan seinen Kopf durch das geöffnete Schott steckte und alarmiert sagte: „Draußen wird es hektisch. Entweder, man hat Moshe und sein Team entdeckt, oder aber du hattest Recht und eine weitere Angriffsflotte ist da.“

Fast zeitgleich setzten die Alarmgeber der Raumhafenanlage, mit infernalischem Lärm, ein. Famke sah finster drein, als sie erwiderte. „Gut, dass du da bist, Kelvin. Du übernimmst hier für uns.“ Sie sah Karume auffordernd an. „Wir zwei werden uns da draußen mal ein wenig umsehen.“

Darweshi Karume schob sich an Gorlan vorbei und folgte Famke hinüber zum Passagierabteil. Sie durchquerten es eilig und begaben sich zum Außenschott des Frachters. Dabei hörte er noch Gorlan hinter ihnen her rufen: „Seid bloß vorsichtig!“

Auf dem Raumhafen herrschte seit der Auslösung des Alarms offensichtlich Chaos. Zumindest gewannen Darweshi Karume und Famke Korkonnen diesen Eindruck, nachdem die Frau das äußere Schleusenschott geöffnet hatte. Sich dicht an der Wandung am Rand des Schotts haltend, spähten sie nach draußen.

Einige Soldaten der Konföderation Deneb liefen auf die Verwaltungsgebäude zu. Andere rannten zu ihren Gleitern, die sie an Bord ihrer Raumschiffe bringen sollten. In all dem gepflegten Durcheinander ging das Beladen der Frachter unermüdlich weiter. Famke hoffte nur, dass es sich der Geheimdienstoffizier nicht anders überlegte, aufgrund des Alarms, sondern wie geplant an Bord des Frachters gehen würde, wo ihn Moshe und sein Team zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits erwarteten.

Fast außerhalb ihres Sichtbereichs erkannten Famke und Darweshi mehrere Kreuzer der Konföderation, die vom Raumhafen abhoben und dem Weltall entgegen strebten. Dieser Aufwand würde sicherlich nicht wegen sechs Widerständlern betrieben. Der Alarm galt also nicht Moshe Melnik und seinen Leuten. Das beruhigte die beiden jungen Menschen.

Sekunden später traten die Abwehrstellungen des Planeten in Tätigkeit. Meterdicke Plasmastrahlen jagten zum Himmel hinauf und verschwanden scheinbar im tiefen Blau.

Gerade, als Famke und Darweshi ihre Köpfe etwas weiter vor reckten, schien über ihnen der Himmel in Brand zu geraten. Drei weißglühende Schemen wurden am Himmel schnell größer und jagten beinahe direkt auf sie zu. Das konnten nur drei der angreifenden Kriegsschiffe sein. Ihre Dualschilde verdrängten gewaltsam die Luftpartikel der Atmosphäre und brachten sie zum aufglühen.

Im nächsten Moment waren die Druckwellen da. Gerade noch rechtzeitig warfen sich Karume und die blonde Frau neben dem Schott zu Boden, bevor auch schon ein heftiger Schlag erfolgte und ein Schwall heißer Luft in die Schleusenkammer hereinströmte. Im nächsten Moment glaubten beide, der Planet würde zerbersten, so infernalisch war das dreifache Überschalldonnern, dass ihre Trommelfelle malträtierte.

Sonnenhelle Plasmastrahlen schlugen dicht neben dem Frachter ein und brachten einen Teil des Belages zum Kochen. Ein beißender Gestank ging von dem verbrannten Belag des Landefeldes aus.

Der Lärm entfernte sich und etwas überrascht noch am Leben zu sein, sah Famke zu Darweshi, der sich langsam wieder vom Boden erhob. Fast wütend rief die Frau ihm zu: „Also, falls ich einen der Verantwortlichen jemals in die Finger kriegen sollte, dann kann er aber etwas erleben. Das schwöre ich dir. Kometen, Sterne und Boliden, solche Gewaltmanöver werden einem an der Akademie aber nicht beigebracht.“

Karume hob etwas spöttisch seine Augenbrauen „Warum sagst du mir das? Ich habe dieses Manöver schließlich nicht geflogen.“

„Wenn die durchbrechen konnten, dann scheint sich der Kampf da oben zu unseren Gunsten zu entwickeln“, lenkte Famke unvermittelt ab.

„Oder es war eine Verzweiflungstat“, gab der Tansanier zu bedenken. Fast gleichzeitig kam von Kelvin Gorlan die Bestätigung darüber, dass der Trupp auf dem Frachter des Bundes von Harrel in Sicherheit war. Sie warteten nur noch auf den Geheimdienstoffizier.

„Hoffentlich kommen die angreifenden Kriegsschiffe nicht auf die Idee, ausgerechnet diesen Frachter in seine Bestandteile zu zerlegen“, grummelte Karume düster.

Bevor Famke etwas darauf erwidern konnte, jagten Plasmaschüsse der Abwehrstellungen dicht über den Frachter hinweg. Im nächsten Moment schlugen mehrere Schüsse, offensichtlich von Raumschiffen abgegeben, um sie herum, in schneller Folge, ein.

Sie sahen wieder zum Schott hinaus, als das mörderische Waffenfeuer aufhörte. Dabei deutete Famke aufgeregt nach recht. „Da landet ein Kriegsschiff! Aber keins der Konföderation, der Leichte Kreuzer trägt die Markierungen der Farradeen-Allianz!“

„Was, bei allen Heiligen, wollen die denn hier?“

„Ich fürchte, das werden wir schneller erfahren, als uns lieb ist!“

Darweshi sah, wie einige Dutzend Gestalten, in schwarzen Kampfanzügen, aus den Bodenschleusen des Kreuzers strömten und über den Belag in ihre Richtung rannten. Sie schienen schwerbewaffnet zu sein, nach dem, was er erkennen konnte.

„Aber das ist doch nicht möglich!“, entfuhr es Famke Korkonnen, die ungläubig zu den sich nähernden Gestalten blickte.

Darweshi Karume blickte fragend zu ihr. „Was ist denn? He, verdammt was machst du denn, Famke?“

Ohne eine Erklärung war die blonde Frau, ohne ihre Waffe, ins Frei gestürmt. Wild mit den Armen durch die Luft rudernd lief sie auf einen Mann zu, der offensichtlich die Soldaten der Farradeen-Allianz anführte.

Der dunkelblonde Mann gab seinen Leuten ein Zeichen, dass Karume so deutete, dass er sie aufforderte die Waffen zu senken und kam Famke dann rasch entgegen. Der Tansanier hielt es nicht länger in der Schleusenkammer aus. Er beschloss Famke zu folgen und konnte nur hoffen, dass das kein Fehler war.
 

* * *
 

Kaum hatten sich die Schotthälften der vorderen Schleuse vor ihnen geöffnet, gab Dean Corvin dem Kommandotrupp das Zeichen, die Schleusenkammer zu verlassen. Er selbst rannte als Erster die Rampe hinunter, dicht gefolgt von Diana Spencer.

„Dort hinüber!“, wies Corvin die blonde Frau an. „Dicht an diesem Frachter vorbei, zu den Gebäuden dahinter!“

Über ihr Kom-Set konnte Diana Spencer den Befehl deutlich vernehmen. Sie bestätigte und folgte dem Kommandanten der NOVA SOLARIS dichtauf. Fast automatisch begab sich dabei Oberfeldwebel Anaris Ikari an seine Seite. Seit dem Einsatz auf Eris hatte sie ein wachsames Auge auf den, in ihren Augen, etwas zu leichtsinnigen Major.

Corvin, der es stillschweigend zur Kenntnis nahm, vermutete, dass Anaris Ikari von Diana Spencer insgeheim zusätzlich ermuntert worden war, auf ihn zu achten. Dabei war er sich nicht sicher, ob ihn das nun ärgern oder freuen sollte.

Der Major wurde aufmerksam, als sich aus der offenen Seitenschleuse des Frachters, zu seiner Linken, eine schlanke Gestalt löste. Mit wild in der Luft herum rudernden Armen rannte sie auf den Trupp zu. Die Frau dort trug zwar die Uniform des Feindes, doch die Gestalt, das Haar und das Gesicht waren unverkennbar.

Aber das kann doch gar nicht…

Die Gedanken des Majors jagten sich, bis er sich sicher war, dass da tatsächlich Famke Korkonnen, die Schwester seines besten Freundes, auf ihn zu rannte. Alle Fragen die ihm in diesem Moment durch den Kopf schossen gewaltsam verdrängend gab er seinem Trupp das Zeichen und gleichzeitig den Befehl, die Waffen zu senken. Dann beschleunigte er seine Schritte und lief der jungen Frau entgegen.

Einige Meter vor seinen Leuten erreichte Corvin Famke, die ihm wortlos um den Hals fiel und ihn an sich drückte. Dabei rief sie glücklich aus: „Dean! Mensch, Dean! Was machst du denn in der Uniform der Farradeen-Allianz?“

Corvin, der Famke einmal im Kreis herum wirbelte, stellte sie schließlich auf die Füße, hielt sie an den Schultern etwas von sich und erwiderte ernst: „Das fragt gerade die Richtige. Was, zur Hölle, machst du in der Uniform des Feindes?“

„Ist eine lange Geschichte, Dean. Zuerst eins: Wie geht es Kimi?“

Dean Corvin bemerkte die Angst im Blick der Frau und beruhigte sie schnell: „Kimi geht es sehr gut. Er dient auf einem Leichten Kreuzer der Terranischen Flotte. Was mich betrifft: Auch diese Geschichte ist zu lang, um sie hier zu erörtern.“

Tränen der Erleichterung und der Freude rannen über Famkes Wangen. Sie sah über die Schulter nach hinten und gleich darauf wieder zu Dean. „Das hinter mir ist Darweshi Karume. Er gehört zu meinem Team. Ein weiteres Mitglied befindet sich auf dem gekaperten Frachter der Konföderation.“

„Dein Team?“

„Später, Dean. Auf die Schnelle: Ich gehöre zur Resistance, die sich auf Terra formiert hat. Sechs Leute meines Teams sind an Bord eines Frachters des Bundes von Harrel, der hoffentlich bald schon auf dem Weg ins Gebiet des Bundes ist. Die Konföderation Deneb hat dort eine Teufelei vor und meine Leute wollen die Verantwortlichen dort warnen.

Diana Spencer, die das Wiedersehen zwischen Corvin und der blonden Frau zunächst misstrauisch beäugt hatte, gab zwei ihrer Leute ein Zeichen, den hochgewachsenen Tansanier im Auge zu behalten. Gleichzeitig drängte sie Corvin: „Major, dafür haben wir keine Zeit. Wir müssen erfahren, wo die Zehnte Flotte steckt.“

Überrascht sah Famke Korkonnen von Dean zu dem Hauptmann. „Da kann ich Ihnen weiterhelfen. Diese neuen Raumschiffe befinden sich auf einem Raumhafen, nahe der südpolaren Stadt Sagan. Wir dachten ohnehin, dass dort das Ziel des Angriffs läge. Ein Mitglied meines Teams berichtete mir davon, bevor wir herkamen.“

Ein zufriedener Zug erschien auf Darweshi Karumes Gesicht. Er hatte sehr genau auf die Wortwahl der Finnin geachtet.

Dean Corvins Haltung verspannte sich mit einem Mal. Abwesend sagte er knapp zu Diana Spencer: „Eine Meldung von Irina. Sie ruft uns umgehend zum Kreuzer zurück. Irgendeine Katastrophe scheint sich draußen im All, bei unseren Flottenverbänden, anzubahnen. Mehrere feindliche Kreuzer sind zudem auf unsere Position im Anflug.“

„Verdammt, dann wäre die Zehnte Flotte für uns verloren!“

„Bringen Sie die Leute auf die NOVA SOLARIS, Hauptmann! Ich komme sofort nach. Ausführung!“

Widerwillig befolgte Diana Spencer den Befehl. „Beeilen Sie sich, Major!“

Corvin sah überlegend auf Famke und ihren Begleiter. Mit der linken Hand an der Brusttasche seiner Kampfmontur nestelnd, öffnete er schließlich den Magnetverschluss und förderte mit der Rechten eine Code-Karte daraus hervor.

Famke die Karte übergebend sagte er ernst zu ihr: „Hör mir jetzt gut zu und stell keine Fragen, Famke: Mein Kreuzer und meine Leute fallen hier auf, wie bunte Hunde. Die Feindschiffe werden hier sein, bevor mein Kreuzer die Hälfte des Weges zur Zehnten Flotte hinter sich bringen könnte. Du hingegen trägst eine Uniform, die hier nicht auffällt. Zudem verfügen du, und deine Leute, über einen Frachter, der offiziell zur Konföderation Deneb gehört und deshalb nicht weiter auffällt.“

Corvin machte eine kurze Pause und sah Famke eindringlich in die Augen, bevor er eindringlicher als zuvor meinte: „Diese Karte enthält zwei Codes, wie du erkennen kannst. Der obere gewährt dir Zugang zu einem beliebigen Kriegsschiff der Zehnten Flotte. Der untere Code muss an Bord eines der Kriegsschiffe eingegeben werden, nachdem die Schiffssysteme hochgefahren wurden. Ab diesem Moment wird ein System aktiviert, das eine Fernsteuerung der gesamten Flotte erlaubt. Du, und deine beiden Begleiter; ihr werdet an Bord eines der Kriegsschiffe bleiben. Die Flotte wird ferngesteuert einen Punkt im Weltall anfliegen, wo sie bereits von einer Unterstützungs-Flotte erwartet wird. Dort werden die Einheiten bemannt. Meldet euch in dem Fall beim zuständigen Offizier, der zu euch an Bord kommen wird. Ihr seid dann vorläufig in Sicherheit. Alles weitere findet sich dann.“

„Famke Korkonnen, die atemlos zugehört hatte, sah den Freund mit großen Augen an, und Corvin nahm sie in die Arme und drückte sie geschwisterlich. „Ich weiß, dass das viel verlangt ist, doch es ist die einzige Chance, die neue Flotte dem Feind zu entziehen, und die Flotte Terras zu stärken. Wir müssen diesen Krieg gewinnen, Famke. Das weißt du.“

Mit einem Kuss auf die Wange gab Corvin die junge Frau wieder frei. „Viel Glück! Ich verlasse mich darauf, dass ihr Erfolg haben werdet. Ich weiß, du schaffst das!“

Damit wandte sich der Kanadier ab und rannte zu seinem Kreuzer zurück – eine höchst verwirrte junge Frau zurücklassend.

Darweshi Karume trat neben sie und sagte ruhig: „Komm, Famke. Du hast ihn gehört. Wenn wir etwas für Terra tun können, dann sollten wir sofort damit beginnen.“

Famke nickte und wischte sich über die Augen. „Ja, du hast Recht. Das werden wir.“

Gemeinsam rannten sie zum Frachter zurück; ein neues Ziel vor Augen. Dabei schmunzelte Darweshi Karume ironisch: „Na, dieser Dean hat aber jetzt was erlebt.“

„Ach, halt einfach den Mund, du Nervensäge!“

Verzweiflungstaten


 

15.
 

Verzweiflungstaten
 

Vor wenigen Augenblicken hatte es begonnen.

Zunächst wusste niemand an Bord der angreifenden Kriegsschiffe, der alliierten Flotten des Terranischen Imperiums und der Farradeen-Allianz, genau, was sich zutrug. Doch seitdem die Funkoffiziere der Kriegsschiffe das Reizimpulssignal der stationären Sendeanlagen auf Venus, Terra, Mars, Pluto, Eris und Titan empfingen kam es an Bord der Kriegsschiffe verstärkt zu seltsamen Störungen und Systemausfällen.

Ein Angriffsverband aus insgesamt zwanzig Kriegsschiffen der Farradeen-Allianz bekam die Auswirkungen dessen, was Generalleutnant Khermina Skrin vor wenigen Augenblicken angeordnet hatte, zuerst zu spüren.

Der Verband flog mit einigen Tausend Kilometern Überhöhung und einem Abstand von zwanzigtausend Kilometern zur Hauptflotte, an der hinteren Flanke. Beim Auftauchen der drei Flotten, die aus Richtung von Titan zum Mars zurückkehrten, schwenkten sie ein um die Fregatten und Zerstörer der feindlichen Frontsicherungsverbände anzugreifen. Doch mitten im Kursschwenk begannen die zwanzig Kriegsschiffe plötzlich so träge zu reagieren, als würden die Steuerimpulse in Zeitlupe bei den Antriebs-Emittern eintreffen. Dasselbe galt für die Geschütztürme dieser Einheiten.

Bevor die Besatzungen der zwanzig Einheiten die Lage unter Kontrolle bringen konnten, wurden sie mit voller Wucht der eben angekommenen Kriegsschiffe der Konföderation Deneb attackiert. Ohne ihre normale Wendigkeit ausspielen zu können wurden die zwanzig Einheiten zur leichten Beute der auf sie abgefeuerten Weltraumtorpedos und Plasmaschüsse. In schnell hintereinander aufleuchtenden Energiekaskaden wurden die zwanzig Kriegsschiffe der Farradeen-Allianz förmlich zerrissen und vergingen.

Auf beinahe 95 Prozent der alliierten Kriegsschiffe kam es zu ähnlichem Versagen der Bordsysteme und die ersten offenen Notrufe wurden von den Hyperfunk-Antennen, der alliierten Einheiten, in Richtung Wega abgestrahlt.

Auf der STELLARIS erkannte Generalmajor Arolic Traren mit höchster Geschwindigkeit, dass der so optimistisch begonnene Überraschungsangriff zu einer militärischen Katastrophe zu werden drohte, wenn er nicht umgehend handelte und die Konsequenzen aus dieser unheilvollen Entwicklung zog. Auf der Allgemeinen Notfrequenz ließ er, mit höchster Sendeleistung, das Signal zum Rückzug senden.

Auch auf den Kriegsschiffen der terranischen Ersten Flotte wurde das Signal empfangen. Inzwischen wusste die Besatzung jedoch auch ohne dieses Kommando, dass irgendetwas fürchterlich schiefgegangen war. Jetzt zahlte sich der harte Drill der Mannschaften, der bei der Flotte des ehemaligen Terranischen Imperiums berüchtigt gewesen war, aus. Sie handelten genau so, wie sie es gelernt hatten. Schnell und sicher.

Derweil versuchten die Flotten der Konföderation den Gegner einzukesseln und es wurde absehbar, dass die terranischen Einheiten bald in der Falle sitzen würden.

Verzweifelt, aber dennoch diszipliniert, handelten die Raumfahrer der ehemaligen Imperiums-Flotte. Sie igelten sich nicht ein, wie der Feind es offensichtlich hoffte. Immer fünf Kriegsschiffe bildeten einen Pulk. Nachdem dieses Umgruppieren beendet war, gaben die Piloten der Raumschiffe volle Energie auf die hinteren Antriebs-Emitter. Die Raumschiffe jagten an den überraschten gegnerischen Einheiten vorbei und verschwanden im interplanetaren Raum, dabei immer mehr Fahrt aufnehmend.

Nicht jedem der Pulks gelang dieses Manöver und die alliierten Flotten der Terraner und Farradeener mussten empfindliche Verluste hinnehmen. Dennoch gelang etwa 70 Prozent der Kriegsschiffe, viele von ihnen mehr oder weniger stark beschädigt, die Flucht in den Hyperraum. Dabei nahmen die alliierten Flotten Kurs auf das Wega-System.

Die wenigen Kriegsschiffe, die keine Einschränkungen aufwiesen blieben etwas hinter den fliehenden Verbänden zurück um eventuelle Verfolger abwehren zu können. Doch bald schon stellte sich heraus, dass die Einheiten der Konföderation nicht daran dachten nachzusetzen. Vorläufig war das Gros der kombinierten Flotte in Sicherheit.
 

* * *
 

Als die Alarmgeber auf dem Mars einsetzten, hielt sich Kim Tae Yeon im Büro ihres Freundes auf. Sowohl sie, als auch Larenan Farralen, hatten mit dem Auftauchen weiterer terranischer und farradeenischer Flottenverbände gerechnet. Dabei fragte sich Kim für einen kurzen Augenblick, ob vielleicht auch diesmal Dean Corvin mit von der Partie war.

Larenan Farralen sah bezeichnend zu der Asiatin, ohne von ihren Gedankengängen etwas zu ahnen. Was er ebenfalls nicht ahnte war, welche Gedanken ihr in Bezug auf ihn selbst durch den Kopf gegangen waren, in den letzten Wochen und Monaten. Kim war ihm in den letzten Monaten sehr viel näher gekommen, was er begrüßte. Er hasste die Streits, die sie noch vor einigen Monaten geführt hatten; unmittelbar nachdem ein farradeenischer Kommandotrupp auf dem Mars gewesen war.

Der Boden bebte und Farralen meinte missmutig: „Die meinen es ernst. Ich verstehe Generalleutnant Skrin nicht. Spätestens jetzt sollte sie die Überlagerungssender aktivieren.“

Kim Tae Yeon, die zu seiner Linken halb auf der Kante seines Schreibtisches saß, spielte mit einer metallenen Trophäe, die er dort aufgestellt hatte. Dabei erwiderte sie nachdenklich: „Vermutlich will sich Skrin ganz sicher sein, die Verbände in der Falle zu haben. Auch jene, die garantiert vom Titan aus nun ebenfalls zum Mars aufbrechen werden.“

Larenan Farralen schenkte der Asiatin ein Lächeln. „Irgendwann wirst du in der Hierarchie des Militärs der Konföderation ganz oben stehen, vermute ich. Du siehst die strategische Lage stets mit einer Klarheit, die vielen anderen Militärs fehlt.“

„Du schmeichelst mir“, winkte Kim lächelnd ab und gab sich verlegen. Dabei drehte sie die schwere Auszeichnung in ihren Händen und wog sie dabei überlegend. „Es ist nichts Besonderes, anhand von vorliegenden Daten, eine strategische Lage zu analysieren.“

Eine erneute Erschütterung durchlief das Gebäude und für einen kurzen Augenblick war der Oberstleutnant abgelenkt, als er sich von Kim abwandte.

Die zierliche Frau, der man die Kraft, die in ihrem sehnigen Körper steckte, kaum ansah und auch kaum zutraute, handelte und nutzte den momentanen Vorteil ohne zu zögern. Sie hob die Hand, welche die Auszeichnung hielt, und schlug zu, so fest sie konnte.

Mit einem fürchterlichen Geräusch traf der Sockel der Auszeichnung den Hinterkopf des Mannes, der im Sessel vornüber kippte. Mit einem dumpfen Laut schlug seine Stirn auf die Schreibtischplatte. Blut sickerte aus der Wunde am Hinterkopf, die Kim ihm beigebracht hatte. Überlegend sah Kim die leblose Gestalt an, bevor sie noch zweimal zuschlug. Erst dann ließ sie die Auszeichnung fallen, wo sie stand.

Verächtlich schnaubend sagte die Asiatin kalt: „Du hättest mich – das instabile Element, wie du es vor einigen Monaten abwertend nanntest – beseitigen sollen, als du es noch konntest. Ich bin nämlich wirklich ein instabiles Element, du blinder Narr.“

Im nächsten Moment schlug ein Torpedo der angreifenden Verbände dicht am Hauptquartier ein und die Scheiben des Büros zersprangen.

Mit einem Satz warf sich Kim zu Boden. Keinen Augenblick zu früh, denn im nächsten Moment brach die halbe Zimmerdecke weg. Dicht neben ihr schlugen scharfkantige Stücke der Decke auf, doch sie blieb, wie durch ein Wunder, unverletzt. Mit einem Blick über die Schulter stellte Kim fest, dass Larenan halb unter einem Schuttberg begraben lag.

Sehr gut, damit fällt kein Verdacht auf mich. Keiner wird vermuten, er wäre nicht durch den Angriff getötet worden.

Hustend, weil ihr Staub in die Lunge geriet, erhob sich die Asiatin und taumelte aus dem Büro hinaus. Sie eilte durch den annähernd unzerstörten Gang in Richtung des nächsten Treppenhauses. Lifts wollte sie in der gegenwärtigen Situation nicht vertrauen. Unterwegs aktivierte sie das Funksegment ihres MFA und nahm Verbindung zu Generalleutnant Skrin auf. „General, hier spricht Major Kim. Oberstleutnant Farralen wurde bei dem letzten Beschuss des Feindes in seinem Büro getötet. Ich selbst entkam nur mit knapper Not.“

Es dauerte einen Moment, bis eine Antwort erfolgte. „Hier spricht Brigadegeneral Astanak. Generalleutnant Skrin ist beschäftigt. Sie sagten, der Oberstleutnant ist tot?“

„Ja, Sir. Was wird nun aus seinem Auftrag?

Eine Kurze Pause entstand bevor der Brigadier antwortete: „Kommen Sie umgehend in die Kommandozentrale. Ich weise Sie ein. Sie werden den Auftrag übernehmen, Major.“

Kim bestätigte und schaltete ab und beeilte sich, mit einer seltsamen Erleichterung in ihrem Innern, die Kommandozentrale zu erreichen.

Die Einweisung des Brigadiers fiel denkbar kurz aus. Am Ende überreichte er ihr einen Spezialausweis, mit dem sie sich jenen Verhandlungspartnern gegenüber legitimieren konnte, denen sie während ihrer Reise begegnen würde.

Kim Tae Yeon verstaute die Kunststoffkarte in der Brusttasche ihrer nachtblauen Kampfkombination und machte sich rasch auf den Weg zum Raumhafen. Dabei lag ein fast diabolisches Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie hatte sich ihres arroganten Liebhabers entledigt, dessen sie überdrüssig geworden war und sie hatte gleichzeitig eben die Chance erhalte, weiter, und zwar rasch, aufzusteigen beim Militär der Konföderation Deneb.
 

* * *
 

Von diesen Ereignissen bekamen Moshe Melnik und seine fünf Begleiter nichts mit. Direkt nach der Landung war es ihnen gelungen, unbemerkt eine der an ihnen vorbei schwebenden Ladeplattformen zu erklimmen und unbemerkt an Bord des Frachters zu gelangen, der bald in Richtung des Einflussbereiches, des Bundes von Harrel aufbrechen sollte. An Bord verließen sie den Lagerraum umgehend und verbargen sich nahe des Antriebssektors. Dorthin würden sich die Piloten und der zu erwartende Geheimdienst-Offizier am allerwenigsten verirren, mutmaßte Melnik.

Der hauptsächliche Grund in diesem Bereich abzuwarten war der, dass Melnik und seine Leute hier, anhand der Arbeitsgeräusche, bestimmen konnten, wann der Frachter in den Hyperraum eindringen würde. Erst zu diesem Zeitpunkt sollte die Übernahme des Frachters, durch die sechs Mitglieder des Sperber-Teams erfolgen, damit niemand an Bord ohne weiteres einen Notruf würde absetzen können.

Also harrten sie dort zu sechst aus und warteten ab. Dabei schien die Zeit von Sekunde zu Sekunde immer langsamer zu verstreichen, bis Moshe Melnik den Eindruck gewann sie würde gar nicht mehr vergehen.

Fast überraschte es ihn, als die Geräusche der Aggregate sich unmerklich um eine halbe Oktave steigerten und erleichtert sah er in die Runde. „Der Frachter ist offensichtlich in den Hyperraum eingedrungen. Wir warten sicherheitshalber noch eine Weile hier, bevor wir den Maschinenraum verlassen. Das wird die beiden Piloten und den Geheimdienstoffizier, der nun hoffentlich an Bord ist, in Sicherheit wiegen. Denkt daran, den wollen wir lebend.“

„Schon klar“, knurrte Dheran Collard beruhigend. Dann schüttelte er den Kopf und meinte sinnend: „Ich werde weiter raus ins All fliegen, als je zuvor.“

„Ich nicht!“

Fünf Augenpaare richteten sich auf die junge Frau, die diese Worte so ruhig und bestimmt gesagt hatte. Yunai Lee. Wegen der plötzlichen Aufmerksamkeit etwas verlegen meinte sie erklärend: „Nun ja, Denebarran liegt 2107 Lichtjahre weit weg. Selbst wenn wir jetzt bis zum Harrel-System fliegen sollten, wären das fünf Lichtjahre weniger.“

„Das ist weit weg von Zuhause“, sagte Alexandra Marsden mitfühlend, die erahnte, was in der Frau von Denebarran gerade vorgehen musste. „Aber warten wir erst einmal ab, vielleicht geht die Reise, für uns alle. noch sehr viel weiter.“

„Ja, vielleicht“, nahm Moshe Melnik den Faden auf. „Doch darüber nachzugrübeln bringt uns nicht weiter. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was unmittelbar vor uns liegt und das ist zunächst die Übernahme des Frachters.“

Kenji Tanaka nickte lediglich dazu und sah dann zu Yunai Lee. „Das geht nicht gegen dich Yunai, doch ich wünschte, du wärst noch nicht so weit herumgekommen.“

„Ich auch“, versicherte die junge Frau ernsthaft.

„Es wird Zeit“, unterbrach Moshe Melnik die Unterhaltung. „Günstiger wird die Gelegenheit nicht werden, würde ich sagen.“

Die sechs Mitglieder des Sperber-Teams packten ihre Waffen fester und folgten Moshe Melnik, der die Führung übernahm. Dicht gefolgt von Alexandra Marsden und den übrigen vier jungen Leuten.

Auf dem Gang zwischen den Laderäumen kam ihnen niemand entgegen und so erreichten sie unangefochten das Passagierabteil des Frachters. Einen Moment vor dem Schott verharrend gab Melnik schließlich das Zeichen zum Vorstoß. Er öffnete das Schott und sie stürmten in das Passagierabteil. Dabei gelang es dem Team, die völlig überraschte, asiatische Frau, mit den Insignien eines Majors am Kragen, zu entwaffnen, bevor sie zu einer Bewegung fähig war. Alexandra Marsden hielt sie, gemeinsam mit Kenji Tanaka, in Schach, während die restlichen Vier weiter vordrangen, zum Cockpit.

Schüsse fielen und aus geweiteten Augen sah Kim im Passagierabteil zu den beiden Gestalten auf, die sie mit ihren Plasmagewehren bedrohten. Offensichtlich handelte es sich nicht um Soldaten der Konföderation, auch wenn sie deren Uniformen trugen. An dieser Stelle ihrer Überlegung fragte sie irritiert: „Wer seid ihr Mörder und was wollt ihr hier?“

Dheran Collard zerrte einen der getöteten Piloten ins Passagierabteil. Gefolgt von Moshe Melnik, der die zweite Leiche ins Passagierabteil zerrte.

Dabei bekam Melnik die Frage der Frau mit und begab sich zu ihr. In seinen Augen lag beinahe ein trauriger Zug, als er antwortete: „Wir sind vom terranischen Widerstand, Major. Wie sie vielleicht bemerkt haben werden: Wir haben mit den Kriegsgesetzen wenig zu schaffen. Das sollten Sie nicht vergessen, wenn ich Ihnen jetzt einige Fragen stelle. Zunächst will ich nur eins wissen: Wo ist der Oberstleutnant, der diesen Flug mitmachen sollte?“

Der Widerständler erkannte Überraschung im Blick der Asiatin. Während er auf eine Antwort von ihr wartete, dachte er kurz an Famke Korkonnen. Ihr würde vermutlich nicht gefallen, dass er beschlossen hatte, außer dem Geheimdienstoffizier, keine weiteren Gefangenen zu machen. Doch dies war seine Entscheidung, da er momentan dieses Team führte und er wollte keinerlei unnötige Risiken eingehen.

Erst als ihre beiden Bewacher bedrohlich die Waffen etwas anhoben erwiderte Kim mit wutverzerrter Miene: „Mein Kollege wurde bei dem Angriff getötet. Ich fliege nun an seiner Stelle mit. Von wem wissen Sie davon?“

„Die Fragen stelle ich hier“, wich Moshe Melnik aus. „Falls Ihre Antworten nicht zu meiner Zufriedenheit ausfallen, dann werden Sie enden, wie die beiden Piloten dieses Frachters, Major. Ich erwähne das nur für den Fall, dass Ihnen das nicht klar sein sollte.“

Zorn loderte in den dunklen Augen der Asiatin, als sie Moshe Melnik ansah. Es war unschwer zu erahnen, wie es in ihr aussah.

Moshe Melnik beschloss, die Asiatin vor sich, mit seinem Wissen über ihre Mission zu konfrontieren. „Was wir nicht wissen wollen ist, welchen Auftrag Sie haben, denn der ist uns genau bekannt. Ihnen wird nicht gelingen, die noch immer gut funktionierende Handelsbeziehung zwischen dem Bund von Harrel und dem Imperium zu unterbrechen. Was wir am Ziel tun werden, ist, Sie der zuständigen Militärbehörde auf Harrel III auszuliefern, nachdem wir denen verraten haben, was Ihr Plan gewesen ist.“

„Dazu habt ihr gar kein Recht“, zischte die Asiatin wütend. „Ihr gehört nicht zum Militär sondern ihr seid nur eine wilde Bande von Bewaffneten, die sich anmaßt, in diesen Krieg mitkämpfen zu dürfen. Ihr seid Kriegsverbrecher.“

Kim Tae Yeon erhob sich von ihrem Sitz, doch rasch trat Alexandra Marsden vor und versetzte der Frau eine schallende Ohrfeige, die sie in den Sessel zurück warf. Dabei meinte die bewaffnete Frau höhnisch zu Kim: „Das dürfen Sie gerne auf die Liste der Verbrechen setzen, die Sie uns vorwerfen. Sie verkennen die Situation, in der Sie sich befinden.“

Die Asiatin warf Alexandra Marsden einen mörderischen Blick zu. „Wenn ich jedesmal einen Credit bekommen hätte, wenn mich einer mit einer Waffe bedroht hat, dann wäre ich bereits eine reiche Frau.“

„Machen Sie so weiter und es war das letzte Mal.“

Moshe Melnik gab seiner Kameradin einen Wink und übernahm wieder. „Hören Sie zu, Major: Zunächst will ich Ihren Namen wissen.“

Kim wog ihre Chancen ab. Sie traute dieser Frau, die sie eben geohrfeigt hatte, durchaus zu, sie ohne Skrupel zu erschießen, wenn sie sich querstellte. Darum sagte sie, nach einem kurzen Moment des Zögerns: „Mein Name ist Kim Tae Yeon. Major des Militärischen Geheimdienstes der Konföderation Deneb.“

Moshe Melnik war sich nicht sicher, ob die Frau in anlog, oder die Wahrheit sagte. Doch er gab sich vorerst damit zufrieden. „Wir werden Sie in einen der kleineren und ungenutzten Lagerräume einsperren, Major Kim. Zusammen mit einem ausreichenden Vorrat an Notrationen und Wasser.“ Flüchtig lächelnd fügte er hinzu: „Und einem verschließbaren Vakuumbehälter.“

Damit wandte er sich zu Alexandra. „Du nimmst zuvor eine Leibesvisitation vor. Ich will nicht, dass diese Frau in dem Frachtraum irgendeinen Unsinn anstellt.“

„Das wäre der letzte Unsinn ihres Lebens“, knurrte Alexandra Marsden finster, wobei sie sich von Kim abwandte, so dass diese nicht sehen konnte, wie sie Melnik zu zwinkerte.

„In Ordnung. Dann fang an.“
 

* * *
 

Auf der NOVA SOLARIS herrschte bereits Alarmzustand, als Dean Corvin endlich die Rampe zur vorderen Steuerbordschleuse hinauf rannte. Die akustischen Signale der Alarmgeber erfüllten das Raumschiff. Noch bevor sich die beiden Schotthälften der Schleusenkammer geschlossen hatten, gab Corvin über sein MFA den Startbefehl und der Leichte Kreuzer hob gleich darauf ab.

Anerkennend registrierte Corvin, dass Irina keine Zeit verlor, seinen eben erst erteilten Startbefehl umzusetzen. Er spürte das Vibrieren der Schiffszelle unter den Stiefelsohlen seiner Kampfmontur, als er sich zum Innenschott begab. Er musste, so schnell es nur irgend ging, die Zentrale erreichen.

Über sein MFA erhielt Corvin von Irina Hayes die Meldung, dass es insgesamt zehn Kriegsschiffe der Konföderation Deneb waren, die auf die NOVA SOLARIS zu hielten. Offensichtlich hatten sie es geschafft den Riegel der angreifenden alliierten Flotten zu durchbrechen, was zu der vorangegangenen Meldung passte, dass sich dort hoch über der Oberfläche des Mars, eine Katastrophe anbahnte.

Immer noch auf dem unteren Deck rannte Corvin in Richtung des nächsten Aufzuges. Vom Bug des Leichten Kreuzers etwas zur Mitte hin. Ein Schlag lief gleich darauf durch den Kreuzer und hob den Kanadier von den Beinen. Die Welt begann sich um ihn zu drehen und ächzend kollidierte er mit einer der Gangwände. Instinktiv spannte der Mann seinen Körper an und schützte seinen Kopf mit den Armen, als er zu Boden ging.

Etwas benommen lag er dort einen Moment lang, bevor er den Kopf schüttelte um wieder zu sich zu kommen, sich dabei auf den Händen abstützend. Bei dem Versuch, auf allen Vieren, langsam wieder vom Boden aufzustehen, durchlief eine weitere Erschütterung durch die NOVA SOLARIS, so dass Corvin den Versuch abbrach, bis sich der Boden unter ihm nicht mehr bewegte. Erst dann unternahm er einen erneuten Anlauf.

Gerade wieder auf den Beinen taumelte er weiter, auf den Lift zu. Im nächsten Moment erhielt das Raumschiff einen fürchterlichen Schlag. Dicht vor dem Kanadier krachte ein Deckenelement auf den Boden des Ganges. Eine Flammenlanze zuckte aus der dort entstandenen Öffnung und hinterließ einen geschwärzten Fleck auf dem Bodenbelag.

Corvin, der nur knapp ausweichen konnte, wurde zum Spielball der Elemente, als ein weiterer Schlag den Leichten Kreuzer erschütterte.

Ein Element der Innenwandung platzte weg und scharfkantige Stahlplastik-Splitter flogen durch die Luft. Gleichzeitig explodierte ein Aggregat hinter der Verkleidung.

Aus den Augenwinkeln sah Dean Corvin schattenhaft etwas auf sich zu fliegen und instinktiv streckte er seinen linken Arm aus um der Gefahr zu begegnen.

Eine fatale Entscheidung.

Ein rasiermesserscharfes Aggregat-Element fetzte wie ein Geschoss auf seinen linken Oberarm zu und durchschnitt ihn, im Bruchteil einer Sekunde.

Gellend schrie Corvin auf und stürzte zu Boden. Noch im Fallen kam es zu einer verheerenden Folgeexplosion. Die Schockwelle erwischte Corvin und wirbelte ihn durch den Gang, vorbei am Schott des Lifts. Glühende Metallfragmente wirbelten, wie Geschosse, durch den Gang und zwei von ihnen streiften Corvins Gesicht, seitlich des linken Auges, als er auf dem Rücken landete. Doch das bekam Corvin bereits nicht mehr mit. Bewusstlos lag er im Gang, während das aus dem linken Armstumpf rinnende Blut langsam aber stetig eine sich immer weiter ausbreitende Lache auf dem Boden bildete.
 

* * *
 

Als der erste Plasmastrahl die Dualschilde der NOVA SOLARIS durchschlug und den hinteren Bereich des Leichten Kreuzers traf, wurde Irina Hayes beinahe aus dem Kommandosessel geschleudert, in dem sie eben erst Platz genommen hatte.

Sie fluchte erbittert und sah sich gleichzeitig zu Oberfeldwebel Akira Takeda, der an den Maschinenkontrollen saß. „Takeda, geben Sie mir eine Meldung!“

„Die Dualschilde sind kurzzeitig ausgefallen. Ein Plasmaschuss hat die Panzerung des Kreuzers im hinteren Drittel durchschlagen. Die Schotts des betreffenden Sektors haben sich selbsttätig geschlossen und einen Atmosphärenverlust verhindert.“

Kaum hatte Takeda die Meldung gemacht, wurde der Kreuzer ein zweites Mal schwer erschüttert. Unaufgefordert meldete Takeda: „Hauptmann, der Kreuzer wurde im an Steuerbord, im Bugbereich getroffen. Auch dort haben die Schotts schlimmeres verhindert.“

Irina Hayes rückte sich auf dem Sessel zurecht. „Danke, Oberfeldwebel.“ Sie wandte sich gleich darauf an den Piloten. „Leutnant Newton, schaffen Sie die NOVA aus der Kampfzone heraus. Schließen Sie zum Hauptverband auf und nehmen Sie eine Defensiv-Position an der hinteren Flanke ein. Wir decken den Rückzug der übrigen Kriegsschiffe.

Vor wenigen Minuten hatte es begonnen. Aus noch ungeklärten Gründen reagierten die alliierten Kriegsschiffe plötzlich sehr träge auf die Steuerschaltungen. Das machte sie träge und zur leichten Beute für die wütend attackierenden Kriegsschiffe der Konföderation Deneb. Nur wenige Kriegsschiffe von Farradeen und der Terranischen Flotte waren nicht betroffen. Unter ihnen die NOVA SOLARIS, ohne dass Irina Hayes die geringste Ahnung hatte, warum das so war.

Vor wenigen Augenblicken hatte Generalmajor Arolic Traren den Befehl erlassen, dass sich die Verbände schnellstmöglich aus dem Sol-System zurückziehen sollen. Dabei übernahmen die noch voll funktionsfähigen alliierten Kriegsschiffe die Deckung dieser verzweifelt anmutenden Aktion.

Bei einem Seitenblick bemerkte Irina Hayes, dass sich die Navigatorin wiederholt das linke Handgelenk massierte. Offensichtlich hatte sie sich bei der letzten Erschütterung verletzt, doch sie tat ihren Dienst weiter, worüber die momentane Kommandantin des Kreuzers froh war. Sie konnte aktuell nicht auf sie verzichten.

Gleichzeitig fragte sich Irina Hayes wo Dean blieb. Er hätte längst hier sein müssen. Sie überlegte kurz und hob dann ihr linkes Handgelenk an um ihn MFA zu aktivieren. Sie versuchte Corvin zu kontaktieren, doch der Mann antwortete nicht. Nach einigen Versuchen gab sie es auf und nahm dafür zu Diana Spencer Kontakt auf.

„Hauptmann Spencer, hier Hayes. Ich vermisse den Kommandanten. Über MFA kein Kontakt. Geben Sie Ihren Leuten Befehl, nach im zu suchen. Corvin kam nach der Landung auf dem Mars, über die vordere Steuerbordschleuse wieder an Bord. Hayes, Ende.“

Natürlich konnte die rothaarige Frau es sich nicht erlauben, während des Dienstes ihre Lebensgefährtin zu duzen. Eine solche Disziplinlosigkeit würde sich auch Diana nicht leisten, das wusste sie.

Im nächsten Moment klang die Stimme der blonden Frau aus den hochwertigen Lautsprechern des Armbandgerätes auf. „Verstanden Hauptmann. Leite Suche ein.“

Irina Hayes schaltete ab. In Kampfsituationen im Weltraum waren die Männer und Frauen des Landekommandos, über das gesamte Raumschiff verteilt, um den Technischen Abteilungen Unterstützung zu geben, oder, wie in diesem Fall, Rettungsteams zu bilden.

Da sich Oberfeldwebel Anaris Ikari mit einem Team aus drei weiteren Angehörigen der 506. Raumlandetruppe, im vorderen Steuerbordbereich aufhielt, nahm sie Verbindung mit ihr auf und befahl ihr, den kürzesten Weg von der Schleuse zum Kommandozentrum abzusuchen. Als sie die Verbindung unterbrach spiegelte sich Sorge auf ihrem Gesicht.
 

* * *
 

Diesen Kerl darf man aber auch wirklich nicht allein lassen, dachte Anaris Ikari, beinahe wütend, nachdem sie von Diana Spencer angerufen worden war und ihre Vorgesetzte ihr erklärt hatte, worum es ging. Das nächste Mal weiche ich nicht von seiner Seite.

Sie instruierte ihre drei Teammitglieder und sie machten sich, im Laufschritt, auf den Weg. Ihre momentane Position lag etwa auf der Hälfte des Weges zwischen der letzten bekannten Position des Majors, und der Zentrale. An der nächsten Gangkreuzung teilte sie ihr Team auf und schickte zwei Männer los, die den Weg von hier zur Zentrale absuchen sollten. Sie selbst begab sich, mit dem Hauptgefreiten Haril Kerazan, der aus derselben Gegend auf Farradeen stammte, wie Oberleutnant Krezirin, in die entgegengesetzte Richtung, um den Weg von hier bis zur Schleuse abzusuchen. Dabei hoffte sie nur, dass der Major wirklich den kürzest möglichen Weg eingeschlagen hatte. Was bei diesem Mann gar nicht so sicher war, denn nur allzu oft entschied Corvin spontan etwas nicht vorhersehbares zu unternehmen. Viel zu oft, nach dem Geschmack der Frau.

Nebeneinander hasteten sie durch die Gänge, kontrollierten Liftkabinen und Notaufgänge, ohne zunächst auf den Gesuchten zu stoßen.

Schließlich erreichten sie das untere Deck und der Schrei ihres Begleiters, ließ Anaris Ikari herumfahren.

„Da liegt einer auf dem Boden, Oberfeldwebel!“

Die Frau sah in die Richtung, in die Kerazan deutete und ihr schien es so, als würde in demselben Moment eine eisige Hand nach ihrem Herzen greifen. Dabei sah sie zunächst nur die Gestalt des Majors, unweit eines Lifteinstiegs, auf dem Boden liegen.

Sie rannten zu der Gestalt hin. Als sie ankamen erkannten sie, dass es sich wirklich um Corvin handelte, der dort lag. Aber sie erkannten auch noch etwas anderes.

„Bei allen Heiligen“, stieß Kerazan aus und deutete auf den Armstumpf.

Auch die Augen der Frau weiteten sich beim Anblick des Bewusstlosen. Gleichzeitig aber aktivierte sie bereits ihr MFA. „Krankenstation, hier Oberfeldwebel Ikari! Wir brauchen ein Notfall-Team auf Deck-12. An Steuerbord, Bugbereich, Gang – Moment – 12-II-B.“

Der Hauptgefreite hatte inzwischen seine Finger an die Halsschlagader gelegt und nickte nun seiner Vorgesetzten zu. „Puls fühlbar aber schwach, Oberfeldwebel.“

Anaris Ikari überwand ihren anfänglichen Schrecken und packte den Armstumpf des Majors direkt unterhalb der Achsel. Dabei erklärte sie: „Ich drücke die Hauptschlagader ab, damit der Major nicht noch mehr Blut verliert. Weisen Sie das Rettungsteam ein, sobald es hier auftaucht, Hauptgefreiter.“

Während der Mann bestätigte und sich erhob, brauchte Anaris Ikari einen Moment, bis sie die richtige Stelle zum Abdrücken gefunden hatte. Dabei überschlugen sich ihre Gedanken. Die Medizin und auch die medizinische Technik des 33. Jahrhunderts waren weit fortgeschritten, aber bei einer so extremen Verletzung würde es nicht funktionieren, einfach den abgetrennten Arm mit dem Stumpf wieder zu verbinden. Dies funktionierte bei Fingern und Zehen einigermaßen. Doch ein ganzer Arm, da würde nur eine mechanische Prothese in Frage kommen. Bei dieser Überlegung traten Tränen in die Augen der Frau. Sie wusste um sein Verhältnis zu Rian Onoro und sie konnte sich gut vorstellen, welcher Belastung die Beziehung in der nächsten Zeit ausgesetzt sein würde. Allein durch den psychischen Zustand des Majors, der in der nächsten Zeit sicherlich nicht der beste sein dürfte. Doch zunächst einmal musste er diese Verletzung überhaupt überleben.

Sich von diesen düsteren Gedanken frei machend wischte sie sich kurz mit dem rechten Handrücken über das Gesicht. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass hinter ihrem Rücken das Rettungsteam erschien.

Gleich darauf kniete Oberleutnant Asuka Langdon neben Anaris Ikari und sagte: „Drücken sie noch etwas weiter ab, Oberfeldwebel.“

Dabei untersuchte sie den Major mit einem Bio-Scanner, las die Werte ab und machte ein besorgtes Gesicht. „Der Major hat bereits eine Menge Blut verloren.“

Dabei öffnete die Ärztin ihren Notkoffer und entnahm ihm einige handgroße Gerätschaften. Sich erneut zu Ikari wendend meinte sie. „Lassen Sie jetzt los, ich werde die Wunde am Arm jetzt provisorisch versiegeln. Danach legen wir den Major auf die mitgebrachte Bahre und bringen ihn schnellstmöglich zur Krankenstation.“

„Was passiert mit dem abgetrennten Arm?“

Die Bordärztin nahm Anaris Ikari die letzte vage Hoffnung, indem sie den Kopf schüttelte und sagte: „Die Verwundung ist zu schwer. Da ist mit dem Arm nichts mehr zu machen. Einer meiner Kollegen wird ihn mitnehmen, doch an ein Verbinden mit dem Armstumpf ist nicht zu denken, Oberfeldwebel.

Anaris Ikari, die bereits mit einer solchen Antwort gerechnet hatte, nickte nur stumm und meinte: „Wir helfen Ihnen und Ihrem Team, den Major rasch zur Krankenstation zu bringen, Oberleutnant.“

Die Ärztin war bereits bei der Arbeit, als sie kurz bestätigte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bevor sie die Gerätschaften in ihren Koffer zurücklegte und ihrem Team ein Zeichen gab, dass der Major nun transportfähig war.

Zu dritt legten sie den Mann auf die Bahre und die drei Sanitäter in Langdons Begleitung, sowie Haril Kerazan hoben sie vorsichtig und gleichmäßig an.

Während die Ärztin nun eilig in Richtung des Lifts schritt, bildete Anaris Ikari den Abschluss. Die Raumlandesoldatin hatte zuvor bereits ihr MFA aktiviert und Hauptmann Irina Hayes darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Major vorerst ausfallen würde. Dabei hatte sie ihr aber die Schwere der Verletzung nicht genannt. In dem momentan stattfindenden Gefecht war es nicht allzu gut, wenn die Frau, die dieses Kriegsschiff kommandierte, mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Auch auf die Gefahr hin, dass Hayes später stinksauer auf sie sein würde.

Leise fragte Anaris Ikari ihren Kameraden, der die Bahre hinten rechts trug: „Geht es, Hauptgefreiter?“

In dem Versuch, die gedrückte Stimmung etwas zu lockern erwiderte der kräftige Mann: „Ein farradeenischer Yak-Bulle wiegt die Hälfte.“

Der Versuch misslang und der Mann sagte während sie mit dem Lift zu Deck-7 hinauf fuhren: „Er wird bestimmt durchkommen, Oberfeldwebel.“

„Das wird er bestimmt“, gab ihm Asuka Langdon aufmunternd recht.

Danach blieb es still und Anaris Ikari hoffte inständig, dass die Ärztin recht behielt. Dabei dachte sie kurzzeitig an die blonde Frau, die Corvin auf dem Mars begrüßt hatte und sie fragte sich, in wie fern sie in Beziehung mit dem Major stand.
 

* * *
 

Auf dem Mars waren Famke Korkonnen und Darweshi Karume eilig zurück zu dem gekaperten Frachter gestürmt. Als sie das Cockpit erreichten warf sich die junge Frau in den Sessel neben Kelvin Gorlan, während der Tansanier im Schottrahmen stehen blieb.

Noch bevor Gorlan eine entsprechende Frage stellen konnte unterrichtete ihn Famke in aller Schnelle darüber, was sich ereignet hatte. Gleichzeitig startete sie die Aggregate des Frachters und hob ihn vom Boden der Landefläche ab.

Gar keine ungefährliche Aktion, denn immer noch schlugen Plasmaschüsse und Torpedos auf der Oberfläche des Planeten ein.

Kelvin Gorlan, der Famke zunächst ungläubig angesehen hatte, unterstützte sie nach Kräften dabei, den Frachter auf Kurs zu halten und zu beschleunigen.

„Ich brauche die Navigationsdaten, Kelvin!“, drängte die Frau ihren Kameraden. „Ohne die finde ich das verdammte, südpolare Nest nicht, bei dem die Flotte liegen soll!“

„Die Daten kommen ja schon!“, gab Gorlan zurück. Dabei sah er sich kurz zu Darweshi Karume um. „Die Kriegsschiffe können wirklich ferngesteuert werden, wenn wir das tun, was dieser Dean Corvin gesagt hat?“

„So lautet zumindest die Information von ihm.“

Famke Korkonnen, der dieser kurze Dialog nicht entging, warf scharf ein: „He, ihr zwei Ungläubigen! Dean kenne ich von Kindesbeinen an. Dem vertraue ich mein Leben an! Bedingungslos, wenn euch das was sagt! Wenn der sagt, es ist so, dann ist es so, klar?“

Die beiden Männer sahen sich gleichermaßen erstaunt an bevor sie, wie aus einem Mund, erwiderten: „Klar.“

Für einen Moment blieb es still im Cockpit, bevor Famke etwas zugänglicher erklärte: „Dean und ich; wir stehen uns nahe, wie Geschwister. Ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Er war zwar früher ein ziemlicher Haudegen, doch an seiner Ehrlichkeit habe ich auch zu dieser Zeit nie gezweifelt. Weil es dazu nie einen Grund gab.“

„Wenn er Recht hat, dann können wir einen wichtigen Teilerfolg erzielen, indem wir die brandneuen Kriegsschiffe unseren Leuten zuführen“, gab Karume zu. „Außerdem dürfte das der Moral des Feindes einige, deutliche Kratzer verpassen.“

Famke Korkonnen lachte mit einem irgendwie schadenfrohen Unterton. „Das hoffe ich. Außerdem wären wir anschließend bei unseren Leuten und könnten uns der Truppe wieder anschließen.“

„Zumindest die von uns, die zuvor beim Militär waren“, kommentierte Kelvin Gorlan mürrisch. „Mir wäre es lieber, das Sperber-Team würde zusammenbleiben.“

„Du könntest auch ins Militär eintreten. Einen erfahrenen Kämpfer werden unsere Leute sicherlich gerne nehmen.“

Kelvin Gorlan, der sich wieder auf seine Kontrollen konzentrierte, murmelte leise: „Na, warten wir erst einmal ab.“ Dabei aktualisierte er die Kursdaten des Frachters.

„Noch etwa einhundertundzwanzig Kilometer bis zum Ziel“, gab Famke Korkonnen nach einer Weile bekannt.

Beinahe gleichzeitig jagte ein Torpedo, der im All sein Ziel verfehlt hatte, dicht an dem tief fliegenden Frachter vorbei. Im nächsten Moment detonierte er schräg unter dem Frachter auf der Marsoberfläche. Selbst durch die sofort selbsttätig abdunkelnden Frontscheiben drang so grelles Licht, dass die drei Menschen, im Cockpit des Frachters, ihre Augen schlossen.

Famke konnte gerade noch brüllen: „Festhalten!“

Im nächsten Moment schien der Frachter, wie von der Faust eines Titanen gepackt und wild in die Luft gehoben zu werden. Dabei wurde die strukturelle Integrität des Frachters deutlich überbeansprucht. Überall auf dem Raumschiff rissen Verbindungen und einen Augenblick später wurde der Frachter wild durchgeschüttelt. Nur einen Herzschlag später brach die Schiffszelle, mit einem ohrenbetäubenden Kreischen, auseinander.

Gleichzeitig fielen die Andruck-Absorber aus und einige Gravos kamen durch, als die vordere Hälfte des Frachter taumelnd der, an dieser Stelle sehr dicht bewaldeten, Oberfläche des Mars entgegen stürzte.

Reflexartig klammerte sich Darweshi Karume am Schottrahmen fest und griff nach vorne zu Famke Korkonnen, die es aus ihrem Sitz zu schleudern drohte. Mit fast übermenschlicher Kraftanstrengung zog der Tansanier die junge Frau zu sich heran und warf sich zusammen mit ihr zu Boden. Dabei bekam er mit seiner freien linken Hand irgendetwas zu packen, an dem er sich verzweifelt festhielt.

Bereits im nächsten Moment erfolgte der Aufprall auf die Oberfläche des Planeten. Darweshi Karume verlor den Halt und schützend legte er nun seine Linke über den Kopf von Famke, die er fest gegen sich presste, in der Hoffnung, dass sie sich nicht verletzte.

Eine wilde Karussellfahrt begann, als sich das Wrack-Segment wieder und wieder überschlug. Dabei drang ein Krachen und Splittern von Bäumen und Unterholz an ihre Ohren. Irgendwann hörte diese Bewegung auf und rücklings krachte Darweshi Karume, zwischen den Sitzen des Passagierabteils auf den Boden. Gemeinsam mit Famke kugelte er er durch die Schiffszelle und befand sich einen Moment später im freien Fall.

Jedoch nur für einen nicht messbaren Augenblick. Dann schlug er mit Wucht auf der dicht bewachsenen Oberfläche dieser planetaren Gegend auf und schlitterte über den Boden.

Irgendwer schrie, aber Karume konnte nicht sagen, ob es Famke war, oder er selbst. Für einen kurzen, klaren Moment realisierte er, dass sie aus dem geborstenen Passagierabteil gefallen sein mussten, bevor die Realität einen Schritt zur Seite machte.

Der Mann kam wieder zu sich, als er eine Hand auf seinem Gesicht spürte. Jemand rief seinen Namen. Wieder und wieder. Dann spürte er brennende Schmerzen, als ihn Famke mehrmals heftig rechts und links ohrfeigte.

„Was, zur Hölle, soll denn das?“

Verärgert öffnete Karume seine Augen. Die wilden Bewegungen hatten aufgehört. Auf dem Rücken liegend erkannte er die belaubten Baumkronen eines Hochwaldes durch die das tiefe Blau des Himmels brach. Dann fiel sein Blick auf das Gesicht von Famke Korkonnen, die rittlings auf seinem Bauch saß. Ihn nun erleichtert ansehend stieß sie aus: „Gott sei Dank, du kommst endlich wieder zu dir. Ich dachte schon...“

„Weshalb drischst du auf mich ein?“

Sich mit den Händen auf seine Schultern stützend sah die Frau Karume irritiert an und fragte schließlich erbost: „Was sollte ich denn anderes tun, wenn du hier faul in der Gegend herumliegst und pennst, Darweshi?“

Erst jetzt wieder richtig zu sich kommend ächzte der Mann: „Wie geht es dir? Ist dir was passiert?“

Erleichtert seufzend erwiderte Famke: „Einige Schrammen und blaue Flecke, aber ansonsten bin ich noch heil. Was ist mit dir?“

Karume hob etwas den Oberkörper und ächzte: „Ich scheine mir die rechte Schulter geprellt zu haben. Außerdem beginnt mein linkes Fußgelenk höllisch zu schmerzen.“

Erschrocken sah die blonde Frau den Tansanier an: „Ob du aufstehen kannst?“

„Wenn du endlich von mir heruntersteigst, dann werde ich das feststellen können.“ Der Mann lächelte schwach bei Famkes Miene und ließ sich von ihr auf helfen. Schließlich auf dem rechten Fuß stehend versuchte er mit Links aufzutreten. Dabei verzerrte sich seine Miene und er meinte: „Vermutlich verstaucht. Fühlt sich aber nicht gebrochen an.“

„Leg deinen Arm um meine Schulter, ich stütze dich“, verlangte Famke. „Wir müssen nachsehen, was aus Kelvin geworden ist. Hoffentlich hatte er ebenso viel Glück, wie wir.“

Darweshi Karume folgte der Anweisung der Frau. Hier auf Held zu machen hatte nämlich gar keinen Sinn und wäre lediglich ein Zeichen von Dummheit gewesen.

Mit Famkes Hilfe gelang es Karume einigermaßen gut, sich fortzubewegen und nach den ersten hundert Metern begann er, den Schmerz im Fußgelenk, nach und nach, zu ignorieren, bis er zu einem dumpfen Pochen absank.

Sie mussten einen halben Kilometer marschieren um das Vorderteil des Frachter-Wracks zu erreichen, dass eine ziemliche Schneise in den Wald geschlagen hatte. Es lag, um etwa 170 Grad herumgedreht, beinahe auf dem Kopf.

Famke Korkonnen ließ Darweshi an der abgebrochenen Hülle auf einen quer liegenden Baumstamm sinken. „Bleib du hier, ich gehe nachsehen, was mit Kelvin ist.“

Darweshi Karume nickte stumm und sah der Frau sinnend nach, als sie im Innern des Wracks verschwand.

Famke Korkonnen musste einige abgerissene Passagiersitze zur Seite räumen und über verbogene Metallplatten und Streben klettern, bevor sie das auf dem Kopf stehende Schott zum Cockpit erreichen konnte.

Von hinten erkannte Famke die Gestalt des Kameraden, der vor ihr lag, und sie hoffte inständig, dass er nur bewusstlos war. Sie erreichte ihn und drehte ihn an den Schultern herum. Zwei gebrochene Augen starrten an ihr vorbei ins Leere.

Erschrocken tastete die Frau, mit zitternden Fingern nach seinem Hals. Sie erstarrte für einen Augenblick und die Umgebung verschwamm vor ihr. Beinahe mechanisch wischte sich Famke die Tränen fort und sagte leise: „Es tut mir leid, Kelvin.“

Sie schloss dem Toten die Augen und wandte sich, mit einem Gefühl unendlicher Müdigkeit ab.

Als Famke, mit zwei flachen Rucksäcken endlich wieder zu Darweshi zurückkehrte, sah der Tansanier sie fragend und ahnungsvoll zugleich ansah.“

Wortlos setzte sich Famke Korkonnen neben den Tansanier auf den Baumstamm, legte die beiden Rucksäcke ab und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten und ein leises Schluchzen klang auf.

Ganz sacht legte der Mann seinen rechten Arm um sie und zog sie zu sich heran. Dabei sagte er rau: „Du kannst nichts dafür, Famke.“

Die junge Frau lehnte sich für einen Moment lang an ihn, bevor sie sich straffte und über das Gesicht wischte. Sie tastete nach der Code-Karte und sagte dann leise: „Wir müssen weiter, Darweshi. Das Ziel lag noch mehr als einhundertundzwanzig Kilometer entfernt, als es unseren Frachter erwischt hat. Denkst du, dass du diese weite Strecke schaffen kannst, mit deinem lädierten Fußgelenk?“

„Wird sich herausstellen. Notfalls lässt du mich liegen und gehst allein weiter.“

Die Frau funkelte ihr Gegenüber aufgebracht an, bei seinen setzten Worten: „Wenn du je wieder einen solchen Quatsch daher redest, dann bekommst du noch ein paar Ohrfeigen von mir! Aber dann richtige! Ich lasse dich nicht zurück und wenn ich dich tragen müsste.“

Darweshi Karume nickte auffordernd. „Dann lass uns gehen.“

Sie erhoben sich und erneut stützte Famke den Mann an ihrer Seite. Dabei sah sie zwischen den Bäumen hindurch. Selbst wenn sie es, mit Hilfe der von ihr gefundenen, Notrationen schafften, würde es mehrere Tage dauern, bis sie das Ziel erreicht haben würden. Die von Dean erwähnte Flotteneinheit, die auf die Zehnte Flotte wartete, würde vermutlich mehrere Tage lang auf glühenden Kohlen sitzen, denn mit Darweshi Karumes Limitierung würde es wohl mindesten vier Tage dauern, bis sie die Strecke zurückgelegt haben würden. Wenn nicht sogar länger. Famke hoffte nur, der Flottenverband würde so lange ausharren, denn ansonsten würden Darweshi und sie bald Gefangene der Konföderation Deneb sein.

Verlust und Gewinn


 

16.
 

Verlust und Gewinn
 

Die letzten Einheiten der kombinierten Flottenverbände des ehemaligen Terranischen Imperiums und der Farradeen-Allianz zogen sich aus dem Sol-System zurück. Einigermaßen geordnet doch zweifellos auf der Flucht.

Arolic Traren hatte die Zweite Terranische Flotte und die Farradeen-Verbände zum Aldebaran-System zurück beordert, während er der Siebten Flotte das Wega-System als Rückzugspunkt zugewiesen hatte. Aus der Überlegung heraus, dass nach der Katastrophe, über dem Mars, das momentan wichtigste Sternensystem des ehemaligen Terranischen Imperiums sehr gut weitere, militärische Unterstützung gebrauchen konnte. Außerdem brauchten die, mehr oder weniger beschädigten, Einheiten dieser Flotte gut ausgebaute Werftanlagen um die Schäden beheben zu können. Dabei rätselte Traren noch immer daran herum, was eigentlich genau über dem Mars passiert war.

Zu derselben Zeit liefen auf Outpost die ersten genaueren Berichte über die Schlacht im Sol-System ein. Dort wusste man, durch Rodrigo Esteban einigermaßen genau, was sich bei der Schlacht ereignet hatte. Vor allen Dingen aber wusste man dort, was für das Debakel der alliierten Flotten verantwortlich war. Die ersten Hinweise darauf hatte die große Hyperfunk-Station auf Outpost bereits in Richtung Wega, Farradeen und Aldebaran gesandt, damit die technischen Abteilungen und die Flottenwerften in diesen drei Sternensystemen umgehend erste Maßnahmen ergreifen konnten. Eine gewaltige Umrüstung-Aktion von noch nie dagewesenem Umfang musste jetzt für die Flotten von Terra und Farradeen anlaufen.

Dabei war den Verantwortlichen auf Outpost und auf Farradeen klar, wie angreifbar sie in dieser Zeit für die Flotten der Konföderation waren. Eine dringende Warnung war bereits an alle militärischen Stützpunkte ergangen. Zumindest gab es eine positive Nachricht von Outpost. Dort hatte das Team um Hauptmann Esteban herausgefunden, dass die bisher noch nicht geschädigten Prozessoren auf den Raumschiffen der alliierten Flotten gegen das Überlagerungssignal abgeschirmt werden konnten. Das machte die beiden Sternenreiche zumindest nicht vollkommen wehrlos und die Lage war somit nicht ganz so dramatisch, wie sie sich zunächst dargestellt hatte. Die Flotten, die an der Schlacht im Sol-System teilgenommen hatten würden jedoch für Monate weitgehend ausfallen, was eine deutliche Schwächung der alliierten Flottenverbände bedeutete.

Nach ersten Meldungen, die vom Wega-System auf Outpost eintrafen war von Totalverlusten die Rede, die bei rund 35 Prozent lagen. Alle anderen Kriegsschiffe der Flotten, die das Sol-System angegriffen hatten, waren mehr oder weniger stark beschädigt. Nur die wenigsten Kriegsschiffe hatten den Angriff unbeschadet überstanden.

In den nächsten Tagen wollte sich die Oberkommandierende der ehemals Terranischen Flotte mit ihrer Kollegin von der Farradeen-Allianz eingehend auf Outpost beraten. Beide Frauen waren dabei überein gekommen, dass ein Wissenschaftler-Team von Farradeen auf Outpost stationiert werden sollte. Im Gegenzug überlegte Hilaria Mbena, den Fachleuten der Farradeen-Allianz alle Daten und Forschungsergebnisse in Bezug auf die Garrett-Hellmann Prozessoren auszuhändigen. Gemeinsam hofften die beiden Oberkommandierenden schneller greifbare Resultate erzielen zu können.

Da Farradeen im Notfall schnell Hilfe nach Outpost entsenden konnte, hatte sich Hilaria Mbena überdies dazu entschlossen, die ersten fünfzig Kriegsschiffe, die gegen eine Beeinflussung durch Reitimpulssignale im Eilverfahren geschützt worden waren, Zum Planeten Wega-IX zu entsenden. Die VESTERGAARD hatte sie bereits vor zwei Wochen wieder dorthin entsandt. Als Kurier, wie das erste Mal. Dieser Flottenverband sollten dort für zusätzlichen Schutz in diesem strategisch so wichtigen Sternensystem sorgen. Dabei war Mbena bewusst, dass sie den Rest ihrer Verteidigungslinien gefährlich ausdünnte. Dabei lief es schlicht auf folgende Überlegung hinaus. Auf einen schwach besiedelten Außenposten konnte sie notfalls verzichten, nicht aber auf das eminent wichtige Wega-System. Das war zwar hart, aber eine, wenn auch unangenehme, Tatsache. Vordringlich mussten zuerst einmal die Kernsysteme gehalten werden, danach konnte man sich über den Rest Gedanken machen.

Von alldem ahnte Kimi Korkonnen, der sich, an Bord der VESTERGAARD, seit einem halben Tag, wieder im Wega-System aufhielt, nur einen Teil. Gestern hatte er die furchtbare Meldung erhalten, dass sein bester Freund, bei dem Angriff auf das Sol-System schwer verwundet worden war und momentan im Militärkrankenhaus von Erron weilte. Wie schwer diese Verletzung tatsächlich war, das wusste er hingegen noch nicht, als sich die VESTERGAARD im Landeanflug auf den Raumhafen der HARRISON-CROENEN-BASIS befand. Wobei Korkonnen unwillkürlich an seinen ersten Besuch auf diesem Planeten denken musste. Er hatte nicht erwartet so rasch wieder hier zu sein.

In den ersten zwölf Stunden nach der Landung hatte er Bereitschaft gehabt, doch danach, so hatte ihm die Kommandantin zugesagt, würde er zwölf Stunden Sonderurlaub bekommen um seinen Freund besuchen zu können.

Kimi Korkonnen brannte bereits jetzt darauf, Dean im Krankenhaus zu besuchen, auch wenn er durch Jayden und Andrea wusste, dass er immer noch in einem künstlichen Koma lag. Dennoch wollte er sich selbst ein Bild vom Zustand des Freundes machen und auch die Versicherungen von Andrea und Jayden, dass der Freund sich nicht in Lebensgefahr befand, hatten ihn nicht von diesem Vorhaben abbringen können.

Die Zeit bis zum Ende der Bereitschaft hatte sich scheinbar bis ins Unendliche gedehnt, so dass es Korkonnen so vorkam, als wäre eine halbe Woche vergangen, als ihn endlich die Kommandantin ablöste und ihm die Erlaubnis gab, das Raumschiff zu verlassen.

Eine halbe Stunde später stürmte der Finne ungeduldig in das Krankenhaus und erkundigte sich am Empfang nach der Zimmernummer des Freundes. Auch dort wurde Korkonnen darauf aufmerksam gemacht, dass sich Corvin nicht bei Bewusstsein befand. Ebenso, dass der Patient der Schonung bedürfe, doch Korkonnen ließ sich auch jetzt nicht von seinem Vorhaben abbringen, seinen besten Freund zu besuchen.

Er benutzte einen der Lifts, nachdem er seine Auskunft erhalten hatte und verließ ihn auf Höhe der siebten Etage. Als er die Intensivstation beinahe erreicht hatte, öffnete sich vor ihm die Tür dieser Abteilung und eine Frau, in der schwarzen Uniform der Farradeen-Allianz kam heraus. Ihre kurzen, blonden Haare wirkten zerzaust.

Korkonnen wollte bereits an ihr vorbei gehen, als sich die Fremde ihm in den Weg stellte und fragte: „Hauptmann Kimi Korkonnen?“

Überrascht sah Korkonnen der Fremden in die Augen. „Kennen wir uns?“

„Nur vom Hörensagen“, schmunzelte die blonde Frau und wurde schnell wieder ernst. „Ich habe geraten. Sie sehen so aus, wie Major Corvin Sie des Öfteren mal beschrieben hat.“

„Da hat er offensichtlich gut beschrieben“, erwiderte Korkonnen. „Darf ich auch erfahren, wer Sie sind?“

„Natürlich. Ich bin Hauptmann Diana Spencer. Meine Raumlandeeinheit ist auf der NOVA SOLARIS stationiert. Ich komme gerade aus Major Corvins Zimmer.“

„Genau zu dem will ich gerade“, beschied ihr der Finne und wollte erneut an ihr vorbei, doch wieder verstellte sie ihm den Weg und etwas unwillig sah er die Frau an.

„Bitte halten Sie mich nicht für unhöflich, Hauptmann Korkonnen, doch…“

„Mit der Bitte kommen mindestens drei Sekunden zu spät.“

Diana Spencer ließ sich nicht beirren und sagte eindringlich: „Ich will sie nur kurz davon abhalten, Ihren Freund zu besuchen. Bitte opfern Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit, Hauptmann Korkonnen. Es ist sehr wichtig.“

Der Finne runzelte die Stirn und nickte schließlich.

Diana Spencer bedankte sich und deutete den Gang hinunter, den Korkonnen eben erst hierher durchschritten hatte. Während sie langsam nebeneinander her gingen, sagte die Frau ruhig: „Ich weiß nicht, in wie weit Sie über die Schwere der Verletzung Ihres Freundes unterrichtet wurden. Vielleicht sollten Sie wissen, dass er bei dem letzten Einsatz seinen linken Arm verloren hat.“

Betroffen sah Korkonnen die Frau an und entgegnete: „Das wusste ich tatsächlich nicht. Meine Freunde sagten mir nur, dass Dean schwer verletzt worden sei.“

Die Frau, die auf Korkonnen so wirkte, als sei sie einige Jahre älter, als er, nickte in Gedanken. „Vielleicht wussten sie nicht was sich tatsächlich ereignete. Vielleicht wollte man Sie auch nicht aufregen. Aber deshalb wollte ich eigentlich weniger mit Ihnen sprechen, Hauptmann Korkonnen. Unser Landeunternehmen auf dem Mars mussten wir zwar abbrechen, doch wir trafen, während unseres kurzen Aufenthaltes dort, auf eine junge Frau und einen ihrer Begleiter. Sie sagte, sie gehöre zum Widerstand, der sich inzwischen auf der Erde formiert hat. Dabei bekam ich mit, dass der Name Famke fiel.“

Ruckartig blieb der Finne stehen und sah Diana Spencer aus großen Augen an. Ein seltsames Feuer glomm in ihnen, als er mit zittriger Stimme fragte: „Famke? Sie haben sie wirklich gesehen?“

Die schwarz Uniformierte lächelte angedeutet. „Der Major und die junge Frau umarmten sich herzlich. Ich bin mir sicher, dass er sie Famke nannte und nach dem, was er mir einmal über sie erzählte, bin ich mir sicher, dass es sich um Ihre Schwester handelte.“

Die Freude auf dem Gesicht des Mannes war unverkennbar. Mit Tränen in den Augen stieß er hervor: „Mein Gott, sie lebt also. Seit fast einem Jahr weiß ich nicht, was mit meiner Familie ist und nun sagen Sie mir, dass Sie meine kleine Schwester auf dem Mars gesehen haben. Wissen Sie auch, was Famke dort zu suchen hatte?“

Diana Spencer machte eine vage Geste. „Soweit ich es mitbekam wollte ihr Team mit einem Frachter zum Bund von Harrel. Der Major schickte mich zurück an Bord des Kreuzers, bevor er sich noch einmal intensiv mit Ihrer Schwester unterhielt. Deshalb weiß ich nicht, was dabei besprochen wurde, zwischen ihnen.“

„Sie sprachen eben von einem Begleiter und von ihrem Team. Was bedeutet das?“

Nun, soweit ich es mitbekam ist ihre Schwester die Anführerin jenes Teams von Widerstandskämpfern, das zum Bund von Harrel wollte. Ihre Schwester blieb, nach eigener Aussage, auf dem Mars um einen anderen Teilauftrag zu erfüllen. Der männliche Begleiter Ihrer Schwester wirkte ruhig und er erweckte nicht den Eindruck, übereilt zu handeln. Mehr ist mir nicht bekannt.“

Für einen Moment legte der Finne begeistert seine Hände auf die Oberarme der Frau und sah sie, dankbar und erleichtert zugleich, an. Erst einige Herzschläge später wurde ihm der Fauxpas bewusst und schnell nahm er seine Hände fort.

Die Frau schmunzelte beinahe vergnügt. „Ich kann Ihre Gefühle sehr gut verstehen, Hauptmann Korkonnen. Bevor ich Sie zu Ihrem Freund lasse, nur noch dies. Die Ärzte haben Ihrem Freund bereits einen mikromechanischen Prothesen-Anschluss aus Stahlplastik angefertigt und mit dem verbunden, was von seinem Oberarm übrig war. Dieser sehr komplizierte und bei vollem Bewusstsein vermutlich sicherlich unangenehme und schmerzhafte Eingriff, schien ihnen sicherer zu sein, solange Ihr Freund noch im künstlichen Koma liegt. Erschrecken Sie also nicht, wenn Sie gleich diesen futuristisch aussehenden Armanschluss an ihrem Freund sehen.“

Kimi Korkonnen nickte und schluckte trocken. „Wurde er sonst noch verletzt.“

„Einige tiefe Einschnitte von glühenden Trümmerfragmenten, die sein Gesicht neben dem linken Auge streiften“, gab Diana Spencer Auskunft. „Diese Wunden im Gesicht sehen momentan nicht schön aus, aber der Major hatte dabei ungeheures Glück. Weder sein Auge, noch das Ohr wurden in Mitleidenschaft gezogen. Allerdings werden zwei deutlich sichtbare Narben zurückbleiben, wie der Arzt sagte.“

Kimi Korkonnen sah die Frau ernst an und meinte schließlich: „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit und dafür, dass Sie mir von meiner Schwester berichten konnten.“

„Bedanken Sie sich auch bei Hauptmann Irina Hayes. Sie war es, die den allgemeinen Rückzugspunkt für die farradeenischen Kriegsschiffe ignorierend, die NOVA SOLARIS hierher flog, damit der Major schnellstmöglich versorgt werden kann. Den prompten Rüffel des Generalmajors, der den fadenscheinigen Vorwand vermutlich durchschaut haben dürfte, dass während des Gefechtes die Funkanlage in Mitleidenschaft gezogen worden ist, hat sie dabei billigend in Kauf genommen. Aus Freundschaft zu Major Corvin.“

„Bitte danken Sie ihr dafür in meinem Namen, Hauptmann Spencer. Wir hatten zu Beginn des Jahres das Vergnügen, gemeinsam von Luna zu fliehen. Zuletzt sah ich sie auf der Hochzeit einer gemeinsamen Freundin von Dean und mir. Ich hoffe, es geht ihr gut.“

Die blonde Frau lächelte. „Ja, Irina geht es bestens. Ich empfehle mich nun.“

Der Finne reichte der Frau spontan die Hand. „Ich hoffe, wir sehen uns irgendwann gesund wieder, Hauptmann Spencer.“

Damit wandte er sich ab und schritt nun eilig auf die Tür zur Intensivstation zu.
 

* * *
 

Nachdem Kimi Korkonnen seine Hand auf den Öffnungskontakt des Schotts gelegt hatte, dass die Kennzeichnung trug, die er am Empfang in Erfahrung brachte, erwartete ihn die nächste Überraschung.

Im Zimmer hielten sich, außer dem Patienten, zwei Frauen auf. Eine von ihnen hatte er auf der Hochzeit von Andrea und Jayden gesehen. Rian Onoro, seine damalige Begleiterin. Die zweite Frau war ihm hingegen unbekannt. Mit Diana Spencer, die offensichtlich zuvor ebenfalls hier gewesen war, machte das drei Damen, die an seinem Krankenbett gesessen hatten, bevor er hier eintraf.

Der hat einen Fan-Club, wie mir scheint, dachte Korkonnen für einen Augenblick spöttisch, wurde dann aber sehr schnell wieder ernst und sagte leise: „Guten Abend.“

Rian Onoro erhob sich von ihrem Stuhl und schritt ihm entgegen. „Guten Abend. Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Kimi. Diese Kameradin ist Oberfeldwebel Anaris Ikari. Sie war dabei, als Ihr Freund mich aus dem Gefängnistrakt, auf dem Mars, befreit hat.“

Kimi Korkonnen zog die Stirn in Falten. „Warum denn so förmlich? Wir hatten uns doch bereits geduzt, auf der Hochzeitsfeier von Jayden und Andrea.“

Rian druckste herum und der Finne verstand. Heute waren sie beide in Uniform und zudem nicht unter sich. Beruhigend sagte er deshalb: „Wir sind einerseits nicht im Dienst und darüber hinaus bin ich nicht dein direkter Vorgesetzter. Wir bleiben also beim Du.“

„Das ist mir auch lieber“, gab Rian, erfreut über seine Worte, zu.

Als Anaris Ikari sich erhob und Haltung annahm, als sich Kimi ihr zu wandte, da ergänzte der Mann schnell: „Und Sie, Oberfeldwebel Ikari, werden mir bitte auch nicht übertrieben zackig werden, nur weil ein Offizier im Raum steht. Ich gehöre nicht zu diesen übertrieben formellen Typen.“

Damit trat Kimi Korkonnen zum Fußende des Krankenbettes, in dem sein Freund lag. Die Augen geschlossen und regelmäßig ein und aus atmend erweckte Dean den Eindruck unerschütterlicher Ruhe und Zufriedenheit. Nur der künstliche Armanschluss, der am Armstumpf des Freundes zu sehen war, störte diesen Eindruck etwas. Von dem biomechanischen Anschluss, den die Medo-Techniker am Oberarm des Kanadiers angebracht hatten, zog sich eine etwa zwei Finger breite, durch Untergliederung bewegliche Stahlplastik-Leiste am Oberarm des Bewusstlosen hinauf, bis knapp unterhalb der Schulter. Die einzelnen, quadratischen Elemente waren mit der Muskulatur und den Nerven dieses Bereiches verbunden. Das untere Element dieser Kette aus biomechanischen Steuerelementen saß direkt an der Stelle, an der die Steckverbindungen der Mikroschaltkreise des Armstumpf-Segments mit denen des künstlichen Arms verbunden werden konnten. Fünf flache Verschluss-Elemente würden dann später den Stumpf mit dem künstlichen Arm verbinden.

Kimi Korkonnens Blick schweifte zum Gesicht des Schlafenden ab und er war dankbar dafür, dass Diana Spencer ihn vorgewarnt hatte.

„Die Ärzte haben die Auflagen über den Narben im Gesicht erst gestern entfernt“, sagte Rian Onoro, die den Blick des Mannes bemerkte. „Momentan sieht er damit aus, als würde er sein Geld als Raumpirat verdienen und nicht als Offizier der Raumflotte von Farradeen. Aber der Arzt meinte, das wird noch.“

„Natürlich wird das noch“, stimmte Korkonnen beruhigend zu. „Dean ist unverwüstlich und bestimmt bald wieder ganz der Alte.“

Es war eine Lüge und Rian war dem Finnen, im Moment, dankbar dafür. Niemand wusste, welche psychischen Auswirkungen der Verlust seines Armes bei Dean haben würde. Aber Rian war sich sicher, dass es Auswirkungen haben würde und sie hoffte, ihrem Freund tatkräftig zur Seite stehen zu können. Sie liebte Dean und sie wollte nicht, dass sich etwas zwischen sie drängte.

Nach einer Weile fragte Kimi Korkonnen, ohne sich dabei umzudrehen: „Wie ist es passiert? Ich nehme an, er war nicht in der Zentrale, denn in dem Fall wäre der Kreuzer wohl nicht zur Wega zurückgekehrt?“

„Er war unterwegs, von der Bodenschleuse zum Kommandozentrum“, antwortete Rian Onoro. „Ein Treffer schlug ganz in der Nähe ein.“

Anaris Ikari übernahm an der Stelle und ergänzte: „Einer meiner Kameraden und ich suchten und fanden ihn, auf dem Boden liegend. Das scharfkantige Trümmerteil eines explodierten Nebenaggregats hatte offensichtlich den Arm abgetrennt. Ich konnte die Armschlagader so lange abdrücken, bis die Bordärztin da war.“

Kimi Korkonnen drehte sich zu der Frau um. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mitgeholfen haben, diesen Mann zu retten. Er steht mir so nahe, wie ein Bruder.“

„Das hat Dean ebenfalls öfter mal erwähnt“, sagte Rian leise. „Er vermisst dich und eure Freunde.“

Kimi Korkonnen wandte sich Rian zu und erklärte ihr: „Ich bin mir sicher, dass Dean in dir und Irina und in anderen Menschen, mit denen er nun in Kontakt steht, einige neue und sehr gute Freunde gefunden hat. Es mag nicht ganz dasselbe sein, aber es ist trotzdem wichtig. Darum bin ich sehr froh darüber, dass er dich hat. Deine Liebe macht es ihm leichter, da bin ich mir sicher, Rian. Ich erinnere mich noch daran, wie sehr es ihm zu schaffen machte, dich damals auf Luna zurücklassen zu müssen und das lag, in erster Linie, nicht an übertriebenem Pflichtgefühl oder an einem schlechten Gewissen. Das weiß ich.“

Rian lächelte den Mann dankbar an. Dann sahen beide gleich besorgt zu Dean Corvin, von dem niemand sagen konnte, wie lange er noch im Koma liegen würde.
 

* * *
 

Als Kimi Korkonnen nach all den Stunden, die er im Krankenhaus zugebracht hatte, wieder zur VESTERGAARD zurückkehrte, beschloss er Renée Killkennen aufzusuchen.

Eine halbe Stunde nachdem er selbst das Krankenzimmer seines besten Freundes betreten hatte, waren Andrea und Jayden ebenfalls dort erschienen. Erfreut hatte er die Freunde begrüßt und sich mit ihnen unterhalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Anaris Ikari das Krankenzimmer bereits verlassen. Am Bett des Freundes hatten sie sich zu viert leise unterhalten, wobei Andrea mehrmals zur Toilette verschwunden war. Offensichtlich war ihr übel gewesen, was man ihr kaum verdenken konnte, nach den Ereignissen der letzten Tage und dem Anblick des schwerverletzten Freundes.

Nun fühlte Kimi das Verlangen in sich aufsteigen, mit der Irin zu reden. Über alles, was ihn bewegte, oder er würde noch seelisch platzen. In einer halben Stunde bereits hatten sie beide ohnehin wieder gemeinsam Dienst.

Überhaupt wurde es Zeit für ihn, sich einmal intensiv mit Renée zu unterhalten, befand der Finne. Denn in der letzten Zeit benahm sich die Frau, ihm gegenüber, immer merkwürdiger, wie er fand. Vielleicht lag es daran, dass er nach der Hochzeit von Andrea und Jayden das Thema Beziehung vermieden hatte. Andererseits hatte sie ihrerseits ihn auch nicht dazu ermutigt, wie er meinte. Vielleicht hatte er das Thema deswegen vermieden.

Kurze Zeit später erreichte er das Schott zum Quartier der jungen Frau und er legte seinen Zeigefinger auf den Meldekontakt.

Einen Moment später teilten sich die beiden Schotthälften vor ihm und eine neutral klingende Stimme aus dem Innern rief: „Herein!“

Kimi Korkonnen leistete der Aufforderung Folge und schritt in die Mitte des Wohnraumes. Das leise Zischen hinter ihm, ausgelöst durch das Schließen des Schotts nahm er nur unterbewusst wahr.

Ein eigenartiges Funkeln lag in den Augen der Frau, als sie ihn erkannte und etwas grimmig, wie es schien, eröffnete sie Kimi: „Ach Sie sind es. Was gibt es denn so Wichtiges, dass es nicht noch eine halbe Stunde Zeit gehabt hätte?“

Etwas ernüchtert durch diese unfreundliche Begrüßung fehlten dem Mann zunächst die Worte. Endlich erwiderte er: „Ich dachte, wir könnten reden.“

„Na, das wäre ja mal etwas ganz Neues“, giftete die Irin. „Ich warte bereits seit einem halben Jahr darauf, dass wir über etwas reden, Kimi.“

Kimi seufzte leise. Er hatte also eben richtig vermutet. Vermittelnd fragte er: „Wollen wir uns nicht setzen, Renée?“

Die Frau deutete, mit einer übertrieben Geste, einladend auf eine der Couchen. „Wenn Sie wünschen, Hauptmann.“

Kimi setzte sich auf die angebotene Couch, ohne dass Renée Anstalten machte, sich ebenfalls irgendwo niederzulassen. Stattdessen machte sie einen Schritt auf ihn zu und sah ihn, mit in die Hüften gestemmten Fäusten, zornig an. In diesem Moment schien es Korkonnen viel eher so, als würde sie gleich platzen. Dass er damit nicht falsch lag stellte sich bereits im nächsten Moment heraus, als sie ihn anfuhr.

„Vor einem halben Jahr, Kimi, haben Sie mich darum gebeten, etwas Geduld mit ihnen zu haben. Etwas! Was verstehen Sie eigentlich unter Etwas? Zehn Jahre? Zwanzig? Ich habe seitdem mehr als nur etwas Geduld gehabt!“

„Ich weiß, Renée.“

„Nichts wissen Sie! Gar nichts!“ Einen weiteren Schritt auf ihn zu machend deutete sie, beinahe anklagend, mit dem Finger auf ihn und legte frustriert nach: „Wenn Sie auch nur einen Hauch wüssten, dann hätten wir schon vor Monaten miteinander geredet!“

Betroffen sah Kimi Korkonnen der Frau in die Augen, die förmlich von innen heraus zu glühen schienen. Sein Schweigen schien die Frau nur noch mehr in Fahrt zu bringen.

Überraschend setzte sich die Irin, auf den Mann zu, in Bewegung. Schwungvoll sprang sie zu ihm auf die Couch, so dass sie rittlings über ihm, auf ihren Knien, dort landete, die Hände recht und links, neben den Schultern des Hauptmanns in die Rücklehne krallend.

Doch damit hatte Renée Killkennen dem Möbelstück etwas zu viel zugemutet, denn es neigte sich, wie in Zeitlupe nach hinten und begann dann endgültig zu kippen.

Kimi Korkonnen, der zunächst seinen Kopf reflexartig zurückgezogen hatte, legte instinktiv seine Arme um die Frau, die sich ihrerseits nun an ihn klammerte. Er konnte dabei gerade noch eine Hand schützend an ihren Hinterkopf legen. Bereits im nächsten Moment krachten sie zu Boden und rollten, eng aneinander geklammert, ein Stück über den Boden.

Endlich kamen sie zur Ruhe und für eine Weile blieb es Still im Raum, bevor Kimi, auf dem Rücken liegend, grummelnd meinte: „Ganz toll, Renée. Sind Sie nun zufrieden?“

Als Korkonnen ihren Kopf freigab, hob sie ihn an, dabei auf ihm liegen bleibend. Sich mit den Händen auf seinen Schultern abstützend sah sie ihn an und erwiderte, etwas weniger wütend, als zuvor: „Zumindest kommt das meiner Vorstellung von dem, was längst hätte passieren sollen, schon etwas näher, Hauptmann Korkonnen.“

Sie maßen sich für einen langen Moment mit Blicken, bevor Renée Killkennen sich etwas zu ihm hinunter beugte und ihre Lippen seine fanden.

Dass Kimi Korkonnen den sanften Kuss der Irin erwiderte geschah ohne sein bewusstes Zutun. Ebenfalls, dass sich seine Arme um sie legten.

Es dauerte mehrere Minuten, bevor sich die Lippen der Frau von seinen lösten. Sie sah ihn an und von ihrem Zorn war nichts mehr zu bemerken. Zufrieden lächelnd raunte sie: „Das war doch jetzt gar nicht so schwierig.“

Bevor der Finne etwas darauf erwidern konnte hatte Renée bereits ihre rechte Hand über seinen Mund gelebt. „Du hast die ganze Zeit nichts gesagt, also halt gefälligst auch jetzt mal für eine Weile deinen Mund, du Spätzünder.“

Im nächsten Moment küsste sie ihn bereits wieder und Kimi kam ihrer Aufforderung zwangsläufig nach. Dabei fuhr seine Rechte an ihrem Rücken hinab, bis zu ihrem Po.

Sich von Kimi lösend, sagte die Irin gespielt grimmig: „Sie nehmen sich ja ganz schön was heraus, Hauptmann Korkonnen.“

Die blauen Augen des Mannes hielten ihren Blick fest, als er erwiderte: „Wenn du mich, außerhalb des Dienstes, noch einmal mit Rang oder Sie, oder mir dem Nachnamen ansprechen solltest, dann werde ich ungemütlich, mein irischer, kleiner Teufel.“

„Teufel? Ich? Also, das ist doch…“

Kimi brachte die Frau in seinen Armen mit einem flüchtigen Kuss zum Schweigen und meinte anschließend mahnend: „Vielleicht sollten wir mal langsam wieder aufstehen, und dein Quartier aufräumen, bevor unser Dienst beginnt.“

„Einen Moment noch.“ Nach einem kurzen, leidenschaftlichen Kuss meinte Renée Killkennen dann: „So, jetzt können wir.“

Sie erhoben sich vom Boden, richteten die Couch gemeinsam auf und rückten sie zurecht, bevor sie darauf Platz nahmen. Eng an Kimi geschmiegt, fragte die Irin unvermittelt: „Worüber wolltest du übrigens reden?“

Kimi lachte leise: „An diese Sprunghaftigkeit werde ich mich wohl gewöhnen müssen.“ Er seufzte übertrieben, bevor er Renée davon berichtete, was er im Krankenhaus gesehen und erlebt hatte und schloss mit den Worten: „Morgen werden die Ärzte den künstlichen Arm anschließen.“

Seine Wange streichelnd munterte ihn die Irin auf: „Dass du nun weißt, dass deine Schwester noch lebt, ist doch wirklich schön. Und deinem Freund wird es bestimmt auch bald wieder besser gehen. Da bin ich mir sicher.“

Kimi drückte die Frau in seinen Armen sanft. „Ja, doch nach dem, was mir Rian im Krankenhaus erzählte, sollte die Zehnte Flotte längst im Zielgebiet aufgetaucht sein. Ist sie aber bisher nicht. Ich weiß auch nicht, was meine Schwester auf dem Mars anstellt. Als Anführerin eines Teams der Terranischen Resistance – wer hätte das gedacht?“

„Vielleicht siehst du sie ja bald schon wieder, Kimi. Vom Mars aus gibt es sicherlich eine Gelegenheit aus dem Sol-System zu entkommen. Vielleicht eine bessere, als von Terra aus. Meinst du nicht?“

„Möglich“, räumte Korkonnen ein. „Zumindest weiß ich jetzt, dass sie noch lebt und sie weiß, durch Dean, dass es auch mir gutgeht, wie mir eine Frau der Raumlandetruppen berichtete, die meinen Freund besuchte. Das gibt ihr bestimmt Auftrieb.“

„Das sehe ich ganz genauso“, stimmte ihm Renée zu und fuhr mit den Fingern ihrer rechten Hand durch sein Haar. „Also lass den Kopf nicht hängen.“

Kimi sah der Frau in seinen Armen in die Augen und erklärte leise: „Ich bin so ein Blödmann, dass ich nicht längst vorher zu dir gekommen bin.“

„Besser spät als nie, heißt es.“ Renée Killkennen hauchte dem Mann einen Kuss auf die Wange, bevor sie seufzend meinte: „Komm, unser Dienst fängt gleich an.“

Der Weg nach Sagan


 

17.
 

Der Weg nach Sagan
 

„Was denkst du, Famke? Wann werden die von der Konföderation das Wrack des gekaperten Frachters entdecken?“

Der Tansanier, der sich auch an diesem zweiten Tag, seitdem sie von der Absturzstelle aufgebrochen waren, dankbar von Famke Korkonnen stützen ließ, sah sie fragend an.

„Keine Ahnung“, gab die Frau offen zu. „Vielleicht ist man uns bereits auf der Spur. Für wahrscheinlicher halte ich es allerdings, dass während des Chaos des Angriffs, dieses Desaster am Rande gar nicht auffiel. Mit etwas Glück wird man glauben, der Frachter wäre bereits beim Angriff vernichtet worden. Zu dumm nur, dass unsere Waffen beim Absturz verlustig gegangen sind. Zum Glück haben wir noch die Kampfmesser der Monturen.“

Darweshi nickte und verzog dabei gleichzeitig schmerzhaft das Gesicht, als er mit dem linken Fuß leicht umknickte. Dabei schmerzte das Gelenk ohnehin schon genug.

Famke, die es bemerkte, deutete auf einen Felsen, der zwischen zwei Bäumen lag und sagte bestimmt: „Wir machen dort vorne Rast und essen etwas. Seit heute Morgen sind wir pausenlos unterwegs. Ich schätze, dass wir bereits vierzig Kilometer geschafft haben.“

„Damit bleiben noch mindestens achtzig übrig“, gab der Tansanier zu bedenken.

„Wenn wir uns ran halten, dann sind es sechzig, bevor es dunkel wird“, entgegnete Famke bestimmt. Damit hätten wir dann die Hälfte des Weges geschafft.

Lächelnd sah Darweshi die Frau an seiner Seite an. „Du hast ganz Recht. In unserer Lage ist es wichtig positiv zu denken.“

„Schwer genug mit nur fünf Stunden Schlaf.“

Sie setzten sich auf den breiten, flachen Felsen und nahmen ihre Rucksäcke ab. Zum Glück waren mehr als genug solcher Not-Packs in dem zerstörten Frachter gewesen. In Erinnerung an den vorangegangenen Tag sagte Famke leise: „Ich wollte, wir hätten die Zeit und die Mittel gehabt, Kelvin anständig zu beerdigen.“

„Ja“, antwortete Darweshi ruhig und massierte zunächst sein linkes Fußgelenk. „Ich kannte ihn nicht sehr gut, aber zuletzt hatte ich den Eindruck, dass er das Töten hasste. Am Anfang hatte ich ihn etwas anders eingeschätzt.“

Famke sah zu dem Tansanier. „Er war in Ordnung. Nur etwas direkt und gelegentlich auch etwas Hals über Kopf. Er mochte die Musik zeitgenössischer, australischer Musiker.“

Sie schwiegen einen Moment, und nach einer Weile rief Famke plötzlich aus: „Hey, was ist denn das hier?“ Gleichzeitig öffnete sie eine Bodenfach in dem flachen Rucksack, dass sie bisher übersehen hatte.

Sie förderte schließlich ein kleines Notfall-Set zutage, inklusive einer kleinen Auswahl von Anti-Schmerzmitteln und Verbandszeug. Sie reichte Darweshi die Medikamente und meinte: „Damit kennst du dich etwas besser aus, denke ich. Dafür kann ich dir jetzt zumindest einen elastischen Verband anlegen. Dein Fußgelenk wird es dir danken.“

Darweshi Karume besah die Aufschrift auf den Medikamenten und gab Famke dann alle, bis auf eins, zurück. „Das hier werde ich behalten. Es schränkt den Metabolismus nur sehr gering ein und wirkt trotzdem genügend stark. Denke ich zumindest.“

Famke half dem Tansanier dabei, seinen Kampfstiefel auszuziehen. Dabei fragte sie ihn: „Was meinst du mit Metabolismus einschränken?“

„Vor allen Dingen Müdigkeit. Die anderen Mittel sind mir zu stark. Sie würden mich schläfrig werden lassen, und wir haben noch etwas vor, wie du weißt. Wenn wir am Ziel unserer kleinen Odyssee angekommen sind, dann kann ich immer noch welche von denen nehmen, und mir damit die Lampe ausschießen.“

Famke lachte unterdrückt. Als sie Darweshi den Strumpf auszog verzog sie kurz das Gesicht, sagte aber nichts, sondern begann damit, das Fußgelenk zu bandagieren. „Du sagst mir besser, wenn ich den zu locker oder zu stramm anziehe oder falls ich was falsch machen sollte. Ich hatte zwar Erste Hilfe an der Sektion Venus, doch das ist schon etwas her.“

Der Mann hatte das Verziehen des Gesichtes bei Famke bemerkt. „Im Moment sieht ganz gut aus, was du da machst. Ach ja: Deine Füße werden, nach den Strapazen gestern und heute, auch nicht gerade nach Rosen riechen.“

Für eine Weile konzentrierte sich Famke auf das Verbinden, bevor sie schmunzelnd fragte: „Das sind vielleicht Riesentreter. Welche Schuhgröße hast du nur?“

„Zweiundfünfzig“, gab der Tansanier Auskunft. „Und du?“

Famke sah kurz zu dem Mann auf. „Gerade mal Einundvierzig.“

„Aber stinken vermutlich, wie Zweiundfünfzig.“

Die Frau gab ein Schnauben von sich. „Ich glaube, ich sagte bereits mal etwas, in Bezug auf deine Plasmaschuss-Komplimente.“

„Tut mir leid“, lachte der Tansanier.

„Ja klar, genau so siehst du gerade aus. Halt jetzt lieber still, du Rüpel.“ Famke arbeitete konzentriert und als sie fertig war, fragte sie: „Wie fühlt es sich an?“

„Perfekt. Der Verband wird eine Erleichterung sein. Danke.“

„Kein Problem“, erwiderte die blonde Frau und zog ihm den Strumpf und anschließend den Kampfstiefel wieder an.

Nach Anweisung des Mannes stellte sie die Magnetverschlüsse des Stiefels neu ein und endlich sagte Darweshi Karume zufrieden: „So sitzt er genau richtig.“

Demonstrativ wischte Famke mit ihren Fingern durch das feuchte Gras am Boden, bevor sie in ihrem Rucksack nach einer der Rationen angelte.

Karume ging nicht darauf ein sondern suchte in seinem eigenen Rucksack grinsend nach einer der Rationen, nachdem er eine kleine, grüne Pille des Anti-Schmerzmittels eingenommen hatte.

Zufrieden kauend saßen sie nebeneinander auf dem Fels. Brocken wie dieser waren auf dem Mars immer noch überall zu finden. Die ehemaligen trostlosen Geröllwüsten waren im 33. Jahrhundert zwar fast überall bewachsen, doch das Geröll gab es immer noch. Auch wenn es jetzt in den weiten Wäldern des Mars verborgen lag.

Als sie ihre Mahlzeit mit einem Schluck Wasser herunterspülten, sah sich Darweshi mit gerunzelter Stirn um. „Es wird dunkel, dabei ist hier gerade erst Mittag vorbei.“

Famke fiel erst jetzt ein, dass sie schon eine geraume Weile nicht mehr zum Himmel gesehen hatte. Dunkle Wolken waren herangezogen und ein erstes, dumpfes Grollen besagte deutlich, dass es bald ein Gewitter geben würde.

„Gehen wir weiter, solange es noch trocken ist“, schlug Famke vor. „Wer weiß, wie morastig der Boden wird, wenn es erst einmal begonnen hat zu regnen.“

Darweshi Karume machte eine zustimmende Geste. Sie schulterten ihre Rucksäcke und brachen wieder auf. Als Famke den Mann wieder stützen wollte, wehrte er ab. „Es geht allein, jedenfalls momentan. Falls sich das wieder ändern sollte, dann sage ich dir rechtzeitig Bescheid, in Ordnung?“

„Ich verlasse mich darauf.“

Sie kamen besser voran, als zuvor und nach einer Weile vergaß Famke ihre anfänglichen Bedenken.

Als etwas stärkerer, leicht böiger Wind aufkam, da meinte Karume nachdenklich: „Auf der Erde würde ich vermuten, dass es in einer halben bis einer Stunde anfängt zu regnen. Aber wer weiß, ob das auf dem Mars auch zutrifft.“

„Zumindest kommt das Donnergrollen deutlich näher“, gab Famke zurück. „Ich schätze, wir werden es bald erleben. Auf die Schwüle könnte ich dabei ganz gut verzichten.“

Darweshi Karume, der ebenfalls bemerkt hatte, dass die Luft schweißtreibender geworden war wischte sich über die Stirn. „Ja, das ist etwas unangenehm. Der Regen wird es nur bedingt besser machen, bevor es anschließend schlimmer werden wird. Wenn die Sonne später auf den nassen Wald scheint und das Wasser wieder verdunstet, dann können wir vermutlich anfangen durch die Luft zu schwimmen.“

Unermüdlich marschierten sie weiter. Dabei kam das Grollen immer näher bis die ersten Blitze über den finster gewordenen Himmel zuckten.

„Ich fürchte, da wird einiges an Regen herunterkommen“, murrte Famke. „Hoffentlich nimmt es nicht zu sehr Überhand.“

Wie zur Bestätigung fielen kurz darauf die ersten dicken Tropfen durch das Laubdach. Bereits wenige Augenblicke später regnete es in Strömen und die Haare der Frau tropften vor Nässe. Wenigstens trugen sie imprägnierte Monturen und wasserdichte Stiefel. Nach einer Weile schimpfte sie: „Tolles Wetter hier. Zuerst ersticken und anschließend absaufen. Hier muss ich unbedingt mal länger Urlaub machen.“

„Es könnte schlimmer kommen.“

Zum Trommeln und Rauschen des Regens gesellte sich nach einer Weile ein merkwürdiges Klatschen. Erst als Darweshi Karume hart an der rechten Schulter von etwas Weißem getroffen wurde, und er schmerzerfüllt aufstöhnte, wusste Famke was es war. Hagelkörner, so dick, wie Hühnereier.

„Jetzt ist es schlimmer!“, schrie die Frau erbost zurück. „Zufrieden?“

Der Tansanier hörte, wie der Hagel schlimmer wurde. Schnell zog er Famke in seine Arme und kauerte sich dicht an einen der größeren Bäume, die Frau mit seinem Körper schützend. Dabei hielt er eine seiner großen Hände über seinen Kopf.

Es dauerte eine Minute, bis es vorbei war und der Hagel ganz aufhörte. Zumindest in dieser Gegend des Mars. Misstrauisch kauerte sich Darweshi noch einige Augenblicke mit Famke an den Baum, bevor er seinen Arm zurückzog und sich langsam wieder erhob. Dabei räusperte er sich und meinte rau: „Das hätten wir überstanden.“

„Beschrei es nicht“, warnte Famke und sah misstrauisch zum Himmel hinauf. Dabei erhob sie sich ebenfalls und sah den Mann dankbar an. „Das war übrigens sehr galant, eben.“

„Nicht der Rede wert“, wehrte Karume etwas verlegen wirkend ab. „Wir sind Kameraden, und die achten aufeinander, richtig?“

„Richtig. Aber jetzt nichts wie weiter, dieser Unglücksplanet und sein Wetter wird mir allmählich unheimlich.“
 

* * *
 

Entgegen ihrer ursprünglichen Vermutung hörte der Regen bis zum Abend nicht auf, sondern es regnete durch, bis es bereits fast vollkommen finster geworden war. Dabei hatte es empfindlich abgekühlt. Kurz bevor Darweshi Karume und Famke Korkonnen die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnten fanden sie einen riesigen, hohlen Baum, in dem sie etwas geschützt vor dem immer noch starken Regen die Nacht verbringen konnten.

Mehr schlecht als recht kauerten sie, nach einem bescheidenen Abendessen, in seinem Schutz. An ein Ausstrecken war dabei nicht zu denken. Für eine Weile saßen sie so dicht beieinander in der Finsternis, wobei Karume das Bibbern seiner Begleiterin spürte. Schließlich legte er einen Arm um sie und zog sie zu sich heran. Dabei raunte er leise: „Das ist vielleicht etwas bequemer und wärmer für dich.“

„Ja, das ist es.“

Für einen langen Moment blieb es still. Schließlich sagte Famke mit vibrierender Stimme: „Es ist schon eine ganze Weile her, dass sich jemand um mich gekümmert hat und einfach für mich da war. In den Monaten des Widerstandes war im Grunde immer ich diejenige, die sich um die anderen im Team kümmerte.“

Famke spürte, wie sich der Körper ihres Begleiters etwas anspannte und beeilte sich, ihren Worten hinzuzufügen: „He, das war keine Beschwerde. Es fiel mir nur gerade auf.“

Darweshi Karume atmete erleichtert auf. „Du machst dir Sorgen um den Rest unseres Teams, nehme ich an. Ich denke, Moshe ist ein Typ, der auf sich und alle anderen aufpassen kann. Ich hoffe nur, dass sich auch Yunai zurechtfinden wird.“

„Du magst sie sehr?“

Ein leises Lachen war die Antwort. Dann raunte der Mann. „Ja, ich mag Yunai. Aber nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst. Es ist eher dieses besondere Verhältnis, dass sich wohl immer dann irgendwie entwickelt, wenn ein Mensch das Leben eines anderen Menschen in der Hand gehalten hat. Das hat eher etwas mit Besorgnis zu tun. Und anders herum, mit Dankbarkeit, würde ich sagen.“

Für eine Weile waren nur ihre ruhigen Atemzüge zu hören und das gleichmäßige Trommeln der Regentropfen auf den Blätterdach des Waldes. Erst nach einer geraumen Weile hob Famke leise wieder an: „Wir zwei im...“

Weiter kam sie nicht, denn Darweshi legte in diesem Moment fest seine Hand auf ihren Mund. Bevor sie protestieren konnte, flüsterte er in ihr Ohr: „Nicht falsch verstehen aber du musst jetzt mal still sein. Ich habe eben etwas gehört.“

Für einen Moment hatte sich Famkes Körper angespannt, bevor sie sich schnell wieder beruhigte. Gleichzeitig hörte sie draußen ein leises Schmatzen und Zischen.

Fast in demselben Moment deutete Darweshi mit seiner freien Hand auf ein schwach bläulich fluoreszierendes, längliches Objekt und Famke fragte, annähernd lautlos: „Was ist das denn? Sehe ich jetzt Gespenster?“

„Vielleicht ist das nur eine Schlange“, erwiderte der Mann ebenso leise. „Ruhig jetzt.“

Sie beobachteten das Wesen, wenn es überhaupt ein Wesen war.

Gleichmäßig schlängelte es sich zwischen den Bäumen und das Unterholz hindurch. Dabei kam es etwas näher und Ringstrukturen wurden erkennbar. In diesem Moment erinnerte das bläuliche Etwas eher an einen riesigen Wurm. Seine Länge musste wenigstens zehn Meter betragen. Sie erkannten auch, wodurch das Zischen verursacht wurde, denn dort, wo der Regen die Haut des Wesens berührte, stiegen feine Rauchwölkchen auf.

Es glitt in nur wenigen Metern Abstand an dem hohlen Baum vorbei und verschwand schließlich im Dickicht. Dabei wurde das Schmatzen und Zischen immer leiser, bis es schließlich ganz verstummte. Nach etwa einer Minute fragte Famke leise: „Scheint, im wahrsten Sinne des Wortes, ein heißes Teil zu sein. Ob es weg ist?“

Darweshi seufzte schwach. „Das hoffe ich. Es sah für mich aus, wie ein riesiger blau leuchtender Wurm.“

„Was der hier im Wald wohl macht?“

„Er leuchtet blau.“

Ein leises Schnauben der Frau war zu hören. „Das hätte mir auch jemand sagen können, der längere Ohren hat, als du. Vielleicht magst du ja ein ganz intelligenter, junger Mann sein, aber gerade im Moment merkt man davon leider gar nichts.“

Ein leises Lachen des Mannes folgte. „Versuch jetzt etwas zu schlafen, Famke. Ich übernehme die erste Wache.“

„Dann werde ich diese Nacht wenigstens nicht durch dein Schnarchen wachgehalten.“

Entrüstet erwiderte Darweshi Karume heiser: „Ich schnarche nicht.“

„Ja, klar.“ Mit einem breiten Grinsen, dass der Mann nicht sehen konnte, schmiegte sie sich vertrauensvoll an ihn. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis sie endgültig innerlich zur Ruhe kam und ihre Augen schloss.
 

* * *
 

Als Famke aus einem erholsamen Schlaf erwachte, fand sie sich dicht bei Darweshi wieder. Ihr Ohr lag an seiner Brust und sie lauschte für einen Moment lang, mit geschlossenen Augen, dem ruhigen Schlag seines Herzens. Und seinen leichten Schnarchgeräuschen, die er von sich gab. Erst einen Moment später realisierte sie, dass er sie gar nicht geweckt hatte, damit sie die zweite Wache übernahm.

Schnell löste sie sich von ihm, wobei sie sich den Kopf an der Rinde des Baumes stieß und sah fassungslos in das friedliche, entspannte Gesicht des Mannes. Einige Augenblicke zu lang, wie sie ärgerlich befand, bevor sie ihn heftig, mit beiden Händen anstupste. „He! Aufwachen, du Schnarchnase!“

Seine Augen blieben geschlossen. Er gab lediglich ein leises Brummen von sich.

Bei ihrem nächsten, heftigeren Schubs kollidierte sein Kopf mit der Rinde des Baumes, auf seiner Seite. Verschlafen die Augen öffnend sagte er: „Ich habe mir den Kopf gestoßen. Verdammt, hast du mich etwa geschubst?“

„Ja, habe ich“, grollte die Frau. „Auf Wache einschlafen, das habe ich gerne.“

Darweshi sah seine Begleiterin entschuldigend an. „Tut mir leid. Als ich deinen regelmäßigen Atemzügen lauschte, da sind mir einfach die Augen zugefallen. He, reg dich nicht auf, wir leben ja beide noch. Bist du morgens immer so gutgelaunt?“

Famke gab lediglich ein nicht deutbares Grummeln zurück und löste sich dabei aus den Armen des Mannes. Einige Meter vor dem hohlen Baumstamm reckte sie sich und seufzte dabei gähnend: „Wenigstens der Regen hast aufgehört.“

„Kann ja auch nicht immer regnen. Die Luft ist viel klarer, als gestern.“

Die beiden jungen Leute fanden einen Platz an dem sie in Ruhe frühstücken konnten. Danach nahm Darweshi noch eine der Anti-Schmerzpillen ein und sie machten sich wieder auf den Weg. Dabei hoffte der Tansanier, dass auf sein Richtungsgefühl Verlass war.

Sie marschierten am Lauf eines kleinen Baches entlang, dessen Wasser ihre bereits deutlich zu Neige gegangenen Wasservorräte wieder auffüllte. Dank der Tabletten mit denen man Wasser entkeimen konnten, die sich ebenfalls in den Notfall-Sets ihrer Rucksäcke befanden, stellte das kein Problem dar.

Da die Strecke heute überwiegend über leicht abschüssiges Gelände führte, marschierten sie, ohne es zu merken, bis zum frühen Nachmittag durch. Bereits zuvor hatte sich der Wald um sie herum immer mehr gelichtet, bis sie schließlich durch eine fast parkähnliche Landschaft gingen. Durch hohes Gras voranschreitend pflückte Famke eine der vielen bunten Blumen und steckte sie sich in Haar. Dabei sah sie zu Darweshi und fragte: „Wie sieht das aus? Kann ich so etwas tragen?“

„Unbedingt“, grinste der Tansanier belustigt und Famke schnitt ihm eine Grimasse.

Nach einer weiteren halben Stunde kamen sie an einem steil abfallenden Felsgrat an, der sie allmählich wieder bergauf führte. Als sie am Nachmittag die höchste Stelle des Felsens erreichten, bekamen sie Gelegenheit, einen größeren Teil der, vor ihnen liegenden, Landschaft zu überblicken.

Sie sahen in zwei langgestreckte Täler, von denen eins so wirkte, als sei es ein Einschlagkrater. Mehrere gewundene, silbern schimmernde, Bänder von schmalen Flüssen schlängelten sich hindurch. Große Wälder wechselten sich mit, von Blumen bewachsenen, Wiesen ab, deren Abermillionen Blüten ihnen einen betäubenden Geruch entgegen wehte. Weit in der Ferne erkannten sie eine schmale Seenplatte und von den gegenüber liegenden, blau schimmernden, Bergen stürzten mehrere beeindruckend große Wasserfälle zu Tal, deren Tröpfchenschleier das Sonnenlicht, in allen Farben des Regenbogens, brachen.

Am Rand des Felsgrats marschierten sie entlang und entdeckten erst nach Stunden einen Pfad, über den sie vom Felsgrad hinabsteigen konnten.

Eine Dunstglocke schien über den Tälern zu liegen. Je tiefer sie kamen, desto wärmer wurde es nun wieder. Erneut drangen sie in einen dichten Wald ein. Dort machten sie eine etwas längere Rast und aßen etwas, bevor sie weitergingen.

In dem Wald kamen sie nun wieder zügiger voran, und durch die hohen Baumwipfel konnten sie erkennen, dass sich die Sonne bereits merklich dem Horizont entgegen geneigt hatte. Zufrieden stellte Famke unterwegs fest, dass dem Tansanier sein lädiertes Fußgelenk keine Probleme zu bereiten schien.

Sie kamen überein, in einer der Höhlen, die sie in den Felsausläufern am Rande der beiden Täler entdeckt hatten, zu übernachten. Dort waren sie geschützter als auf der weiten Ebene wo sie Tieren ausgeliefert gewesen wären, die sie zum Großteil nicht kannten. Das hatte sie die letzte Nacht nur zu eindringlich gelehrt.

Als die Dämmerung bereits voll eingesetzt hatte entdeckten sie eine kleine, halbwegs trockene, Höhle, in der sie Unterschlupf für die Nacht zu finden gedachten.

Während sich Famke daran machte, mit einigen Büschen, die sie mit ihrem Messer vor dem Höhleneingang abgeschnitten hatte, den größten Schmutz aus der Höhle zu kehren, sammelte Darweshi etwas trockenes Holz und kehrte damit in die Höhle zurück. Er deutete hinauf zur Decke der Höhle, wo es einige schmale Öffnungen gab. „Wir können ein kleines Feuer machen, ohne an einer Rauchvergiftung einzugehen. Es dürfte ähnlich kalt werden, wie gestern Nacht, denke ich. So ein kleines Feuer, hier am Arsch des Mars, werden die von der Konföderation durch den Felsen hindurch bestimmt nicht anmessen. Besonders, da wir ziemlich weit weg sind, von der nächsten Ansiedlung.“

Famke überlegte kurz, bevor sie zustimmte.

Darweshi machte sich daran, aus zwei der Holzstücke eine Feuer zu quirlen. Dabei gab er zum Besten, dass das bei seinen Vorfahren eine lange Tradition gehabt habe.

Die blonde Frau sah ihm fast zehn Minuten lang bei seinen vergeblichen Versuchen zu, bevor sie schmunzelnd meinte: „Ich habe Dheran Collard mal bei so etwas zugesehen. Er ist Aborigine und auch bei seinen Vorfahren hat das Feuermachen eine lange Tradition. So, und jetzt lass mich mal da ran.“

Mit zweifelndem Blick überließ Karume der Frau das Feld. Zu seiner Verwunderung zog sie ihr Kampfmesser und schnitt erst einmal dünne Holzspäne von einem der kleineren Äste. Dann suchte sie in der Ecke der Höhle etwas dürres Gras zusammen und drapierte es um das Stück Holz, an dem sich Darweshi eben vergeblich versucht hatte. Die Holzspäne in die bereits entstandene kleine Vertiefung gebend begann nun sie damit, einen der kleineren Äste darin herum zu quirlen.

Zu seinem gelinden Erstaunen dauerte es keine zwei Minuten, bis von dem Stück Holz eine schwache Rauchfahne aufstieg. Einige Augenblicke später züngelte eine kleine Flamme aus dem trockenen Gras und etwas Luft zu pustend legte Famke einige der dünnen Holzäste darüber, damit auch sie Feuer fangen konnten.

Als schließlich ein kleines munteres Feuer in der Höhle prasselte, sah Famke ihren Begleiter grinsend an. „Wenn Dheran das jetzt sehen könnte, würde er mich sofort in den Stamm seiner Vorfahren aufnehmen.“

„Ich auch“, erwiderte Karume und ehrliche Anerkennung schwang in seiner Stimme mit. „Auf die Idee, mit den kleinen Holzspänen, wäre ich nie gekommen.“

Verlegen wegen des unverhofften Lobs wechselte Famke das Thema und erkundigte sich bei Darweshi: „Was denkst du? Brauchen wir eine Wache, heute Nacht?“

„Ich habe keine größeren Tiere gesehen, seit wir in dieser Gegend sind. Und diese Leuchtwürmer scheinen sich eher im Dickicht des Hochwaldes wohl zu fühlen.“

„Dann verzichten wir darauf“, entschied Famke. „Wir brauchen jeden Schlaf, den wir kriegen können, um möglichst schnell die Zehnte Flotte zu erreichen. Immerhin wird sie von einem Kontingent der Flotte erwartet. Die fragen sich bestimmt schon jetzt, wo wir bleiben.“

„Die werden mit möglichen Zwischenfällen rechnen“, beruhigte sie Darweshi. Dabei beobachtete er, wie Famke sich auf dem felsigen Boden zusammenrollte. Er selbst machte es sich, das Feuer zwischen ihm und Famke, ebenfalls bequem, dabei einen Arm unter den Kopf gelegt. Sinnend sah für einige Augenblicke zu seiner Begleiterin hinüber, bevor auch er die Augen schloss. Doch Schlaf wollte sich nicht bei ihm einstellen. Zu viele Dinge gingen ihm momentan im Kopf herum.

Er erschrak beinahe, als Famkes Stimme aufklang. Sie sagte: „Ich kann nicht schlafen, Darweshi. Gestern Nacht, als du mich im Wald einfach festgehalten hast, da fiel es mir irgendwie leichter Schlaf zu finden.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich erwiderte. „Na, dann komm doch einfach zu mir herüber. Ich werde schon nicht auf dumme Gedanken kommen.“

„Das solltest du auch nicht, denn immerhin bin ich mit einem Messer bewaffnet.“ Damit erhob sie sich geschmeidig, ging zu ihm hin und legte sich an seiner Seite zu Boden.

Einen Arm um den Mann legend bettete Famke ihren Kopf an seine Schulter und gab schließlich ein wohliges Schnurren von sich. „Viel besser.“

Es dauerte nur eine Minute, bis Famke einschlief.

Darweshi Karume, der ihren regelmäßigen Atemzügen lauschte, lag hingegen noch eine geraume Weile wach, bevor auch ihn endlich der Schlaf übermannte.

Zack-Hopp und Weg


 

18.
 

Zack-Hopp und Weg
 

Die nächsten drei Tage verliefen ohne besondere Ereignisse. Famke und Darweshi kamen gut voran, beim Überqueren des linken der beiden Täler. Gegen Mittag des insgesamt fünften Tages, seit dem Absturz des Frachters, erreichten sie einen Hohlweg, der sich zwischen zwei Gebirgsausläufern hindurch schlängelte. An seinem Ende angelangt lag die Flottenbasis bei Sagan, weniger als zwei Kilometer von ihrer Position entfernt, vor ihnen.

Da es erst später Nachmittag war, beschlossen sie eine längere Rast einzulegen, bevor sie sich an das gewagte Unternehmen machten, die Basis zu infiltrieren.

Erst als es fast völlig finster geworden war machten sie sich wieder auf den Weg. Dabei bedauerten sie nicht zum ersten Mal, dass sie einen Großteil ihrer ursprünglichen Ausrüstung, besonders aber die Kom-Sets, verloren hatten. Sie hätten sich zwar notfalls auch über ihre MFA´s über größere Distanzen hinweg unterhalten können, doch die Bewegung des Arms konnte verräterisch sein, und diese Geräte brauchten eine etwas stärkere Akustik für eine einwandfreie Übertragung. So hatten sie beschlossen zusammen zu bleiben.

Etwa fünfzig Meter von einem Nebenzugang zum umzäunten Raumhafen hielten sie hinter einem großen Busch an und spähten über die breiten Blätter hinweg. Dabei flüsterte Darweshi fragend: „Was nun? Wir können wohl kaum einfach so dort hinüber gehen, den Posten grüßen und einfach auf das Landefeld marschieren?“

Famke erkannte, dass die hinteren Rampen eines Schweren Kreuzers, der ihnen am nächsten stand, heruntergefahren waren. Dort würde es ein Leichtes für sie sein, an Bord zu gelangen. Von dort aus dann zum Kommandozentrum und sie hatten es so gut wie geschafft. Der Gedanke daran, jetzt noch scheitern zu können, machte sie kribbelig. Dann drangen die Worte des Tansaniers an ihre Ohren und sie wollte bereits zustimmen. Doch plötzlich durchzuckte sie eine Idee.

„Ich sage dir was, Darweshi: Wenn das deine Idee ist, dann habe ich noch eine bessere. Genau so werden wir es machen.“

Für einen Moment blieb es still, bevor der Mann zischte: „Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Wie soll das denn funktionieren?“

Famke Korkonnen packte den Mann fest am Oberarm. Heiser flüsterte sie: „Hör zu. Wir tragen die Uniform von dem da vorne. Mit Offiziersrangabzeichen. Wir lassen die Rucksäcke hier und tun so, als wären wir ein frisch verliebtes Paar, dass sich etwas Abgeschiedenheit und Zweisamkeit gegönnt hat. Der Posten kann unmöglich wissen, seit wann wir hier draußen sind. Außerdem geht ihn das nichts an.“

Darweshi, der selbst keinen besseren Plan zur Hand hatte, raunte zurück: „Na, dann mal los, du verrücktes Huhn.“

„Darüber reden wir noch.“

Damit legte sie ihren Rucksack ab und Darweshi folgte ihrem Beispiel. Sie hakten die Wasserflaschen an ihre Uniformgürtel. Die verbliebenen Rationen verstauten sie in den Taschen der Monturen. Nachdem auch einige der Medikamente in den Taschen der Montur des Tansaniers verschwunden waren, nahm Famke ihn formlos an die Hand, zerzauste sich etwas das Haar und trat mit ihm hinter dem Busch hervor, auf die freie, von Rasen bewachsene, Fläche vor dem eigentlichen Areal des Raumhafens. Nach ein Paar Schritten zog sie seinen Arm um ihre Hüfte und legte ihren Arm um seine. Dabei schmiegte sie sich eng an ihn, während sie forsch auf den bewachten Zugang des Raumhafens zu hielten. Dabei hörte sie den Mann unterdrückt flüstern: „Das wird nicht funktionieren, Famke.“

„Und wie das funktionieren wird. Ruhe jetzt und halte dich bereit, die Wache niederzuschlagen, klar?“

Darweshi gab ein bestätigendes Brummen von sich.

Als sie bis auf wenige Schritte am Wachposten heran waren und in den Lichtschein am Tor traten, rief sie eine helle Stimme an: „Halt, wer da. Identifizieren Sie sich.“

Famke Korkonnen tat so, als habe sie zuvor gar nicht bemerkt, wie nah sie dem Tor schon gekommen waren. Sie ließ Darweshi los richtete, scheinbar peinlich berührt ihr Haar und schritt mit ihm zu der Frau hin. Dabei log sie: „Leutnant Rhodan und Leutnant Dhark.“

„Ich muss Ihre ID-Karten sehen.“

Inzwischen hatte auch Darweshi Karume den weiblichen Wachposten erreicht. Als Famke an ihrer Brusttasche zu nesteln begann war die junge Gefreite für einen Moment abgelenkt und der Tansanier handelte. Mit einer rechten Gerade schlug er die Frau KO.

Einen Moment später hatte Famke der Frau bereits die Waffe abgenommen und schlug ihr mit dem Kolben nochmal auf den Hinterkopf. „Das sollte lange genug vorhalten.“

Sie sahen sich um. Niemand sonst war zu sehen. Dabei fluchte Darweshi erbittert: „Verdammt, das war die erste Frau, die ich geschlagen habe.“

„Herzlichen Glückwunsch“, spottete Famke heiser. „Falls es dir entgangen sein sollte, mein Lieber: Wir haben Krieg, und sie ist der Feind.“

„Ist ja schon gut. Weiter jetzt.“

Sie durchschritten das offene Tor und nebeneinander bewegten sie sich zügig zu dem Schweren Kreuzer, den Famke zuvor ins Auge gefasst hatte. Unangefochten erreichten sie die Rampe des Kreuzers, in dessen Schatten sie sich nun befanden. Dennoch blieben sie vorsichtig und schlichen die Rampe des Raumschiffs hinauf. Sowohl die Außenschleuse, als auch die Innenschleuse standen weit offen und Darweshi flüsterte besorgt: „Wenn das nach dem Start so bleibt, dann haben wir ein Problem.“

Ebenso leise gab die Frau an seiner Seite zuversichtlich zurück: „Das ATS wird wohl über eine Sicherheitsschaltung verfügen, die das verhindert. Notfalls schotten wir den Rest des Schiffes von der Zentrale aus hermetisch ab.“

„Na dann.“

Sie begaben sich ins Innere des Kreuzers. Die Stille an Bord wirkte dabei beruhigend und beunruhigend zugleich. Nach einer Weile fragte Darweshi, mit einem etwas schrägen Unterton: „Rhodan und Dhark? Wie bist du nur auf diese Namen gekommen?“

Famke gab keine Antwort darauf.

Nach wenigen Minuten hatten sie das Deck erreicht, dass zum Kommandozentrum führte. Auch hier war kein Laut zu vernehmen.

„Sollten wir wirklich so viel Glück haben, dass sich niemand an Bord aufhält?“, fragte Famke immer noch so leise, als würde sie jemanden an Bord vermuten.

„Werden wir erfahren.“

Sie erreichten endlich das Schott der Zentrale. Auch hier funktionierte der obere der beiden Codes auf der Karte, die Dean Corvin ihr anvertraut hatte, problemlos. Die beiden Hälften des Panzerschotts glitten mit leisem Zischen zur Seite und die Notbeleuchtung aktivierte sich. Auch das Kommandozentrum des Kriegsschiffes lag verlassen.

Endlich erleichtert aufatmend sagte Famke: „Da wären wir. Als nächstes müssen wir die Schiffssysteme aktivieren.“

Sie schritten zur Konsole des Piloten, wobei es im Grunde egal war, da die Systeme von jeder der Konsolen aktiviert werden konnten. Famke legte eine Hand auf die dunkle Sensorfläche der Konsole und sie wurde dazu aufgefordert den Kommando-Code einzugeben. Sicherheitshalber vorher nochmal auf die Code-Karte schauend gab Famke den oberen Code über das nun aktivierte Sensortasten-Feld ein.

Eine Bestätigung für die Korrektheit des Codes wurde in grüner Schrift angezeigt. Im nächsten Moment erschien eine zweite Eingabeaufforderung. Diesmal für den ATS-Code. Auch diesen gab Famke Korkonnen ein und bestätigte die Eingabe. Diesmal erschien keine Bestätigung und Famke wollte schon anfangen zu fluchen, als zwei Sensortasten, unter der Frage aufleuchteten, ob das ATS aktiviert, oder auf Stand-By geschaltet, werden sollte.

Famke entschied sich für die Option der sofortigen Aktivierung.

Diesmal erschien eine Bestätigung; und gleich darauf der Hinweis, dass nun das Prioritätssignal ausgestrahlt würde. Gleichzeitig klang der akustische Hinweis auf: Autonomes-Strategisches-System wurde aktiviert und übernimmt.

Überall im Kommandozentrum aktivierten sich die Konsolen. Jetzt erschienen auch die Holoanzeigen über den Sensorfeldern der Konsolen. Die Beleuchtung der Zentrale wechselte auf Gefechtsbeleuchtung. Der Boden erzitterte unter den Füßen der beiden jungen Menschen, als der Schwere Kreuzer zu mechanischem Leben höchster Vollendung erwachte.

Als die typischen Arbeitsgeräusche der Schiffsaggregate durch das Raumschiff hallten standen Famke Korkonnen Tränen in den Augen. Dabei sagte sie kratzig: „Ich kann noch gar nicht glauben, Darweshi, dass wir es wirklich geschafft haben.“

Die Finnin beobachtete den Mann dabei, wie er sich in einen der Sessel setzte. Zwanglos nahm sie selbst gleich darauf auf seinem Schoß platz, umarmte ihn stürmisch und gab ihrem emotionalen Chaos nach.“

Darweshi Karume ließ sie gewähren. Als sie ihn nach eine Weile, immer noch mit Tränen in den Augen, anstrahlte, da lachte der Tansanier und sagte erleichtert: „Der komplizierte Teil kommt zwar vielleicht noch, doch ich glaube ab jetzt ganz fest daran, dass am Ende alles gutgehen wird.“

Weder Darweshi Karume noch Famke Korkonnen ahnten dabei, dass der Abend für einen einsamen Techniker, an Bord des benachbarten Leichten Kreuzers EDDINGTON, nicht ganz so glücklich verlief, ab diesem Moment.
 

* * *
 

Unteroffizier der Konföderation Deneb, Laran Takmaron, hatte die zehn Kreuzer inspiziert, die ihm sein Vorgesetzter vorgegeben hatte. Dabei hatte er bisher noch keinen einzigen Hinweis dafür entdecken können, dass es an Bord irgendwelche ungewöhnlichen Systeme gab, die seine Vorgesetzten dort zu vermuten schienen.

Seiner Meinung nach litten jene Leute an Paranoia, die an Bord der brandneuen Raumschiffe solche Systeme vermuteten. Es hatte Gerüchte gegeben, doch Takmaron vermutete, dass sie gezielt vom Feind gestreut worden waren, um den Einsatz dieser Flotte für die Konföderation zu verzögern. Und das schafften sie momentan tatsächlich.

Aber gut, dachte er schließlich, ich mache meine Arbeit; genau wie die anderen sieben Techniker an den Abenden zuvor. Es handelte sich um Stichproben. Aber Stichproben waren so eine Sache, man kontrollierte vielleicht gerade dort, wo nichts Außergewöhnliches eingebaut worden war. Ich werde, nahm er sich daher vor, noch zwei weitere Schiffe überprüfen, heute Nacht. Das ist außerplanmäßig, und vielleicht gerade deshalb erfolgreich.

So kam es, dass Takmaron gerade in einem Leichten Kreuzer mit dem Namen EDDINGTON weilte, als das Prioritätssignal der CARACAS das Chaos entfesselte.

Es war sein Glück, dass sich ausnahmslos sämtliche Systeme des Kreuzers automatisch einschalteten, denn ohne die Andruckabsorber wäre er zerquetsch worden. So sah er auf einem der sich aktivierenden Holo-Bildschirme nur noch, wie der Raumhafen von Sagan immer schneller unter dem Leichten Kreuzer weg sackte, kleiner wurde und endgültig auf der sich rundenden Oberfläche des Planeten verschwand.

Er sah die anderen Kriegsschiffe, die ebenfalls starteten. Im ersten Augenblick erschrak er bei dem Gedanken, vielleicht eine der Sensorflächen der verschiedenen Konsolen berührt zu haben und so selbst die Massenflucht verursacht zu haben, aber dann schalt er sich einen Narren, denn das war kaum möglich. Der Schreck über das Ereignis selbst aber blieb.

Immerhin war er Techniker und verstand einiges von Raumschiffantrieben. Auch weilte er rein zufällig in der Kommandozentrale des Kreuzers. Er wusste mit Bestimmtheit, dass er den Antrieb nicht eingeschaltet hatte. Das musste selbsttätig geschehen sein. Entweder durch einen Funkimpuls, oder mit Hilfe eines installierten Senders. Oder…

Doch keine Paranoia!

Takmaron begann allmählich zu begreifen, dass wahrscheinlich nur der Zufall ihn Zeuge eines unvorstellbaren Geschehens werden ließ. Er ahnte, aufgrund der im Vorfeld immer wieder aufflammenden Gerüchte, von einer Sekunde zu anderen, wem die Konföderation Deneb den unvorhergesehenen Start der Flotte zu verdanken hatte. Er ahnte es, aber ahnten es auch seine Vorgesetzten?

Er stürzte zur Konsole des Kommunikations-Offiziers. Zwar wusste er nicht besonders gut Bescheid auf diesem Gebiet, aber er traute sich doch zu, eine Verbindung zustande zu bringen. Aber bevor er die entsprechenden Kontrollorgane gefunden hatte, war es bereits zu spät. Er sah auf dem Hauptbildschirm, dass das Raumschiff sich bereits im Hyperraum befand.

Das allein gab ihm keinen Hinweis, wohin die Reise ging. Also blieb dem Mann nichts weiter zu tun, als sich in einen der Sessel zu setzen und abzuwarten. Dabei fragte er sich mit einem flauen Gefühl im Magen, was ihn am Ziel der Reise erwarten würde.

An den Instrumenten konnte er ablesen, dass der Hyperraumflug mit annähernd Höchstgeschwindigkeit erfolgte. Außerdem erkannte er, dass die Flotte sich nach einem Standardmuster der Terranischen Flotte formiert hatte. Die Raumschiffe wurden gelenkt, das wurde bei diesem Manöver offensichtlich. Es weilte außer ihm niemand in der Zentrale, aber der Kreuzer wurde gesteuert. Und zwar sicher und zielbewusst. So sicher, wie die gesamte Flotte von der ersten Sekunde an gesteuert worden war.

An diesem Punkt seiner Überlegung erschrak Takmaron. Wenn sie mich entdecken ...!

Ja, was dann? Er war Mitwisser eines wichtigen militärischen Geheimnisses geworden. Man würde ihn nicht einfach weiterleben lassen.

Wenn sie kamen, durften sie ihn also nicht finden. Das Hoffnungslose der Situation kam ihm erneut zu Bewusstsein. Wo sollte er sich verstecken? Das war unsinnig. Er besaß keine Vorräte, mit Hilfe derer er lange überleben konnte. Man würde ihn also finden, und dann endete sein Leben vermutlich. Innerlich schloss Unteroffizier Laran Takmaron in diesem Moment mit dem Leben ab.
 

* * *
 

In der CARACAS saßen Darweshi Karume und Famke Korkonnen in den Sesseln für Pilot und Navigator. Während Famke zufrieden an einem Konzentrat-Riegel ihrer vorletzten Notration kaute, hatte Karume die Magnetverschlüsse seines linken Stiefels etwas gelockert und massierte sein Fußgelenk, wobei er ein gelegentliches Ächzen von sich gab.

Famke, die es bemerkte, sah ihn schließlich fragend an. „Du hast starke Schmerzen?“

„Ja. Schon seit Tagen.“

„Verdammt, warum hast du denn nichts gesagt?“

Der Tansanier schwieg zu dieser Frage. Stattdessen zog er ein Anti-Schmerzmittel der etwas stärkeren Sorte aus seiner Brusttasche und nahm eine der Kapseln, die er mit etwas Wasser aus seiner Feldflasche hinunter spülte. Angespannt wirkend sagte er: „Dieser Hammer wird besser wirken, als diese verdammten grünen Dinger, die ich bisher genommen habe.“

„Du bist ein verdammter Blödmann“, schimpfte Famke. „Ich hätte dich unterwegs stützen können. Aber du Dickschädel hast lieber Schmerzen in Kauf genommen, statt dir helfen zu lassen. Hoffentlich tut es richtig weh.“

Zuerst perplex, wegen des Ausbruchs der Kameradin, schmunzelte Darweshi schließlich, als er meinte: „Reg dich wieder ab, es ist ja jetzt vorbei.“

„Warten wir es erst einmal ab“, widersprach die Frau, noch immer gereizt. „Wir können uns nicht sicher sein, was uns am Ziel unserer Reise erwartet.“ Damit deutete sie mit dem Konzentrat-Riegel in der Hand auf den Hauptschirm, auf dem das, überwiegend rote, Wallen des Hyperraums wiedergegeben wurde.

Sie richteten sich darauf ein, mehrere Stunden unterwegs zu sein, bevor die Flotte wieder auf Unterlichtgeschwindigkeit gehen würde.

Als sich Darweshi Karume schließlich im Sessel streckte und Famke mit halb geschlossenen Augenlidern ansah, da wirkte er wie eine schläfrige Raubkatze. Die Hände hinter dem Kopf verschränkend schloss er seine Augen ganz und meinte: „Wir sollten uns etwas ausruhen, solange es noch geht.“

„Dazu bin ich zu aufgeregt“, erwiderte Famke. „Aber schnarch mir ruhig wieder die Ohren voll, das hast du echt drauf.“

„In der Höhle hat es dich aber nicht gestört, oder?“

Diese Frage brachte die Frau aus dem Konzept. Denn er hatte recht. Vor einigen Tagen, in der Höhle, da hatte sie sich sehr geborgen und sicher gefühlt, in seinen Armen. Wobei es ihr mehr um die Geborgenheit gegangen war, denn sie war nicht gerne allein.

„Dich aber wohl auch nicht“, entgegnete sie, etwas weniger gereizt, als zuvor.

Ein leises Lachen kam von Darweshi zurück. „Nein. Weißt du, ich war ganz froh, an dem Abend nicht allein da zu liegen. Die Monate, in denen ich, ganz allein und auf mich gestellt, in Australien unterwegs war, das war für mich die schlimmste Zeit meines bisherigen Lebens. Ich fühlte mich fürchterlich allein gelassen.“

Darweshi hatte seine Augen wieder geöffnet und sah zu Famke, die ihn etwas verwundert ansah, ob seiner offenen Worte. Spontan nahm sie seine Hand, die über die Lehne seines Sessels herab hing, in ihre. „Du bist jetzt nicht mehr alleine, Darweshi.“

Seine Finger mit ihren verschränkend, erwiderte der Mann entspannt lächelnd: „Das sind wir beide nicht. Ich bin dem Schicksal sehr dankbar dafür, dass wir uns begegnet sind.“

Famke runzelte die Stirn. „Fängst du gerade an, Süßholz mit mir zu raspeln?“

Das Lächeln des Mannes vertiefte sich, bevor er anfing fürchterlich mit den Augen zu rollen. „Das würde mir doch nie einfallen, Famke. Wo denkst du denn hin?“

Sie lachten beide.

Hand in Hand in den Sesseln sitzend begannen sie davon zu erzählen, wie ihre Kindheit verlaufen war. Dabei hörte Darweshi jedesmal besonders gut zu, wenn der Name Dean Corvin fiel. Irgendwann fragte der Tansanier: „Dean ist wirklich eine sehr wichtige Bezugsperson für dich?“

Famke nickte nachdenklich. „Ja. Stell dir vor: Als wir noch klein waren, da hatte ich mir beim Spielen mal weh getan, und außer Dean war niemand da, um mich zu trösten. Er hat das so lieb und gleichzeitig so unbeholfen gemacht. Heute glaube ich, er hätte damals am liebsten mitgeheult. Aber dazu war er dann doch zu stolz.“

„Du sagtest, er wäre im Alter deines Bruders. Wie kommt es dann, dass er bereits den Rang eines Majors bekleidet? Und dann noch bei der Farradeen-Allianz.“

„Ich habe keinen blassen Schimmer“, seufzte die Frau. „Aber als er den weiblichen Hauptmann zum Kreuzer zurückbeorderte, da wirkte er so ungewohnt ernst und gleichzeitig auch so erwachsen. Ich hatte Dean etwas anders in Erinnerung. Irgendetwas scheint er erlebt zu haben, das ihn so veränderte.“

Darweshi Karume machte eine zustimmende Miene. „Ich würde sagen, wir alle haben uns verändert, seit die Konföderation Deneb das Sol-System überfallen hat. In Zeiten des Krieges, in denen wir manchmal dazu gezwungen sind, Dinge zu tun, die wir lieber nicht tun würden, ist das auch kein Wunder.“

Famke sah Darweshi in die Augen, bevor sie ihn fragte: „Egal, wie ich es drehe und wende, am Ende komme ich immer wieder zu dem Ergebnis, dass ich damit, für die Resistance gekämpft zu haben, meine Interessen über die anderer Menschen gestellt habe. Wie viele Menschen kann man in einem Krieg töten, bevor man sich selbst verliert? Oder bevor man sich genauso schuldig macht, wie der Feind?“

Eindringlich Famke ansehend erwiderte Darweshi ruhig: „Ich verstehe, was du damit sagen willst. Mir selbst sind, in den letzten Monaten, ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Doch was wäre die Alternative gewesen? Kapitulation? Würde das die Konföderation davon abhalten, weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen? Nein, Famke, das Böse gewinnt immer dann, wenn die Aufrechten nicht handeln.“

„Akademie – Philosophie-Grundkurs“, spöttelte die Frau augenzwinkernd. Dann atmete sie tief durch und meinte: „Vielleicht stimmt das, aber dadurch fühle ich mich kein Bisschen besser.“

„Dann wäre ich auch sehr enttäuscht von dir.“

Aus den Augenwinkeln sahen sie, dass sich das Bild auf dem Haupt-Holoschirm der Zentrale signifikant änderte. Die Flotte hatte den Hyperraum verlassen. Gleichzeitig tönte der Annäherungsalarm auf.

Famke ließ die Hand des Mannes los und nahm einige Schaltungen an den Kontrollen ihrer Konsole vor. Darweshi Karume seinerseits aktivierte die Freund-Feind-Erkennung und atmete erleichtert auf, als er die Ergebnisse ablas. „Es sind Terranische Einheiten.“

„Sie schleusen eine große Anzahl an Personen in flugfähigen Raumkampfanzügen aus, die auf die Schleusen der einzelnen Raumschiffe zu halten“, ergänzte Famke.

Damit erhob sich die Frau und lief zur Kommunikationskonsole hinüber. Sie aktivierte den Normalfunk-Sektor und rief wiederholend die Raumschiffe an. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang der Kontakt, und ein Mann mit sonorer Stimme meldete sich und sagte: „Hier spricht Generalmajor Montana, von der TRITON. Wer sind Sie und wie kommen Sie an Bord eines Kreuzers der Zehnten Flotte?“

„Hier spricht Kadett Famke Korkonnen, zuletzt an der Sektion-Venus. Ich befinde mich mit einem Kameraden, namens Darweshi Karume, zuletzt Kadett an der Sektion-Terra, an Bord eines Schweren Kreuzers. Auf dem Mars übergab mir Major Dean Corvin, von der Farradeen-Allianz, die Code-Karte, um das ATS des Kreuzers zu aktivieren. Mein Kamerad und ich schafften es, unbemerkt an Bord zu gelangen und die Schiffssysteme, inklusive des ATS, zu aktivieren. Alles andere erfolgte ab da selbsttätig.“

Eine Pause entstand, bevor der Generalmajor entgegnete: „Der Name des Majors wurde bestätigt. Wir hatten, trotz der Aussage seines Ersten Offiziers, kaum noch Hoffnung, dass die Zehnte Flotte tatsächlich hier erscheinen würde. Hervorragende Arbeit, Kadetten.“

„Vielen Dank, Sir.“

„Meine Leute kommen bald an Bord, Kadett. Bleiben Sie, wo sie sind. Montana, Ende.“ Damit unterbrach der Generalmajor die Verbindung.

Famke sah zufrieden zu Darweshi.

Der meinte: „Da muss sich aber einiges verändert haben, innerhalb der Flotte. Generalmajor Montana ist Kommandeur der Siebten Flotte, wenn ich nicht irre. Die Siebte war aber zuletzt ganz woanders stationiert.“

Famke nickte zustimmend. „Ich schätze, wir werden bald alles Neue erfahren.“

Auf dem Hauptbildschirm verfolgten die beiden jungen Menschen, wie die Gestalten in den Raumanzügen sich schnell und sicher Zutritt zu den einzelnen Kreuzern, Zerstörern und Fregatten verschafften. Beide sahen sich etwas unsicher an. Immerhin trugen sie die Uniformen des Feindes.

Es dauerte noch einige Minuten, bis sich das Panzerschott der Zentrale öffnete und mehrere Raumfahrer in das Kommandozentrum eindrangen. Dabei blieb der Anführer der Eindringlinge einen Augenblick stehen, als er Famke Korkonnen und Darweshi Karume in entspannter Haltung im Raum stehend entdeckte.

Es handelte sich um eine schwarzhaarige, dunkelhäutige Frau im Rang eines Oberstleutnants, die nun auf die beiden blau Uniformierten zu schritt und sagte: „Ich bin Oberstleutnant Oluwatoniloba Adalunara. Der Generalmajor hat die Truppführer darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir in einem der Raumschiffe zwei Kadetten vorfinden würden, die dafür verantwortlich sind, dass die Zehnte Flotte nicht in Feindeshand geblieben ist. So wie es aussieht habe ich den Hauptgewinn gezogen. Nur die Uniformen haben mich zuerst etwas verwirrt.“ Damit reichte sie zuerst Famke und danach Darweshi die Hand.

„Ich hoffe, wir werden diese verdammten Uniformen bald los, Sir“, erwiderte der Tansanier. „Können wir Ihnen helfen?“

Der Ausdruck im Gesicht der dunkelhäutigen Frau wurde eine Spur ernster. „Ja, das können Sie beide in der Tat, indem sie eins der naheliegenden Quartiere aufsuchen und es nicht verlassen, bis wir Wega-IX erreicht haben. Es ist nicht so, dass ich Ihnen beiden nicht vertrauen möchte, doch Sie werden verstehen, dass ich mich absichern muss.“

Es stand Famke ins Gesicht geschrieben, dass sie dagegen aufbegehren wollte, doch Darweshi griff schnell nach ihrer Hand und antwortete dem Oberstleutnant: „Natürlich verstehen wir das, Sir.“

Oberstleutnant Adalunara gab zwei Unteroffizieren, in ihrem Geleit, einen Wink und die beiden geleiteten Famke Korkonnen und Darweshi Karume aus der Zentrale.

Die momentane Kommandantin des Schweren Kreuzers sah beiden hinterher und lächelte verstehend. Sie konnte sich vorstellen, was gerade in ihnen vorgehen musste. Doch der Befehl von Generalmajor Montana war eindeutig gewesen.

In kürzester Frist wurde die CARACAS unter ihrem Kommando bemannt, so wie auch die übrigen 99 Raumschiffe dieser brandneuen Flotte, durch ihr Kameraden.

Keine drei Minuten später wurde Generalmajor Montana, auf der TRITON der Vollzug der vollständigen Übernahme gemeldet.

Unmittelbar darauf erging von Montana der Befehl an die nun insgesamt 150 Raumschiffe in diesem Sektor, aufzufächern und eine Verteidigungsstellung einzunehmen.

Davon bekamen Darweshi Karume und Famke Korkonnen in dem ihnen zugewiesenen Quartier nichts mit. Doch als einige Minuten später die Alarmgeber durch das Kriegsschiff gellten, ahnten sie, dass der Zehnten Flotte nun die Feuertaufe bevorstand.

Entscheidung


 

19.
 

Entscheidungen
 

Auf der TRITON sah Generalmajor Jonathan Joseph Montana zum Kommandanten seines Flaggschiffs, Oberst Nihat Yildirim, und hob seine Augenbrauen leicht an. Zwischen ihm und dem Oberst bestand eine herzliche Kameradschaft. Als Yildirim im Jahr 3217 das Kommando über den Schlachtkreuzer übernahm, war Montana bereits seit fünf Monaten Kommandeur der Siebten Flotte gewesen. Er hatte sich, als eine Art Mentor, dem Oberst angenommen. Das hatte sehr zur Festigung ihrer Kameradschaft beigetragen.

Nihat Yildirim ahnte, was den Generalmajor umtrieb, und er meinte: „Diese beiden Kadetten. Wenn deren Angaben wirklich stimmen, werden sie Ihren Befehl verstehen, Sir. Wir müssen uns absichern. Wir haben Krieg.“

Montana lächelte unmerklich. Von Beginn an hatte ihm die klare Dienstauffassung des Obristen gefallen. Zustimmend gab er zurück: „Es wird ja auch nicht der Schaden dieser beiden jungen Menschen sein, sofern sie wirklich dafür gesorgt haben, dass die Zehnte Flotte sich nun in unseren Händen befindet. Aber das werden diese Kadetten früh genug erfahren.“

„Ja, Sir.“

Yildirim konzentrierte sich wieder auf seine Funktion als Raumschiff-Kommandant. „Ein Kriegsschiffverband von knapp siebzig Einheiten fällt soeben aus dem Hyperraum, General. Das ist etwas mehr, als wir erwartet haben.“

Längst hatte der Kommunikationsoffizier auf Flottenfrequenz umgeschaltet, so dass Montana auf allen Kriegsschiffen gleichzeitig empfangen werden konnte.

„Montana an alle Kommandanten: Feuer frei!“

Im All, zwischen dem Sol-System und dem etwas näher liegenden Wega-System, eröffneten 150 Raumschiffe, annähernd gleichzeitig, das Feuer auf die vollkommen überraschten Feinde. Phasengesteuerte Plasma-Geschütze erzeugten ein filigranes Netz an grell-violetten, scharf abgegrenzten, Strahlen, während die Torpedos nur anhand ihrer bläulich glühenden Antriebssystem, die wegen ihrer hohen Geschwindigkeit scheinbar Leuchtstreifen hinter sich her zogen, zu erkennen waren.

Bevor der Kommandeur des Feindverbandes reagieren konnte, gingen in den Reihen des geschlossenen Verbandes die ersten, künstlichen Atomsonnen auf. Dort detonierten die Materie-Antimaterie-Sprengköpfe der terranischen Torpedos.

Einige der feindlichen Kriegsschiffe versuchten zu entkommen, doch der Kommandeur des Verbandes hatte den fatalen Fehler begangen, seine Raumschiffe nicht in Schlachtordnung aus dem Hyperraum fallen zu lassen. Durch die enge Formation hatten die terranischen Kriegsschiffe leichtes Spiel mit dem Gegner.

Der bereits leicht ergraute Joe Montana stammte von Capella IV, einer sehr heißen und unwirtlichen Welt. Das Leben dort hatte ihn bereits in frühester Jugend abgehärtet. Im Grunde seines Herzens hasste Montana es, anderen Wesen Schaden zuzufügen, doch gegenwärtig herrschte Krieg. Ein Krieg, der den Terranern, von der Konföderation Deneb, ins Haus getragen worden war. So handelte Montana kompromisslos, weil er wusste, dass es hier darum ging selbst zu töten, oder vom Feind getötet zu werden.

Montana gab schließlich den Befehl zu einem Umfassungsmanöver. Ansonsten hielt er sich weitgehend zurück, denn die Schiffsinterna oblagen einzig Oberst Yildirim. Der Generalmajor fungierte als Kommandeur der Flotte, nicht als Raumschiff-Kommandant. Diese beiden Funktionen zu trennen hatte sich seit Anbeginn der Raumflotte bewährt.

Bei den Raumschiffen der Konföderation entstand Chaos. Nach der Vernichtung des feindlichen Flaggschiffes handelte jeder Kommandant auf eigene Faust, was zusätzlich Verwirrung in die Reihen des Feindes brachte. Mehrere Feindschiffe kollidierten wegen der fehlenden Koordination miteinander und zerstörten sich auf diese Weise gegenseitig.

Inzwischen hatten die terranischen Einheiten den Gegner eingeschlossen und feuerten dabei gleichzeitig unablässig weiter. Ein Feindschiff nach dem anderen wurde ein Opfer der terranischen Kriegsschiffe.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis der letzte feindliche Kreuzer zerstört worden war, und der Generalmajor befahl, das Feuer einzustellen. Er gab Befehl, nach Überlebenden zu scannen, doch bereits nach kurzer Zeit stand fest, dass kein feindlicher Soldat den Feuerüberfall der Terraner überlebt hatte. Ein Notruf war nicht aufgefangen worden, also wussten die Verantwortlichen der Konföderation nicht, was sich hier zugetragen hatte.

Joe Montana wusste, dass dieser Umstand einen zusätzlichen, psychologischen Effekt zeitigen würde. Der Gegner war es bisher gewohnt, den Terranern Niederlagen beizubringen. Das hatte möglicherweise bei den Besatzungen der Armada von Deneb zu einer Art von Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit geführt. Wenn das zutraf, dann würde die Tatsache, dass hier siebzig Raumschiffe der Armada vernichtet worden waren, ohne einen Notruf abgesetzt zu haben, diesen Irrglauben nachhaltig erschüttern. Der Moral der Truppe würde das einen nachhaltigen Schaden zufügen.

Der Generalmajor riss sich von diesen Überlegungen los und befahl über Flottenfrequenz: „Hier Kommandeur der Siebten und Zehnten Flotte. Rückzug nach Wega.“
 

* * *
 

Unmittelbar nachdem die Hälfte der Siebten Flotte gemeinsam mit der Zehnten Flotte das Wega-System erreicht hatte, machten bereits die ersten Gerüchte von einem überragenden Sieg gegen die Konföderation Deneb die Runde im Hauptquartier des Systems.

Generalleutnant Gael Dorian Fournier betrat das Hauptquartier, eine Stunde nachdem die Zehnte Flotte und einige Einheiten der Siebten Flotte, auf dem Raumhafen von Erron gelandet waren. Auf dem Weg zur Strategischen Kommandozentrale bemerkte er sofort, dass sich die Stimmung spürbar verändert hatte, im Vergleich zu den letzten Monaten. So etwas, wie Aufbruchstimmung schien allenthalben in der Luft zu liegen, befand der mittelgroße Vierundsechzigjährige. Den respektvollen Gruß eines Unteroffiziers erwidernd, der ihm im Gang entgegen kam, bemerkte Fournier auch bei diesem Mann das besondere Leuchten in seinen Augen. Auch die gesamte Haltung des Unteroffiziers wirkte straffer.

Natürlich hatte der Flaggoffizier, mit den roten Streifen auf seiner Uniform, die ihn als zum Kommandostab gehörend auszeichneten, zuvor bereits die Meldung über den Sieg der Siebten Flotte erhalten. Im Verbund mit den Einheiten, die von Rumpfmannschaften übernommen worden waren, hatte die halbe Siebte Flotte, unter Generalmajor Montana einen großartigen Sieg eingefahren. Den ersten glatten Sieg, seit dem Überfall der Konföderation Deneb auf das Zentralsystem des ehemaligen Terranischen Imperiums.

Montana hatte ihm dabei ebenfalls gemeldet, man habe insgesamt drei Menschen, verteilt auf einen Schweren Kreuzer und einen Leichten Kreuzer, vorgefunden.

Bei zwei von ihnen sollte es sich, den Aussagen der Beteiligten nach, um Kadetten der Akademie handeln. Ihre Aussagen deckten sich mit dem Auffinden einer Code-Karte, die man zuvor einem Major Corvin von der Farradeen-Allianz anvertraut hatte. Corvin hatte es offensichtlich für nötig erachtet, einem der beiden Kadetten diese Karte anzuvertrauen. Zusammen mit dem Auftrag, dessen Ausführung ihm selbst unmöglich wurde, als er vom Mars hatte fliehen müssen um selbst der Vernichtung zu entgehen.

Einer der beiden Kadetten hatte ausgesagt, Major Corvin persönlich zu kennen und darüber hinaus die Schwester eines terranischen Offiziers zu sein, dessen Raumschiff gegenwärtig im Wega-System weilte. Darum hatte er höchstpersönlich den Befehl gegeben, einen gewissen Hauptmann Kimi Korkonnen ins Hauptquartier zu beordern. Stimmten die Aussagen der jungen Frau, dann würde Hauptmann Korkonnen sie bestätigen.

Gael Fournier wollte nur kurz in der Kommandozentrale hineinschauen und ein bereits angemeldetes Ferngespräch via Hyperfunk-Richtstrahl zu führen, um sich danach zu Besprechungsraum-II zu begeben, wo Korkonnen und die beiden angeblichen Kadetten, Letztere unter Bewachung, auf ihn warteten.

Da Fournier sehr neugierig darauf war, die Hintergründe der erfolgreichen Übernahme von einhundert brandneuen Kriegsschiffen zu erfahren, hielt er sich, nach dem Gespräch nicht lange im Kommandozentrum auf, sondern eilte weiter zum Besprechungsraum.

Die beiden Wachen, die zu dieser Gelegenheit extra dort angetreten waren, salutierten respektvoll. Auch sie schienen Fournier irgendwie verändert zu sein.

Als der Generalleutnant eintrat, erhoben sich die bereits Anwesenden schnell von ihren Sesseln und grüßten stramm. Der Flaggoffizier erwiderte den Gruß lässig und forderte die Männer und Frauen dann auf: „Bitte nehmen Sie wieder Platz.“

Generalleutnant Fournier hatte es zwar als Bitte verpackt, doch keine der anwesenden Personen wäre eingefallen stehen zu bleiben. Jeder wusste, dass es ein Befehl gewesen war. Kurz sah er auf das große Paket auf dem Tisch, dessen Inhalt, von allen Anwesenden, nur ihm persönlich bekannt war. Er hatte es zuvor hierher bringen lassen.

Nachdem der Generalleutnant saß, blickte er nacheinander in die Gesichter der Anwesenden und verharrte schließlich bei einem hochgewachsenen, blonden Hauptmann der Flotte. Ihn mit seinen braunen Augen direkt ansehend, fragte er: „Sie sind Hauptmann Kimi Korkonnen, ist das richtig?“

Kimi Korkonnen, der etwas angespannt war, weil man ihn bisher von Famke ferngehalten hatte, erwiderte laut: „Jawohl, Sir!“

„Gut, dann kennen Sie die anwesende, junge Dame hier am Tisch, in der Uniform der Konföderation Deneb?“

Allein das Leuchten in den blauen Augen des Hauptmanns sagte Fournier bereits genug, bevor der junge Mann erklärte: „Ja, Sir. Diese junge Dame ist meine Schwester, Famke Korkonnen. Ihren Begleiter hingegen kenne ich nicht.“

„Das macht gar nichts“, entgegnete der Sektoren-Kommandant ungerührt. „Über die Identität des Mannes sind wir uns im Klaren. Ein Zufall, wenn man so will. Nun, ich bin froh, dass wir es tatsächlich mit zwei Angehörigen der Terranischen Flotte zu tun haben, die für die Sicherung der Zehnten Flotte verantwortlich zeichnen. Das wird unseren Truppen zusätzlichen Auftrieb geben. Obwohl ich auch zufrieden gewesen wäre, wenn der farradeenische Kommandotrupp zuvor bereits Erfolg gehabt hätte. Wie ich hörte, kennen Sie Major Corvin ebenfalls?“

„Er ist mein bester Freund, Sir.“

„Ich verstehe, Hauptmann.“

Damit wandte sich der Generalleutnant an Joe Montana, um sich den Ablauf der Geschehnisse aus seiner Warte schildern zu lassen. Fast die gesamte Zeit über hörte er aufmerksam zu und fragte nur vereinzelt nach. Dabei stellte er zu seinem stillen Vergnügen fest, wie sich die Miene des jungen Hauptmanns dabei, von Situation zu Situation, veränderte.

Am Ende dankte Fournier seinem Kollegen und sprach ihm seinen Dank aus, mit der Bitte, ihn an die Besatzungen, die am Kampf beteiligt waren, weiterzugeben. Zum Schluss meinte er zu Joe Montana: „Dann will ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“

Montana verstand diesen verbalen Rauswurf, erhob sich schmunzelnd, salutierte vorbildlich und schritt eilig aus dem Raum. Auf ein Zeichen von Gael Fournier schlossen sich die Wachen im Raum dem Generalmajor an.

Fournier wartete, bis er allein mit den Korkonnen-Geschwistern und Darweshi Karume war, bevor er sich zu den beiden Kadetten wandte und sich bei ihnen erkundigte: „Ich nehme an, Sie beide haben sich bereits Gedanken über Ihre Zukunft gemacht, während des Fluges ins Wega-System. Ich gehe davon aus, sie wissen, dass Sie noch immer der Flotte unterstehen, da Sie lediglich im Einsatz vermisst waren. Über Ihre unerlaubte Entfernung von der Truppe will ich großzügig hinweg sehen.“

Der Generalleutnant blickte ernst, bis ihn die Mienen der beiden jungen Leute zum Lachen reizte. „So, und jetzt möchte ich, aber bitte nicht zu ausufernd, von Ihnen beiden erfahren, was Sie auf der Erde erlebt haben, seit sie besetzt wurde.“

Famke Korkonnen und Darweshi Karume berichteten nun abwechselnd, wie es ihnen während des Überfalls auf das Sol-System ergangen war. Bei der Erwähnung der gewaltigen Zerstörungen auf Terra und dem Verrat durch Cole Hauser, versteinerten die Mienen von ihm und Kimi Korkonnen gleichermaßen. So wie sie gleichermaßen Stolz zeigen, als beide von der Resistance berichteten, die sich auf Terra formierte und immer stärker wurde.

Am Ende ihres Berichtes lehnte sich Fournier im Sessel zurück und sah die beiden Kadetten abwechselnd an. Dabei sagte er langsam: „Meine Frage vorhin hatte einen sinnvollen Hintergrund. Ich meine, die Frage nach Ihren Gedanken bezüglich ihrer Zukunft.“

Es war Darweshi Karume, der sagte: „Sir, wir beide hätten, nach weiteren sechs Monaten, unser Offizierspatent erhalten. Wenn es erlaubt ist, so würde ich darum bitten, uns zu Beginn des nächsten Jahres, an der hiesigen Sektion der Akademie, wieder einzusteigen zu lassen, damit wir dann im Sommer endlich unseren Abschluss machen können.“

Der Generalleutnant gab vor zu überlegen. Dann schüttelte er den Kopf und meinte entschieden: „Nein, der Gedanke gefällt mir nicht.“

Erschrecken und Überraschung lag auf den Mienen der drei Anwesenden. Noch bevor Widerspruch, der in den Augen aller Anwesenden lag, erfolgen konnte, ergriff Fournier wieder das Wort und fragte beide Kadetten, ehrlich erstaunt: „Gefällt Ihnen beiden etwa der Gedanke, noch ein halbes Jahr an der Akademie zu verplempern? Sie beide verfügen, nach dem, was ich eben gehört habe, über mehr Kampferfahrung, als der Großteil aller anderen Männer und Frauen bei den Streitkräften. Mich eingeschlossen. Nein, so erfahrene Männer und Frauen, wie Sie zwei es sind, brauche ich sofort. Nicht erst im nächsten Sommer.“

Gael Fournier gab den drei jungen Leuten Gelegenheit, seine Worte zu verarbeiten, bevor er seine Linke auf das Paket legte und weiter ausführte: „Ich habe vor diesem Treffen ein Gespräch mit der Oberkommandierenden der Flotte, auf Outpost, geführt. Sie gab mir freie Hand, für den Fall, dass die Identifizierung und Ihre Berichte zu meiner Zufriedenheit ausfallen würden. Darum darf ich Sie beide beglückwünschen, zu Ihrer Ernennung zu Leutnants der Terranischen Protektorats-Flotte. Hier drinnen befinden sich Ihre neuen Uniformen, Leutnant Karume und Leutnant Korkonnen.“

Die Reaktionen der beiden frischgebackenen Offiziere, die sich wiederholt abwechselnd bedankten, ließen ihn schmunzeln. Dann erhob er sich und die drei Anwesenden schnellten von ihren Sesseln. Zu Kimi Korkonnen gewandt sagte er dabei entschuldigend: „Es tut mir leid, die Begrüßung mit ihrer Schwester nun so lange hinausgezögert zu haben, Hauptmann Korkonnen. Ich lasse Sie jetzt allein.“

Bevor sich Fournier zum Gehen wandte sah er nochmal zu Karume und der jungen Frau: „Nebenan gibt es einen kleinen Sanitärraum, in dem Sie sich umkleiden, und ihre neuen Uniformen anziehen, können. Diese verfluchten, blauen Mistdinger, will ich nicht länger an Ihnen beiden sehen, damit das klar ist!“

Damit ging der Sektoren-Kommandant, und endlich umrundete Kimi Korkonnen den gewaltigen Tisch, um seine Schwester in die Arme schließen zu können. Dabei sah er nach einem Moment zu Darweshi Karume, der sich über das Wiedersehen der Geschwister fast ebenso sehr zu freuen schien. Eine Hand auf Karumes Schulter legend, sagte der ebenso hochgewachsene Finne ergriffen: „Ich habe zu danken, Leutnant Karume. Sie waren meiner Schwester ein guter Freund und Kamerad, wie es scheint. Das werde ich Ihnen nicht vergessen. Darauf haben Sie mein Wort.“

„Keine Ursache, Hauptmann“, wehrte Karume verlegen ab. „Aber Sie sehen das nicht ganz richtig, denn es war Ihre Schwester, die mich gerettet hat.“

Damit hob der Tansanier die größere der beiden Schachteln, die seinen Namen trug, aus dem Paket. Mit dieser Schachtel verschwand er nach Nebenan um sich umzuziehen, während sich die Geschwister überglücklich im Arm hielten.

Erst als Darweshi wieder bei ihnen erschien, ließ Kimi seine Schwester widerstrebend los. Dabei sah Famke ihn ernst an und sagte bestimmt: „Auf deinen Rang was gepfiffen, Kimi. Darweshi ist mein Freund, und ich will nicht, dass ihr beiden euch siezt, klar?“

Damit hob sie ihr Paket vom Tisch um sich ebenfalls nebenan umzuziehen.

Im Besprechungsraum sahen sich Darweshi und Kimi an und grinsend seufzte Kimi: „Damit ist es entschieden, denn Famke etwas abschlagen zu wollen hat gar keinen Sinn. Dann also, für dich, Kimi.“

„Und für dich Darweshi. Ach könntest du mir mal mit diesen Rangabzeichen helfen. Ich bin irgendwie zu ungeschickt dafür.“

„Gerne“, lachte der Finne vergnügt. „Wie ich sehe, gehörst du nicht zum Fliegenden Personal, sondern zu den Raumlandetruppen. Dem Einheits-Abzeichen auf deiner Brust nach zur Zweihundertundzweiundneunzigsten. Hm, sagt mir nicht viel, muss ich zugeben.“

„Mir seltsamerweise auch nicht, und ich dachte immer ich hätte an der Akademie gut aufgepasst. Wirklich seltsam.“

Es dauerte eine geraume Weile, bis Famke wieder bei ihnen war. Dass sie ihre Rang-Abzeichen, korrekt am Kragen angebracht, trug, reizte Kimi zum Grinsen. Bis er auf das Abzeichen der Einheit auf ihrer Uniform blickte und meinte: „Hey, ihr zwei werdet in derselben Einheit dienen.“

Erst jetzt fiel auch der Blick der Frau auf das Abzeichen ihres Kameraden. „He, das ist ja toll!“ Im nächsten Moment nahm sie den Tansanier überglücklich in die Arme. Erst nach einem Moment rief sie sich in Erinnerung, dass auch Kimi anwesend war und ließ Karume schnell wieder los.

„Aha“, machte Kimi und sah grinsend in zwei gleichermaßen verlegene Mienen. „Wir drei müssen uns mal dringend unterhalten, wie mir scheint.“

Famke sah ihren Bruder unwillig an, bevor sie meinte. Ich bin nur mal gespannt, wo wir am Ende landen, denn die Einheit, in die sie uns gesteckt haben, sagt mir gar nichts.“

„Lasst uns gehen“, schlug Kimi Korkonnen vor. „Ich kenne da ein kleines Park-Café, wo wir ungestört sein sollten. Lange wird man uns ohnehin nicht in Ruhe lassen.“
 

* * *
 

Kimi Korkonnen sollte recht behalten. Nach zwei Stunden, die sie zu dritt im Café verbrachten und einem Abstecher ins Krankenhaus, kam für Kimi der Anruf über sein MFA. Seine Kommandantin beorderte ihn zurück, an Bord der VESTERGAARD.

Rasch und mit bedauernder Miene verabschiedete sich Kimi von seiner Schwester, die erschrocken am Krankenbett des immer noch im Koma liegenden Dean Corvin gestanden hatte und dabei ihre Tränen nicht hatte zurückhalten können. Darweshi Karume darum bittend, gut auf Famke aufzupassen, brach er schließlich auf.

Zurück an Bord der VESTERGAARD machte er sich auf den Weg zur Zentrale, wohin ihn seine Vorgesetzte über MFA gebeten hatte. Als Korkonnen eintrat waren außer Major Saif ad-Dīn noch Renée Killkennen und Oberleutnant Gajus Lakarius anwesend.

Korkonnen meldete sich vorschriftsmäßig und fragte dann: „Was ist der Grund für den schnellen Rückruf, Major. Machen die von der Konföderation schon wieder Ärger?“

Ernst erwiderte die Kommandantin des leichten Kreuzers: „Nein, das ist es nicht, Hauptmann Korkonnen. Ich habe Sie vielmehr hierher gerufen, weil ich vorhin eine Dringlichkeitsanfrage vom Oberkommando bekam. Um es kurz zu machen: Es dreht sich um die Bemannung der Zehnten Flotte. Wir haben nun einhundert neue Kriegsschiffe ohne Besatzung auf dem Raumhafen stehen. Verständlicherweise will man diese neue Flotte nicht gänzlich unerfahrenen Offizieren und Mannschaften an die Hand geben. Sondern man setzt auf einen Mix aus erfahrenen und neuen Leuten. Deshalb hat mich das Oberkommando darum ersucht, unter anderem, zwei etwas erfahrenere Offiziere an die Zehnte Flotte abzutreten. Ich werde dafür zwei neue, noch weitgehend unerfahrene, Offiziere bekommen. Da Leutnant Wolf selbst erst ein halbes Jahr auf der VESTERGAARD dient und das Oberkommando betonte, Offiziere mit nautischen und fliegerischen Fähigkeiten zu suchen, fällt er aus. Übrig bleiben Sie drei. Hauptmann Korkonnen, mir wurde gesagt, falls Sie sich freiwillig melden, dann würde man Ihnen das Kommando über eine Fregatte anvertrauen. Ich will aber betonen, dass ich Sie gerne an Bord halten würde.“

Kimi Korkonnen wechselte einen schnellen Blick mit Renée Killkennen, die ihm unmerklich zu nickte. Die Kommandantin wieder offen ansehend, erwiderte er: „Danke, Major. Ich muss zugeben, dass ich im Moment hin und her gerissen bin. Ich habe wirklich sehr gerne auf der VESTERGAARD gedient. Das angebotene Kommando reizt mich andererseits. Aber nur dann, wenn mich Leutnant Killkennen begleiten darf.“

Die Kommandantin des Leichten Kreuzers, die stets gut darüber informiert war, was an Bord vor sich ging, lächelte schmerzlich. „Ich verstehe, Hauptmann. Sie beide zu verlieren bedeutet einen schmerzlichen Verlust – dienstlich, wie persönlich. Ich werde Ihren Entschluss jedoch akzeptieren.“

Fragend sah Ayasha Saif ad-Dīn zu Renée Killkennen.

Die Irin nickte und sah dann lächelnd zu Korkonnen, bevor sie meinte: „Ich kann mich den Worten von Hauptmann Korkonnen nur anschließen. Ich habe sehr gerne an Bord der VESTERGAARD gedient. Diese Zeit werde ich nicht vergessen.“

Die Araberin lächelte schwach, bevor sie sich an den Dritten im Bunde wandte. „In diesem Fall werde ich Sie zur Beförderung zum Hauptmann vorschlagen, Oberleutnant. Als mein zukünftiger Erster Offizier sollten sie den dazu passenden Rang bekleiden. Und Sie, Leutnant Killkennen werde ich zur Beförderung zum Oberleutnant vorschlagen. Sie werden sicherlich ein sehr guter Erster Offizier auf einer Fregatte werden.“

Gajus Lakarius bedankte sich und sah danach zu seinen beiden Kameraden. „Ich werde Sie beide sehr vermissen. Und Sie Hauptmann vergessen bitte nicht, dass Sie mir noch etwas schulden, wenn ich bitten darf.“

„Ich habe, eben erst, Ihre Beförderung zum Hauptmann klargemacht“, beschwerte sich der Finne humorig und reichte erst der Kommandantin und danach Lakarius die Hand.

Danach war die Reihe an Renée Killkennen sich zu bedanken und zu verabschieden.

Schnell meldete sich die Kommandantin der VESTERGAARD wieder zu Wort und sagte zu Korkonnen und Killkennen gewandt: „Ich fürchte, Sie beide werden sich etwas beeilen müssen. Da Sie angenommen haben, werden Sie beide bereits um 12:00 Uhr Standardzeit an Bord der Fregatte CARDIFF erwartet. Mein Segen und meine besten Wünsche werden Sie beide begleiten.“

Wenig später schritten Korkonnen und seine Freundin durch die Gänge des Leichten Kreuzers und lächelten sich dabei an. Beide freuten sich auf ihre neuen Aufgaben.

Ein neuer Anfang


 

20.
 

Ein neuer Anfang
 

In der folgenden Woche erlebte die HARRISON-CROENEN-BASIS eine bisher kaum dagewesene Geschäftigkeit. Beschädigte Einheiten der Flotten, die das Desaster über dem Mars überstanden hatten, wurden verlegt, die Siebte Flotte machte sich bereit, den Flug nach Outpost anzutreten und die Zehnte Flotte wurde mit Hochdruck einsatzbereit gemacht. Letzteres Äußerte sich darin, dass permanent Ausrüstung und Nachschubgüter an Bord der einhundert neuen Kriegsschiffe gebracht wurde. Außerdem wimmelten unzählige Besatzungsmitglieder für diese Einheiten zwischen den Raumschiffen herum.

Zu Letzteren, an diesem Abend, gehörten auch Famke Korkonnen und Darweshi Karume. Sie hatten sich auf dem Schlachtkreuzer HAGEN VON TRONEGE eingerichtet und befanden sich nun auf dem Weg zur Fregatte CARDIFF ums sich von Kimi Korkonnen und seiner Freundin zu verabschieden. Famke verstand sich gut mit Renée, worüber nicht nur sie, sondern besonders Kimi sehr erfreut war. Famke gönnte ihrem Bruder sein Glück.

Mittlerweile wussten die beiden Jungoffizier natürlich auch, warum ihnen zuvor die 292. Raumlande-Einheit nichts gesagt hatte, denn dabei handelte es sich um eine ganz neu ins Leben gerufene Einheit, speziell für die Zehnte Flotte.

Da die beiden Raumschiffe der Zehnten Flotte direkt hintereinander auf dem riesigen Landefeld des Raumhafens standen, konnten sie die Strecke bequem zu Fuß zurücklegen.

Vor der, im Vergleich zu dem riesigen Schlachtkreuzer, eher klein wirkenden Fregatte angekommen, blieben die beiden jungen Leutnants stehen und sahen sich um.

Auf dem weiten Landefeld standen Raumschiffe der verschiedensten Größen. Hauptsächlich natürlich jene der Zehnten Flotte, die kurz davor standen in den aktiven Dienst zu treten. Als Kommandeur dieser Flotte war, gestern erst, eine erfahrene Frau, im Rang eines Generalmajors, ernannt worden.

Caitriona Aleen McGowan.

Eine energische, temperamentvolle Frau mit flammend roten Haaren und sphinxhaften, grünen Augen. Man munkelte insgeheim, dass ein einziger Blick dieser Frau ausreichte, um Untergebene zu paralysieren, wenn sie wütend wurde. Raumfahrerlatein, wie Famke Korkonnen vermutete.

Mit einem irgendwie stolzen Gefühl, weil ihr persönlicher Einsatz dies alles hier ermöglicht hatte, schritt sie, neben Darweshi Karume, die Rampe hinauf.

Unangefochten erreichten sie das Kommandozentrum der CARDIFF, wo sie auf Kimi trafen. Erfreut schritt Famke auf ihren Bruder zu, der sie erst im letzten Moment erkannte. Freudig umarmte sich die Geschwister, bevor Darweshi und Kimi sich begrüßten.

„Das ist also dein Raumschiff“, stellte Famke fest und sah sich um. „Mein Bruder als Kommandant einer Fregatte, wer hätte das vor einem Jahr gedacht.“

„Ja, lass uns von etwas anderem reden.“

Das Gesicht des blonden Mannes hatte sich für einen Moment verdüstert und Famke ahnte warum. Er wollte nicht daran erinnert werden, dass eine Verräterin seinen Ruf zerstörte, während seine Zeit an der Sektion-Terra. Seinen und den von Dean.

Zweieinhalb Jahre lang waren die beiden Freunde deshalb auf Titan versauert, statt Dienst auf einem Raumschiff verrichten zu dürfen.

„Wir sind hergekommen um uns von dir zu verabschieden und Glück zu wünschen, bevor dein Schiff den ersten Patrouilleneinsatz fliegt“, vermittelte Darweshi. „Und dann müssen wir auch bald schon wieder zurück zu unserem Schlachtkreuzer.“

Kimi Korkonnen lächelte wieder. „Wie ich hörte, folgt euer Schlachtkreuzer morgen nach. Wie fühlt es sich an, auf dem Flaggschiff der Zehnten Flotte zu dienen?“

„Sehr gut“, lachte Famke, bevor sie wieder ernst wurde und sich erkundigte: „Warst du gestern Abend noch bei Dean?“

„Ja. Sein Zustand ist unverändert. Zum Glück verbleibt die Zehnte Flotte im Wega-System, und löst damit die Siebte Flotte ab. So kann ich ihn wenigstens alle fünf Tage besuchen und sehen, wie es ihm geht.“

Darweshi warf ein: „Ist die NOVA SOLARIS wirklich so stark angeschlagen, dass sie noch drei Monate in der Reparaturwerft verbleiben muss?“

Kimi sah zu dem Tansanier. „Ja der Kreuzer ist ziemlich mitgenommen. Aber außer Dean gab es, durch den Beschuss bei der Schlacht über dem Mars, nur ein paar leicht Verletzte an Bord. Insgesamt hatte die Crew großes Glück.“

„Mir tut seine Freundin Rian leid“, bekannte Famke und schüttelte dann den Kopf. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass Dean sich Andrea aus dem Kopf geschlagen hat. Irgendwie hatte ich schon befürchtet, seine Schwärmerei für sie würde nie aufhören.“

Kimi stimmte zu: „Ich auch, Schwesterherz. Rian tut ihm gut. Ich habe sie gestern an seinem Krankenbett gesehen. Hoffentlich bekommt Dean keinen seelischen Knacks, wenn ihm bewusst wird, dass er seinen linken Arm verloren hat. Mittlerweile haben die Medo-Techniker den künstlichen Arm noch einmal angepasst und endgültig angeschlossen.“

„Dean wird damit zurechtkommen“, munterte Famke ihren Bruder auf. Dann bemerkte sie die auffordernden Blicke von Darweshi und verabschiedete sich herzlich.

Auf dem Weg zurück sah Famke sorgenvoll zu ihrem Begleiter und Karume fragte ahnungsvoll: „Du glaubst also nicht, dass es so einfach werden wird, mit Dean?“

Famke machte eine wiegende Geste mit der Hand. „Ich bin mir da nicht sicher. Ich kenne Dean von klein auf. Manchmal kann er ziemlich sprunghaft und auch etwas launisch sein. Ich hoffe darauf, dass Rian einen guten Einfluss auf ihn hat. Als ich sie vor einige Tagen kurz im Krankenhaus sah, da machte sie einen sehr guten Eindruck auf mich.

„Stimmt es übrigens, dass er Rian zuvor aus einem Gefängnistrakt, unter dem zerstörten Strategischen Hauptquartier der Flotte, auf dem Mars, herausgehauen hat?“

Famke verzog etwas das Gesicht. „Nach dem, was mir Kimi erzählt hat, ja. Dabei gehörte das gar nicht zu seinem damaligen Auftrag. Hätten wir zwei uns das geleistet, dann hätte man uns die Rangabzeichen vom Kragen gerissen. Aber er kriegt eine Belobigung von der Alten Dame höchst selbst. Ist das zu fassen?“

„Vielleicht mag General Mbena ihn ja gut leiden“, grinste Karume.

Famkes Kopf ruckte zu ihm herum, bei diesen Worten: „Lach nicht so laut. Vielleicht ist das nämlich die Wahrheit. Zumindest deutete Kimi vorgestern so etwas an, als er von der ersten Begegnung zwischen Dean und ihm mit Mbena erzählt hat. Wenn Dean wirklich will dann hat er schon einen Schlag bei den Mädchen.“

„Das mit dem Mädchen lässt du General Mbena aber besser nicht hören.“

Sie fuhren mit einem der Lifts zum unteren Deck der Fregatte hinunter, erwiderten beim Verlassen der Kabine den Gruß mehrere Mitglieder der Mannschaft und schritten dann die Rampe der hinteren Steuerbordschleuse hinab.

Bei der HAGEN VON TRONEGE angekommen trafen sie mit einer schlanken Frau zusammen, die im Begriff war, an Bord des Schlachtkreuzers zu gehen. Erst auf den zweiten Blick erkannten die beiden Leutnants an den Rangabzeichen, dass es sich um einen Generalmajor handelte, und bei der auffällig roten Farbe ihrer Haare war ihnen beiden sofort klar, wen sie hier vor sich hatten.

Sie grüßten vorbildlich und die Vorgesetzte erwiderte ihn, bevor sie die beiden Offiziere mit ihren großen, grünen Augen fixierte und sich erkundigte: „Gehören Sie beide zur Crew des Flaggschiffs?“

„Ja, General“, bestätigte Famke Korkonnen.

„Sehr gut. Dann hinein ins Schiff mit Ihnen beiden. Helfen Sie beim Entladen der Ausrüstung, damit sind am Ende alle schneller fertig. Ich werde auch die übrigen Mitglieder der Besatzung aufscheuchen und Ihnen Unterstützung schicken. Mein Interesse ist es nämlich, das Flaggschiff, so schnell wie möglich, bereit zu wissen, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein.“

„Natürlich, Sir!“

„Na dann: Hopp. Die Arbeit macht sich nicht von allein.“

Damit wandte sich die energische Mittfünfzigerin ab und verschwand im nächsten Moment bereits über ihnen in der Schleusenkammer.

Famke und Darweshi beeilten sich, ihrer Vorgesetzten zu folgen. Dabei dachte Famke etwas ernüchtert: Von wegen, Raumfahrerlatein.
 

* * *
 

Generalmajor McGowan hatte nicht zu viel versprochen. In der Tat war eine halbe Stunde später die gesamte Mannschaft im Flaggschiff auf den Beinen. Angefangen vom Oberst, bis zum letzten Gefreiten. Selbst McGowan packte mit an, lud ab, räumte ein oder reichte Ausrüstung an andere Mitglieder der Besatzung weiter.

Famke, die sich zwischenzeitlich immer wieder umsah, bemerkte die anerkennenden Blicke der Besatzung in Richtung des Generals und sie musste zugeben, dass dies nicht die schlechteste Methode war, die Besatzung des Flaggschiffs gleichermaßen anzuspornen und für sich einzunehmen. Selbst Darweshi meinte zwischenzeitlich: „Die Dame bringt Schwung in die Truppe. Das hier wird sich ziemlich schnell herumsprechen.“

Famke stimmte stumm zu. Dabei gewann sie nicht den Eindruck, dass Caitriona McGowan nur aus Berechnung mit anpackte. Viel mehr schien es ihr um die unbedingte Kameradschaft zu gehen und zwar von ganz oben, bis ganz unten. Das nötigte Respekt ab.

Als Caitriona McGowan das letzte Ausrüstungsstück aus den Händen legte, da sah sie sich zufrieden um und meinte: „Hervorragend, meine Damen und Herren. Sie sehen, was mit vereinten Kräften möglich ist. Ich hoffe, das wird auch im normalen Flugbetrieb und im Kampf so reibungslos funktionieren. Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen Abend.“

Damit reckte sie sich ungeniert und marschierte dann zum Schott des Lagerraums hinaus, wobei ihr nicht wenige Leute hinterher blickten.

Darweshi wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und sah zu Famke. „Sag, was du willst, aber ich mag unsere Kommandeurin.“

„Ich auch“, gab Famke zu und grinste breit. „Diese Frau hat einen etwas rustikalen Führungsstil, doch er funktioniert, wie mir scheint. Sieh dich mal um. Nur zufriedene Gesichter, trotz der Schufterei.“

„Und was hältst du von unserem direkten Vorgesetzten?“

Famke überlegte kurz und meinte dann: „Etwas wortkarg, unser Hauptmann Coentz aber ansonsten in Ordnung, würde ich sagen. Genaueres wird man erst nach den ersten Einsätzen mit ihm sagen können.“

Gemeinsam verließen sie den Lagerraum und begaben sich in Richtung eines Lifts, um zu ihren Quartieren hinauf zu fahren. Dabei fragte Famke: „Kommst du noch auf einen Sprung mit zu mir?“

Der Tansanier stimmte erfreut zu. „Sehr gerne.“

Als sie in Famkes Quartier, auf der Couch, beisammen saßen, lehnte sich die Frau, mit einem Glas Fruchtsaft in ihren Händen, leicht an ihn und sagte gedankenverloren: „Ich wüsste zu gerne, was Moshe, Alexandra und die anderen gerade machen. Ob sie den Geheimdienstoffizier wirklich gefangennehmen konnten? Hoffentlich schaffen sie es, die Verantwortlichen beim Bund von Harrel zu überzeugen, dass die Konföderation ihnen ebenfalls an den Kragen will. Wenn wir den Bund als Alliierte gewinnen könnten, dann würde die Konföderation ziemlich isoliert da stehen. Möglicherweise können wir dann einen Frieden mit ihnen aushandeln, der einen Rückzug aus allen besetzten Gebieten beinhaltet.“

„Denkst du wirklich, der Diktator von Denebarran ließe sich darauf ein? Der ist größenwahnsinnig, sage ich dir. Und ein Fanatiker obendrein. Eine brisante Mischung.“

Für eine Weile blieb es still zwischen ihnen, bevor Famke den Faden wieder aufnahm und vermutete: „Die Übrigen werden bestimmt enttäuscht sein, dass wir jetzt wieder der Flotte angehören, und nicht mehr dem Sperber-Team. Dabei muss ich mich erst einmal an diese neuen, dunkelgrauen Uniformen gewöhnen. Die hellgrauen gefielen mir besser.“

„Wenn das Team Erfolg hat, dann werden Moshe und alle anderen des Teams ohnehin vermutlich hierher kommen. Und spätestens dann gehören er und Alexandra ebenfalls wieder zur Flotte. Was aus den Übrigen wird, bleibt abzuwarten. Ich hoffe nur, dass man Yunai in diesem Fall keine allzu großen Schwierigkeiten machen wird und berücksichtigt, was sie innerhalb des Sperber-Teams geleistet hat. Ohne sie wären wir nicht hier.“

Famke trank ihr Glas aus, stellte es auf einen kleinen Tisch, neben der Couch, und lehnte sich dann stärker an Darweshi. Dabei meinte sie ironisch: „Dein Schnarchen hat mir irgendwie gefehlt, in den letzten Tagen. Es ist fast zum lachen.“

„Du hast mir auch gefehlt“, gab Darweshi offen zu und sah Famke tief in die Augen. Dabei spürte er, wie sie ihre Hand auf seine Brust legte und dass sie sich nochmal etwas enger an ihn schmiegte.

Seinen Blick erwidernd antwortete Famke ruhig: „Ich möchte nichts überstürzen, Darweshi. Wir müssen beide erst einmal wieder ganz zur Ruhe kommen und verarbeiten, was wir, seit Anfang des Jahres, erlebt haben. Warten wir einfach ab, was passiert, in Ordnung.“

Der Tansanier sah die Finnin lächelnd an und nickte schwach, wobei er seinen Arm um sie legte. Absolut in Ordnung, Famke. Ich halte das auch für das Beste.“

Zufrieden mit dieser Antwort legte Famke ihren Kopf auf seine Schulter und meinte nach einer ganzen Weile: „Ein perfekter Moment für einen neuen Anfang.“ Dann schloss sie ihre Augenlider und genoss einfach die Nähe des Mannes an ihrer Seite.
 

ENDE
 



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