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Rang X

von

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IV

„Das is' normal, das wisst ihr doch …“

„Wer erklärt's ihm?“

„Der, der so blöd fragt, Dotani! Du wollt'st diesen Job, jetzt machste ihn auch!“

„Die ander'n war'n auch nich' besser dran …“

„Er wacht auf, seid leis'!“

Tsuyu hörte Stimmen, aber sie klangen, als kämen sie aus weiter Ferne. Er selbst befand sich in wohliger Dunkelheit, in die er sich sofort wieder zu flüchten versuchte, als er spürte, dass sein Bewusstsein an die Oberfläche zu dringen drohte. Irgendetwas Furchtbares war geschehen und Tsuyu spürte, dass er sich nicht erinnern wollte. Auf keinen Fall.

„Wach auf, Tsu-chan, mach schon!“

Jemand sprach sehr laut in Tsuyus Ohr und schüttelte ihn heftig. Stöhnend öffnete der junge Inkling seine Augen und sah in zwei blutrote, die ihn besorgt musterten.

„Sag an, X-Kämpfer, wie geht’s dir?“, wollte der Sprecher wissen, dessen Namen Tsuyu auf der Zunge lag, er aber vor lauter Schläfrigkeit vergessen hatte und ihm auch nicht so recht einfallen wollte.

Wie es ihm ging? Was war denn überhaupt passiert …? Während Tsuyu sich aufrichtete und an den Kopf langte, schwappten grässliche Erinnerungen in ihm hoch wie Wellen an eine felsige Küste. Heftig, sintflutartig und unerbittlich. Er sah eine Arena aus modrigem Gestein, er roch verrottetes Wasser, er sah ein Monster, dass ihn in jeden Traum verfolgen wird und er hörte Schreie, die ihn auf ewig in den Ohren klingen werden.

Der rote Fisch.

„Nein! Nein, nicht mich! Lasst mich! Ich muss hier raus!“, schrie Tsuyu panisch los und schlug blind um sich.

Seine Hände trafen eine Brust, er hörte jemanden vor Schmerz ächzen, Stimmen, die leise murmelten und Schuhe, die über Boden schleiften.

„Beruhig dich, Tsuyu! Es is' alles gut!“

„Lasst mich raus, lasst mich raus hier!“, schrie Tsuyu aus Leibeskräften und versuchte verzweifelt auf die Beine zu kommen.

„Aber du bist doch schon raus!“

Zwei kräftige Hände packten den Inkling und drückten ihn auf einen weichen Untergrund, dann folgte ein schwerer Körper, der Tsuyus schnaubend wieder runter drückte. Tsuyu öffnete seine Augen ganz und blickte sich panisch um. Seine Sicht war verschwommen, er sah die roten, vertrauten Augen, aber auch andere Gesichter, die ihm völlig unbekannt waren. Er merkte, dass er auf einer Couch lag und in einem Raum, der ihm nichts sagte.

„Das is' dein Job, Dotani. Wir geh'n jetz'.“

„Ja, ja, haut schon ab, ich komm klar!“, knurrte der Jemand über Tsuyu.

Der junge Inkling hörte auf sich zu wehre und sah sich ängstlich um. Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust und sein Atem ging rasselnd. Er lag in einem spartanisch eingerichteten, kleinen Raum, dessen Wände orange gestrichen waren. An der Decke hing eine nackte Glühbirne, die gemächlich hin und her schwang und finstere Schatten in die Ecken des Raumes zeichnete. Außer einer Couch sah Tsuyu noch einen niedrigen Tisch auf dem sich wahllos Tassen und Gläser tummelten, sowie eine Teekanne und eine Karaffe mit Wasser. Und da war dieser Geruch, der Tsuyu so schrecklich vertraut war; der Geruch von Salmoniden-Eiern, von Reis, von benutztem Geschirr und heruntergebrannten Kerzen.

„Biste wieder bei dir, ja?“

Tsuyu sah seinem Gegenüber noch einmal ins Gesicht.

Dotani.

Das war sein Name, Tsuyu erinnerte sich. Nachdem er sich nicht mehr wehrte, ließ der Salmon Runner langsam von ihm ab und setzte sich neben Tsuyu auf die Couch. Dotani sah müde und abgespannt aus, seine Arbeitskleidung hatte er gegen ein zerschlissenes, orangefarbenes Hemd eingetauscht – nur die Gummistiefel trug er noch an den Füßen.

„Wieso ist das geschehen?“, fragte Tsuyu tonlos und wich vor Dotani zurück, so als könnte der ihn jederzeit wieder mit in die Hölle hinunternehmen, die Tsuyu niemals wiedersehen wollte.

Dotani strich sich mit seinen Händen übers Gesicht und seufzte laut und tief. „Wenn wir's nich' machen, weißte, was dann passiert, Tsu-chan?“

Als der Salmon Runner die Hände sinken ließ, schüttelte Tsuyu nur langsam den Kopf, denn er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt wissen wollte.

„Haste denn nich' zugehört? Rauch steigt aus sieben Ringen, der rote Fisch entsteigt der See, um zu verschlingen, alles Leben an Land. Was meinste, was das heißt?“, sagte Dotani und sah Tsuyu abwartend an.

Der junge Inkling schob sich langsam in eine etwas bequemere Position. Die Couch unter ihm ächzte widerwillig, vermutlich war sie älter als Tsuyu und Dotani zusammen, so durchgesessen wie sie war.

Tsuyu räusperte sich und seine Stimme klang schwach durch den Raum. „Es bedeutet das metaphorische Ende für die Inklinge. In der Schule sagen sie, dass …“

Dotani schnalzte ungeduldig mit seiner Zunge. „Nachdem was de gesehen hast, glaubste da noch das, was se dir in der Schule erzählt ham?!“

Tsuyu schwieg, während Dotani ihn frustriert ansah.

„Es bedeutet genau das, was es bedeuten soll! Der rote Fisch kommt un' verschlingt uns alle! Un' es gibt nur eine Möglichkeit, das zu verhindern!“

Vor Tsuyus geistigem Auge spielte sich noch einmal diese traumatische Szene ab, als der rote Fisch der Octoling das Bein entrissen hatte, und das andere – und dann alles. Tsuyu wurde furchtbar schlecht, mit Schmerz verzogenem Gesicht legte er sich auf die Seite.

„Mir machen das für euch, mir machen das für dich! Un' jetzt biste n Teil davon un' du kannst das auch nich' mehr ändern! Selbst wenn de deinen Rang verlierst. Das is' nu deine Pflicht. Meine is' es schon so viel länger.

Ich weiß schon, das braucht ne Weile bis es angekomm' is'. Aber ich pass auf dich auf, wenn de reden willst, könn' wir das jeder Zeit mach'n.“

„Weil das dein Job ist?“, fragte Tsuyu mit hartem Gesichtsausdruck, die Hände auf seinen gequälten Magen gepresst.

Dotani blinzelte, dann glitt sein Blick weg von Tsuyu, zu einem gerahmten Foto, das ihm gegenüber an der Wand hing. „Nur, weil's meine Aufgabe is', heißt das nich', dass es mir nichts bedeutet, Tsuyu.“

Der junge Inkling folgte dem Blick des Salmon Runners. Auf dem Foto war Dotani selbst zu sehen, jünger aber, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Seine Hand lag auf der Schulter eines kleinen Inklingmädchens, dessen tiefrote Augen glücklich strahlten.

Tsuyu wusste nicht was er sagen sollte und nachdem Dotani eine ganze Weile schweigend dieses Bild angestarrt hatte, hielt der X-Kämpfer es nicht mehr aus.

„Ich will nach Hause …“, murmelte er gequält und richtete sich langsam wieder auf.

Sein Körper fühlte sich an, als hätte er den ganzen Tag, ununterbrochen, mit einem Dynamo Roller trainiert, eine der schwersten Waffen überhaupt. Seine Arme und Beine waren schwer wie Blei, selbst seine Tentakel hingen kraftlos und blass herunter.

„Ich bring dich Heim.“
 

„Was war das eigentlich für ein Buch, aus dem Akagawa-san vorgelesen hat?“, fragte Tsuyu, als Dotani und er vor seiner Haustür standen.

„Das Necronomicon. Es is' verdammt alt, es heißt, es is' sogar älter als wir Inklinge selbst. Die Predigten von Madai sin' ja ganz nett, aber total unvollständig. Im Necronomicon steht alles drinnen, alles über die Alten“, erklärte Dotani, die Hände wieder in die Hosentaschen gesteckt.

Allmählich kehrte seine sarkastische Art zurück und mit ihr auch sein schiefes Grinsen. Ob es für Tsuyu beruhigend war zu sehen, wie sein neuer „Mentor“ in seine alte Form zurückfand?

„Die Alten?“, fragte Tsuyu verwirrt nach, während er unter dem Blumentopf nach dem Haustürschlüssel suchte.

Dotani schüttelt nur den Kopf. „Brauchste jetzt nich' wissen. Das is' erst mal genug. Ruh dich aus, wir seh'n uns morgen nach deinen ersten X-Kämpfen. Un' denk dran, den Rang zu verlier'n bringt dir nix!“

Dotani tippte sich an seine Mütze, drehte sich um und verschwand in Windeseile aus Tsuyus Blickfeld.

Leise knarrend öffnete sich die Tür und der frisch gebackene X-Kämpfer verschwand in sein Haus.
 

Dotani hatte Tsuyu diesen Abend nach Hause begleitet, als er seine Hand auf Tsuyus Schulter legte und ihm fest in die Augen blickte.

„Morgen, Tsu-chan. Ich wart auf dich am Eingang vom Salmoniden Viertel.“

„Okay …“

Dieser eine Monat war so unglaublich schnell vergangen. Tsuyu hatte seinen Rang halten können, was ihm viel Kraft gekostet hatte, die er aber gern investierte. Er liebte die Kämpfe mehr denn je, er liebte es, sich nur noch auf ein Ziel zu konzentrieren und alles um sich herum vergessen zu können. Das war das beste Gefühl, das Tsuyu seit langem kannte. Fast jeden Abend fiel er zu Tode erschöpft ins Bett und versank in traumlose Nächte und wenn sie nicht traumlos waren, dann jagte er durch dunkle Tunnel, wissend, dass ihm der rote Fisch auf den Fersen war und es kein Entkommen gab. Schreiend wachte Tsuyu aus diesen Albträumen auf, unfähig wieder einzuschlafen.

Wenn Tsuyu nicht mit allen möglichen Waffen, den Einsatz von Sekundärwaffen und Specials trainierte, dann saß er in Dotanis kleiner, schummriger Wohnung und studierte mit ihm die Geschichte der Inklinge, so weit sie sich zurückverfolgen ließ. Es sollte Tsuyu helfen, zu verstehen warum getan wird, was getan werden muss. Tsuyu sprach mit Dotani auch über seine Albträume und Panikattacken, er wollte wissen, wie der Salmon Runner mit dem was da geschah zurechtkam – und für einen grobschlächtigen Inkling, der fast jeden Tag draußen auf der See seinen Hals riskierte, war Dotani erstaunlich einfühlsam. Es half zwar, mit jemanden darüber reden zu können, aber sehr viel erträglich wurde das ganze für Tsuyu dennoch nicht.

Nachdem Dotani an diesem Abend gegangen war, trottete Tsuyu langsam und mit gesenktem Kopf zur Reling. Sein Haus war nicht allzu weit vom Meer entfernt. Tsuyu setzte sich an den Rand, seine Beine baumelten träge über dem todbringenden Wasser. Schon morgen. Und er wusste, dass er das kein zweites Mal ertragen könnte. Tsuyu schob sich zitternd hinter die Absperrung, nur noch ein einziger Schritt trennte ihn vom Unvermeidlichem. Nur ein Schritt, und alles wäre für ihn vorbei. Sein Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust. Tsuyu wollte nicht sterben, aber genauso wenig wollte er zusehen müssen, wie Inklinge und Octolinge von einem unersättlichem Biest in Stücke gerissen wurden. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Was blieb ihm noch?

Sich übers Gesicht reibend saß Tsuyu an der Reling und konnte es nicht. Tsuyu konnte den letzten Schritt einfach nicht machen, er wollte leben – trotz allem. Er hatte für alles doch so hart gekämpft!

Tsuyus Gesicht war noch immer in seinen Händen vergraben, als er spürte, dass sich jemand neben ihm setzte.

„Lass mich nich' allein. Ich brauch dich. Mir brauchen dich.

Lass mich nich' allein. Ich bin bei dir, ich versprech's.

Für immer.“



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