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III

Tsuyu rieb sich noch einmal zitternd die Augen. Octorianer und Octolinge. In großer Zahl tummelten sie sich zwischen Inklingen auf den Rängen und unterhielten sich mit Tsuyus Art, als hätte der Große Revierkampf niemals stattgefunden und als träfen sich altbekannte Nachbarn auf ein Schwätzchen im Café.

„Ich … versteh das nicht, was …?!“, stotterte Tsuyu verzweifelt, gestikulierte zu einem Octoling nicht weit von ihm, der Tsuyu mit unverhohlener Neugier anstarrte.

Tsuyu wusste einfach nicht, wie er das alles hier in Worte fassen sollte. Dotani richtete sich zufrieden von seiner Lachsalve auf, klopfte Tsuyu schmerzhaft auf die Schulter und schickte sich zu einer Erklärung an, während er Tsuyu die Ränge hinunterführte.

„Tsu-chan, mein Freund, hier is' alles n bisschen anders als da oben. Weißt, der Große Revierkampf, große Sache, aber da gibt’s ne viel größere Sache, ne grässlich mächt'ge Sache, derer mir uns annehm' müssen. Es is' hier nich' so, dass wir Inklinge un' die Octolinge furchtbar dicke Freunde sin', es is' viel mehr so, dass mir uns zusammenreißen müssen. Das verstehst'e schon noch.“

Aber Tsuyu verstand überhaupt nichts. Der Große Revierkampf hatte darüber entschieden, dass die Inklinge Anspruch auf das meiste Land haben, als der Wasserpegel dramatisch angestiegen war und Lebensraum leider knapp wurde. Die freundschaftlichen Beziehungen zu den Octolingen waren in furchtbare Kriege ausgeartet, die unabwendbar waren in Anbetracht der damaligen Situation. Nun lebten die Octolinge und Octorianer im Untergrund, in komplexen Höhlensystemen und tauchten eher selten in der Nähe der Inklinge auf.

Was also könnte schrecklicher sein als der Große Revierkampf, der sie hier alle versammeln ließ?

„Liebe Inklinge, liebe Octolinge und Octorianer! Der Tag ist erneut gekommen! Wir haben uns zusammengefunden, um unsere Pflicht zu erfüllen!“

Tsuyu starrte angestrengt nach oben, denn ganz weit oben, auf einer Art Balustrade, standen mehrere junge Inklinge und Octolinge, die hier offenbar das Sagen hatten. Tsuyu nahm auch an, dass die Inklingfrau, die dort oben sprach, zur Grand Jury gehörte.

„Ich, Numa Akagawa, Vorsitzende der Grand Jury, heiße euch willkommen. Ebenso willkommen heißen wir unsere neuen X-Kämpfer, die sich bitte hier versammeln!“

Numa Akagawa wies direkt unter ihre Balustrade. Ihre Augen waren von einem leuchtenden Gelb und zwei lange, violette Tentakel rahmten ihr herzförmiges Gesicht ein, das liebenswert aussah, aber die Blicke, die sie durch diese Arena warf, waren es nicht, und ihr Lächeln hatte etwas Kaltes und Unnahbares an sich.

An vereinzelten Stellen fand Gedränge statt und junge Inklinge, die genauso verdutzt und verwirrt aussahen wie Tsuyu sich fühlte, machten sich auf den Weg. Dotani schubste seinen Schützling murmelnd vorwärts, angespannt setzte Tsuyu sich zitternd in Bewegung.

Ein furchtbarer Ort, fand Tsuyu. Es roch schrecklich nach altem, abgestandenem Wasser, nach Algen, Feuchtigkeit und Moder, nach … Octolingen und Octorianern, jedenfalls fand Tsuyu das. Sie machten ihm am meisten Angst, noch nie war er ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden und ihm fielen die vielen schrecklichen Geschichten ein, die man sich auf dem Pausenhof erzählte oder wenn man darauf wartete, dass ein Kampf endlich los ging. Dass sie einen auffraßen, wenn sie konnten, dass sie einen zum Höhlenbau versklavten, wenn sie einen fingen – solche Geschichten eben.

Am meisten wunderte Tsuyu sich, warum sie sich um dieses große Wasserbecken versammeln mussten. Bestand die Aufnahme etwa darin, sich ins Wasser tauchen lassen zu müssen? Das wäre ja Wahnsinn!

Bei den Neuankömmlingen angekommen, hörte er sie alle aufgeregt tuscheln. Jeder fragte sich, was hier nur vor sich ging, doch leider kannte von ihnen niemand die Antwort. Tsuyu fiel auf, dass jeder neue X-Kämpfer offenbar einen Salmon Runner als Begleiter hatte.

„Ich lese nun vor!“, rief Numa laut von oben, in den Händen eine alte, zerfledderte Ausgabe von den Predigten des Madai.

„Rauch steigt aus sieben Ringen;

Der rote Fisch entsteigt der See,

um zu verschlingen,

alles Leben an Land!“

Numa klappte das Buch zu und zog ein anderes hervor, eines, das noch älter aussah, dessen Titel Tsuyu wegen der Entfernung und seiner ungünstigen Lage nicht lesen konnte.

„Der rote Fisch gehört zu den Alten, wir wissen das. Ein Weltenveränderer, hervorgebracht von Shub-Niggurath, der schwarzen Ziege aus den Wäldern mit den tausend Jungen!

Bringt unseren Tribut!“

Alle Inklinge, Octolinge und Octorianer waren in absolutes Schweigen verfallen und auch jetzt teilte sich die Menge, ohne einen Laut zu machen, um einen Octoling und einen Inkling durchzulassen, die in ihrer Mitte eine Octoling eskortierten, welche ganz anders aussah als alle anderen. Tsuyu reckte aufgeregt den Hals. Die Octoling, die so anders aussah, hatte ganz grüne Haut, ihre Augen waren verbunden worden und ihre Tentakel hatten eine ungesunde, blaugrüne Farbe angenommen. Ihr Gang hatte etwas Mechanisches an sich, so als würde sie gesteuert werden wie eine Marionette.

„Wieso sieht die so anders aus?“, flüsterte ein Inklingmädchen nervös und betrachtete das Spektakel mit sichtbarem Entsetzten.

„Sie is' gereinigt. Das machen mir immer so“, erklärte Dotani entspannt und hatte Tsuyu eine Hand auf die Schulter gelegt.

„Gereinigt? Was heißt das?“, fragte Tsuyu leise nach.

„Dass se nich' mehr bei uns is', geistig mein ich.“

Tsuyu runzelte die Stirn. „Wozu? Ich meine, wie …“

„Wie, weiß ich nich', das wissen nur die Octolinge, die machen das. Wozu, siehste gleich …“

Dotanis amüsiertes Gehabe war einer ernsthaften Stille gewichen und wenn Tsuyu ehrlich mit sich war, machte ihm das mehr Sorgen, als wenn Dotani weiterhin gehässig fröhlich gewesen wäre.

„Ruft den roten Fisch!“, rief Numa so laut sie konnte, dann las sie weiter aus diesem alten Buch vor. „Wir rufen dich, roter Fisch! Unser Blut ist dein Blut, unsere Welt ist deine Welt, großer Weltenveränderer, deine Mutter ist unsere Mutter, Shub-Niggurath! Ihre Macht ist deine Macht, deine Macht möge uns gewogen sein, roter Fisch! Nimm unser Blut und gib uns Zeit auf dieser Welt, Weltenveränderer! Schütze uns vor dem Unheil, das in den Meeren wohnt, nimm unseren Tribut! Im Namen des Unaussprechlichen!“

Die grüne Octoling war zum Beckenrand geführt worden, der Inkling neben ihr trug eine Gasmaske, so dass sein Gesicht kaum zu erkennen war. Er nahm das Handgelenk der Octoling und streckte es über das Wasser aus. In seiner anderen Hand hielt der Inkling ein kurzes Messer.

„He, was wird das?!“, wollte Tsuyu panisch wissen, aber Dotani zischte ihn nur an und drückte seine Schulter.

Der Inkling presste das Messer in die grünliche Handfläche bis Blut daraus hervorkam, das sich zäh und träge über die Hand ausbreitete und langsam in das trübe Becken tropfte. Währenddessen verzog die Octoling keine Mine so als hätte sie keinerlei Schmerzempfinden.

„Rauch steigt aus sieben Ringen;

Der rote Fisch entsteigt der See,

um zu verschlingen,

alles Leben an Land!

Rauch steigt aus sieben Ringen;

Der rote Fisch entsteigt der See …“

Tsuyu drehte sich entsetzt im Kreis, überall um ihn herum zitierten Inklinge, Octolinge und Octorianer Madais Predigt und starrten mit großen, ausdruckslosen Augen auf das Becken, so als erwarteten sie dort etwas zu sehen. Auch Dotani sprach die Worte mit und bedeutete Tsuyu mit einem Nicken, es ihm gleich zu tun. Aber Tsuyu brachte kein Wort aus sich heraus und war damit nicht alleine. Auch die anderen neuen X-Kämpfer drängten sich erschrocken zusammen, ihre Gesichter von Verwirrung und panischer Angst gezeichnet.

Plötzlich bewegte sich etwas in dem trüben Becken. Das spiegelglatte, von Algen umlagerte Wasser wurde von Blasen durchbrochen, die sich an die Oberfläche drängten, so als atme etwas Riesiges tief im Becken lange aus.

Tsuyu kam ein schrecklicher Gedanke.

Er kannte, wie jeder Inkling, die Predigten von Madai und wie die meisten Inklinge glaubte er nicht an sie. Er wusste, dass die Salmon Runner die Predigten furchtbar ernst nehmen und irgendwelche albernen Rituale feiern, damit ihnen irgendwelche Götter gewogen seien. So genau kannte Tsuyu sich damit nicht aus. Aber jetzt, jetzt kam ihm der Verdacht, dass der rote Fisch vielleicht kein Hirngespinst sein könnte.

Immer mehr Blasen drängten sich an die Oberfläche und zerplatzten leise, ein großer Schatten bewegte sich nahe der Oberfläche und die Wellen klatschten laut gegen das steinerne Becken.

Der Inkling mit der Gasmaske und der andere Octoling beeilten sich von dem Beckenrand wegzukommen, während die grüne Octoling regungslos weiterhin die blutende Hand über das Wasser hielt.

„K-kommt dieses Ding … Kommt das wirklich …?“, flüsterte Tsuyu entsetzt und seine Hand krallte sich in Dotanis Arm, der das gar nicht zu bemerken schien.

Viel zu sehr war er damit beschäftigt, die Predigt zu zitieren und auf das Becken zu starren, in dem sich etwas immens Großes bewegte. Als das Etwas die Oberfläche durchbrach, sah Tsuyu riesige, rote Schuppen, eine Kreatur, so groß wie das riesige Becken selbst. Ein entsetzlicher Anblick, bei dem Tsuyu das Gefühl hatte, es raube ihm den Verstand. Hinter ihm schrien die neuen X-Kämpfer in Panik laut auf, einer versuchte sogar zu fliehen, wurde aber von den Salmon Runnern festgehalten und zu Boden gedrückt – dabei sprachen sie weiterhin die Predigt, als passiere etwas Schreckliches, wenn sie es nicht täten.

„Weltenveränderer, roter Fisch! Unser Tribut! Sie ist dein! Gib uns Zeit!“, schrie Numa und versuchte, die unzähligen Stimmen aller anderen zu übertönen, was ihr kaum gelang.

Das grässliche Biest, riesig und rot, wandte sich der bewegungslosen Octoling zu. Tsuyu wollte wegsehen, aber er konnte sich nicht bewegen. Seine Ohren dröhnten von der Predigt und dem hysterischen Geschrei der anderen Inklinge. Er selbst brachte keinen Ton aus sich heraus, seine Fingernägel gruben sich weiterhin in Dotanis Arm, dessen entrückter Gesichtsausdruck fast ebenso abscheulich war wie der rote Fisch selbst, der sich gerade in diesem Moment dem Bein der Octoling bemächtigte.

Ein Reißen wie Tsuyu es noch nie vernommen hatte, hallte durch die Arena und übertönte mühelos die Kakophonie aller Stimmen. Alles Wasser färbte sich tiefrot, so rot wie der Fisch, dessen Kiefer mahlten. Als Tsuyu das zweite Bein reißen hörte, erscholl ein Schrei, der so voller Schmerz und Erkenntnis war, dass er sich keuchend die Hände auf die Ohren presste, um diese Schreie nicht mehr ertragen zu müssen.

Die Octoling schien aus ihrer Regungslosigkeit erwacht zu sein und versuchte nun verzweifelt vom Becken fortzukommen, wo das Grauen auf ihrem Bein herumkaute und wild mit den Flossen schlug. Sie trug noch immer die Augenbinde, ihre Hände krallten sich krampfhaft in das Gestein, aber ohne Beine kam sie nur langsam vorwärts und Unmengen an Blut troffen über das Gestein, das sie zu erklimmen versuchte und bahnte sich seinen Weg in das Becken.

Helft mir! Hilf mir, Gott …! Helft mir! HELFT MIR …!“

Der rote Fisch reckte sich aus dem Wasser und verschlang die schreiende Octoling mit einem gewaltigen Biss.

Tsuyu schaffte es, die Augen endlich abzuwenden und obwohl er sich die Hände auf die Ohren presste so gut er konnte, glaubte er zu hören, wie das Biest sein Opfer zwischen den grässlichen Zähnen zerfleischte und zermalmte. Tsuyu ging langsam in die Knie, Dotanis Hand noch immer auf seiner Schulter. Er wünschte sich, dass die Finsternis ihn verschlucken möge, damit er nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr ertragen müsste. Für immer.



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