Limanu von JaqieLimanu (Erstes Buch) ================================================================================ Kapitel 2: Alltagssorgen ------------------------ Emily raste durch die Bahnhofshalle, ihren Rollkoffer im Schlepptau. Es war niemand mitgekommen, um ihr dabei zu helfen, ihr schweres Gepäck zu tragen. Sie hatte liebend gerne darauf verzichtet, damit sie schneller von zuhause weg kam, doch nun hetzte sie sich ja doch wieder ab, wie immer. Ihr Rucksack behinderte sie im Rennen, baumelte bei jedem Schritt im Rücken herum, und zu allem Übel leierte ihr jetzt auch noch dessen Befestigungsgurt aus. „Durchhalten!“, dachte sie, „Es ist nicht mehr weit!“ Endlich kam sie an der Treppe an, die hinauf zum Gleis führte. Die junge Frau wagte einen Blick nach oben. Mit Schrecken sah sie, dass der Zug bereits da stand. Es blieb ihr keine Zeit für eine Pause, sie musste diesen verdammten Zug einfach bekommen, denn falls nicht, würde sie zu spät kommen, die Eröffnungsfeier des neuen Akademiejahres verpassen und man würde ihr die Standpauke des Jahrhunderts halten, und das wollte Emily Whatts auf keinen Fall. Panisch schnappte sie den Koffer mit beiden Händen, schleppte ihn die Treppe hinauf und hastete stürmisch auf die letzte geöffnete Tür des Zuges zu. Mit letzter Kraft stolperte sie in den Innenraum, ehe auch schon ein geller Pfiff ertönte und sich dann die Tür hinter ihr schloss, geräuschvoll und donnernd. Schwer atmend wandte Emily sich der Tür ab. Es standen zwei Personen im Eingangsbereich, ein hagerer Herr mit Hut und einer runden Brille, der Andere war eher klein und hatte einen Bierbauch. Beide starrten sie entgeistert an, als sie den Koffer in Richtung der Durchgangstür zog. Doch das Starren war ihr egal. Sollten die doch gucken. Sie öffnete die Tür und trat ins Abteil ein. Es war voll, so wie immer zu jener Jahreszeit. Der erste September, der Tag des Aufbruchs und der Arbeitsamkeit. Der Zug voller Schüler, deren Schuljahr am heutigen Tag begann, so wie ihres auch. Jedoch musste sie im Gegensatz zu ihnen diese Strecke nur zwei Mal in der Woche zurücklegen. Die Geräuschkulisse war phänomenal. Laut, voller pöbelnder, greller Stimmen. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht allzu lang. Die Geschäftsleute, die mit im Abteil saßen und sich entweder emsig unterhielten oder den Sport- sowie Finanzteil einer Zeitung lasen, würde der Weg direkt nach London führen. Und auch Emily war auf dem Weg dorthin. Die Reisende fand zu ihrer Verwunderung einen Platz direkt hinter der Eingangstür, am Fenster. Ihre Laune hob sich schlagartig. Ein Fensterplatz war immer gut, da konnte man ganz gut vom Geschehen abschweifen und einen klaren Kopf bekommen. Ihren Koffer hievte sie hinauf auf die Gepäckablage, mit recht wackligen Füßen, was der Bewegung des Zuges zuzuschreiben war. Der Herr, der neben ihr saß, stand auf und half ihr beim Anpacken. „Danke“, sagte sie und setzte sich, als der Koffer sicher und fest verstaut war. Sie nahm ihren Rucksack auf den Schoß und kramte dann eine Vesperdose hervor. In der Dose befand sich ein kleines Obsttörtchen. Emily lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Lawrence hatte sich damit wieder einmal selbst übertroffen. Sie grinste das Törtchen an, voller Vorfreude darauf, dieses Stück Gaumenfreude zu genießen, in Gedenken an den Abschluss ihrer Sommerpause. Ab morgen würde es wieder stressig werden an der Akademie. Doch heute, heute würde sie den Tag einfach nur noch genießen und gemeinsam mit Carrie und Lucy ins neue Lehrjahr starten. „Wohin des Weges?“, fragte der freundliche Herr, der ihr mit dem Koffer geholfen hatte, ehe Emily in das Törtchen hinein beißen konnte. „Nach Greenwich“, sagte Emily daraufhin. „Doch so nah? Ich dachte, Sie würden verreisen“, lachte der Mann und zeigte auf die Ablage über ihnen. „Aufgrund der Größe Ihres Koffers.“ Emily lächelte und sah hinauf zu ihrem Gepäck. „Ach so, nein. Wissen Sie, es ist so, dass meine Schule in Greenwich liegt. Ich gehe auf ein Internat.“ Der Herr nickte. „Ich verstehe.“ Das Gespräch kam ins Laufen. „Und wohin führt Sie der Weg?“, fragte Emily ihn folgend. „Zum Flughafen. Ich hole dort jemanden ab.“ „Das ist interessant“, sagte Emily. „Sehen Sie? Wir sind beide von etwas Anderem ausgegangen.“ „Wohin dachten Sie, würde ich denn fahren?“, wollte der Herr nun wissen. „Also, wenn ich ehrlich bin … Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was ich gedacht habe. Allerdings habe ich ausgeschlossen, dass Ihr Weg Sie zum Flughafen bringen würde.“ Sie lachte. „Auch aufgrund der Größe Ihres Gepäcks.“ Sie sah auf die kleine Aktentasche, die der Mann mit sich trug. „Vielleicht Bank oder Canary Wharf … um etwas Geschäftliches zu erledigen.“ „Da liegen Sie gar nicht so falsch, Miss.“ Er lächelte. „Ich hole einen Geschäftspartner ab.“ Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, ehe der Herr sich entschuldigte und eine Zeitschrift zur Hand nahm. Emily lächelte und zog Handy und Kopfhörer aus der Tasche, um etwas Musik zu hören. Der Stress ließ augenblicklich nach. Obwohl Emily durch die Nähe ihrer Heimatstadt zur Großstadt London sehr an ihr Zuhause gebunden war, genoss sie es doch auch, durch die Akademie etwas mehr Abstand zu ihrer Familie zu bekommen. Das Haus ihrer Familie lag außerhalb der Stadt Watford, im Grünen. Es lebten nicht viele Personen im Anwesen der Familie Whatts - genau gesagt waren dies nur sie, ihr Bruder mitsamt den Eltern, die Großeltern und die beiden Urgroßeltern - dennoch gab es da so manches Problem. Alles im Allem fühlte sich Emily zwar sehr wohl bei ihrer Familie, doch kam sie nicht umher, sich nach etwas mehr Freiheit zu sehnen, wo doch ihr Familienname innerhalb der Gesellschaft der Magier bekannt war und auch im Anwesen ihrer Familie immer wieder hohe Tiere ein und aus gingen. Auch die Tagungen, die oft in ihrem Zuhause stattfanden, waren immer eine sehr zähe, nervenaufreibende Angelegenheit, sogar für die relativ unbeteiligten Familienangehörigen, die nicht an den Sitzungen teilnahmen. Die angespannte Lage war dann immer im ganzen Haus spürbar. Und aus eben diesem Punkt war Emily froh und überaus dankbar darum, dass sie während dieser stressigen Zeit in London war und nur an den Wochenenden nach Watford fahren musste. Das genügte ihr auch vollkommen. Was Emily den Alltag in der Akademie versüßte, waren Carolina und Lucy. Carolina, meistens wurde sie von allen nur Carrie genannt, war die Enkeltochter der Akademieleiterin und Emilys beste Freundin. Carrie lebte in London in nächster Nähe der St. Andrews Academy, doch hatte sich die Academy als Wahlheimat ausgesucht. Sie teilten sich zu dritt im Wohnheim ein Zimmer. Lucy, Emilys Cousine, brachte immer frischen Wind in öde und schnarchige Tage, sie war ein willkommener Gast in Sachen Ablenkung und Freizeitvergnügen, ihrem aufgeweckten und neugierigen Charakter sei Dank. Carolina war in derselben Stufe wie Emily, beide waren sie jetzt im fünften Jahr ihrer magischen Ausbildung. Lucy war ein Jahr unter ihren beiden Mitbewohnerinnen. Ihr Trio war unzertrennlich. Emily freute sich auf die beiden Freigeister. Sie machten den anstrengenden und oftmals doch recht eintönigen Alltag in der Academy erträglicher. Dieses Jahr würden sie ein Zimmer zu viert beziehen, entgegen ihrer Tradition mit drei Bewohnern. Die noch fehlende Bewohnerin würden sie am nächsten Tag vom Flughafen abholen. Emily wusste schon, um wen es sich dabei handelte. Das Mädchen war eine Austauschstudentin aus Japan, die nun folgend ein Jahr in England verbringen würde, um sich die westliche Kultur näher zu bringen. Emily hoffte, dass das Mädchen hier eine schöne, unvergessliche Zeit mit ihnen verbrachte. Sie würden schon dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlte. Da würde es dem Mädchen auch nicht so schwer fallen, in einem fremden Land zu leben. Sie lächelte. Ob die Menschen, mit denen sie gerade im Zug saß, überhaupt ahnten, dass es Magie tatsächlich gab? Gedankenverloren strich die junge Magierin sich eine Strähne schwarzen Haars aus dem Gesicht. Das Törtchen schmeckte vorzüglich. Der Pudding, der auf dem Biskuitboden aufgestrichen worden war, schmeckte schokoladig, nicht nach Vanille, wie es sonst üblich war. „Komm zu Mama“, dachte sie und biss das nächste Stückchen ab. Eigentlich wäre Emily zusammen mit ihrem Bruder Harry in die Stadt gefahren. Doch dieser war bereits seit ein paar Tagen in der Stadt und so nahm Emily den Weg also allein auf sich. Emily konnte mit ihm sprechen wie mit kaum einer anderen Person. Ihr Bruder war tatsächlich ihre erste Bezugsperson innerhalb der Familie. Er verstand genau, was sie stresste, befand er sich doch in derselben Situation wie sie. Von der Mentalität her waren sie beide gleich, wenn sie sich auch interessenhalber vielerorts sehr unterschieden, Emily den Musikgeschmack ihres Bruders nicht ganz teilte. Emily war vielmehr der belesene Typ. Sie flüchtete sich, um dem Trubel rund um ihre Familie zu entgehen, oft in allerlei Romane hinein. Dort störte niemand ihren Gedankengang, sie konnte abschalten und genießen. Der Weg nach Greenwich war gepaart mit mehreren Umstiegen auf verschiedene Linien der Londoner Tube. Emily zog ihren Koffer weiter hinter sich her, immer weiter, als sie in die Tube einstieg. Der Trubel der Großstadt überraschte sie immer wieder. Es gab mindestens ein Ereignis pro Tag, über das dann wie wild geredet wurde. Sie schätzte das geschäftige Treiben der Stadt. Es war so anders als ihr Leben im Anwesen ihrer Familie, wo im Vergleich zur Stadt kaum etwas geboten war. Nicht, dass sie etwas gegen die Ruhe und Beschaulichkeit des Landes hatte, im Gegenteil. Es war ihr am liebsten, ungestört zu sein, die Stille genießen zu können, sich auf ihre Weise den Tag zu vertreiben – sei es durch ein Buch, Spaziergänge rund um Watford oder Erledigungen für die Akademie hinter sich zu bringen. Sie genoss die Ausgeglichenheit all derer, die gut gelaunt lebten und wie sie nicht preisgeben mussten, was ihnen auf der Seele lag, die wie sie schweigen konnten. Auf der anderen Seite war die Metropole London selbst beruhigend. Die Stadt legte zwar jederzeit einen Wandel nach dem anderen hin, nichts blieb gleich, es war laut und geschäftig, doch für Emily hatte dies umso mehr Wert. Die Welt der Menschen war vergänglich, ihr Körper und ihr Geist alterten nicht wie der der Magier. Sie, die Magier hatten massenhaft Zeit, sich an Veränderungen zu gewöhnen. Anders würden sie da auch nicht durchkommen. Die stetigen Veränderungen waren Teil ihres Lebens. Die Menschen lebten zwar auch in dem Glauben, dass ihnen durch zu viel Neues die Zeit davon liefe, jedoch konnten sie nichts von dem aufnehmen, was sich veränderte, sondern gingen stetig weiter, bis sie dann nach achtzig, neunzig Jahren starben und vergingen wie eben jene Veränderungen, denen sie hinterher gejagt waren. Emily schätzte die Menschen dafür, beobachtete gern ihr Treiben. Es bot ihr einen gelungenen Kontrast zu dem, was ihre Familie, was ihr Leben ausmachte. Die Menschen sollten natürlich nicht davon Wind bekommen, dass etwas anders ablief, als ihnen bekannt war und aufgrund dessen waren die Magier seit jeher dazu gezwungen worden, sich etwas einfallen zu lassen, das ihnen ein handfestes Alibi verschaffte. Da selbst die Regierungen der Länder von der Magie keine Kenntnis nahmen, obwohl einigen der Regierungschefs sehr wohl bekannt war, dass es diese Art von Geheimgesellschaften gab, die unter gewöhnlichen Menschen lebte, versteckt und in Sicherheit vor Entdeckung, Ausnutzung und Missfallen, waren die Magier die Meister der Unkenntlichkeit, des illusionären Moments. Es blieb den Magiern, Hexen und Zauberern also nichts Anderes übrig, als sich zu tarnen. Getarnt als Menschen übten sie also bodenständige Berufe aus und legten alle fünfzig Jahre einen Karrierewechsel hin. So kam es auch manchmal dazu, dass ein Magier sich kreuz und quer durch alle Bereiche der Öffentlichkeit rackerte. Emilys Mutter arbeitete als Arzthelferin in einer Praxis ihres Heimatortes, ihr Vater leitete ein Unternehmen in London, das Kunsthandwerk vermarktete. Inoffiziell verkauften sie jedoch auch magische Gegenstände in alle Teile der Welt, selbstverständlich nur an Magier. Das Leben an der Akademie stand dem einer gewöhnlichen Schule in nichts nach. Emily konnte das zwar nicht genau beurteilen, weil sie dank ihrer Historie niemals eine solche besucht hatte, doch konnte sie sich kaum vorstellen, dass sich der Unterricht einer Schule, die von Menschen besucht wurde, stark von dem der Akademie unterschied. Bis auf das Magische an Fächern mussten die Schüler auch den ganz normalen Alltagswahnsinn wie Mathematik oder Geschichte über sich ergehen lassen. Denn damit die Sprösslinge der Magie nicht wie Vollidioten da standen, war es nötig, dass auch das Allgemeine zu erlernen. Was dieses Jahr an Kuriositäten auf dem Stundenplan stand, das würde Emily erst später erfahren, auf der Einführungsveranstaltung der Akademie, die zu Beginn eines jeden neuen Jahres abgehalten wurde. Die Ansage der Tube riss Emily aus den Gedanken. Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz und spannte sich den Rucksack auf. Dann verließ sie mitsamt ihres Gepäcks den Zug. Es ging durch den Bahnhof und über die Straße. Sie lief vorbei am Old Royal Naval College, eine Lokalität am Ufer der Themse, das einst eine Schule für angehende Seefahrer und Geburtsstätte so mancher Könige gewesen war, und dann ging es hinein in den Greenwich Park. Sie durchquerte diesen halbwegs und wurde dabei von so manchem Touristmanchem Touristen schräg beäugt. London war an jeder Ecke eine Touristenstadt, es wimmelte von Reisenden, da sollte es eigentlich auch nicht verwunderlich sein, jemanden mit einem Koffer zu erspähen - sei es auf den ersten Blick auch noch so komisch, jemanden mit einem Rollkoffer im Schlepptau durch den Park trotten zu sehen. Und da war sie. Emily hatte ihr Ziel in Greenwich erreicht und stand nun vor den Toren zum Gelände der Akademie. Es war jedes Mal aufs Neue wieder ein Eindruck, den man nicht so schnell wieder vergaß. Das Gebäude war in neogotischer Bauweise errichtet worden, zumindest der neuere Teil davon. Der Rest davon bestand mehr oder minder aus Backstein aus der Zeit der Könige mit Namen George, mit großen, weißen Fenstern. Die Anlage befand sich zur Hälfte im Park, an einer Seite grenzte sie an eine Straße an. Der Gebäudekomplex war nicht auffällig groß, das Gelände bestand aber aus mehreren Häusern. Im Hauptgebäude selbst war die Akademie, das Herzstück des Ganzen, das Lehrzentrum, untergebracht. Darin befanden sich allerlei Kursräume und Hörsäle, eine Bibliothek, um Wissen aufzuschnappen, eine Cafeteria sowie der daran angrenzende Speisesaal. Zudem gab es auch einen zentralen Sammelpunkt, einen Aufenthaltsbereich mit einem riesigen Infobrett auf der Wand, der sich direkt am Eingang zum Hauptgebäude befand. Und genau auf dieses Gebäude lief Emily geradewegs zu. Sie musste sich im Sekretariat anmelden und dann an der Infotafel nachsehen, welches Zimmer ihr im Wohnheim zugeteilt worden war. Emily öffnete die schwere Tür und durchquerte den Eingangsbereich, in dem einige Tische standen. Zudem gab es mehrere Sitzecken mit einem übergroßen Kissenhaufen davor, von dem man sich jederzeit ein Kissen aus dem Stapel nehmen konnte. Diese gemütliche Atmosphäre war es, die dem ganzen Bereich ein angenehmes Ambiente verlieh. Emily sah sich um und bemerkte einige Mädchen, die es sich in einer der Sitzecken bequem gemacht hatten. Sie sahen Emily entgeistert an, welche mit ihrem Geräuscheihrem Geräusch produzierenden Rollkoffer an ihnen vorbei lief und sie anlächelte. „Hallo“, sagte sie und ging weiter. Die überraschte Reaktion, die die Anwesenden soeben an den Tag gelegt hatten, war Beweis dafür, dass die Whatts gar nicht erst ihren Namen zu nennen brauchte, damit man sie erkannte. Allein ihr Name reichte aus, um die Stille zu vertreiben. Immer wurde daraus ein PrimboriumBrimborium gemacht. Mit der Zeit hatte sie sich ja daran gewöhnt, dass ihr magisches Umfeld beim Ertönen ihres Nachnamens erstaunt reagierte. Wenn sie sich unter Menschen begab, dann war das eine völlig andere Dimension, da wurde sie so behandelt, wie sie am liebsten behandelt werden wollte - normal. Normalsterbliche kannten ihren Namen nicht, und selbst wenn sie diesen doch einmal preisgeben musste, so war dies nichts Verwunderliches, sondern etwas Gewöhnliches. Die Mädchen erwiderten ihren Gruß und wandten dann den Kopf wieder von ihr ab, um sich weiterhin emsig zu unterhalten. Vom Sehen her war Emily gewiss mit den jungen Frauen bekannt, doch konnte sie sich nicht an deren Namen erinnern. Sie glaubte zumindest, dass eine der Mädchen mit Namen Judy genannt wurde. Sie gab sich Mühe, mit jedem in dem Umfang auszukommen, wie es sein musste. Dabei half es ihr ganz besonders, wenn sie sich kollegial gab und so machte sie schon einmal nichts falsch, das man ihr dann vorhalten konnte. Es war besser, sich nichts zu Schulden kommen zu lassen, so lautete ihre Devise. Das Sekretariat war zu dieser Tageszeit gewohnter Weise mit nur einer Person besetzt. Eine Fehlentscheidung, denn heute, an einem der Anreisetage, war schon relativ viel los. Vor Emily standen jetzt schon mindestens fünf weitere Mädchen. Die junge Magierin ließ den Blick über die Menge schweifen und entdeckte zu ihrer Freude ihre Cousine und Mitbewohnerin Lucy in der Schlange. Und wie es aussah, war Lucy gerade eben an der Reihe. Emily sah, wie der elfenhafte Haarschopf der Jüngeren sich bewegte, sie nickte anscheinend der Sekretärin zu. Dann nahm sie einige Papierformulare auf die Hand und kehrte dem Empfangstresen den Rücken zu. Dabei erblickte sie Emily und sofort breitete sich ein Grinsen auf dem Gesicht der Kleineren aus. „Emilyy!“, sang sie fröhlich und hüpfte auf die Schwarzhaarige zu, streckte die Arme nach ihr aus und umschloss diese überschwänglich. „Hallo, Lucy!“, lachte Emily und ließ ihren Koffer los, um die Umarmung zu erwidern. „Na, alles klar?“ „Jaaah, insbesondere jetzt, wo ich dich wieder hab!“, summte sie freudig und grinste ihre Cousine an. „Noch hast du das aber nicht, ich muss erst mal noch hier durch und dann unser Zimmer suchen“, lächelte Emily entschuldigend und ruckte auf, da die Nächste an der Reihe war. „Kein Ding, ich warte auf dich.“ „Das musst du nicht, geh ruhig schon mal vor. Könnte ne Weile dauern hier.“ „Ach was, ich war auch ganz schnell dran.“ Sie wurde etwas leiser im Ton und beugte sich zu Emilys Ohr hin. „Sieh mal, wer am Empfang sitzt.“ Emily tat, wie ihr geheißen und sofort verzog sich ihr Gesicht zu einer genervten Grimasse. Veronica Quaid. Eigentlich war sie Lehrerin für Zukunftsdeutungen und die mit großem Abstand am meisten verhasste Dozentin der Akademie. Was sie jetzt hier im Sekretariat zu suchen hatte, das war die Frage. Ihre dicke, runde Hornbrille und die blonden Haare, die die Frau heute ausnahmsweise einmal zu einem Dutt hoch gesteckt hatte, waren die eine Sache, doch ihr strenger, unbeteiligter und desinteressierter Charakter die andere. Sie war eine Person des mittleren Datums und meistens versuchte sie, ihr wahres Alter zu vertuschen, indem sie sich tonnenweise Make-Up ins Gesicht schmierte. Wenn Mrs Quaid etwas konnte, dann war das, Emily und Lucy als Mitglieder des Whatts-Clans fertig zu machen und zu provozieren, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam. Wieso das so war, das wussten weder Emily noch Lucy genau. Immerhin war sie doch eine Vertrauensperson und Ansprechpartnerin für die Mädchen, zeigte sich allerdings niemals erfreut darüber. Auch das Unterrichten schien ihr kein Vergnügen zu bereiten. Emily reichte es schon, sie zwei Stunden pro Woche ertragen zu müssen – im Unterricht. Kein Wunder also, dass sich die Schlange in Windeseile in Luft auflöste. „Die Nächste“, erklang es monoton und die junge Magierin realisierte, dass sie nun an der Reihe war. Sie drückte Lucy den Griff des Koffers in die Hand und rückte auf. „Name?“, kam es monoton vom Schreibtisch, Veronica Quaid hob nicht einmal den Blick, sondern war weiterhin auf ihren Papierkram fixiert. „Emily Whatts.“ Da regte sich doch tatsächlich etwas und die Sitzende sah Emily direkt und unverwandt an. „Ah, Miss Whatts“, kam es monoton von dem Gruselkabinett. „Wie Sie sehen…“ „Gut, hier sind Ihre Unterlagen.“ Die Ältere kramte in den Stapeln Papier herum, suchte einige Formulare heraus und händigte diese dann der jungen Frau aus. „Danke“, gab Emily von sich. „Ähm…Mrs Quaid…“ Sie sah wieder auf und der Jüngeren direkt in die Augen. „Die Zimmerschlüssel…“ „Hat Miss Connor bereits für Sie alle abgeholt. Wenn Sie nun draußen nach Ihrer Unterkunft sehen würden, die Schlange wird nicht kürzer, wenn Sie hier bleiben.“ Zehn Sekunden waren schon wieder zu viel des Guten für diese Frau. Emily drehte ihr wortlos den Rücken zu und sah Lucy an, verdrehte die Augen. Lucy lachte. Die beiden Mädchen verließen das Sekretariat wieder und liefen auf die Infotafel zu. Die Informationen zur Zimmerverteilung waren sofort ersichtlich, befanden sich neben den offiziellen Ankündigungen und Neuigkeiten der Akademie. Emily ließ den Blick über das Schwarze Brett schweifen und entdeckte das Rücktrittsgesuch ihrer Urgroßmutter Mary Whatts, die bis vor Kurzem ebenfalls an der Akademie gelehrt hatte. „Ah stimmt, diese Neuigkeiten waren ja hier noch gar nicht bekannt.“ „Ist ja immerhin auch erst zwei Monate her, dass Großmutter Mary aufgehört hat“, meinte Lucy, die sich jetzt ebenfalls das Geschriebene durchlas. Wir danken unserer langjährigen Kollegin Mary Whatts, die mit dem kommenden Lehrjahr 2011/2012 ihr geschätztes Amt verlässt, für die überaus angenehme Zusammenarbeit und wünschen ihr für die Zukunft alles erdenklich Gute. - Die Belegschaft der St. Andrews Academy - An anderen Neuigkeiten stand nichts sonderlich Bedeutsames am Brett, die Mädchen gingen also davon aus, dass die wichtigsten Nachrichten am späten Nachmittag angekündigt werden würden, auf der Eröffnungsveranstaltung. Sie besahen sich dann also der Zimmerbelegung und entdeckten ihre Namen sobald in der Mitte, auf Augenhöhe. Westflügel Ebene 2, Zimmer 10 Carolina Connor Yuki Masaoka Emily Whatts Lucy Whatts Sie machten sich auf dem Weg aus dem Hauptgebäude. Das Wohnheim befand sich in einem der beiden nebenstehenden Häuser. Es war nur wenige Meter entfernt und auch gleich zu sehen, wenn man das Hauptgebäude einmal verlassen hatte. Die Tür ließ sich leichter öffnen, bestand diese doch nicht aus Metall, sondern aus buntem Glas, ähnlich einem Kirchenfenster. Lucy nahm den Türknauf in die Hand und zog an der Tür, machte dann eine einladende Geste und winkte Emily durch den Eingang. „Danke dir“, lächelte sie und legte einen Knicks dahin. Lucy tat es ihr gleich und so betraten sie lachend das Haus. Die Treppe zu den weiteren Stockwerken befand sich gleich zur Linken. Sie war aus leicht rosigem Marmor und führte hinauf bis in den dritten Stock, dann gab es noch einen Dachboden, auf dem es einen Aufenthaltsraum samt kleiner Bibliothek gab, wo die Mädchen so manchen Abend ausklingen lassen konnten. Emily und Lucy jedoch waren jetzt auf dem Weg in den zweiten Stock, wo sich ihr Viererzimmer befand. Der Westflügel war gleich rechts, wenn man die Treppe nach oben kam und so bogen die beiden Mädchen in eben jenen Bereich des Gebäudes ein. Das Zimmer mit der Nummer zehn darauf befand sich zur Rechten, in der Mitte des Ganges, der zu beiden Seiten mit einer Ahnengalerie der Lehrer dekoriert und am hinteren Ende mit einem breiten und ebenso hohen, malerischen Glasfenster bestückt war. Carrie hatte ja bereits all ihre Zimmerschlüssel in Beschlag genommen, also brauchten die Mädchen nur anzuklopfen oder gleich einzutreten. Emily stellte sodann ihren Koffer vor der Tür ab und klopfte. Von innen hörte man ein geräuschvolles „Einen Moment, bitte!“ und kurze Zeit später erschien Carries blonder Bob in der Tür. Sofort breitete sich auch auf ihrem Gesicht ein breites Grinsen aus. „Hallihallo und herein spaziert, meine Lieben!“, trällerte Carolina und drückte zuerst ihre beste Freundin und dann Lucy ganz fest. Emily war die Letzte, die das Zimmer betrat und als sie ihren Koffer hinein geschoben hatte, schloss die junge Magierin sofort die Tür hinter sich. Das Zimmer war geräumig. An jeder Seite des Raumes befanden sich zwei Betten, der Tür gegenüber befand sich ein Fenster. Der Mittelgang teilte den Raum in zwei nahezu gleich aussehende Bereiche. Zur Rechten und Linken der Tür und des Fensters standen Kleiderschränke. Dann befand sich noch ein Regal zur gemeinschaftlichen Nutzung darin, das direkt neben der Tür stand. Links der Tür war das Waschbecken. „Ich hab‘ mir die Freiheit genommen, all unsere Betten zu beziehen. Hatte vorhin nichts zu tun“, sagte Carolina. „Oh, danke dir!“, sagte Lucy. „Ich nehme dann das Bett hinten links!“, meinte Emily und ging den Gang entlang, bog dann vor dem Fenster nach links. „Okay, dann nehme ich das neben dir“, sagte Carolina. Lucy ging nach rechts, Emily gegenüber. Sie stellte den Koffer vor ihren Schrank. Emily schnappte sich als erstes die Bettwäsche und bezog das Bett. Danach setzte sie sich darauf. „So, Carrie … Dann erzähl doch mal … wie war es in den USA?“, fragte Lucy neugierig. Man konnte an ihrer Stimmlage erkennen, dass sie sehr gespannt darauf war, was ihre Freundin wohl so erlebt hatte. Emily hatte Carolina erst vor einigen Tagen gesehen und daher die Geschichte schon gehört. Was andere Gesprächsthemen betraf, so würde sich dies sicher gleich ergeben. „Ach, du kennst das ja … Verwandtenbesuche sind doch immer anstrengend. Insbesondere, wenn ich als Bleichgesicht zum Stamm meiner Großmutter komme. Da ist immer so viel Trubel, dass ich gar nicht dazu komme, mich zu entspannen.“ Claire Mason, die Akademieleiterin und augenscheinlich Carries Großmutter, stammte gebürtig aus den Vereinigten Staaten und war Mitglied eines Indianerstammes. Mindestens ein Mal pro Jahr ging es mit der ganzen Familie zurück in die Staaten, meist blieben sie dann den ganzen Sommer über dort. Carrie allerdings war diesen Sommer schon früher zurückgekommen, um mit Emily an einem liegen gebliebenen Studienprojekt zu arbeiten. Dieses hatten die Beiden auch erst die Woche zuvor fertig bekommen. Und nun wartete bald schon wieder neuer Kram auf sie, der erledigt werden musste. Emily seufzte und ließ sich auf das Bett sinken. „Und trotzdem war es echt schön. Die Traditionen sind so wahnsinnig toll anzusehen, das vermisse ich hier immer so.“ Carolinas Lächeln wurde etwas wehmütig. Emily versenkte den Kopf im Kissen. Eigentlich sollte sie jetzt gleich ihren Koffer leer räumen und den Inhalt dessen in den Schrank packen, bevor später die Veranstaltung los ging, doch die Matratze war einfach zu verlockend und bequem. Sie würde wenigstens eine Weile lang so liegen bleiben und dann ganz gemächlich ihre Sachen verräumen. „Irgendwann begleite ich dich und schaue mir das mal selber an. Das muss man mit eigenen Augen gesehen haben!“, gab sie von sich. „Fliegen wäre schon mal toll!“ Emily lächelte ihre Freundin an. „Sehr gerne!“, grinste Carolina. „Ich pack euch dann einfach in meinen Koffer, als blinde Passagiere geht ihr durch.“ Sie lachte. Carrie setzte sich auf ihr Bett. Dann fuhr sie mit einem neuen Thema fort. „Hat es jetzt eigentlich geklappt mit deiner Verabredung?“, fragte sie jetzt Lucy. Sie waren also beim Thema Männer angelangt. Lucy seufzte. „Nein. Wie immer. Ich glaub, dass ich meine Hoffnungen auf ein Treffen mit dem Kerl so langsam endgültig vergraben kann.“ Weiterhin schwieg sie, wollte also nicht weiter darüber sprechen. „Emily, hat sich bei dir wieder was ergeben?“ Emily hörte das Grinsen ihrer Freundin aus deren Äußerung heraus, drehte ihr wieder den Kopf zu und sah Carrie wütend an. „Wenn sich was entwickelt hätte, dann wüsstest du das schon. Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, es hat sich nichts getan. Dieser Vollidiot ist für mich gestorben.“ Carrie sah sie mitleidig an. Emily seufzte und fuhr fort: „Gut, okay … Er hat sich gestern bei mir gemeldet.“ Sie sah zu Boden und wich den Blicken ihrer beider Mitbewohnerinnen aus, die sie nun freudig angrinsten. „Na bitte!“, freute sich Lucy. „Jetzt musst du nur noch einen Schritt auf ihn zu machen und…“ “Nein. Ich möchte nicht mehr mit Timothy sprechen und ihn auch nicht sehen. Er soll mich einfach in Ruhe lassen.” Die Schwarzhaarige blieb hart und stand nun auf. “Timothy weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Wer weiß, was der Grund dafür war“, meinte nun auch Carrie. “Darüber haben wir schon mindestens hundert Mal gesprochen, Carrie. Er hat keine zweite Chance verdient.” Die Whatts drehte sich weg und wandte ihre Aufmerksamkeit erst ihrem Koffer und dann dem Schrank zu. “Wie du meinst”, sagte Carolina weiterhin und zuckte mit den Schultern. „Ist das Thema jetzt vom Tisch? Ich hab‘ keine Lust, weiter darüber zu sprechen.“ Man konnte ganz deutlich hören, wie verletzt Emily noch immer war. Sie gab sich Mühe, dies zu verstecken, aber klappen musste dies deswegen noch lange nicht. Ihre Emotionalität hatte ihr wieder einen Streich gespielt. Seufzend legte sie einen Stapel Socken in eine der sich im Schrank befindenden Schubladen. Dieser Idiot brauchte sich nicht einzubilden, dass Emily jemals wieder zu ihm zurückkehren würde. Timothy war bis vor Kurzem Emilys erste große Liebe gewesen. Er war ein junger Mann aus einer Zaubererfamilie. Nach Emilys Gefühl war eigentlich bis zu jenem Zeitpunkt alles gut mit ihnen gelaufen. Sie waren glücklich gewesen. Dann aber war er unerwartet ins Ausland gefahren, um seinem Vater mit dessen Firma zu helfen. Und als er dann wieder für kurze Zeit nach England zurückgekehrt war, da hatte er sie von sich gestoßen. Einfach so. Hatte gesagt, dass er sie nicht mehr sehen wollte. Dass es vorbei war. Er hatte ihr nicht einmal erklärt, warum. Sie einfach allein gelassen. Timothy hatte sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gemeldet. Sie hatte vergeblich versucht, ihn zu erreichen, doch auch sein Mobiltelefon schien nicht funktioniert zu haben, die Nummer war unerreichbar gewesen. Sie hatte ihm daraufhin etliche Nachrichten an sein Mailpostfach geschickt, ohne dass er auch nur ein einziges Mal darauf geantwortet hätte. Dass er sie gelesen hatte, davon war sie überzeugt. So war das in etwa zwei Monate lang gelaufen. Gegen Ende hatte sie nur noch betont, was für ein Weichei er doch sei, nicht einmal zu sich selbst stehen zu können. Nach dieser Enttäuschung war sie nun endlich wieder so weit, zu sagen, dass sie darüber hinweg war. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, so fand sie, dass er nicht einmal diese Mails hätte bekommen sollen. Verschwendete Lebensenergie. Umso mehr hatte es sie dann verwundert, dass er sich einen Tag zuvor telefonisch bei ihr gemeldet hatte. Aus heiterem Himmel war ein Anruf gekommen. Er hatte sich eine neue Nummer zugelegt, deshalb hatte Emily auch nicht erkannt, dass es Timothy gewesen war, der sie angerufen hatte, und somit überrascht abgehoben. Sie hatte dann auch gleich wieder aufgelegt. Dieser Kerl konnte ihr auch in Zukunft gestohlen bleiben. Über was hatte er denn mit ihr sprechen wollen? Sie hatte keine Lust darauf, sich von ihm einlullen zu lassen, und sie interessierte sich auch nicht für das, was er zu sagen hatte. Sie begrüßten später ihre Zimmernachbarinnen, drei Mädchen, Neulinge, die recht aufgeregt durch die Gegend schnatterten und ihrer Panik freien Lauf ließen. Doch wer konnte ihnen das verübeln? So war es ihnen doch allen schon ergangen. Die große Stadt war ja schon anstrengend genug, hinzu kam auch noch, dass man hier an der Akademie – in den meisten Fällen zumindest - von der Familie getrennt und zu Beginn auf sich allein gestellt war. Die Mädchen kamen hier aus den verschiedensten Orten Britanniens zusammen, viele von ihnen aus so manch entlegenem Winkel. Für sie war das alles eine extreme Umstellung. Emily, Carrie und Lucy unterhielten sich eine Weile mit den jungen Frauen. Alles in allem schienen die Drei sehr nett und umgänglich zu sein. Am späten Nachmittag führten sie die Frischlinge etwas über das Gelände der Akademie und machten sich anschließend auf den Weg zur Eröffnungsveranstaltung. Die Feier fand in einem Saal im Hauptgebäude statt. Der große Raum war bestuhlt worden, der gläserne Kronleuchter an der Decke erstrahlte alles in einem prächtigen Glanz. Die Stühle zeigten in Richtung der Bühne, wo ein langer Tisch aufgestellt war, an dem die Lehrpersonen später Platz fanden. Es gab wie immer, wenn hier eine Veranstaltung statt fand, einen Mittelgang, der die Sitzreihen teilte. Es war zu diesem Zeitpunkt schon relativ viel los, darum teilten die Mädchen sich auf. Emily und Lucy erhaschten noch Plätze in einer der ersten Reihen auf der linken Seite des Saales, Carrie half den Neulingen dabei, sich durch die Menge zu quälen und sie zu platzieren. Sie selbst ließ sich in der Mitte des Saales nieder, auf der rechten Seite. Lange würde es jetzt nicht mehr dauern, bis die Veranstaltung begann. Emily kramte ihr Handy aus der Hosentasche hervor. Da sah sie, dass sie vor kurzem eine Nachricht aus Japan bekommen hatte, von ihrem Freund Minoru. Dieser war der Bruder des Mädchens, das ab morgen mit in ihrem Zimmer wohnen würde. Ein absoluter Wirbelwind, sehr jung und doch erfahren. Er saß mit Emilys Großvater Peter und auch mit der Akademieleiterin Claire Mason im Magierrat. Und bald, schon diese Woche, würden die Sitzungen des Rates im Anwesen der Familie Whatts stattfinden. Sie öffnete den Chat und las die Nachricht gleich durch. „Konnichi wa, Emily! Ich wollte dir noch einige Infos zu unserem morgigen Flug durchgeben.“ Ein paar Sekunden lang dachte sie sich nichts weiter dabei, das Gerät lud gerade ein Bild herunter, das Minoru ihr geschickt hatte. Wahrscheinlich war das ein Notizzettel mit der Flugnummer und der Ankunftszeit des Fliegers, den er wohl abfotografiert hatte. Doch als sie über das von ihm Geschriebene nachdachte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und sie sagte: „Unseren Flug?“ Lucy drehte ihr den Kopf zu. „Hm? Was ist los?“ „Minoru hat gerade geschrieben.“ Und schon schrieb sie dem Japaner eine Antwort. „Unser Flug? Minoru, kommst du etwa auch mit? Die Ratssitzungen beginnen doch erst in ein paar Tagen.“ Sie fühlte sich wieder einmal vor den Kopf gestoßen. Das war typisch Minoru. Verpeilt wie eh und je. Trotzdem konnte sie es dem jungen Mann nicht verübeln. Sofort kam eine Nachricht zurück. „Ja, ich komme auch mit. Ich muss etwas mit Claire und Peter besprechen, eine wichtige Angelegenheit. Darum reise ich schon eher an. Außerdem kann ich mein Schwesterherz bei ihrem ersten Flug doch kaum alleine lassen“. Dahinter setzte er ein Smiley, das die Zunge heraus streckte. Emily lachte. Dann sah sie sich sein Foto mit den Flugdetails genauer an. Sie konnte der Datei entnehmen, dass die Japaner am morgigen Nachmittag landeten. „Okay“, schrieb Emily weiter, „Danke! Dann freu ich mich, dich morgen zu sehen! Wir werden da sein. Guten Flug!“ „Es geht los!“, flüsterte Lucy neben ihr und sofort packte Emily das Mobiltelefon zurück in ihre Hosentasche. Dann sah sie nach vorn auf die Erhöhung. Der Raum hatte sich verdunkelt und das vorherige, aufgeregte Stimmengewirr war einer gespannten, erwartungsvollen Ruhe gewichen. Nach etwa einer Minute betraten dann endlich die Unterrichtenden den Saal, sie kamen durch einen vorne liegenden Seiteneingang. Angeführt wurden sie von Claire Mason, der guten Seele der Akademie, die wie immer sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog. Ihre anmutige Ausstrahlung wurde begleitet von einer unabdingbaren Würde. Ein jeder, der sie ansah, kam gar nicht umher, sie mit dem ersten Blick sofort zu respektieren. Claire war eine Frau des mittleren Alters, sie hatte mittig gescheiteltes, schwarzes Haar, das in zwei seitlichen Strähnen ihr Gesicht entlang fiel und im Nacken zu einem Dutt zusammen gebunden war. Ihre Haut war von rotbrauner Natur, zeugend von ihrer indianischen Abstammung. Sie trug einen langen Umhang, der einem Talar ähnelte, gesäumt von vielerlei aufgedruckter Muster in einer dunkelroten Farbe, der von einer Art Amulett und weiteren Halsketten gesäumt war. Der Lehrstuhl bestieg die Treppe, die zu dem Podest hinauf führte und jeder nahm auf einem freien Stuhl an dem länglichen Tisch Platz. Insgesamt waren es sieben Frauen und fünf Männer. Emily sah eine unbekannte Person unter den Erschienenen. Das musste dann wohl der neue Lehrer sein, der den Platz ihrer Urgroßmutter eingenommen hatte. Claire beriet sich noch kurz mit einem Herrn, der ein Monokel trug und eine wilde, wuschelige Frisur mit Pferdeschwanz hatte. Dies war ihr Ehemann. Sie nickte, als sie mit diesem sprach, ehe sie dann vor das Rednerpult trat und ihren Blätterstapel ordnete, das Mikrofon zu sich drehte und den Blick durch den Saal schweifen ließ. „Guten Tag, Mädchen“, sagte sie mit ihrer erhabenen, gebieterischen Stimme und gab die ersten Worte an alle Anwesenden preis. Die Eröffnungsfeier, das neue Akademiejahr mit all seinen anstehenden Aufgaben konnte nun also beginnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)