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Mon Cherry

Ein OS zu Hanami
von

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Mon Cherry

„Gibt es etwas Herrlicheres?“, seufzte Mimi, warf die Arme in die Luft und streckte sich.

„Ein Eis, eine Klimaanlage und nicht so viele Leute“, meinte Tai trocken.

„Ich finde es angenehm, dass es so warm ist“, meinte Sora und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen.

„Warm?“, schnaubte er. „Es ist Ende April, und es ist so heiß wie Mitte Juli.“

Während Mimi die Augen verdrehte, kicherte Kari neben ihm. „Nimm’s ihm nicht übel, er ist sauer, weil ich ihn aus dem Bett geworfen habe.“

„Ein Bett wäre jetzt auch schön“, fügte Tai seiner Wunschliste einen weiteren Eintrag hinzu, legte sich rücklings ins Gras und schloss die Augen.

„Es ist schon Nachmittag. Hast du gestern einen draufgemacht, weil du so müde bist?“, erkundigt sich Joe und rückte seine Brillengläser zurecht. In Tais Ohren hörte es sich an, als freue er sich schon auf einen Schuss aus seiner Tadelpistole.

„Hab ich nicht“, brummte er. „Mein Bett mag mich eben.“

„Vielleicht machst du trotzdem die Augen auf“, schlug Matt vor. „Die Kirschbäume blühen nur einmal im Jahr, also mach nächste Woche weiter mit deinem Winterschlaf.“

Der Frühling hatte Japan erst kürzlich erreicht, und er war weder in kleinen Schritten noch in großen Sprüngen dahergeeilt. Man könnte eher behaupten, er habe ewig lang Anlauf genommen und dann einen gewaltigen Satz gemacht. Von einem Tag auf den anderen war das Wetter umgeschwungen, die plötzliche Hitze hatte die klirrende Kälte in tausend Splitter zerbrochen, als wäre die Erde beim Drehen um ihre eigene Achse heißgelaufen. Vielleicht erklärte auch das die kollektive Müdigkeit, von der in Japan nicht nur Tai betroffen war.

Und nun, etwas später als üblich, blühten die Kirschbäume in voller Pracht, als fürchteten sie, in den nächsten Tagen könnte die Temperatur wieder unter Null sacken. Sora war sich gar nicht sicher, ob es normal für Kirschbäume war, so kurz nach einer Kälteperiode ihre Blütenkleider anzulegen, aber an einem Tag wie diesem wollte sie nicht darüber nachdenken.

Vor den DigiRittern breitete sich ein prachtvolles Meer aus Sattgrün und Weiß und Rosa in verschiedenen Schattierungen aus. Zwischen den zahllosen  Kirschbäumen wanden sich in der Sonne strahlende Kieswege, die aber verwaist schienen: Es saß sich angenehmer direkt im Gras oder auf Decken, und Menschen bekleckerten das sanft im Wind wogende Grün mit bunten Farbspritzern. Die wenigen, schneeweißen Wolken verliehen dem kobaltblauen Himmel etwas noch Majestätischeres, schwebten da oben über den hellen Blüten wie ihre großen Geschwister.

Die Freunde hatten sich auf einem kleinen Hügel versammelt, von wo aus man einen guten Blick auf den gesamten Park hatte. Sora und Mimi hatten gemeinsam für alle Bentōs gemacht, Matt hatte Dosenbier eingekauft. Nur die älteren der älteren Generation durften mittlerweile legal trinken, und Joe wachte mit Argusaugen über die anderen. Sie saßen auf Yoleis riesiger Picknickdecke; Tai und Davis hatten sich direkt im Gras ausgebreitet.

„Ist es denn gar nicht mehr nass?“, fragte Kari verwundert.

„Kein Stück. Kaum zu glauben, dass es gestern geregnet hat“, erwiderte Davis.

„Ich sag doch, Scheiß-Hitze“, knurrte Tai, der sich den Arm über die Augen gelegt hatte.

Kari zuckte mit den Schultern. Das Wetter war genauso launisch wie ihr Bruder in der letzten Zeit. Wenn sie Pech hatten, hagelte es morgen und das hier wurde das kürzeste Hanami aller Zeiten. Das letzte Mal, dass der Wetterfrosch derart den Verstand verloren hatte, war damals gewesen, als Digimon in ihrer Welt aufgetaucht waren.

„Ich wünschte, unsere Digimon könnten auch hier sein“, seufzte Ken genießerisch und ließ sich von der Sonne über die Wangen streicheln.

Yolei setzte sich abrupt auf. „Wir könnten sie herholen!“

„Yolei, das ist keine gute Idee …“, meinte Sora, aber ihre Freundin fiel ihr ins Wort.

„Wieso nicht?  Es weiß doch sowieso schon jeder, dass es Digimon gibt. Sie fallen doch gar nicht auf.“

„Sora hat recht“, mischte sich Joe ein. „Digimon gehören nun mal in die DigiWelt. Hanami ist ein Fest der Menschenwelt.“

Yolei äffte ihn stumm nach, während er das sagte, und brachte Kari und T.K. damit zum Lachen. Joe bemerkte es gar nicht.

„Außerdem, wer übernimmt die Verantwortung, wenn etwas passiert? Ich halte nicht wieder für euch den Kopf hin. Und auch wenn sie von ihnen wissen, beunruhigt es die Leute sicher, wenn wieder Digimon hier herumlaufen. Es könnte eine Massenpanik geben, hier im Park! Wisst ihr nicht mehr, was letztes Jahr zu Weihnachten passiert ist?“

„Die Leute haben nicht wegen den Digimon Panik geschoben, sondern wegen dem Feuer“, sagte Tai träge.

Joe funkelte ihn an. Das Glühen in seinen Augen wurde sicherlich auch von der Hitzewelle verstärkt, die im Moment schwerfällig wie eine Planierraupe über Tokio rollte. Er schien seine Tadelpistole heute in ein Maschinengewehr umbauen zu wollen. „Und wer hat mit Agumon gewettet, dass es die Kerzen auf dem großen Weihnachtsbaum im Einkaufszentrum anzünden kann?“

„Keine Ahnung. Matt vielleicht?“

„Klar, ich.“ Matt knuffte Tai gegen den Arm und die anderen lachten.

„Das ist nicht witzig“, hob Joe erneut an, wurde aber von Davis unterbrochen, der gähnte.

„Mann, komm mal wieder runter. Wir sagen ja nur, dass es uns leidtut, dass die Digimon das hier nicht sehen können.“

„Es gibt sicher auch Kirschbäume in der DigiWelt“, meinte Cody.

„Laut meinen Forschungen nicht“, sagte Izzy. „Die meisten Früchte in der DigiWelt sind völlig anders beschaffen als unsere. Sie entwickeln sich anders und unter anderen Bedingungen als die in unserer Welt. Manche Bäume tragen sogar Früchte, ohne zu blühen.“

„Also kein Kirschblütenfest für die DigiWelt“, meinte T.K. „Alles klar.“

„Vielleicht brauchen sie auch gar keines“, winkte Cody ab. „Ich meine, was sollen zum Beispiel felsenharte Digimon wie Rockmon mit rosa Blütenblättern anfangen? Digimon sind ja nicht wie Menschen.“

Tai prustete plötzlich. „Stellt euch mal vor, wie Ogremon unter einem Kirschbaum sitzt und …“

„Psst. Hört mal“, zischte Kari plötzlich.

Die anderen verstummten. Sie hatte sich aufrecht hingesetzt und strengte ihre Ohren an. Nein, da war nichts … oder? Nur das leise Seufzen des Windes und das Lachen und die summenden Gespräche der anderen Parkbesucher, durchsetzt von … einem Schrei!

„Was war das?“ T.K. hatte sich ebenfalls aufgesetzt, und auch die anderen wirkten alarmiert.

„Diese Richtung, kommt!“ Kari war mit einem Satz auf den Beinen und rannte den Hügel hinunter. Die anderen folgten ihr, ohne zu zögern – wahrscheinlich ein antrainierter Reflex aus ihrer DigiRitter-Zeit.

Sie sprinteten durch einen Traum aus Rosa und Weiß und an Dutzenden Pärchen und Gruppen vorbei, deren Gesichter nervöser wurden, je näher sie an dem zweiten Hügel lagerten, hinter dem der Lärm laut wurde. Außer den aufgeregten Rufen konnte Kari die Geräusche nicht identifizieren, es klang wie eine Kakofonie aus Reißen, Brechen und Bersten und dann und wann säuselte es, als schwinge etwas scharf durch die Luft. Es wirkte auf jeden Fall alles andere als harmlos.

Tais Kondition zahlte sich aus. Trotz seiner Frühjahrsmüdigkeit erreichte er die andere Hügelkuppe als Erstes, dicht gefolgt von Davis und Ken. Sie starrten fassungslos auf die Szene, die sich ihnen bot.

Einer der Kirschbäume hatte sich verselbstständigt – wenn es denn ein Kirschbaum war, denn er trug keine Blüten. Riesig groß, mit knorrigen Ästen und Wurzeln, die sich wie dicke Würgeschlangen über den Boden rankten, wankte er hin und her. Der Wind musste ihn entwurzelt … Aber das war unmöglich! Diese laue Brise konnte doch niemals einen solchen Kirschgiganten aus dem Boden reißen! Ein anderer Baum stand mit geknickten Ästen da, ebenfalls seiner Blütenpracht beraubt, nackt und traurig und mit tiefen Wunden in der Borke.

Dann erst erkannte Tai, dass der eine Baum nicht einfach wackelte – er bewegte sich tatsächlich von der Stelle. Wie große, hölzerne Nacktschnecken krochen seine Wurzeln über das Gras, vorbei an verwaisten Picknickdecken und umgestoßenen Körben. Der Baum erreichte schließlich einen weiteren Kirschbaum, und dann – rannte ein junges Pärchen schreiend den Hügel herauf, blind vor Angst, und einer von beiden prallte gegen Tai und riss ihn beinahe von den Füßen.

„Hey!“, rief Davis ihnen zu, als sie ohne sich zu entschuldigen weiterrannten, an den anderen DigiRittern vorbei, die den Hügel immer noch nicht ganz erklommen hatten. „Was geht da unten ab? Wartet!“

„Lass sie“, murmelte Tai und massierte die Stelle an seiner Schulter, an der der Junge ihn angerempelt hatte. „Der Baum hat sie erschreckt, was sonst.“

„Was ist los?“ Schwer atmend kamen auch die anderen bei ihnen an. Nur noch Mimi, Izzy und Joe fehlten.

Tai wandte dem Baum wieder seine Aufmerksamkeit zu. „Ich glaub, ich spinne“, stieß er aus, als er erkannte, was da unten passiert war, während er abgelenkt gewesen war.

Der Baum ohne Blüten verprügelte den anderen. Zu dessen Wurzeln häuften sich bereits Blütenblätter wie eine rosa Schneewehe – so als rupfe sie ihm der andere aus. Dazu erklangen seltsame, gedämpfte Stöhnlaute. Äste brachen, Holz knarrte. Der angreifende Baum hatte tatsächlich so etwas wie Arme: ungewöhnlich geformte Äste, mit denen er wie ein Karate-Kämpfer auf den anderen einschlug. Hieb, noch ein Hieb, die Borke splitterte, Holz krachte, noch ein Hieb, ein klaffendes Loch wie eine Schnittwunde, die Finger packten den Ast zu beiden Seiten und brachen ihn brutal auseinander, schleuderten ihn fort wie einen abgenagten Knochen.

Die DigiRitter standen wie versteinert da und starrten auf dieses lebendige Ding, das keine fünfzehn Meter von ihnen entfernt wütete. „Ich …“, begann Yolei und setzte neu an. „Das ist doch ein Digimon, oder?“

„Ein Cherrymon“, bestätigte Matt. „Aber ein verdammt wütendes.“

„Stimmt, jetzt fällt’s mir wieder ein, so eines hab ich auch schon mal gesehen, damals in New York!“, rief Davis.

„Izzy, wir brauchen deinen Laptop!“, rief Tai, als sein Freund eben bei ihm ankam.

„Hä?“ Izzys Wangen, vor Anstrengung gerötet, machten seiner Haarfarbe Konkurrenz. Er stützte sich auf seine Knie und versuchte wieder zu Atem zu kommen. „Der ist … noch drüben … bei unserer Decke …“

„Dann hol ihn!“

Izzy starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren, dann erst schien er Cherrymon zu bemerken. „Hei… Heilige …“

„Ja, genau“, meinte Tai säuerlich. „Ich hole ihn. Passt auf diesen durchgedrehten Baum auf!“

Schon spurtete er los. Den anderen blieb nichts anderes übrig, als Cherrymon zu überwachen. Lange war kein Digimon mehr in der Menschenwelt aufgetaucht, und dieses hier war eindeutig aggressiv. Sie mussten es in die DigiWelt zurückschicken, und ohne Partner sahen sie da schwarz.

Davis erinnerte sich daran, wie das Cherrymon in New York auf einen Weihnachtsbaum eingedroschen hatte. „Diese Digimon sind einfach strohdämlich! Ich meine, warum tun sie sowas? Das Ding hat sicher auch ein Gehirn wie ein Baum.“

„Ein Baum hat kein Gehirn“, erinnerte ihn T.K.

„Sag ich doch.“

„Seltsam“, überlegte Matt. „Das Cherrymon, das ich getroffen habe, schien ziemlich klug zu sein. Und gerissen.“

„Schön und gut, aber könnt ihr euch nicht vielleicht überlegen, was wir tun können? Es zerstört den ganzen schönen Park!“, rief Mimi. In der Tat hatte Cherrymon sein Werk an seinem jüngsten Opfer erledigt. Zu guter Letzt hatte es den Baum mit kräftigen Armen gepackt und es tatsächlich geschafft, ihn halb aus der Erde zu reißen. Die Wurzeln hatten sich gespannt, das Erdreich war zerbröckelt. Der Baum hatte dann doch standgehalten, aber nun stand er schief da, die Baumkrone zerfetzt und zerdrückt und bar jeglichen Blütenschmucks. Schon watschelte Cherrymon mit einem Heulen auf den nächsten zu. Auch von seinen als Schlagapparaten missbrauchten Ast-Händen tropfte zähes Harz.

„Es verletzt sich selbst dabei“, murmelte Kari beklommen.

„Tai, wo bleibst du!“, schrie Davis nach seinem Freund.

„Hallo, was ist denn da los?“, rief ein junger Mann von der Rückseite des Hügels und machte Anstalten, zu ihnen herauf zu joggen. Auch andere Parkbesucher hatten die Unruhe bemerkt und kamen näher oder sahen zumindest in ihre Richtung. Verdammt! Und wie viele aus der anderen Richtung hatten das Digimon wohl schon gesehen?

„Nichts, bleiben Sie unten!“, rief Sora.

„Wir … wir drehen hier nur einen Film!“, fügte Izzy hinzu. Seine Worte wirkten genauso wenig glaubhaft wie sein verlegenes Gehabe.

„Und wenn sie raufkommen und das Digimon sehen?“, zischte Yolei Matt zu.

Der zuckte mit den Schultern. „Wer war denn der Ansicht, dass die Leute sowieso schon wissen, dass es Digimon gibt?“

Tatsächlich wussten nur wenige, wer ihre Welt damals gerettet hatte – dass sich hin und wieder Monster hierher verirrten, war aber schon fast so etwas wie ein offen bestauntes Phänomen geworden, viel glaubhafter als Nessie und Bigfoot. Dann würden eben wieder Monster gegeneinander kämpfen und dann verschwinden, und vielleicht würde man daneben ein paar Menschen mit leuchtenden, mittlerweile völlig überholt aussehenden Handys stehen sehen. Es hatte sie bisher nach keinem Digimonkampf jemand behelligt, weder Polizei noch Presse.

Endlich kam Tai zurück, Izzys Laptop unter die Achsel geklemmt. Er stürmte an den Schaulustigen vorbei, sprintete den Hügel hoch und drückte Izzy das Gerät an die Brust. „So“, keuchte er, nun selbst erledigt. „Den Rest machst du.“

Der Rotschopf klappte den Deckel hoch und tippte mit einer Hand auf der Tastatur herum. Nachdem Cherrymon seinen dritten Kirschbaum zerfetzt hatte – diesen hier hatte es tatsächlich gefällt –, tauchte ein Fenster wie von einer Webcam auf und zeigte Tentomon. „Izzy! Wie schön, dich zu sehen!“, sagte das Digimon.

„Tentomon, wir haben hier ein Problem“, sagte Izzy. „Kannst du versuchen, unsere Partner zusammenzutrommeln und herzuschicken?“

„Das trifft sich gut“, sagte das Insektendigimon. „Wir sitzen gerade alle beieinander und überlegen uns, wie wir die Rockmon auf Server aufheitern können. In ihrem Dorf hat sich nämlich eine regelrechte Depression breitgemacht.“

„Was ist?“, fragte Cody, der Yoleis forschenden Blick auf sich spürte.

„Nichts. Ich fange nur gerade an, an das Schicksal zu glauben.“

„Erzähl mir später davon“, bat Izzy Tentomon kurzatmig. „Könnt ihr sofort kommen? Es ist ein Digimon in unserer Welt aufgetaucht.“

Keine zwei Minuten später hatten sich alle Digimon in der Realen Welt materialisiert. Eine weitere Minute später waren sie alle auf ein höheres Level digitiert – in eine Form, die nicht zu groß und aufsehenerregend war. Die Wiedersehensfreude musste fürs Erste aussetzen.

„Ihr dürft es nicht verletzen“, erinnerte Matt die Digimon, ehe sie den Hang hinunterstürmten.

„Und passt auf den Park auf!“, schrie Mimi ihnen noch hinterher.

Obwohl Cherrymon ein Ultra-Digimon war, hatten Spatzen gegen Kanonen eine reellere Chance. Der Baum merkte sofort, dass sich andere Digimon näherten, und ließ seine Ast-Arme gegen den erstbesten Gegner donnern. Ein dumpfes Geräusch ertönte, als Ankylomon den Hieb mit seinem Panzer abfing. Im nächsten Moment schlang sich zwar eine Wurzel um seine Stummelbeine und riss es fort, aber dafür prallte Paildramon gegen Cherrymons Stamm und ließ es meterweit über das Gras schlittern. Seine Wurzeln bohrten sich haltsuchend in die Erde und rissen tiefe Furchen hinein.

Mit einem wortlosen Heulen ließ Cherrymon einen Hagel aus stahlharten Kirschkernen auf die anderen Digimon niedergehen. Silphymon formte eine glühende Feuerkugel in seinen Händen, Angemon schoss einen Lichtstrahl aus einer Faust und MetallGarurumon spie einen Schwall flüssiges Eis. Die drei Attacken pulverisierten den Kirschkernregen, ohne dass eines der Digimon auch nur einen Kratzer abbekam.

Die folgenden Raketen aus Ikkakumons Horn und die geschmolzenen Feuerbälle aus Birdramons Flügeln waren zu schwach, um Cherrymon ernsthaft zu verletzen, aber die entstehende Rauchwolke versperrte ihm die Sicht. Ihre höheren Digitationen wären auch einfach viel zu groß gewesen.

Nun schlug Lillymons große Stunde. Flink wie ein Kobold huschte es um den gewaltigen Stamm des Digimons herum und zauberte einen Kranz aus weißen Blüten, fesselte die Ast-Arme wirksam an den Stamm. Paildramon bohrte seine an Drahtseilen hängenden Krallen in Cherrymons Wurzeln und immobilisierte es weiter, und von oben stieß Kabuterimon herab und klammerte sich an die zornig schwankende Baumkrone.

Als sich zu guter Letzt noch MetallGarurumon und WarGreymon drohend vor dem Digimon aufbauten, hörten sie es zum ersten Mal verständliche Worte von sich geben. „Hört auf“, bat es und klang am Boden zerstört. „Ich ergebe mich.“ Der Baum sackte in sich zusammen.

Kurz darauf standen die DigiRitter um Cherrymon herum, das, obwohl von seinen Fesseln befreit, keine Anstalten mehr machte, sich zu wehren. „Alles klar, schicken wir es in die DigiWelt zurück“, beschloss Yolei und hob bereits ihr DigiVice. „Izzy, darf ich bitten?“

„Wartet.“ Kari sah in Cherrymons schmale Augen, die gelben Pupillen wirkten unendlich traurig, so als sei all seine blinde Wut verraucht. Aus dutzenden Wunden in seiner Borke quoll Harz; die meisten davon hatte es sich in seinem Wahn selbst zugefügt.

„Was ist denn noch?“, fragte Tai seine Schwester. „Beeilen wir uns, sonst greift es uns am Ende wieder an.“

„Das glaube ich nicht.“ Kari trat näher und legte die Hand auf eine der gewaltigen Wurzeln. „Matt, du hast gesagt, das Cherrymon, das du getroffen hast, war intelligent?“

„Sehr sogar“, bestätigte er.

„Dann gibt es sicher einen Grund für sein Handeln.“ Kari sah dem Digimon fest in die Augen. Es schwieg traurig.

„Es gibt keinen Grund, unser Hanami zu sabotieren“, meinte Mimi schnippisch. „Ich kenne da ein Wort für solche Men… Digimon. Psychos.“

„Ich bin auch neugierig“, schaltete sich Ken ein. „Digimon sollten nicht mehr einfach so zwischen den Welten reisen können. Die Tore sind doch überall stabil. Es muss ein sehr starker Wunsch gewesen sein, der Cherrymon hierher gebracht hat, und ausgerechnet in diesen Park. Ich würde zu gerne erfahren, was dahinter steckt.“

„Bitte sag es uns“, sagte Kari. „Vielleicht können wir dir helfen.“

Unter einem Schnauzbart aus Moos öffnete sich endlich Cherrymons Mund. „Ihr könnt mir nicht helfen. Niemand kann mir helfen. Ich wollte mich nur rächen, darum bin ich hier.“

„Rächen?“ Kari legte den Kopf schief. „An wem?“

„An diesen Bäumen hier.“ Cherrymon wies mit seinen knorrigen, rissigen Händen auf den Park. „Ich beobachte sie immer durch den Fernseher in der DigiWelt, der in meinem Wald liegt, direkt an meinem Lieblingsplatz.“

„Warum willst du dich an ihnen rächen?“, fragte Sora.

Cherrymons Stimme wurde matt und verebbte zu einem Murmeln, dem Flüstern, mit dem Wind durch Blätter strich, kaum zu verstehen. „Seht, wie sie blühen. Jahr für Jahr wieder. Die Kirschbäume der Menschenwelt. Ich bin auch ein Kirschbaum, und ich habe noch nie geblüht.“

Darauf folgte erstmal Stille. Kari hätte es sich denken können, dass ein Baum Sorgen haben könnte, die Menschen nicht verstanden. Wobei – irgendwie verstand sie ihn doch.

„Seht, wie sie blühen“, wiederholte Cherrymon. Es sprach schleppend, gebrochen, als würde es etwas vom Grund eines Sees aus Schmerzen schöpfen. „Jahr für Jahr schmücken sie sich mit weißen und rosa Blüten. Als wollten sie mich verhöhnen! Als wollten sie mir zurufen, es auch zu versuchen. Oh, ich habe es versucht. Immer wieder, hundertundvier Jahre lang, seit ich auf dieses Level digitiert bin. Ich habe mir alle Kirschen aus der Krone gerissen, aber sie wachsen einfach nach. Jedes Jahr wandere ich zu dem Waldsee und betrachte mich in der Hoffnung, endlich zu blühen. Aber mein Wunsch hat sich nie erfüllt.“ Es klang tatsächlich alt. Hundertvier Jahre war es nun schon ein Cherrymon?

Izzy massierte seine Nasenwurzel. „Wie gesagt, in der DigiWelt – und vor allem bei Digimon – gelten andere Gesetze als bei uns.“ Er senkte die Stimme, sodass nur die DigiRitter neben ihm ihn hören konnten. „Ich glaube nicht, dass es jemals blühen wird, aber sollten wir ihm das sagen?“

„Und deswegen hast du die anderen Kirschbäume zerrupft?“, fragte Kari mitfühlend. „Weil du nicht werden konntest wie sie?“

„Oh, ich habe sie gehasst“, murmelte Cherrymon düster. „Ich wollte ihnen ihre Blüten entreißen, damit sie wissen, wie schäbig ich mich fühle. Und damit die Menschen wissen, dass es auch Bäume gibt, die hässlich sind.“

„Die Menschen? Was haben die Menschen damit zu tun?“, fragte T.K.

„Ihr versammelt euch jedes Jahr um diese Bäume, um sie anzusehen. Ihr erfreut euch an ihrer Schönheit und lacht und trinkt und feiert Feste. Ich kann es euch nicht verübeln. Blühende Bäume sind hübsch. Bäume wie ich sind hässlich. Nicht ein Digimon hat mich je bewundernd angesehen, und wenn, dann nur, weil ich so groß geworden bin. Aber es wird nie jemand ein Fest mir zu Ehren feiern, obwohl ich ein Kirschbaum bin wie diese hier.“ Es sah wehmütig in den Himmel, der sich im Westen langsam lila färbte. „Ich habe mir oft überlegt, wie es wäre, wenn ich in der Menschenwelt geboren worden wäre. Wäre ich ein richtiger Kirschbaum geworden, der wenigstens einmal im Jahr blühen und bewundert werden darf?“

Die DigiRitter schwiegen bedrückt. Es klang banal, aber vielleicht nur, weil solche Gefühle im Grunde auch Menschen vertraut waren. „Tut mir leid“, wagte es schließlich Matt zu sagen. „Wir können es nicht erlauben, dass du in unserer Welt randalierst, aus welchem Grund auch immer.“

„Das verstehe ich“, sagte es traurig.

„Wir schicken dich in die DigiWelt zurück.“ Matt zögerte kurz, dann fügte er hinzu: „Vielleicht solltest du aufhören, an Hanami durch den Fernseher in die Menschenwelt zu sehen. Es wird nur deinen Schmerz vergrößern.“

„Und vielleicht digitierst du irgendwann, dann sieht die Welt sowieso wieder anders aus“, versuchte Davis ihm Mut zu machen.

Cherrymon schwieg, doch es war ein hoffnungsloses Schweigen. Dann wandte es sich an Palmon. „Du da. Du hast mich mit diesem Blumenkranz gefesselt. Könntest du meiner Krone nicht noch einmal so einen verpassen? Auf diese Weise könnte ich wenigstens ein paar hübsche Blüten an mir haben.“

Palmon sah zu Mimi. Diese sagte bedrückt: „Wir können es gern versuchen, aber ich glaube nicht, dass das dein Problem auf Dauer lösen würde.“

„Ich verstehe.“ Cherrymon senkte den Blick. „Dann schickt mich zurück. Es tut mir leid, dass ich euch Ärger bereitet habe.“

„Ha!“, machte Yolei plötzlich.

„Was, ha?“, fragte Davis stirnrunzelnd. Seine Freundin machte keine Anstalten, das Tor zur DigiWelt zu öffnen, obwohl sie immer noch ihr DigiVice bereithielt.

„Schicksal!“, erklärte sie und strahlte triumphierend in ratlose Gesichter. „Mir ist gerade etwas eingefallen!“

Sie erzählte den anderen von ihrem Plan. Die meisten standen ihm eher skeptisch gegenüber, aber Cherrymon war Feuer und Flamme und flehte sie an, es versuchen zu dürfen.

„Also schön“, seufzte Tai. „Mach das Tor auf.“

„Und am besten gehen wir gleich mit in die DigiWelt und sehen uns das an.“ Matt blickte sich unbehaglich um. Auf der Hügelkuppe stand ein gutes Dutzend Leute. Wahrscheinlich starrten sie schon seit dem Kampf zu ihnen herunter und wagten es nicht, näher heranzukommen.

„Hoffentlich haben sie unsere Gesichter nicht erkannt“, meinte Cody.

„Tor zur DigiWelt, öffne dich! Auf geht’s, DigiRitter und Digimon!“ Getrieben von Yoleis sprühender Energie reisten sie für einen kurzen Ausflug in die DigiWelt.

 

Das Rockmon-Dorf war ein öder Ort. Die steinernen, schwerfälligen Digimon hockten wie Felsen auf kargem Boden herum, ihre Häuser waren auch kaum mehr als Erdlöcher. Die negative Stimmung erschlug die DigiRitter beinahe.

„Depressionen, hast du gesagt?“, fragte Izzy Tentomon.

„Oh ja. Sie sind alle erst vor kurzem digitiert. Seitdem fühlen sie sich verloren. Sie sind sehr träge und haben sogar ein Herz aus Stein, würde ich behaupten. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen, aber es gefällt ihnen auch nichts. Sie spüren auch kaum was. Als wären sie selbst zu Felsen geworden.“

„Wie ich’s mir gedacht habe“, sagte Yolei und stemmte grinsend die Hände in die Hüften.

Momentan trabten die Rockmon mit lustlosen Gesichtern auf den großen Kirschbaum zu, der mitten in ihrem Dorf erschienen war. „Wen bringt ihr uns da?“, fragte eines von ihnen schleppend.

„Cherrymon, bist du bereit?“, fragte Yolei. „Dann … los!“ Die DigiRitter und ihre Digimon gingen rasch hinter den Rockmon in Deckung.

Cherrymon breitete wie ein Zauberer vor seiner Show die Arme aus. „Kirschkernregen!

Nach allen Richtungen spritzten Kerne wie Hagelkörner, hart wie Stahl. Man hörte klar und deutlich das Knacken, mit dem sie gegen die felsige Haut der Rockmon krachten, was sich für sie wie winzige Mückenstiche anfühlen musste.

Es dauerte nicht lange, da stieß eines plötzlich ein lautes Lachen aus, das klang, als würden Felsen mahlen. Andere stimmten darin ein. Und unendlich schwerfällig begannen sie sich um sich selbst zu drehen. Es dauerte eine Weile, ehe die DigiRitter erkannten, dass sie tanzten.

Als der Kirschkernschauer nach zehn Minuten aufhörte, seufzten die Rockmon tief auf, setzten sich auf blanken Boden und sprachen über das Erlebnis – in einer Geschwindigkeit, die für ihre Verhältnisse wohl höchste Aufregung zum Ausdruck brachte. Eines von ihnen wandte sich an Cherrymon. „Dein Kernregen ist eine Wohltat für unsere harte Haut. Wir spüren keine Steine und kein Wasser, nicht einmal Feuer. Aber deine Attacke fühlt sich an wie … wie …“

„Eine Massage?“, half Yolei aus.

„Es ist wunderbar“, schloss das Rockmon.

„Das war noch nicht alles.“ Yolei stellte sich neben Cherrymon und patschte ihm gegen die Wurzel, als wäre sie seine persönliche Managerin. „Cherrymon wird von nun an öfter in euer Dorf kommen, und ihr dürft jedes Mal seinen Kirschkernregen bewundern.“

Das sorgte für Jubelrufe aus Dutzenden Rockmon-Kehlen. Cherrymon war zu Tränen gerührt – feuchte Perlen schimmerten tatsächlich in seinen Augen. „Ich danke dir“, sagte es zu Yolei und senkte den blättergekrönten Kopf. „Ich habe endlich jemanden gefunden, der mich bewundert.“

„Aber sieh zu, dass du sie nicht verwöhnst“, sagte Sora mit einem Zwinkern. „Wenn Leute jeden Tag ein Fest feiern dürften, wüssten sie es irgendwann nicht mehr zu schätzen.“

„Ich werde es mir merken.“

Sie verabschiedeten sich alle; Cherrymon würde in seinen Wald zurückkehren und am nächsten Festtag, so versprach es, wiederkehren – wann immer der sein mochte. Die DigiRitter und ihre Digimon blieben noch eine Weile zusammen. Es war längst Nacht.

„Ich bin überrascht, dass dein Plan funktioniert hat“, sagte Cody zu Yolei.

„Ich auch“, gab sie freimütig zu.

„Es wird zwar immer noch nicht blühen, aber es hat trotzdem etwas gefunden, das es froh macht“, freute sich Ken. „Vielleicht kann es wirklich kein Kirschblütenfest in der DigiWelt geben. Aber dafür gibt es jetzt ein Kirschkernfest.“

„Ja, ich hab mir irgendwie gedacht, dass Cherrymon vielleicht weniger ein Blütenkleid will, sondern einfach jemanden, der es schätzt, so wie es ist“, sagte Yolei und blieb nachdenklich stehen. „Eigentlich ziemlich menschlich, oder? Obwohl es ein Digimon ist. Und ein Baum.“

„Eigentlich ein ziemlich tiefsinniger Gedankenansatz, oder?“, ahmte T.K. sie grinsend nach.

„Obwohl du Yolei bist“, fügte Davis hinzu und die anderen lachten.

„Hey, was soll das heißen?“, rief sie entrüstet und sorgte für ein noch lauteres Lachen.

„Du, Tai“, sagte Agumon plötzlich.

„Hm?“

„Mir fällt gerade auf, ich habe gar nicht geholfen, Cherrymon zu besiegen. Ich habe keine einzige Attacke landen können.“

Tai sah seinen Partner nachdenklich an, dann grinste er breit. „Mach dir nichts draus. Schließlich hast du schon zu Weihnachten gegen einen Baum kämpfen dürfen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Kirschbluetentiger
2019-01-07T21:35:13+00:00 07.01.2019 22:35
Awww was für eine herzerweichende Fanfiktion. Dein Schreibstil macht wirklich Spaß zu lesen. Du bringst alle Charaktere mit ihren EIgenschaften in die Geschichte ein und der letzte Satz war einfach mega gut. So ein toller Abschluss ;)
Und ich finde es gut, dass du einzelne Charaktere nicht bevorzugt hast.
Vielleicht kann Cherrymon auch mal zu mir für eine Massage kommen ;)
Antwort von:  UrrSharrador
09.01.2019 16:21
Danke für deinen Kommi! Freut mich, wenn dir der OS gefallen hat :)
Hihi, ich stelle es mir eeetwas schmerzhaft vor xD
Von:  YUAL-Jury
2018-11-11T13:36:18+00:00 11.11.2018 14:36
Hallo UrrSharrador!

Du hast wohl die guten alten Staffeln 1 und 2 vermisst und kurzerhand eine neue Folge geschrieben, was? Jedenfalls bietet Cherrymon einen gelungenen Aufhänger für diese kleine Digimon-Episode, die uns im Fernsehen genauso gut gefallen hätte. Besonders mögen wir, dass du es geschafft hast, jeden der früheren Digiritter einzubinden. Klar resultiert das in einer Lawine aus Dialogen, doch eins ohne das andere geht nun mal nicht, und du hast es absolut geschafft, die vielen Gespräche lebendig und originalgetreu zu halten. Das Ende passt ebenso gut in die Serie – ein wenig naiv, wie wir es kennen, aber nicht kitschig, sondern einfach rund. Eine Geschichte zum Wohlfühlen, Zurückdenken und Schmunzeln.

Liebe Grüße
YUAL-Jury


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