As time goes on von Ouzomania ================================================================================ Kapitel 1: Das Eis brechen -------------------------- 24. Dezember 2002 Langsam wanderte der Vierzehnjährige die verlassene Straße entlang. Er hatte die Hände in die Hosentasche geschoben und sah gedankenverloren geradeaus. In seinem Kopf ließ er die Szenen des heutigen Tages Revue passieren. Sein Konzert und der Bandcontest waren nicht so gelaufen, wie er das gehofft hatte. Keiner hätte ahnen können, dass ihr Auftritt von einer unerwarteten Digimon-Invasion unterbrochen wurde. Er seufzte leise. Wenn er es recht bedachte, dann war der ausgefallene Bandcontest wahrlich eines seiner geringsten Probleme. Dass die Digimon einfach so in ihrer Welt auftauchten, konnte sie alle gewaltig in Schwierigkeiten bringen. Wenn sich solche Vorfälle häuften, hätten er und seine Freunde alle Hände voll damit zu tun, die Menschen vor den Digimon zu schützen. Und die Digimon vor den Menschen. Zwei Welten, die aufeinander prallten und sich gegenseitig nicht verstanden. „Alles in Ordnung, Matt?“, hörte er eine freundliche Stimme neben sich fragen. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen als er kurz inne hielt, den Kopf zur Seite neigte und seinen Freund ansah, der ebenso schweigsam neben ihm hergelaufen war. Er entdeckte etwas Besorgnis in seinem Ausdruck. „Ja, Gabumon. Ich habe nur noch einmal über diesen Abend nachgedacht“, gab der Junge seinem Partner zur Antwort. Dieser schenkte ihm einen aufmerksamen Blick und sah ihn weiterhin prüfend an, als Matt sein Augenmerk erneut nach vorne richtete und weiter ging. Wieder wanderten seine Gedanken zurück zu den Ereignissen des heutigen Tages. Eine andere Erinnerung überschattete plötzlich seine Sorgen um die Geschehnisse in der Digiwelt. Mit einem Mal blitzte ihr Gesicht vor seinen Augen auf. Ausdrucksstarke braune Augen, die ihn ungewöhnlich nervös angeblickt hatten. Ein schüchternes Lächeln, das von zartrosa Wangen umrandet wurde. Die Erinnerung daran brachte ihn abrupt zum Stehen. Als Sora ihm heue Nachtmittag vor seinem Konzert ein kleines Weihnachtsgeschenk vorbei gebracht hatte, waren sie leider von dieser dämlichen Jun gestört worden. Vor seinem Auftritt hatte er deshalb nicht mehr die Möglichkeit gehabt, darauf wirklich zu reagieren. Sie hatten zwar den restlichen Abend miteinander verbracht, doch wegen der ganzen Aufregung durch den schwarzen Turm und die plötzlich auftauchenden Digimon hatten sie keine Zeit mehr nur für sich alleine. Dabei hatte er das Gefühl gehabt, dass sie diese noch einmal brauchen würden, als Sora ihm zaghaft ihre selbstgebackenen Kekse überreicht hatte, eine Geste mit der er so nicht gerechnet hatte. Als ihm dieses Gefühl in Erinnerung kam, verstand er auf einmal auch, weshalb er Soras Blicke auf sich gespürt hatte, während er sich vor einer viertel Stunde von den anderen verabschiedet hatte, weil die Wohnung seines Vaters in einer anderen Richtung lag als die von Tai, Izzy und Sora. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, dass er als Reaktion auf ihren zurückhaltenden Annäherungsversuch noch etwas sagen oder tun würde. Wieder entglitt ihm ein leises Seufzen. „Gabumon?“, sprach er vor sich hin und richtete nachdenklich den Blick gen Himmel. Es war schon stockfinster und bereits sehr spät. Aber als er an ihre rosa Wangen dachte, zwickte ihn eines leises Gefühl im Bauch und er verspürte das starke Bedürfnis, ihre Geste nicht unerwidert im Raum stehen zu lassen. „Hast du etwas dagegen, wenn wir einen kleinen Umweg machen, bevor wir nach Hause gehen?“ Einige Minuten später stand der blonde Junge zögernd vor dem großen Wohnhaus und sah nach oben zu dem Balkon, den er als zur ihrer Wohnung gehörend identifizierte. Das Licht in den Fenstern dahinter brannte noch und sagte ihm, dass Sora sicherlich noch wach war. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Sie konnte schließlich auch noch nicht lange zu Hause sein. Wahrscheinlich aber, so befürchtete er, war sie nicht alleine in der Wohnung und Matt sträubte sich, zu klingeln und von Soras Mutter nach oben gebeten oder – wer konnte das schon wissen – aufgrund der Uhrzeit verscheucht zu werden. Er wollte sie auch nicht in eine peinliche oder unangenehme Situation gegenüber ihrer Mutter manövrieren, wenn er sie am Weihnachtsabend, der in Japan traditionell ein Abend der Liebenden war, zu so später Stunde aufsuchte. Aber er konnte auch unmöglich einfach wieder gehen. Dass sie ihm heute, an Weihnachten, so ein Geschenk gemacht hatte, sagte zu viel aus und er musste sich selbst eingestehen, dass nicht die Überlegung, sie könne bereits schlafen, oder die Befürchtung, durch die Anwesenheit ihrer Mutter könne die Situation unangenehm werden, ihn vor ihrer Tür zögern ließen. Vielmehr war es der Gedanke, ihr irgendwie mitteilen zu müssen, zu wollen, dass sein Bauchgefühl ihn mächtig zwickend daran erinnerte, auf welch großer Fläche ihr kleiner Annäherungsversuch in seinem Herzen ankern konnte, der ihn seltsam nervös machte und hadern ließ. Er wusste nicht erst seit kurzem, dass die junge Miss Takenouchi sein Herz schneller schlagen ließ. Er spürte es in jeder Situation, in der die Freunde zusammen trafen und sein Blick viel zu oft in ihre Richtung glitt, und bei jeder Berührung zwischen ihnen, die ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Aber er hatte es bisher noch nicht einfach zugeben und zeigen können, dass er die Gleichaltrige so gerne mochte, wie er es tat. Es fiel ihm reichlich schwer, sein Herz auf der Zunge zu tragen. Das wusste jeder, der ihn kannte. Er seufzte wieder leise und versuchte, die Nervosität einzudämmen. Er kam sich ziemlich idiotisch vor. Er und seine Freunde hatten schon so viele gefährliche Situationen gemeistert, waren mit so vielen schwierigen Dingen konfrontiert worden. Vorhin standen sie einem riesigen Dinosaurier-Digimon gegenüber und es hatte ihm nichts ausgemacht, keine Nervosität, keine Panik, keine Angst. Und das hier ließ seine Knie zittern? Es war dämlich. Wo war nur seine Coolness, die seine Freunde ihm immer zu schrieben? Er schüttelte sachte für sich selbst den Kopf, zögerte nicht mehr länger und zog sein Handy aus der Hosentasche. Er wollte sie sehen, wenigstens kurz mit ihr reden. Vorher konnte er heute unmöglich nach Hause gehen. Kurz treffen? Ich warte unten vor eurem Haus. LG Matt Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, warf er erneut einen Blick in Richtung Balkon. Vielleicht erhoffte er sich von dort irgendeine Reaktion auf seine SMS. Einen kurzen, leicht panischen Moment lang fragte er sich, was er tun würde, wenn sie nicht darauf reagierte. Er befürchtete, dass ihre nächste Begegnung dann äußerst peinlich werden könnte. Doch glücklicherweise hatte er keine Gelegenheit, sich weiter in diese Idee zu verrennen, denn es dauerte kaum eine Minute, bis er eine Antwort von ihr erhielt. Komme gleich runter. Zwei Minuten! Sora Als Sora wenig später vor ihm stand und sich erkundigte, weshalb er hergekommen war, wirkte sie ähnlich unruhig wie vor ein paar Stunden, während sie ihm sein Geschenk überreicht hatte. Er schmunzelte sachte. Nicht nur für ihn war diese Begegnung aufregend und schwierig. Er glaubte, sie fühlten sich irgendwie ähnlich. Der Gedanke half ihm, etwas mehr Sicherheit zu gewinnen und seine Nervosität nach außen hin zu überspielen. Irgendwie würde er das schon hinkriegen. „Ich habe dir noch nicht richtig Danke gesagt, das ist unhöflich. Für dein Geschenk, meine ich“, gab Yamato der Rothaarigen zur Antwort und bedachte sie mit einem Lächeln, „du weißt ja, wir wurden vorhin gestört und dann war das Konzert und die Digimon und, und, und. Ich hatte keine Gelegenheit mehr.“ Seine Gegenüber nickte nur sachte. Er bekam das Gefühl, die Situation war ihr plötzlich unangenehm. Sie hatte den Blick nach unten gerichtet, als sie ihm antwortete: „Das macht doch nichts. Dafür hättest du doch nicht noch einmal extra her kommen müssen. Du bist sicher auch total erledigt, nach deinem Konzert und der ganzen Aufregung.“ Er sah sie einige Augenblicke schweigend an. Verstand sie überhaupt, warum er wirklich noch einmal her gekommen war? Sie dachte doch nicht ernsthaft, dass er nur aus reiner Höflichkeit hier vor ihr stand? Gott, was war nur los mit ihnen beiden? Sie kannten sich seit acht Jahren, waren seit acht Jahren Freunde und konnten seit ebenso vielen Jahren doch immer ganz zwanglos miteinander über Dies und Das reden. Jetzt dagegen kam ihm der Moment ziemlich verkrampft vor. Irgendwie musste er etwas dagegen tun. Er trat etwas näher an sie heran und legte einen Finger unter ihr Kinn, um ihren Blick zu heben. „Doch, Sora, das musste ich“, erwiderte er überzeugt und suchte nun mit seinen blauen Augen ihren braunäugigen Blick, „ich fand es sehr schön, dass du auf meinem Konzert warst und habe mich wirklich über deine selbstgemachten Kekse gefreut.“ Er bemerkte, dass sich ihre Wangen wieder leicht rosa färbten, als sie seinen Blick erwiderte und seinen Worten lauschte. „Das ist gut“, gab sie nur leise, aber scheinbar erleichtert zur Antwort. Ihre Zurückhaltung trieb ihm erneut ein sachtes Lächeln auf die Lippen, bevor er fortfuhr. „Ich… weiß, was du mir damit irgendwie zeigen wolltest“, erklärte er und bemühte sich, das Gespräch in die Richtung zu führen, wegen der er hergekommen war. Sie sollte verstehen, dass es ihm genau so ging. Dass er ihr zugetan war und sie mehr mochte, als er bisher bereit war gegenüber ihr und ihren gemeinsamen Freunden zuzugeben. Vielleicht auch wegen der gemeinsamen Freunde. Was würden nur Tai und die anderen sagen, wenn sie diese Szene mitbekämen? Wäre es für sie in Ordnung? Er erlaubte sich nicht, den Gedanken weiter auszuführen. Stattdessen folgte er einem Impuls seines klopfenden Herzens und legte seine rechte Hand an ihre linke Wange. Sie fühlte sich zart und weich an – und warm. Er merkte, dass ihr noch mehr Blut in den Kopf schoss und sie noch weiter errötete, wegen seiner Berührung. Sein Kopf wollte einen kurzen Augenblick lang verrückt werden, weil sich seine Gedanken überschlugen. Seltsam wie sich so eine Situation, so einen Annäherung anfühlen konnte, wenn man jemandem gegenüber stand, den man wirklich gern hatte. Jemand, der einem wirklich etwas bedeutete. Wenn es nicht nur um Neugier ging, die Gelegenheit oder die Erfahrung. Wenn es um etwas ging, das plötzlich seltsam und ungewohnt wichtig und bedeutsam erschien und man auf einmal Angst bekam, etwas falsch zu machen. Er hielt sich davon ab, über diese Erkenntnis den Kopf zu schütteln, und konzentrierte sich auf das, weswegen er hier war. „Ich musste dich heute Abend noch einmal sehen, um dir wenigstens noch zu sagen, dass es mir genau so geht“, gab er schließlich zögernd zu und versuchte dabei, nicht ihren Blick aus seinen Augen zu verlieren. Womöglich hatte sie keine Ahnung, wie schwer es ihm fiel, das zu sagen. Vielleicht aber fühlte er das, was er sagte, auch nur, weil sie eine der wenigen war, die eben doch genau verstand, wie schwer es ihm fiel. Er vernahm ein nahezu lautloses „Oh Matt…“, das ihre Lippen stumm formten und ihm zeigte, dass letzteres der Fall war. Es brachte ihn zum Schmunzeln. Nachdem er ihre Reaktion vernommen hatte, reichte es ihm nicht mehr, ihr das nur zu sagen. Er wollte es ihr zeigen, er wollte, dass sie es fühlen konnte, wie er es fühlte. Vorsichtig legte er deshalb seine freie linke Hand an ihre Taille und zog sie noch etwas näher zu sich. Er merkte, wie sein eigener Puls in die Höhe stieg und sein Herz anfing zu rasen. Es war verrückt, wie aufgeregt er gerade war. Als hätte er sich noch nie einem Mädchen bis auf fünf Zentimeter genähert. Dabei kannte er das eigentlich schon. Aber bei ihr war es anders. Jeder Moment schien so unendlich wichtig. Er ließ seinen Daumen einmal sanft über ihre Wange streichen und suchte ein letztes Mal ihren Blick, bevor den Kopf etwas nach unten beugte und seine Lippen behutsam auf die ihren bettete. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Einen kleinen Augenblick, in dem er einfach ausprobieren wollte, wie sie schmeckte, wie es sich anfühlte, sie so zu berühren. Als er sich wieder von ihr löste und seine Stirn sanft an ihre lehnte, hielt er die Augen geschlossen und ließ diesen Eindruck auf sich einprasseln. Ob er sich schon jemals so gefühlt hatte? Noch immer hämmerte sein Herz wie wild in seiner Brust und er fürchtete fast, dass selbst Sora das nicht mehr überhören konnte. Doch gleichzeitig spürte er, dass es sich für sie wahrscheinlich genauso anfühlte, als er wieder ihren warmen Atem auf seiner Haut vernahm und sie sich etwas in die Höhe reckte, um die Lücke zwischen ihren Lippen erneut zu verschließen. Nach diesem ersten kurzen und kleinen Testlauf, der offensichtlich von beiden als ‚Mit Bravour bestanden‘ abgehakt wurde, wollten sie deutlich mehr von dem jeweils anderen. Seine Hand wanderte von ihrer Wange zurück in ihren Nacken, um sie fester halten und an sich drück zu können. Gleichzeitig spürte er, wie sie eine Hand in sein Haar legte und sich ihrerseits näher an ihn ziehen wollten. Sie pressten förmlich immer wieder ihre Lippen aneinander, statt sie nur sachte zu berühren, und küssten sich mit jeder Sekunde inniger. Immer mehr Hitze stieg in ihm auf. Er wusste nicht genau, wie lange sie so vor Soras Haustür standen und ihre erste gemeinsame Zweisamkeit genossen. Er verlor sich für den Augenblick in ihren Kuss, konzentrierte sich ganz auf ihre Gegenwart, sog ihren süßlichen Duft ein und genoss jede einzelne Berührung ihrer Lippen. Es dauerte deshalb, bis sie sich wieder etwas voneinander entfernten und eine kleine Atempause einlegten. Unweigerlich trat ein kurzes Grinsen auf die Lippen des Jungen. „Okay…“, kommentierte er heiter ihren ersten Kuss, der deutlich intensiver ausgefallen war, als er je gedacht hätte, „ich würde sagen, das funktioniert schon ‘mal.“ Sora, deren Wangen noch immer glühten, reagierte mit einem kurzen Kichern auf diese Feststellung. „Das kannst du laut sagen“, erwiderte sie etwas verschmitzt. Die anfängliche Nervosität, die sie zuvor noch gezeigt hatte, war kaum noch präsent. Wahrscheinlich, so dachte er, hatte sie vor allem die Unsicherheit geprägt, wie er zu ihr stand. Aber nach diesem Kuss … wer könnte da noch Zweifel haben, dass er wahrscheinlich absolut verknallt in sie war? Auch er fühlte sich deutlich befreiter als noch vor ein paar Minuten. Das Eis war gebrochen. Sie hatten einen ersten Schritt gewagt. Jetzt stellte sich die Frage, wie es weiter gehen sollte. Matt schmunzelte sachte, als er einen kleinen Schritt zurück trat und die Hände wieder in seine Hosentaschen schob. „Ich sollte jetzt besser langsam nach Hause gehen. Deine Mutter fragt sich sicher auch schon, was du hier unten machst“, begann er langsam und sah sie dabei forschend an, „aber darf ich dich morgen zum Frühstücken einladen? Vielleicht können wir dann über das alles hier …naja, ein bisschen reden?“ Er schlug vor, zu reden. Was hatte sie gerade mit ihm gemacht? Yamato Ishida war nicht gerade dafür bekannt, dass er ausführlich über seine Angelegenheiten diskutierte. Hin und wieder mit seinem besten Freund Tai, doch auch der musste ihm oft genug aus der Nase ziehen, was tatsächlich los war. Der Vierzehnjährige war jemand, der die Dinge lieber mit sich selbst aushandelte. Aber diese Sache war er gewillt, mit ihr gemeinsam auszuhandeln. Wahrscheinlich waren seine Sinne nicht mehr klar, weil er zu viel von ihrem lieblichen Duft in sich aufgenommen hatte. Die Rothaarige nickte nur sachte und lächelte. Er erkannte ein leichtes Funkeln in ihren Augen und wusste in diesem Moment, dass sie gerade glücklich war. „Gut, … ich melde mich bei dir“, versicherte er ihr schließlich mit einem schiefen Lächeln. Dann zögerte er kurz, eher er noch einmal etwas näher an sie heran trat. Behutsam legte er zum Abschied die Lippen an ihre Stirn. Er zwang sich selbst, sie nicht noch einmal auf den Mund zu küssen. Er wusste nicht, wie lange er brauchen würde, um dann zu gehen. Und Gabumon wartete wahrscheinlich schon viel zu lange auf ihn. „Gute Nacht, Sora Takenouchi“, verabschiedete er sich schließlich leise und machte noch ein paar Schritte rückwärts, um sie weiter anzusehen, bevor er sich abwandte und ging. Als Yamato sich eine Straße weiter auf einer Parkbank nieder ließ, war er noch immer ganz durcheinander von dem, was er gerade gesagt, getan und gefühlt hatte. Er war vierzehn, fast fünfzehn Jahre alt und hatte auch schon drei andere Mädchen geküsst. Aber die letzten Minuten hatten sich ganz anders angefühlt. Sie waren so intensiv, dass er das Gefühl hatte, sie passten gar nicht zu einem Jungen in seinem Alter. Er seufzte leise und wandte sich an seinen Freund, zu dem er sich gesetzt hatte. „Es tut mir leid, dass du hier so lange warten musstest, Gabumon“, entschuldigte er sich bei ihm und sah ihn an. „Das macht doch nichts!“, erwiderte sein Partner und kniff die Augen freudig zusammen, weil Matt wieder bei ihm war. „Konntest du denn Sora sagen, was du ihr sagen wolltest?“ Matt lächelte nur sachte und nickte, „ja das konnte ich.“ Sein Freund schien sich darüber sehr zu freuen, als Matt sich auf der Bank zurück lehnte und noch einmal in die Nacht sah, die für ihn heute irgendwie etwas Besonderes war. „Du magst Sora wirklich gerne, oder?“, hörte er Gabumon neben sich fragen. Ohne den Blick zu wenden, ließ Yamato nur ein nachdenkliches „Hmh“ verlauten, das seinem Freund die Frage beantworten sollte. „Magst du sie mehr als mich?“, wieder ertönte Gabumons Stimme, sie klang eine Spur traurig. Matt seufzte erneut leise und schloss nachdenklich die Augen, bevor er darauf antwortete. „Ich mag sie anders, Gabumon. Auf eine andere Art“, mit diesen Worten versuchte er ihm zu erklären, dass er für Sora nicht nur die freundschaftliche Liebe empfand, die ihn und Gabumon für immer aneinander band. Dann jedoch wandte er sich wieder zu seinem Freund um und lächelte ihn an. „Aber genug davon nun. Ich habe dich viel zu lange warte lassen!“, stellte er mit einem schiefen Grinsen fest und erhob sich, „dabei bin ich so froh, dass wir ein paar Tage zusammen haben. Lass uns schnell nach Hause gehen, damit ich dir zur Feier des Tages etwas Leckeres kochen kann. Du hast doch sicher schon einen Bärenhunger!“ Gabumon wirkte sofort wieder fröhlich, als er neben Matt von der Bank sprang und sich mit ihm in Bewegung setzte. „Oh toll, was willst du denn kochen?“, erkundigte sich das Digimon munter und sah zu Matt auf. Dieser lachte nur leise und versprach ihm, alles zu kochen, was Gabumon sich wünschte. Der restliche Abend sollte ganz ihnen gehören. ____________________________________ Als er an dem Abend auf seinem Bett lag und an die Wand darüber starrte, erinnerte er sich gut an die rosa Farbe, die Soras Wangen geziert hatten, als er sie vor dem Backstage-Bereich der großen Konzerthalle ertappt hatte – mit einem Geschenk für Yamato. Er konnte sich auch sehr gut daran erinnern, wie er seiner Freundin in diesem Moment Mut zugesprochen und ihr viel Glück gewünscht hatte. Aber tat er das wirklich? Wünschte er ihr viel Glück mit Matt? Es war sehr seltsam für ihn, zu wissen, dass seine beste Freundin offensichtlich romantische Gefühle für Yamato hegte. Wohlgemerkt für seinen besten Freund Yamato. Absolutely perfect. Er sah sich schon als fünftes Rad am Wagen jeden gemeinsamen Abend hinterher eiern. Aber gut, nichts überstürzen. Vielleicht kam es dazu ja überhaupt nicht – wusste er denn, ob Matt Interesse hatte? Wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er keine Ahnung. Matt und er redeten ständig über alles Mögliche, das sie gerade beschäftigte. Nun gut, zugegebenermaßen war es eher er selbst, der redete. Sein Kumpel Matt war doch eher von der schweigsameren Sorte, hörte sich lieber an, was er zu sagen hatte, und gab hin und wieder Kommentare dazu ab. Das Stichwort Mädchen war natürlich in den letzten ein, zwei Jahren auch immer häufiger in ihren ‚Männergesprächen‘ aufgetaucht. Hauptsächlich dann, wenn sie diese andere Spezies mal wieder nicht verstanden. Es war ihm beispielsweise nach wie vor ein Rätsel, weswegen sich Sora vor zwei Jahren so über sein Haarspangen-Geschenk erbost hatte. Aber auch, wenn es um kleine Schwärmereien gegangen war oder wenn er seinen Freund mal wieder damit aufzog, dass dessen Engagement in der Band ihn seither in eine Art Mädchenschwarm verwandelt hat. Tatsächlich hatte der gleichaltrige Blonde seitdem ein paar interessierte, weibliche Fans. Die meisten zum Glück deutlich dezenter als Davis anstrengende Schwester Jun. Matt hatte ihm zu diesem Thema schon einige amüsante Geschichten erzählt. Sein Freund hatte ihm deshalb aber zugegebenermaßen auch schon ein paar Erfahrungen mit Mädchen voraus. Taichi wusste, dass Yamato schon ein paar Mädchen geküsst hatte. Matt hatte ihm davon erzählt. Nun ja, er hatte es zumindest beiläufig erwähnt, wenn er selbst ihn danach gefragt hatte. Aber er hatte nie das Gefühl gehabt, dass diese Ereignisse oder eins von den Mädchen für seinen Freund irgendwie wichtig gewesen wären, deshalb hatte er nie großartig weiter gefragt, ob der junge Musiker denn Gefühle für eines der Mädchen hegte. Er wusste also überhaupt nicht, ob es da irgendein besonderes Mädchen im Leben seines besten Freundes gab, geschweige denn ob Sora dieses Mädchen war. Also erstmal nicht den Teufel an die Wand malen! Vielleicht blieb ja doch alles beim Alten. Kurz dachte Tai daran, ob Matt vielleicht auch Sora küssen würde? Ganz unabhängig davon, ob er Interesse an ihr hatte. Immerhin hatte er bei den anderen schließlich auch kein Interesse gehabt und es trotzdem gemacht. Allerdings müsste er seinem Freund dann wohl ordentlich den Kopf waschen – das wäre absolut daneben! Sein Magen zog sich kurz zusammen. Nicht nur das störte ihn bei der Vorstellung. Irgendwie gefiel ihm das Bild von Sora eng umschlungen mit Matt überhaupt nicht. Es gefiel ihm kein Bild, das Sora eng umschlungen mit einem Jungen zeigte, egal ob das nun sein Freund Yamato oder irgendein anderer war. Er seufzte leise und versuchte das Bild zu verdrängen, das er in seiner Vorstellung am liebsten ausmalte. Er hatte ihr doch viel Glück gewünscht … „Taiiii! Erde an Tai!“ – die Stimme riss den Braunhaarigen plötzlich aus seinen Gedanken und er sah, wie sich Agumon über ihn beugte und mit den Armen über seinem Kopf wedelte. Etwas irritiert blinzelte er und sah seinen orangen Freund an. „Was ist denn los, Agumon?“ erkundigte sich Taichi verwirrt und richtete sich auf. „Was ist denn mit dir los, Tai? Du bist so still und hörst mir schon die ganze Zeit gar nicht zu!“, antwortete Agumon seinem Partner mit aufmerksamen Augen. „Worüber hast du denn nachgedacht?“ Tai legte den Kopf schief und sah das Digimon nachdenklich an. „Darüber, wie kompliziert es ist, älter zu werden, denke ich…“, erwiderte er mehr zu sich selbst. „So?“, Agumon sah den Jungen irritiert an, „darüber habe ich noch nie nachgedacht!“ Tai lachte, als er die Antwort von seinem Freund hörte und schenkt ihm einen fragenden Blick. „Worüber denkst du denn nach, wenn du mal still bist?“, erkundigte er sich amüsiert. „Hm…“, das Digimon dachte einen kurzen Augenblick über Tais Frage nach, bevor es mit den Achseln zuckte, „meistens darüber, was ich gerne essen würde!“ Auf diese Antwort hin konnte Tai nur erneut lachen und ließ sich mit einem belustigten „Ach Agumon“ wieder zurück aufs Bett sinken, um seinen Gedanken weiter hinterher zu hängen. Kapitel 2: Showeinlage ---------------------- 31. Dezember 2002 Für einen Augenblick hielt das junge Mädchen inne und lauschte dem Lachen ihrer Freunde, als sie den Flur entlang zurück zum Wohnzimmer geschritten war. Ihr Blick ging durch den Raum und sie musterte die einzelnen Gestalten, die im Laufe der letzten Stunde hier zusammen gekommen waren. Es war gerade einmal einen Tag her, dass sie in der Digiwelt waren und dort MaloMyotismon besiegt hatten. Es war der erste Tag, an dem wieder Normalität in ihr Leben einkehrte, nachdem die Kinder von der Saat der Finsternis befreit worden waren und wieder Frieden zwischen ihrer und der Digiwelt herrschte. Die meisten von ihnen hatten die Hälfte des Tages damit verbracht, eine ordentliche Portion Schlaf nachzuholen. Niemand von ihnen hatte angesichts der Umstände Pläne für den bevorstehenden Silvesterabend geschmiedet. Umso überraschter war sie gewesen, als ihre Mutter heute den ganzen Tag hektisch durch die Wohnung gehuscht war und ihrem Vater eine ellenlange Einkaufsliste in die Hand gedrückt hatte. Offensichtlich hatten ihre Eltern am Vortag alle gemeinsam beschlossen, den Kindern ein kleines Silvesterfest zu organisieren. Nun, nachdem sie alle von dieser anderen Welt wussten und stolz darauf waren, dass ihre Kinder versuchten, diese und ihre eigene Welt zu beschützen. „Aber Mama“, hatte sie vor einigen Stunden eingeworfen, als ihre Mutter ihr eine Girlande zum Aufhängen in die Hand gedrückt hatte, „wir feiern doch Silvester sonst immer mit der Familie?“ Doch Yuuko Yagami hatte ihren Einwand mit einem schlichten „Tust du doch“ abgewunken und war ins Badezimmer davongeeilt, um die Tischdecke aus dem Trockner zu holen. Sie erinnerte sich an diese Unterhaltung, als sie beobachtete, wie Davis und Yolei sich darüber stritten, welche Sorte von Chips sie als erstes öffnen sollten, und gleichzeitig sah, wie Ken etwas unbeholfen daneben stand und vorschlug, einfach zu mischen. Unweit von ihnen entfernt half Cody Sora Teller und Besteck am ausgezogenen Küchentisch zu verteilen. Am anderen Ende des Zimmers waren Izzy und Joe bemüht, Izzys neue Spielkonsole an den alten Fernseher der Yagamis anzuschließen. Ihr Bruder Tai ließ sich währenddessen auf das Sofa fallen und beobachtete das Tun seiner Freunde – offensichtlich ungeduldig, weil es immer noch nicht funktionierte. An der Wand neben dem Sofa lehnte Matt und unterhielt sich angeregt mit seinem kleinen Bruder. TK hatte dabei zwei Fotos in der Hand und es sah aus, als würde er Matt hinsichtlich einer Auswahl beratschlagen. Wenn sie ihre Freunde so betrachtete und sah, wie ausgelassen sie miteinander umgingen, verstand sie, was ihre Mutter gemeint hatte. Ihre Erlebnisse, ihre gemeinsamen Abenteuer und gemeinsame Verantwortung, hatten sie und die anderen so sehr zusammen geschweißt, dass sie wie eine Familie geworden waren. Sicherlich führten sie alle ihr eigenes Leben und wenn die Schule irgendwann einmal vorbei war, würden sie sich vielleicht auch etwas aus den Augen verlieren. Aber sie würden doch immer irgendwie zusammen gehören, egal wie weit sie voneinander entfernt waren. Sie dachte dabei an Mimi, die einzige die heute Abend nicht da sein konnte, aber doch auch heute Teil dieser etwas anderen Familie war – egal ob sie nun gerade in Amerika lebte oder ihre Freunde in Japan besuchte. Sie alle vermissten sie. „Kari!“, Davis laute Stimme brachte die junge Yagami weg von diesen Gedanken, als ihr Klassenkamerad auf sie zu gestiefelt kam, „was ist, hast du die Karten gefunden?“ Sie lächelte und hob demonstrativ die Kartenschachtel mit ihrer rechten Hand in die Höhe. „Aber klar doch!“, bestätigte sie und ging sogleich mit Davis zurück zu Ken und Yolei. ____________________________________ Eine Stunde später saßen die elf Freunde etwas aneinander gepfercht, aber dafür zusammen um den Esstisch der Yagamis, den Cody und Sora liebevoll hergerichtet hatten. Die Teller vor ihnen waren voll mit Krümeln, die Schüsseln mit Essen, die ihre Eltern im Laufe des Tages zusammengetragen hatten, größtenteils leer und ihre Mägen überfüllt. Takeru beobachtete wie sein Gegenüber etwas mit dem Stuhl nach hinten rückte und sich mit beiden Händen über den Bauch rieb. „Ich hab‘ das Gefühl, ich platze gleich!“, gab Tai entsprechend seiner Geste lautstark bekannt und sprach damit aus, was jeder andere auch dachte. „Tai, du solltest aufhören zu essen, wenn du satt bist, nicht, wenn du platzt“, tadelte Joe zu Tais Linken den Brünetten und warf einen altklugen Blick in die Runde. „Das Geheimnis ist es, langsam zu essen“, erklärte er wissend den völlig erschlagenen Schlemmermäulern, „damit das Sättigungsgefühl schneller ein–“ „Blablabla“, fiel Tai dem Ältesten der Runde augenrollend ins Wort und hielt ihm einen Teller mit Dorayaki unter die Nase. „Sag bloß, du kannst da aufhören zu essen?!“, ungläubig zog er eine Augenbraue in die Höhe. Doch bevor Joe darauf reagieren konnte, lehnte sich Davis quer über den Tisch und griff nach dem Teller. „Also ich nicht!“, erklärte er grinsend, nahm eines der Teilchen und biss ein großes Stück ab. „Das war klar! Dass du ein Fresssack bist, wissen wir alle, Davis!“, seufzte Yolei verzweifelt und schüttelte über Davis betragen den Kopf. Der streckte ihr nur mit vollem Munde die Zunge raus, so dass alle anderen anfingen zu lachen. „Sag mal, Matt“, ergriff schließlich Yolei wieder das Wort, um ein neues Thema anzuschneiden, „wird euer Konzert von Weihnachten eigentlich irgendwann nachgeholt?“ Takerus Blick wandte sich zu Yamato, der zu seiner Linken saß. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Matt hastig seine linke Hand zu sich zurückzog, als Yolei die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte und die anderen auf seine Antwort warteten. Nanu? Statt seinem Bruder zuzuhören – die Antwort kannte er ohnehin schon – beobachtete er stumm, wie Soras Hände sich in ihrem Schoß verkrampften. Sie saß einen Platz weiter und richtete den Blick nach unten. Ihre Wangen waren leicht rosa gefärbt. Hatte er da vor lauter Chaos mit den Digimon vielleicht etwas nicht mitbekommen? Nun gut, sein Bruder würde schon mit der Sprache herausrücken, wenn er das wollte. „Oh, das ist schade!“, gab Yolei ihr Bedauern kund, als Yamato berichtete, dass das Konzert ersatzlos gestrichen war, „es wäre so schön gewesen, wenn wir alle zusammen hätten hingehen können!“ „Seit wann stehst du denn auf Rockmusik?“, fragte Daisuke argwöhnisch und hakte neckend nach. „Oder stehst du mehr auf den Musiker?“ „Ach, quatsch nicht so blöd!“, maulte Yolei den Jüngeren an, wurde aber etwas rot, „nur weil du keine Ahnung von guter Musik hast, stimmt’s Kari?“ Izzy, der Yolei und Davis noch kurz zugehört hatte, wandte sich wieder an Matt und begann mit ihm ein Gespräch über eine Onlineanzeige für einen Bandcontest, die er vor ein paar Tagen zufällig gesehen hatte. Die anderen klinkten sich in die Unterhaltungen mit ein, lediglich Sora erhob sich von ihrem Platz. Sie begann allmählich den Tisch abzuräumen und wenig später kam auch Cody ihr wieder zur Hilfe. Takeru beschloss seinerseits, ebenfalls den beiden etwas unter die Arme zu greifen, nahm seinen Teller und brachte ihn in die Küche, bevor er zurück zum Tisch ging und anfing, die leeren Schüsseln einzusammeln. Sie brauchten nicht lange, bis im Wohnzimmer alles soweit weggeräumt war, dass sie wieder genug Platz hatten, dort einen gemütlichen Abend zu verbringen. Während ein paar von ihnen abgeräumt hatten, waren die anderen schon dabei gewesen, die roten und weißen Mannschaften für ihren Real-Life Gesangswettbewerb aus zu losen, den Yolei und Kari unbedingt veranstalten wollten. Traditionell traten dabei zwar immer Männer gegen Frauen an, da die Frauen in ihrem Freundeskreis heute allerdings absolut in der Unterzahl waren, hatten sie sich für zusammengewürfelte Teams entschieden. Die Motivation für den Gesangswettbewerb war nicht bei allen gleichermaßen hoch, doch Kari und Yolei hatten ihre volle Überzeugungskraft eingebracht. Daisuke war natürlich sofort Feuer und Flamme und unterstützte Kari bei ihrem Plan. Takeru grinste etwas, als er sah, wie der Gleichaltrige seiner besten Freundin half, den ‚Sing-Plan‘ auf ein weißes Plakat zu zeichnen. Sie begannen damit, die einzelnen Gegner und die Reihenfolge des Aufeinandertreffens aus zu losen. Jeder durfte einen nummerierten Zettel aus einem Beutel ziehen und Kari trug die Namen an der entsprechenden Stelle ihres Plans ein. „WAS? NEIN! Das ist unfair!“, brach es plötzlich entrüstet aus Joe hervor, der als Drittletzter eine Nummer aus dem kleinen Beutel gezogen hatte und ungläubig auf den Plan starrte. Alle anderen sahen ihn irritiert an. „Wieso muss ausgerechnet ich gegen Matt antreten?“, fragte er niedergeschlagen und ließ geknickt Kopf und Schultern hängen. „Dann scheide ich ja direkt in der ersten Runde aus!“ Matt lehnte lässig mit verschränkten Armen neben der Balkontür an der Wand und sah den Oberschüler ungerührt an. „Entspann dich, Joe.“ Tai neben ihm grinste schief und tätschelte beruhigend Joes Schulter. „Ja, genau, entspann dich Kumpel“, munterte er den Brillenträger amüsiert auf, „wir werden sowieso alle gegen Matt rausfliegen. Du wirst eben nur der Erste sein.“ Takeru sah wie sein Bruder mit den Augen rollte, als er sich von der Wand abstieß. „Wer hatte noch einmal diese blöde Idee, einen Gesangswettbewerb zu veranstalten?“, fragte der junge Musiker gespielt genervt, ging an den anderen beiden vorbei und ließ sich neben Sora auf das Sofa fallen. Sie schenkte ihm ein kurzes Schmunzeln. „Sei kein Spielverderber“, mahnte sie ihn grinsend und zog schließlich auch einen Zettel aus dem Beutel, damit der Wettbewerb endlich beginnen konnte. ____________________________________ Der Gesangswettbewerb hatte den meisten mehr Laune bereitet, als erwartet. Tatsächlich lieferte die amüsante Musikauswahl, die das Singstar-Spiel bot, zahlreiche witzige und peinliche Momente. Yamato voller Hingebung Like a Virgin von Madonna singen zu hören, hatte nicht nur ihn, sondern auch alle anderen belustigt und über die Tatsache hinweg getröstet, dass der blonde Musiker dennoch am Ende alle geschlagen hatte. Insofern war der Wettbewerb recht kurzweilig gewesen und Taichi rechnete stark damit, dass das neu entdeckte Spiel noch häufiger auf der Tagesordnung bei gemeinsamen Abenden stehen würde. Denn offensichtlich waren die Mädels hellauf begeistert. Obwohl sie längst mit ihrem Wettbewerb durch waren, wählten Yolei und Kari immer wieder neue Lieder aus der Liste aus und stimmten sie an. Während er, T.K. und Davis ihnen dabei zusahen und sich hin und wieder zu einem Duett überreden ließen, saßen die übrigen Jungs seit einer Weile im Kreis zusammen und spielten Karten. „Wie spät ist es eigentlich?“, warf Yolei plötzlich ein, als sie dabei war ein neues Lied auszuwählen. Offensichtlich hatte sie die Zeit aus den Augen verloren und war damit nicht die einzige. Tai zuckte nur mit den Achseln und warf Davis einen fragenden Blick zu. Aber keiner von ihnen hatte eine Uhr an. „Hey Jungs, wie spät ist es?“, richtete Yolei deshalb etwas lauter ihre Frage an die Kartenrunde. Joe und Izzy blickten automatisch auf ihre Armbanduhren. „Oh, es ist gleich Mitternacht“, stellt der Rothaarige überrascht fest. „Gleich Mitternacht?“, wiederholte Cody fragend und sah seinen Sitznachbarn an. Dann stand er auf und ging einen Schritt auf die anderen zu. „Können wir ein Fenster aufmachen?“, erkundigte er sich höflich und warf dabei einen Blick in Taichis Richtung, der am nächsten zum Wohnzimmerfenster saß. „Ich würde gerne die Tempelglocken läuten hören“, erklärte der Jüngste seinen Freunden und wirkte dabei etwas schüchtern. Wahrscheinlich hatte er mehr Traditionsbewusstsein als alle anderen zusammen. „Oh, ja, Tai, mach das Fenster auf!“, pflichtete Kari dem Grundschüler bei, um ihn in seinem Anliegen zu unterstützen. Auch Yolei und die anderen pflichteten der Idee bei und Taichi blieb nichts anderes übrig, als ihnen den Gefallen zu tun. Es war ihm ohnehin egal. Wenn der Kleine seine 108 Klänge hören wollte, die die Menschen von ihren Sünden befreiten, dann würde er ihn sicherlich nicht davon abhalten. Ohne jegliche Widerworte stand der junge Fußballer auf und tat wie seine Schwester ihm geheißen. Er nahm den längst geschlossenen Vorhang und schob ihn mit einem kurzen Schwung auf. Als er dann jedoch das Fenster öffnen wollte, hielt er mitten in der Bewegung überrascht inne und starrte hinaus. Auch die anderen machten große Augen, als sie an Tai vorbei aus dem Fenster sahen. Statt einen direkten Blick in die Nacht und über die Dächer der benachbarten Häuser zu erhalten, konnten sie nicht übersehen, wie im Vordergrund Matt und Sora eng umschlungen auf dem Balkon standen und heftig miteinander knutschten. Ertappt! Im ersten Moment war Tai so perplex, dass er sich nicht rühren konnte. Im zweiten Moment drehte sich sein Magen um. Im dritten Moment versuchte er, den zweiten Moment zu vergessen, weil alle anderen ihn beobachten konnten. „Das glaub‘ ich ja nicht...“, hörte er Yoleis erstaunte Stimme leise hinter sich. „Ich wusste es!“, ließ dagegen Takeru triumphierend verlauten. Tai, noch immer gegen den zweiten Moment ankämpfend, konnte seinerseits nicht glauben, dass irgendwie niemandem in den letzten Minuten aufgefallen war, dass Sora und Yamato nicht mehr hier waren. Vor allem, dass es ihm selbst nicht aufgefallen war, dass sich sowohl sein bester Freund als auch seine beste Freundin heimlich auf den Balkon geschlichen hatten, um dort in aller Seelenruhe rumzuknutschen. Sichtbar für alle anderen, aber verborgen für ihre Freunde in diesem Raum. Sie waren so vertieft dabei, sie merkten nicht einmal, dass alle anderen sie gerade sehen konnten. Taichi fasste sich schließlich ein Herz und klopfte etwas lauter an die Scheibe. Mit einem schiefen Grinsen sah er sie durch das Fenster an und winkte ihnen zu, als sie aufschreckten wie wilde Hühner und augenblicklich voneinander abließen, spürbar peinlich berührt. Taichi, froh darüber, dass der Anblick ihm nicht mehr weiter den Magen umdrehte, öffnete nun endlich das Fenster und räusperte sich. „Nette Showeinlage“, kommentierte er scherzend die Situation und versuchte, seine eigenen Gedanken zu überspielen, „seid ihr vorher schon häufiger aufgetreten oder war das die Uraufführung?“ Vorhang auf, Bühne frei. Und das Theater ging los, als Tai ihnen die Wohnzimmerbalkontür öffnete und die beiden zurück zu den anderen nach drinnen kamen. „Ich wusste gar nicht, dass ihr euch trefft!“, stellte Kari überrascht fest. „Wie lange geht das denn schon?“, erkundigte sich Yolei neugierig. „Seid ihr jetzt etwa zusammen?“, fragte Daisuke verwirrt. „Das hättest du ruhig mal erzählen können, großer Bruder“, klagte Takeru den jungen Musiker grinsend an. „Das muss ich unbedingt Mimi schreiben!“, merkte Izzy weiter hinten im Raum an. Tai beobachtete stumm, wie die anderen Matt und Sora noch keine wirklichen Gelegenheiten boten, um ihnen auf ihre Fragen zu antworten, während er selbst einfach nur versuchte, das Bild von den beiden einander im Arm haltend wieder aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Hatte er sich nicht vor ein paar Tagen schon einmal solche Bilder ausgemalt? Sein Favorit sah anders aus. „Leute! Jetzt kriegt euch ‘mal wieder ein! Ihr könnt die zwei noch die ganze Nacht ausfragen. Lasst uns erst einmal das neue Jahr begrüßen!“ Danke, Joe. Die übrigen stimmten ihm zu und kaum zehn Sekunden später ertönten überall in der Stadt die Tempelglocken, die das neue Jahr einleiteten. Zwischen den ganzen Neujahrswünschen und Umarmungen, die sie daraufhin freundschaftlich miteinander austauschten, ging das andere Thema zu Tais Zufriedenheit deshalb erst einmal unter. ____________________________________ Gut, der Abend war dann doch etwas anders gelaufen als geplant. Als er vorhin stumm einige Blicke mit Sora ausgetauscht hatte und ihr dann unauffällig und etwas später in Taichis Zimmer gefolgt war, wollte er einfach nur ein paar ungestörte Momente mit der Rothaarigen verbringen. Es machte ihn irre, den ganzen Abend in ihrer Nähe zu sein, ohne sie berühren zu dürfen, und offensichtlich war es ihr genauso ergangen. In den letzten Tagen hatten sie sich so oft sie konnten getroffen und Zeit miteinander verbracht. Was zwischen ihnen gerade passierte, war so neu, so spannend und so aufregend, dass es jede freie Minute des Tages vereinnahmte, auch in seinen Gedanken. Sie ließ ihn nicht einmal mehr richtig schlafen. Sie machte ihn verrückt. Allerdings stand es heute keinesfalls auf der Agenda, alle ihre Freunde mit der Nase auf das zu stoßen, was sich zwischen ihm und der jungen Miss Takenouchi abspielte. Sie hatten sich eigentlich dazu entschieden, die Sache ganz langsam anzugehen und ihre Freunde vorerst noch nicht einzuweihen. Deshalb durfte er sie ja den ganzen Abend nicht anfassen. Ein völlig unmögliches Unterfangen. Als er sie in Tais Zimmer entdeckte hatte, hatte alles in ihm darauf gedrängt, förmlich danach geschrien, sie sofort zu küssen. Er liebte es zu sehr, ihren süßlichen Geruch in sich aufzunehmen und ihre weichen Lippen zu schmecken, als dass er auch nur eine Gelegenheit dazu auslassen könnte. Sie hatte gelacht und ihn nach einem ersten Kuss mit raus auf den Balkon gezogen. Sie fand es romantisch, mit ihm an einem klaren Abend in die Sterne zu sehen. Rückblickend vielleicht nicht die beste Idee. Aber es war ihm egal, wo sie waren, Hauptsache er konnte in ihrer Nähe sein. Wenn er sich darin verlor, nahm er seine Umgebung ohnehin nicht mehr wahr. Kein Wunder also, dass er gar nicht gemerkt hatte, wie die anderen sie entgeistert anstarrten. Inzwischen war schon über eine halbe Stunde seit ihrer ungewollten Showeinlage vergangen und das Thema setzte sich glücklicherweise allmählich. Natürlich war ihnen klar gewesen, dass ihre neue Verbindung im Freundeskreis erst einmal Aufmerksamkeit erregen würde, weil vermutlich niemand damit gerechnet hatte und das alles in ihrem Alter ohnehin noch neu für sie war. Das erste Pärchen. Sensation. Dass es für ihn alles sehr aufregend war, erschien ihm ganz natürlich, aber dass die anderen neugierig nach Informationen haschten, war ihm doch etwas zu viel des Guten. Normalerweise beobachtete er solche Dinge lieber vom Rand aus und er mochte es nicht sonderlich, wenn sein eigenes Privatleben plötzlich im Mittelpunkt des Interesses stand. Glücklicherweise konnte Sora etwas besser mit den interessierten Fragen ihrer Freunde umgehen. Sie erzählte gerade mit geröteten Wangen Yolei und Kari von ihrem Weihnachtsgeschenk an Yamato und ihrem späteren Treffen an diesem Abend, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Yamato saß schweigend neben ihr und zeichnete gedankenverloren kleine Kreise auf ihre Handfläche. „Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet du der erste von uns bist, der eine Freundin hat!“, merkte plötzlich Joe nachdenklich und scheinbar verwundert an, „eigentlich sollte ich das ja sein, schließlich bin ich der Ältere.“ Yamato wandte den Blick zu dem Oberschüler und runzelte die Stirn. „Wirklich, Joe?“, hakte er nach. „Du hast gedacht, du wärst der erste mit einer Freundin?“ Yamato meinte diese Nachfrage keinesfalls abwertend gegenüber seinem Freund. Aber er kannte seinen Freund eben auch schon lange genug und wusste, dass er nicht der Typ war, der gut mit Mädchen reden konnte. Vielmehr war Joe jemand, der sich äußerst schusselig anstellte und in jedes Fettnäpfchen treten würde. Er war noch viel zu zurückhaltend, unsicher und schüchtern, obwohl er der Älteste von ihnen war. Joe wusste das selbst auch. „Du hast recht“, seufzte er geknickt und nippte an seinem Glas Limonade, „aber es wäre trotzdem schön gewesen.“ „Also ich dachte eher, es wäre Tai“, mischte sich schließlich T.K. in ihre Unterhaltung ein, der mittlerweile wieder begonnen hatte, mit Cody, Ken und Izzy eine Runde Karten zu spielen. Yamato wandte sich überrascht seinem Bruder zu. „Vielen Dank, dass du mir so viel zutraust, Brüderchen“, warf er sarkastisch ein und beäugte den Jüngeren mit hochgezogenen Augenbrauen. Der lachte nur kurz auf. „Nichts für ungut, großer Bruder. Aber Tai ist eben viel offener als du und hat eine ganz andere Art, auf Leute zu zu gehen und Menschen kennenzulernen“, erklärte Takeru seine Einschätzung, „du bist eben mehr der einsame Wolf und lässt keinen an dich ran.“ Yamato bedachte seinen jüngeren Bruder mit einem längeren Blick. Er konnte ihm nicht widersprechen. T.K. hatte Recht. Er und Tai glichen sich in dieser Beziehung keinen Meter und Taichi war sicherlich der kontaktfreudigere, offenere und freundlichere von ihnen beiden. Wenn er es recht bedachte, war es vielleicht ungewöhnlich, dass Tai ihm noch keine besondere Bekanntschaft vorgestellt hatte. „Du hast einfach Glück, dass manche Mädchen voll auf diese ‚einsamer Wolf‘ Nummer stehen. Und dass Sora dich schon vorher kannte“, ergänzte der Blonde ganz beiläufig, als er eine neue Karte aus dem Stapel zog und zwischen denen in seiner Hand einsortierte. Was sollte er darauf groß sagen? Er verstand ja selbst noch nicht so ganz, wieso dieses umwerfende Mädchen ausgerechnet für ihn eine kleine – okay, ganz so klein war sie wohl nicht – Schwäche entwickelt hatte. Andererseits dachte er dann aber auch daran, dass Sora und er sich schon seit Jahren wortlos verstanden und die gleichen Dinge dachten. Sie war diejenige, die mit seiner Art der Zurückhaltung und Reserviertheit gegenüber anderen am besten umgehen konnte. Sie war diejenige, die als einzige immer hinter seine Fassade sah und wusste, was er fühlte und dachte. Sie war diejenige, die ihn manchmal besser verstand, als er sich selbst. Sie war seine beste Freundin, auf eine ganz andere Art und Weise als Tai sein bester Freund war. Der Gedanke an Tai ließ ihn aufblicken. Er hatte vor ein paar Minuten gesehen wie der Brünette aufgestanden war und das Wohnzimmer verlassen hatte, wahrscheinlich um kurz das Badezimmer aufzusuchen. Als Yamato sich umsah und bemerkte, dass sein bester Freund noch nicht wieder zurückgekehrt war, nahm er das zum Anlass, das laufende Gespräch für sich selbst erst einmal zu beenden. Deshalb legte er nur ein schiefes Lächeln auf und zuckte mit den Schultern. „Tja, auch ein blindes Huhn findet mal einen Korn“, gab er seinem Bruder zur Antwort, ließ Soras Hand los und erhob sich von seinem Platz, um nach dem Brünetten zu sehen. Wahrscheinlich war es längst Zeit für eines ihrer ‚Männergespräche‘. „Hier steckst du“, mit diesen Worten macht der Blonde auf sich aufmerksam, als er Taichis Zimmer betrat und seinen Freund im Halbdunkeln auf dem Bett sitzen sah. Er hatte einen kleinen Ball in der Hand, den er scheinbar immer wieder durch die Luft warf. „Mhm“, brummte der Gleichaltrige und nahm Yamatos Anwesenheit zur Kenntnis. „Stimmungskanone“, kommentierte der die Reaktion seines besten Freundes. Er ging durch den Raum, nahm den Schreibtischstuhl und zog ihn in Tais Richtung. Die Rückenlehne zeigte nach vorn, als er sich mit einem Seufzen auf dem Stuhl niederließ und die Arme auf der Lehne abstützte. „Bist du sauer?“, mutmaßte er und warf Tai einen fragenden Blick zu, bevor er fortfuhr. „Sorry, ich wollte dich mit der ganzen Sache nicht so überfallen.“ Taichi zuckte mit den Schultern, möglichst ungerührt. „Passt schon, hab‘ ja irgendwie damit gerechnet“, bemerkte der Brünette knapp. „Echt? Hast du?“, fragte Yamato überrascht nach und legte die Stirn in Falten, „warum?“ Er konnte sich nicht entsinnen, dass er Tai gegenüber bisher irgendetwas angedeutet hatte. Oder war seine Fassade schlechter als er dachte? Er hatte noch auf einen ruhigen Moment gewartet, um das Thema ihm gegenüber anzuschneiden. Sein Freund seufzte und ließ sich mit dem Rücken auf sein Bett sinken. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, bevor er antwortete. „Ich hab Sora vor dem Konzert an Weihnachten getroffen. Als sie dir das Geschenk vorbei bringen wollte. Sie hat sich kaum rein getraut. Offensichtlich total verknallt“, erklärte er dem Musiker und betonte die letzte Feststellung mit einem Augenrollen. Er zog seine rechte Hand wieder hinter seinem Kopf hervor und begann erneut, den Ball immer wieder in die Luft zu werfen und aufzufangen. „Mir war klar, war sie will. Ich wusste nur nicht, ob du auch willst.“ Jetzt war es der Blonde, der die Antwort mit einem nachdenklichen „Mhm“ vernahm und den Kopf auf seinen Unterarmen ablegte. Sora hatte ihm nicht erzählt, dass sie Tai vor dem Konzert begegnet war. Es ärgerte ihn ein wenig. Hätte er gewusst, dass Tai bereits Wind von der Sache bekommen hatte, hätte er viel früher mit ihm darüber gesprochen. Am besten direkt am nächsten Tag. Er konnte sich schon vorstellen, dass diese neue Konstellation für seinen besten Freund reichlich seltsam und gewöhnungsbedürftig war. Wahrscheinlich war er auch nicht sonderlich begeistert. Aus diesem Grund hatte Yamato eigentlich auch vorgehabt, mit Taichi über das alles zu sprechen, bevor es überhaupt Spruchreif wurde und sie irgendwas davon ihren anderen Freunden erzählten. „Tut mir echt leid, man“, wiederholte er deshalb nur noch einmal seine Entschuldigung. „Ich wollt’s dir wirklich vorher sagen und dich fragen, was du davon hältst.“ Tai erwiderte darauf nichts. Es vergingen ein, zwei Minuten, in denen beide ihren Gedanken nach hingen. Dann ergriff der Blonde noch einmal das Wort. „Kommst du klar damit?“, er sah seinen Freund aufmerksam an. Tatsächlich war ihm die Antwort auf diese Frage verdammt wichtig. Er wollte nicht, dass seine Freundschaft mit Tai darunter litt, wenn er eine Beziehung mit dessen bester Freundin führte. Der Brünette hielt den Ball fest in seiner Hand und richtete sich wieder auf. Er sah kurz seinen Freund an, bevor er den Blick nachdenklich nach vorn richtete und mit den Achseln zuckte. „Keine Ahnung“, gab er ehrlich zurück. Yamato seufzte leise und erhob sich von Tais Schreibtischstuhl. Nicht die Antwort, die er erhofft, aber zumindest eine, die er erwartete hatte. Wahrscheinlich musste sein bester Freund nach diesem Überfall die neue Situation noch für sich selbst ausloten. „Okay,… wir warten es einfach ab“, resümierte der Musiker deshalb nur und Tai nickte knapp. „Ich lasse dich dann mal wieder in Ruhe grummeln und geh zurück zu den anderen“, verabschiedete sich Yamato schließlich schlicht und wollte gerade die Tür öffnen, als sich sein zurzeit äußerst schweigsamer Freund noch einmal rührte. „Matt sag …“, begann er langsam und hob den Blick in Yamatos Richtung. „Ist das sowas, wie die Sachen, die du mit den anderen Mädchen hattest? Das schien dir nicht besonders viel zu bedeuten.“ Taichi sah ihn prüfend an, aber Matt hielt seinem Blick problemlos stand. „Nein.“ Simpel und wahr. Wie kam Tai nur auf die Idee. Als ob er das tun würde. Mit Sora. Mit seiner besten Freundin. Er runzelte die Stirn. Was dachte sein bester Freund nur von ihm? „Gut. Sonst müsste ich dir wohl jetzt eine rein hauen.“ Tai überredete sich zu einem Grinsen und versuchte offensichtlich, die Stimmung aufzuhellen. Yamato sprang darauf an. „Ich verzichte. Deinen Kinnhaken kenne ich schon“, antwortete er mit einem schiefen Lächeln und verließ Taichis Zimmer. ____________________________________ Als Mimi an diesem Tag aufgrund der gestrigen Ereignisse äußerst spät aufwachte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig ausgeschlafen. Sie freute sich auf den heutigen Tag und vor allem auf den heutigen Abend. Nach wochenlangem Betteln hatten ihre Eltern ihr erlaubt, gemeinsam mit ihren Freundinnen auf die riesige Silvesterparty am Times Square zu gehen und den Balldrop zu sehen. Unter Aufsicht ihrer Eltern natürlich – aber hey! Immerhin bekam sie endlich einmal diese Sensation live mit! Freudig und aufgeregt wollte die frisch gebackene Vierzehnjährige gerade einen Abstecher in die Küche machen, als sie sah, dass ihr Laptop blinkte. Sie hatte gestern offensichtlich vergessen, ihn vor dem Schlafen gehen auszuschalten. Kurzerhand wickelte sie sich in ihre Kuscheldecke und ließ sich im Schneidersitz auf ihrem Schreibtischstuhl nieder, um nachzusehen, von wem die Nachricht kam. „Oh schön! Von Izzy!“, lächelte sie breit, als sie ihre neue E-Mail öffnete. Die junge Japanerin – gut, zurzeit war sie Amerikanerin – freute sich immer total, wenn ihr alter Schulfreund sie über die Geschehnisse in Japan auf dem Laufenden hielt. Eine Aufgabe, die das junge Computergenie hingebungsvoll erfüllte. Es vergingen kaum drei Tage, an denen sie keine E-Mail von ihm bekam. Das mochte sie sehr, denn obwohl sie hier in Amerika ein tolles Leben führte und neue Freunde hatte, vermisste sie ihre alten Freunde in Japan doch immer sehr. Leider schaffte sie es nicht, mit allen im ständigen Kontakt zu bleiben, aber zumindest mit Izzy konnte sie sich oft austauschen und auch mit Sora und Yolei schrieb und telefonierte sie regelmäßig. Neugierig begann sie, Izzys Mail zu lesen. Liebe Mimi, ich hoffe, du hast dich nach der ganzen Aufregung mit den Digimon in unserer Welt und unserer letzten Reise in die Digiwelt wieder ordentlich erholt! Das war wieder ein Abenteuer! Hoffen wir mal, dass so etwas nicht so schnell wieder passiert! Ich habe erst einmal ewig geschlafen und musste dann meinen Computer komplett defragmentieren. Nach diesen ganzen Zwischenfällen hat er total herumgesponnen. Zum Glück konnte ich allerdings alle Daten als Backup im Netzwerk speichern und neu aufspielen. Aber genug davon, ich weiß, du willst das sowieso nicht hören! Mimi lächelte in sich hinein, als sie die letzten paar Zeilen gelesen hatte. Das war typisch Izzy. Wahrscheinlich würde er immer mit seinem Computer verheiratet bleiben. Es sei denn, sie suchte ihm eine ordentliche Frau. Vielleicht sollte sie das bei ihrem nächsten Besuch in Tokio endlich einmal in Angriff nehmen. Heute Abend waren wir alle bei den Yagamis zu Hause. Es war wirklich eine tolle Überraschung! Unsere Eltern haben beschlossen, für uns eine Art Party zu schmeißen. Du weißt schon, wegen der ganzen Sache mit den Digimon. Meine Mum hat mir erzählt, dass die Eltern von Davis und den anderen neuen Digirittern sie, Tais und T.K.s Mutter interessiert und neugierig über die früheren Geschehnisse mit ‚den kleinen Monstern‘ ausgefragt haben. Sie war ein wenig stolz, dass sie ihnen davon berichten durfte. Jedenfalls haben alle Eltern super viel Essen gekocht und ich habe zusammen mit Tai und den anderen Silvester in Tais Wohnung gefeiert. Stimmt. Wieso vergaß sie das nur immer? Automatisch wanderte ihr Blick auf den Funkwecker, der auf ihrem Schreibtisch stand. Er zeigte 12:13 Uhr an. Das bedeutete ja, dass es in Japan bereits wieder früh am Morgen war. Dort hatte das neue Jahr also schon begonnen. Diese 13 Stunden Zeitverschiebung machten sie noch irgendwann ganz kirre. Sie musste unbedingt nachher allen ihren Freunden noch ein frohes neues Jahr wünschen! Kari und Yolei waren ganz besessen davon, mit diesem neuen Singstar-Spiel einen Gesangswettbewerb zu veranstalten. Naja, ich war nicht sonderlich begeistert. Aber die meisten hatten ziemlich viel Spaß. Natürlich hat Yamato gewonnen, wir anderen hatten keine Chance. Es war wirklich schade, dass du nicht dabei warst. Du hättest ihn vielleicht schlagen können! Ach, da fällt mir ein … stell dir vor! Matt und Sora sind jetzt ein Pärchen! Wir haben sie vorhin zufällig dabei erwischt, wie sie auf dem Balkon standen und sich küssten. Es war ihnen echt peinlich, aber sie konnten es dann ja nicht mehr abstreiten! Ich glaube, Tai war ein wenig verärgert. Aber die anderen fanden es alle ziemlich cool. Mimis Kinnlade fiel herunter. Wie bitte, was? Sora und Matt? Mimi konnte kaum glauben, was sie da las. Vor allem konnte sie kaum glauben, dass sie nichts davon wusste. Sofort griff sie nach ihrem Handy und tippte eine SMS an Sora. Du und Matt ein Pärchen? Ernsthaft? Unglaublich, dass du mich schmoren lässt. Erzähl mir alles!!! Sofort!!! Mimi Da hatte sich ihre beste Freundin also ernsthaft den hübschen Musikerjungen geangelt, ohne ihr etwas zu erzählen. Das hatte sie ihr gar nicht zugetraut. Sie musste zugeben, ein bisschen neidisch war sie schon. Es war nicht zu leugnen, dass sie den jungen Ishida auch ziemlich attraktiv fand. Aber mit seiner stillen Art war Mimi noch nie wirklich warm geworden. Sie fand ihn oft ziemlich abweisend, obwohl Sora ihr immer beteuert hatte, dass er eigentlich ein sehr mitfühlender Mensch sei. Das konnte sie sich kaum vorstellen. Aber Sora hatte schon immer einen guten Draht zu dem schweigsamen Einsiedler. Vielleicht brachte sie ihn ja auch etwas zum Auftauen. Mimi freute sich für ihre Freundin, wenn sie damit glücklich war. Mit einem sachten Schmunzeln las sie deshalb Izzys Mail zu Ende. Wir hatten jedenfalls einen echt schönen Abend und einen guten Start ins neue Jahr. Bei dir hat das neue Jahr ja noch gar nicht angefangen. Aber ich hoffe, dass du ebenfalls eine tolle Zeit haben wirst und ohne Sorgen durchstarten kannst! Ich halte dich auf dem Laufenden! Bis Bald Izzy P.S. Ich habe dir ein paar Bilder von gestern angehängt. Und ein Video von Matt bei unserem Wettbewerb. Tai wollte unbedingt, dass ich dir das sende. Er sagt, das MUSST du dir ansehen! Mimi lächelte nachdem sie die E-Mail zu Ende gelesen hatte und das erste Bild öffnete. Es zeigte einen großen Tisch mit einem riesigen Berg Essen. Mimi bekam sofort Hunger, aber mutmaßte, dass Tai und Davis wahrscheinlich nichts übrig gelassen hatten. Die nächsten drei Fotos zeigten ihre Freunde beim Gesangswettbewerb. Joe wirkte etwas verzweifelt, als er an der Reihe war. Izzy dagegen stand hoch konzentriert vor dem Fernseher und las den richtigen Text ab. Typisch für ihn. Auf allen drei Fotos saß Tai skeptisch mit verschränkten Armen in der Ecke und beobachtete das Geschehen. Das letzte Foto war ein Gruppenfoto von ihnen allen zusammen. Ihr sprang sofort Davis ins Auge, der mit einer Tüte Chips in der Hand breit in die Kamera grinste und den Daumen nach oben reckte. Links neben ihm standen Ken und Cody, eher zurückhaltend wie immer, aber glücklich lächelnd. T.K., Joe und Izzy saßen halbrund im Vordergrund, Karten in der Hand. Offensichtlich wurden sie für das Foto beim Spielen unterbrochen. Hinter ihnen entdeckte sie Sora und Matt. Yamato hatte den Arm um Soras Taille gelegt und die Rothaarige lehnte ihren Kopf an die Schulter des Musikers. Beide lächelten. Sora sah glücklich aus. Süß, kam es Mimi sofort in den Sinn. Sie musste zugeben, dass sie ein hübsches Paar waren. Neben ihnen standen Tai, Kari und Yolei. Die beiden Mädchen hatten den Brünetten in ihre Mitte genommen und spannten vor ihm ein Plakat. Sie grinsten munter in die Kamera. Als sie genauer hinsah, erkannte Mimi, dass auf das Plakat in weibliches Gesicht gemalt war, mit langen braunen Haaren. Darunter stand in großen Buchstaben ‚Mimi‘. Sie musste sofort breit grinsen. Natürlich hatten ihre Freunde sie nicht vergessen. Wenigstens auf diese Art hatte sie mit ihnen den Silvesterabend verbracht. Sie freute sich so sehr über diese kleine Geste, dass sie sofort daran dachte, bald wieder nach Japan reisen zu müssen. Vielleicht konnte sie ja ihre Eltern überreden, dass sie in den Frühlingsferien ein paar Tage ihre Oma besuchen durfte. Je früher sie mal wieder nach Japan kam, desto besser! Sie dachte gerade daran, ihre neuen Pläne direkt in die Tat umzusetzen und ihre Eltern mit einem Bettelblick aufzusuchen, als sie sich an das Video erinnerte, das sie doch unbedingt sehen sollte. Erwartungsvoll klickte sie das Video an und drückte auf ‚play‘. Ihre Augen wurden groß, als das Bild erschien und der Ton begann. Sie starrte grinsend auf den Bildschirm. „Oh mein Gott!“, stieß sie nur aus und begann zu lachen. Tai hatte Recht. Das MUSSTE sie sehen! Eine geniale Performance. Sie schüttelte sachte den Kopf und erhob sich. Jetzt wollte sie erst recht ihre Freunde in Japan besuchen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)