Von Sündenböcken und roten Schafen von LockXOn ([Oneshot-Sammlung]) ================================================================================ To Dead Birds ------------- Ein Kampf gegen das eigene Ich aus der Zukunft konnte emotional schwer erschöpfend sein – zu diesem Schluss war Timothy Drake bereits gekommen, als es zum ersten Schlagabtausch mit seinem Alter Ego gekommen war. Nun war es vorbei, er und seine Familie hatten einmal mehr alle möglichen Leben gerettet und er hätte sich auf seine daunenweiche Matratze werfen und bis zum nächsten drohenden Weltuntergang schlafen können.   Hätte.   Aber nein, anstatt sich nach monatelanger Dauerbelastung endlich eine Pause zu gönnen, machte ihm sein hoffnungslos aufgewühlter Geist einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Er war wach, hellwach sogar, aufgeregt, zappelig und an friedliche Ruhe war in diesem Zustand nicht zu denken.   Seufzend lehnte sich Timothy schwerer über das parkende Motorrad, während sich über ihm das Tor zum Hangar auftat und sich gleich darauf um ihn herum vier Batjets auf die unteren Plattformen der Höhle senkten. Es dauerte etwas, ehe er Stimmen und Schritte auf steinernen Treppenstufen vernahm, die in unterschiedlichem Tempo näher kamen.   Die Akustik war so schlecht, dass er nichts vom Gesagten verstand, die Höhlenwände jedes Geräusch mehrfach zurückwerfend und es zu einem sinnlosen Potpourri an Lärm vermischend, aber er war sich ziemlich sicher, dass es sich um einen heftigen Streit handelte. Er machte sich keine besonderen Sorgen – die lauteste Stimme gehörte Damian, und ob und worüber sich dieses großspurige Balg so dermaßen aufregte, ging ihm höchst peripher am Gesäß vorbei.   Und wirklich, keine Minute später stürmte Damian mit hochrotem Kopf und fletschenden Zähnen an ihm vorbei Richtung Geheimgang, ihn noch unhöflich mit einem hysterischen „Was guckst du so blöd?!“ anblaffend. Ein Seufzen ertönte neben ihm und Bruce walzte schwerfällig hinter seinem jüngsten Sohn her, als hätte er zehnmal lieber die Last der Apokalypse auf den Schultern getragen als die der Vaterschaft. Ein einzelnes sanftes Streicheln über den Kopf im Vorübergehen, gepaart mit einem entschuldigenden Blick ließ Timothy schmunzeln. Er war nicht beleidigt, dass sein Mentor wohl im Moment keine Absicht hatte, sich einen umfassenden Bericht über all die mysteriösen Begebenheiten zukommen zu lassen. Um ehrlich zu sein, war er sogar froh über die Gnadenfrist. Er hatte derzeit schlichtweg keine Lust, sich von noch mehr unangenehmen Erinnerungen aufrütteln zu lassen.   Richard war der Nächste, der den Parkplatz erreichte und im Gegensatz zu den anderen brachte er zumindest die Energie auf, ihn für einige Augenblicke wortlos in die Arme zu schließen, ehe er mit einer kaum vernehmlichen Entschuldigung hinter den anderen drein schlich. Timothy brummte halb erstaunt, halb amüsiert in sich hinein.   Den großartigen Fliegenden Grayson so dermaßen fertig zu sehen, dass er nicht einmal mehr um Aussprache winselte, war selten genug. Aber dass die Energie eines seiner Brüder die seine überlebte, das hielten alle Familienmitglieder noch immer für eine Legende, weil es so selten vorkam, dass sie es jedes Mal wieder vergaßen. Und doch erschien Jason nun als Letztes neben ihm, aufrecht, mit einer der nicht mehr sehr oft vorkommenden qualmenden Zigaretten im Mundwinkel. Seine Augen glitzerten verdächtig und Timothy schüttelte schnaubend den Kopf: „Du hast Damian provoziert, nicht wahr?“ „Yepp“, grinste er außerordentlich selbstzufrieden um den Glimmstängel herum.   „War das echt nötig?“   „Ist es jemals nötig?“   „... Nein.“   Timothy überlegte kurz.   „Aber extrem unterhaltsam.“   Jasons Grinsen verbreiterte sich.   „Aber extrem unterhaltsam.“   Timothy fragte sich, ob es sich, wie so oft, in Wirklichkeit um die Nettigkeit gehandelt hatte, ihren emotional minderbemittelten Höllenspross, nachdem sie sich nicht mehr auf die unmittelbar bevorstehende Gefahr hatten konzentrieren müssen, von der drückenden Atmosphäre abzulenken, die von der unerwarteten Rückkehr eines bereits abgeschriebenen Konkurrenten um die Gunst seines Vaters ausgegangen war. Und vielleicht, nur vielleicht freute sich die Dämonenbrut ja ein bisschen, dass er wieder da war. Und da sie alle mit Emotionen nicht gut umzugehen wussten, war es gut möglich, dass der initiierte Streit eine Erleichterung dargestellt hatte – die Erleichterung, in einen gewohnten Umgang zu verfallen, ohne sich mit peinlichem Glücksgefühl herumplagen zu müssen. Jason hatte eben seine ganz eigene Art, ihnen zu helfen.   Eine Art, die Timothy nun gerne für sich beanspruchen wollte. Und so hielt er ihn, ehe er sich zu weit von ihm entfernen konnte, mit einem Räuspern auf und fragte bestimmt: „Hast du Lust auf einen kleinen Trainingskampf?“ Jason blieb stehen und hob irritiert eine Augenbraue: „Was, immer noch Energie für sowas? Lässt du im Alter so sehr nach, dass Tim-Bat dich nicht genug zum Schwitzen bringen konnte?“   „Ja oder nein?“   „Jesses, war nur ein Witz! Ihr müsst echt was gegen euren ganzen tierischen Ernst unternehmen, Nestflüchter! Ansonsten reißen eure Nerven demnächst auch ganz ohne jegliche Provokation!“   Timothy schmunzelte abermals dezent, während er einem leise grummelnden Jason zurück zu einer der unteren Plattformen folgte, die fast vollständig mit Gummiboden ausgelegt war. „Besser hier als im Haus, oder? Oben werden wir wohl kaum unsere wohlverdiente Ruhe haben“, Jason ließ Helm und Maske zu Boden fallen, streifte die Lederjacke ab, ebenso wie das gepanzerte Oberteil und Handschuhe, trat zum Abschluss die Schienbeinschützer, stahlkappenbewährten Schuhe und nach kurzer Überlegung letztendlich auch die Socken hinterher. Auch Timothy entledigte sich fast aller Komponenten seiner Red-Robin-Rüstung und musterte dabei die pulsierenden Muskeln unter Jasons Tank Top. Sie schienen gut trainiert, zielgerichteter als bei ihrem letzten Sparring und er vermutete den Einfluss eines Lehrers dahinter. War Richard endlich zu dem Starrkopf durchgedrungen?   Eine Welle froher Erwartung überkam ihn beim Gedanken, dass Jason mit seinem Körperbau auch seine Taktik geändert haben könnte, was dem Training eine frische Spannung verlieh. Hinterhältig grinsend ließ er sich halblaut vernehmen: „Puh, apropos Schwitzen: Du brauchst dringend eine Dusche. Stinkst wie ein Iltis!“ Er konnte sich das Augenrollen denken, doch als Jason sich ihm mit einem ironischen Diner zuwandte, wirkte er vollkommen gefasst: „Oh, Entschuldigung, Mr. Suck McPooface, ich konnte ja nicht ahnen, dass ich nach ʼner scheißharten Mission zu ʼnem Scheiß Trainingsmatch herausgefordert werde-“ Schnell hob Timothy beschwichtigend die Hände: „Okay, kapiert.“   „- sonst hätte ich natürlich extrastarkes Deodorant aufgetragen-“   „Es ist okay, Jason!“   „- und meine frühlingsfrische Ersatzgarderobe allzeit bereit mit mir geführt! Übrigens mit Blümchen auf der atmungsaktiven Unterwäsche.“   „Womit hab ich das verdient ...?“   „Aber mal keine Sorge, Sir Feiner Pinsel, ich habe fest vor, Ihnen eine wenigstens halbwegs angemessene Herausforderung zu bieten, damit sich Ihro Hochwohlgeritten schon bald in seinen ganz eigenen Körperflüssigkeiten wälzen kann. Gott bewahre, dass Sie in Ihrer unendlichen Überlegenheit nicht gleich in den ersten drei Minuten einschlafen!“   „Jason, bitte.“   Er hätte wissen sollen, dass es ein hohes Risiko darstellte, die scharfe Zunge seines Gegenübers herauszufordern. Anscheinend hatte er sich zu lange in seinem überirdischen Gefängnis ausgeruht. Jason mochte seinen Schwerpunkt von brachialer Gewalt auf marginal mehr Strategie ausgelagert haben, aber sein Mundwerk würde er niemals unter Kontrolle bekommen können.   Gnädigerweise ließ sich Jason von seinem flehenden Tonfall erweichen und stattdessen zur Auflockerung ein paarmal die Schultern kreisen, ehe er in Kampfpose verfiel: „Bereit, wenn duʼs bist, Timbers!“   Die ersten paar Hiebe waren lässig, halbgar, mehr dazu gedacht, die Fahrwasser auszutesten. Anschließend umkreisten sie sich vorsichtig und Jason fragte beiläufig: „Also, womit habe ich die Ehre, mich ausgerechnet jetzt mit dir messen zu dürfen? Fortschritt prüfen?“ „Nichts so Tiefgründiges“, erwiderte Timothy knapp, „Kann nur nicht schlafen.“   „Du siehst nicht unbedingt aus, als hättest du’s überhaupt schon probiert.“   „Vertrau mir. Ich weiß, wenn etwas vergebliche Liebesmüh ist.“   „Hm. Musst du wissen.“   Zwei schnelle Haken, rechts, links, ein mittlerer Tritt. Ducken, ein tiefer Konter. Ausgewichen.   „Irgendwas Wichtiges passiert, während ich weg war?“   Hoher Tritt. Abgewehrt. Hocke, tiefer Schlag. Ausgewichen.   „Nichts, was wir nicht ohne deine Hilfe haben regeln können.“   Greifen. Knapp ausgewichen. Lufttritt.   „Autsch.“   „Bist langsam geworden. Pennyworth für deine Gedanken?“   Linker Haken, tiefer Schlag, hoher Schlag. Abgewehrt. Tiefer Tritt, erfolgreich.   „Der war unfair.“   „Straßenkämpfer. Vergessen während deines kleinen Urlaubs?“   „War schwerlich ein Urlaub, Jason.“   Kinnhaken!   „Hm. Offensichtlich doch nicht alles verlernt.“   Schnelle, überraschend schnelle Schlagkombination, die Hälfte davon Treffer. Ausgewichen, Konter, Gegenangriff. Schulterwurf. Erfolgreich?!   „Okay, der kam unerwartet. Hätte nicht gedacht, dass du mich vom Boden hochkriegst, mit den dünnen Ärmchen.“   „Ist nicht das erste Mal, dass ich dich fliegen lasse, Jay, das scheinst du verdrängt zu haben. Aber ... Ich war ständig gefordert in letzter Zeit. Hab wohl ein bisschen was zugelegt zwischendurch.“   „Solange du nicht gänzlich zu uns in die Muskelabteilung überwechselst. Eins kann ich dir nämlich versichern: dem Belfry kann nichts Besseres passieren als deine Rückkehr. Mit deiner Person hat die Besatzung über neunzig Prozent ihrer Hirntätigkeit verloren.“   Anlauf und Sprungtritt. Erwartet und ausgewichen. Seitlicher Schwinger. Ausgewichen. Mittlerer Tritt, tiefer Tritt, hoher ... Ups, mittlerer Tritt. Treffer und kurzer Atemaussetzer. Gegenangriff. Hoher Tritt, doppelter linker Haken, rechter Haken, Überschlag. Treffer.   „Du übertreibst. Sie sind uns in absolut allen Belangen ebenbür-“   Gegenangriff, rechter Haken. Zu schnell zum Ausweichen.   „Sie haben mich an Amanda Waller ausgeliefert.“   Paralyse. Einzelnes Schnippen gegen die Stirn.   Jason musterte ihn fast mitleidig und ihm wurde klar, dass sich seine Fassungslosigkeit in seinem Gesichtsausdruck deutlich gemacht haben musste: „Mach dir nicht ins Hemd. Zu dem Zeitpunkt war es genau das, was wir wollten. Ist in Retrospektive nur ein bisschen beunruhigend, dass sie nicht eine Sekunde lang gezögert haben. Und ziemlich enttäuschend, dass B sie ungestraft hat agieren lassen. Was soll’s? Gegessen.“ Trotz der gelassenen Worte richtete er sich dann seufzend auf und legte kopfschüttelnd die Hände in die Hüften: „Tim ... Hör zu, ich fürchte, jetzt gerade ist echt nicht der beste Augenblick, sich mit mir anzulegen. Bin noch nicht total runtergekommen vom Kampf vorhin und ... ich traue mir im Moment nicht ganz zu, besonders weise Entscheidungen zu treffen.“   Timothy stutzte und musterte ihn eine Weile stumm, bis Jason sich umdrehte und auf ihre zurückgelassene Ausrüstung zuging. Seine Augen weiteten sich in plötzlicher Erkenntnis: „Du bist sauer auf mich.“ Jason winkte über die Schulter hinweg ab: „Nah.“ Seine sich sichtbar anspannenden Schultern jedoch sprachen eine andere Sprache. Timothy kniff misstrauisch die Augen ein Stück zusammen: „Hey! Verkauf mich nicht für blöd, ich sehʼs dir doch an der Nasenspitze an!“   „Nein, wirklich, ich-“   „Halt dich um meinetwillen bloß nicht zurück, wir wissen alle, worauf das hinauslaufen kann!“   „Tim, es ist-“   Timothy stürmte hinter dem sich immer weiter zurückziehenden Bruder her und packte ihn entschlossen am Arm: „Himmelnocheins, lass es doch einfach rau-“   „NEIN, VERDAMMT NOCHMAL!“   Jason schwang herum und riss sich zornentbrannt los. Sein in Wut verzogenes Gesicht ließ keinen weiteren Zweifel an seinem inneren Tumult zu. Keine Chance, noch etwas zu dementieren. Was für ein Pech. Timothy sah ihn nur triumphierend an und verschränkte schweigend die Arme. Jason starrte für einige Sekunden in Rage zurück ...   Und riss ihn dann mit einem blitzschnellen, völlig unerwarteten Tritt von den Beinen. Während sich Timothy überrumpelt aufzurichten versuchte, strich er sich frustriert durchs Haar: „FUCK!“ „Sag mir warum“, drängte er ihn noch etwas eindringlicher, nur minimal abgelenkt durch den Schmerz, den ihm die überraschende Attacke eingebracht hatte, „Du warst noch nie gut darin, etwas für dich zu behalten, was dich stört. Und ich habe dich immer dafür geschätzt, nie still und heimlich auf der Wahrheit herum zu kauen.“ Er erntete einen finsteren und sehr, sehr unsicheren Blick.   Doch endlich atmete Jason tief durch, wandte sich ihm voll zu und sagte mit schwerem Vorwurf in der Stimme: „Du hast mich allein gelassen.“ Timothy blinzelte irritiert: „Wie meinst du das?“ Jasons Miene veränderte sich nicht: „Sie haben dich für tot erklärt, Tim. Sie haben eine verschissene Beerdigung abgehalten!“ „Aber ...“, sein plötzlich staubtrockener Mund zwang ihn zum Schlucken und einem erneuten Ansetzen, „Aber das ist nicht meine Schuld!“   „Du hast einfach ausgecheckt und mich im Stich gelassen.“   „Du bist völlig irrational!“   „JA, SHIT! ERZÄHL MIR WAS NEUES!“   Jason trat ihm so hart vor die Brust, dass er einige Meter von ihm wegkatapultiert wurde. Der Aussetzer ließ Timothy, nachdem er einen heftigen Hustenanfall hinter sich gebracht hatte, schockiert den Mund zuklappen und Jason nur wortlos anstarren. Dieser rieb sich zitternde Hände übers Gesicht und fauchte in die Handflächen: „Siehst du, genau das ist der Grund, warum ich es nicht sagen wollte! Es ist völlig irrational! Aber nein! Ihr und eure verschissene Gier nach Informationen! Immer prokeln und prokeln und sich dann beschweren, dass man irrational ist!“ „Jason“, erwiderte Timothy eindringlich, sich geistesabwesend den brennenden Solarplexus massierend, „ich bin entführt worden. Ich wurde gegen meinen Willen in einer Zelle festgehalten, aus der ich erst aus eigener Kraft ausbrechen musste, um hierher zurückzugelangen.“ „Und ich weiß“, explodierte Jason erneut, riss sich dann sichtlich zusammen, „Ich weiß, dass egal was passiert ist, du alles daran gesetzt hast, so schnell wie möglich zurückzukommen! Aber alles, woran ich denken kann, ist, dass du mich allein gelassen hast! ... Bekloppt, richtig?“ Die letzten Worte stieß er halb lachend aus – hysterisch lachend.   Timothy atmete tief durch und rappelte sich endlich wieder auf. „Fühlst du dich verraten?“, fragte er sanft und mit so wenig Vorwurf wie möglich. Jason sah ihn trotzdem deutlich misstrauisch, aber auch neugierig an, als wunderte er sich, dass jemand seinen Gedankengang nachvollziehen konnte – und sich gleichzeitig fragte, welche Folgen das für ihn haben mochte. Das ewige Straßenkind.   „... Ja?“   Und dieses Mal hatte die Falle zugeschnappt.   „Ist es die Grube?“   „Möglich. Um ehrlich zu sein: Ich hoff’s. Alles andere hieße, dass ich natürlicherweise irrational bin.“   „Ja, nun ... Soll ich dir was verraten?“   Und Jason verspannte sich ruckartig, als ihn ein so hasserfüllter Blick traf, dass es ihm kalt den Buckel herunterlief. „Alles, woran ich denken kann“, zischte Timothy mit mühsam unterdrückter Wut in jeder Faser seines Körpers, „ist die Frage, wo zum Teufel ihr die ganze Zeit gewesen seid!“ Jasons Augen weiteten sich und verengten sich dann zu Schlitzen: „Was willst du damit sagen, hm?!“ Wo sich Richard womöglich schuldbewusst hinter sofortigen Entschuldigungen versteckt hätte, trat er umgehend die Offensive an. Ganz so, wie Timothy es vorausgesehen hatte. Man konnte vielleicht eine Taktik ändern, aber ein natürliches Temperament unter Kontrolle zu halten, war so gut wie unmöglich.   Und Jasons unbändiger Zorn war auch alles, nachdem es Timothy in diesem Moment verlangte.   Sie setzten sich wie von selbst wieder in Bewegung, sich drohend wie Raubkatzen umkreisend. „Die ganze Zeit lang, in der ich um meine verdammte Freiheit gekämpft habe, in der ich nach einem verdammten Ausweg gesucht habe ...“, Timothy betonte vorsichtig jedes Wort, „Wo seid ihr gewesen? Ich kann mich nämlich beim besten Willen nicht daran erinnern, auch nur einen einzigen Handgriff Hilfestellung von eurer Seite hier erhalten zu haben! Habt ihr überhaupt mal daran gedacht, mir zu helfen, hm?! Mir helfen zu wollen?!“   „Wir hatten nicht einen einzigen Anhaltspunkt! Alle Indizien deuteten auf deinen Tod hin!“   „UND ICH WEISS DAS!“   Sie blieben stehen, schockiert durch den Aufschrei, den überreizten Tonfall, nichtsdestotrotz lauernd wie zum Sprung bereite Gegner.   „Ich weiß es, aber das ändert nichts daran, dass es Momente gab, in denen ich eure Hilfe herbeigesehnt habe ... um eure Hilfe gebettelt habe! Und jetzt stinksauer bin, weil sie NIE GEKOMMEN IST!“   Sie fletschten sich gegenseitig an, schwer atmend und voller Wut und noch mehr Schuldgefühlen, doch nicht fähig, den Zorn mit Vernunft zu ersticken. Und dann verzog sich Timothys Zähneknirschen zu einer hässlichen Grimasse verzweifelter Belustigung: „... Bekloppt, richtig?“   Sie musterten sich lange und eindringlich, um Hass und Wut und unbändige Aggression und Angst und Sorge umeinander und all der über Monate hinweg angesammelte Gram und Frust sich verflüchtigen zu lassen, indem sie das Unausweichliche nur lange genug hinauszögerten. Ihre Körper zitterten unter der Anspannung, Knochen, Muskeln, Zähne knackten leise im Gefängnis der Haut, die sich unter dem Fieber der Empörung rötete.   Wie zu erwarten, griff Jason zuerst an.   Es war nicht wie zuvor. Kein vorsichtiges Beschnuppern mehr, keine Zurückhaltung, keine Rücksicht.   Schläge, Tritte, fair und unfair lösten sich ab, überschnitten sich, Griffe, Würfe wurden ausgeführt, ohne darauf zu achten, ob oder an was der Gegner sich bei der Landung übermäßig verletzen konnte, Stöße gegen alles, Wände, Geländer, Mobiliar, Fahrzeuge erfolgten mit aller Kraft, mit vollem Einsatz, egal was zerstört wurde, Krachen, Klirren, Poltern erfüllte die gesamte Bathöhle – und endlich flossen auch noch Kratzen, Beißen und Spucken in das gegenseitige Repertoire mit ein. Einer konnte so gut austeilen wie der andere, und so gab es eine Menge einzustecken auf beiden Seiten.   Der Kampf – oder besser gesagt, das Scharmützel dauerte eine ganze Weile, durch alle Bereiche der Höhle, die die beiden erreichen konnten, hin und her mit schweißtreibender Intensität und mehr Schmerz und Blut, als sie sich zu Beginn hatten träumen lassen.   Das Ende kam abrupt und weniger entscheidend als sie sich gewünscht hatten – mit einem etwas zu enthusiastischen Gerangel Richtung Abgrund.   Timothy war der erste, der den Rand der Plattform übertrat, zerschlissene Finger fest ins Top seines Bruders gekrallt. Dadurch riss er Jason mit sich ins Leere, der seinerseits soeben zu einem weiten Schwinger ausgeholt hatte. Erst das magenumdrehende Gefühl des freien Falls weckte sie aus der zornbedingten Trance, viel zu spät, um noch irgendeine rettende Kante oder einen Handlauf zu Fassen zu bekommen. Mit Schrecken sahen sie den sicheren Boden der Plattform sich rasch von ihnen entfernen.   Ihre Blicke trafen sich. Ohne zu zögern verankerten sie jeweils eine Hand ineinander. Gleichzeitig griffen sie mit der anderen in ihre Gürteltaschen und beförderten ihre Greifhaken zutage, zielten nur grob und drückten ab. Sie fühlten den Stahl haltlos über glatte Bodenfließen schlittern, spürten den Ruck, der durch ihre fest verschlungenen Körper ging, als Jasons Haken für einen kurzen Augenblick eine Säule streifte, letztendlich aber doch keinen Ansatzpunkt fand ...   Und schließlich die Erleichterung, als Timothys sich im Reifen eines Batmobils versenkte und den Sturz so weit abbremste, dass sie beim Aufschlagen auf das dunkle Wasser des unterirdischen Sees nicht wie reife Birnen zerplatzen würden.   Der Wagen rutschte durch das aufgefangene Gewicht ein Stück mit und wurde von dem niedrigen Geländer aufgehalten, welche die Plattformen umgaben, sodass sie einige Meter über dem See zum Stehen kamen und tatenlos in der Luft baumelten, ehe das Gummi des Reifens nachgab und sie den Rest des Weges ins eiskalte Nass tauchten.   Wenige Sekunden später durchbrachen sie hustend und japsend die Wasseroberfläche, im ersten Moment reichlich orientierungslos, doch dann visierten beide den nicht weit entfernten Steg an, brachten sich mit einigen kräftigen Zügen in Sicherheit und hievten sich mit viel Mühe halb aufs Trockene, wo sie, sich zugewandt, liegen blieben und eine Weile nur eifrig nach Luft schnappten.   Als sie die Augen aufschlugen und sich musterten, brachte Jason schließlich immer noch atemlos, aber frech wie gewohnt hervor: „Na? ... Dusche ... genug für dich?“ „Nun“, setzte Timothy ähnlich kümmerlich dagegen, „es ist ... ein Anfang.“ Jason schnaubte und verfiel in einen erneuten Hustenanfall, als ein Schwall Wasser gleich mit aus seiner Nase lief: „Ich wär ... mir da nicht so sicher. Hast ... du auch nur ʼne grobe Ahnung, wie ... wie viele Fledermäuse im Laufe der Zeit in ... in diesen Tümpel geschissen haben?!“   Timothys lautes Prusten war alles, was es brauchte, um beide die Kontrolle verlieren zu lassen.   Sie lachten, husteten, lachten noch mehr, spuckten dazwischen Bäche von schmutzigem Wasser aus und lachten lauter.   Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich soweit beruhigt hatten, um sich mit nervenzermürbendem Kraftaufwand das letzte Stück aus dem See zu ziehen, mehr gerobbt als aufgestanden, was sie nur in weiteres Kichern verfallen ließ.   Als sie sich endlich aufgerappelt hatten und den weiten Weg nach oben antraten, murmelte Jason vorwurfsvoll: „Ich hoffe, du hast dich jetzt endlich genug ausgetobt, denn ich muss sagen, ich bin fertig für heute.“ „Jason Todd, freiwillig eine Schwäche eingestehen?“, witzelte Timothy und erntete einen harten Ellenbogenstoß in die Rippen dafür, „Danke, Jay. Ich fühle mich jetzt vollkommen ausgelastet und bin ziemlich sicher, heute tief und fest schlafen zu können.“ Dann winselte er leise und strich sich stöhnend über den Bauch: „Obwohl ich gehofft hatte, den Gang zur Notaufnahme zu vermeiden. Dazu sind Trainingsmatches eigentlich da. Kennst du echt keine Mäßigung?“ „Nie getan, nicht geplant“, nickte sein Bruder stolz und schüttelte angewidert unidentifizierbares Treibgut aus den Hosentaschen, „Pfui Spinne, wenn ich nach Hause komme, wandert die sofort in den Ofen, soviel steht fest. Hoffe, ich kriege deinetwegen nicht irgendeinen komischen Ausschlag ...“   Timothy runzelte missbilligend die Stirn: „Du willst gehen? Du bist klatschnass, warum bleibst du nicht über Nacht hier?“ Jason warf ihm einen mitleidigen Seitenblick zu: „ʼtschuldige, Nestflüchter, aber ich wohne nicht unbedingt mehr hier.“   „Na und? Ich auch nicht, aber Bruce würde uns nicht einmal den Wiedereinzug verwehren, geschweige denn, alle Jubeljahre zu übernachten.“   Jason schwieg und Timothy beobachtete den ernsten, fast niedergeschlagenen Gesichtsausdruck, bevor er sich räuspernd zusammenriss: „... Ja, mag sein.“ Mehr sagte er nicht und Timothy überkam das ungute Gefühl, dass er noch immer einen großen Unterschied sah zwischen sich und dem Rest der Kinderschar – als ob Bruce ihm nicht die gleichen Privilegien eingeräumt hätte. Mit einem festen Griff legte er ihm die Hand auf den Bizeps: „Bleib. Du holst dir den Tod da draußen. Und wir wollen die Geduld des Schicksals doch nicht überstrapazieren, oder?“ Jason legte sich fassungslos eine Hand aufs Herz und hakte gespielt ungläubig nach: „Du wagst es wirklich, dich über meinen Tod lustig zu machen? Hab ich dich nicht gut genug vermöbelt vorhin, du dreiste Krawallzicke?“ Er schubste ihn leicht Richtung Abgrund, wurde leicht gen Wand geschubst und schubste nochmal fester zurück, ehe er entschieden abwinkte: „Außerdem hab ich hier schon seit langer Zeit nicht mal mehr Ersatzklamotten.“ Wenig eingeschüchtert, offenbar sogar eher entschlossen, ihm so lange auf den Nerven herum zu trampeln, bis er aufgab, hielt Timothy direkt dagegen: „Du kannst doch welche von Dick haben. Er wird dir mit Sicherheit gerne welche leihen.“ Er schnaubte abfällig: „Nur über meine Leiche! Du weißt doch genau, welche Abscheulichkeiten in den hinteren Bereichen seines Kleiderschranks hausen, oder? Ich will mir gar nicht ausmalen, welche von denen er wohl ‚zufällig gerade übrig hat‘!“   „Nun, dann kannst du doch mal meine anprobieren. Schließlich ist unser Größenunterschied gar nicht mehr sooooo groß.“   „Träum weiter. Um uns einzuholen, musst du Stelzen tragen!“   „Oh, ich weiß nicht ... Sollen wir nachmessen?“   Und weil sie knausrige kleine Bastarde waren, die dem anderen den Triumph nicht gönnten, taten sie, wenig später oben angekommen, genau das.   Jason überprüfte das Ergebnis, überprüfte es dann noch ein zweites Mal und funkelte den breit grinsenden Jungen neben sich mürrisch an: „Das beweist gar nichts. Du kannst dich immer noch dreimal hinter mir verstecken.“ Timothy, offensichtlich lebensmüde geworden durch Erschöpfung und möglicher Gehirnerschütterung, klopfte ihm unschuldig lächelnd mehrmals auf den Bauch: „Das dürfte mehr an deinem Speiseplan liegen als an irgendwas sonst. Hast du schon mal daran gedacht, auf den einen oder anderen Chilidog zu verzichten?“   „Nein. Und vielmehr solltest du einfach mal was anderes runter schlingen als deine Grundnahrungsmittel Robusta, Liberica, Arabica und Maragogype.“   „Hey, Maragogype kommt nur selten vor! Viel zu wenig Koffein. Außerdem weiß jedes Kind, dass Junkfood fett macht und Getränke nicht!“   „Selber hey, und es weiß auch jedes Kind, dass Kaffee nicht zu den Getränken gehört! Und nur, dass du’s weißt: Jedes Gramm, was du hier siehst, ist reinstes Muskelgewebe.“   „Sicher, sicher. Red es dir nur lang genug ein.“   Und auf einmal legte sich eine unkomfortable Stille über sie, die sie erst irritiert blinzeln und dann etwas hilflos die Blicke abschweifen ließ.   Es dauerte handfeste fünf Minuten, bevor Jason den läppischen Abstand zwischen ihnen mit einem frustrierten „Fuck!“ überbrückte und Timothy fluchend um den Hals fiel.   „‚Es tut mir leid‘?! ‚ES TUT MIR LEID‘?! Oh, mir tut’s auch leid, verlass dich drauf! Nämlich, dass ich jemals auch nur vage angenommen hab, du könntest auf deinen gottverdammten Arsch selber aufpassen! LECK MICH! Das nächste Mal, wenn du dich entschuldigst und absetzt wie ein verschissener WASCHLAPPEN prügel ich deine Eier in die Pfanne und lass dich beim BRATEN ZUSEHEN! Scheiße, verdammt. Verfickte Scheiße! Fick dich ins Knie, du dreimal verschissenes Arschloch! Herrgott VERDAMMT!“   Timothy quetschte mit nicht weniger Kraft zurück, das Gesicht zwischen Jasons Ohr und Schulter vergraben, nicht in der Lage, ein lautes Schluchzen zu unterdrücken.   Nah genug. Jasons Tirade war nah genug dran an dem so lange ersehnten „Willkommen zurück“, dass es ihm plötzlich herzlich gleichgültig war, dass er sich mutterseelenallein bis nach Hause hatte durchkämpfen müssen. Und er kannte seinen impertinenten Bruder gut genug, um die harschen Worte als ein überglückliches „Hab dich vermisst“ zu übersetzen. Ihm entfuhr ein feuchtes Lachen, was nichts mit dem Restwasser in seinem Magen zu tun hatte: „Ich dich auch, Jay. Ich dich doch auch.“   Irgendwann nach einer unbestimmten Ewigkeit lösten sie sich wieder voneinander und sahen schüchtern mal hierhin, mal dorthin, bis Jason sich verlegen räusperte und energisch den Weg Richtung Arbeitszimmer einschlug: „Okay, sind wir jetzt also endlich wieder bereit, die Weltherrschaft an uns zu reißen, Brain?!“   Timothy verlor keine Sekunde, ihm grinsend hinterherzulaufen: „Keine tödlichen Verletzungen, Pinky, nicht vergessen!“   „Spielverderber! Alle miteinander!“   ---   „Hey, Jay, ich leg dir die Sachen aufs Bett, okay?“, rief Richard quer durchs Zimmer gen verschlossene Badezimmertür, „Und wo wir schon mal beim Thema sind: Alfred sagt dir immer wieder, dass du deinen Schrank jederzeit mit so vielen Klamotten vollstopfen kannst, wie du brauchst, solange sie nicht töten oder Haare verlieren, vergiss das nicht! Du solltest echt mal ein paar Outfits lagern, denn falls es dir noch nicht aufgefallen ist, du bist in letzter Zeit wieder ziemlich oft hier!“ „Ja, sehr freundlich, Dick“, kam es unbeeindruckt durch das Rauschen der Dusche zurück, „ich werd drüber nachdenken. Vielleicht. Eventuell. Wenn ich in meiner Armut zufällig die eine oder andere Kombination entbehren kann.“   „Wir können gerne mal zusammen einkaufen gehen, wenn du Lust hast. Ich spendier dir was, wenn du möchtest!“   „Hab ich zu viel Seife im Gehörgang oder hat mich Ladykiller Dickward Grayson gerade wirklich zum Shoppen eingeladen? Entweder brauchst du ʼne Brille oder ich muss mein Zuviel an Östrogenen untersuchen lassen.“   „Apropos, da fällt mir doch glatt wieder was ein!“   „Muss ich schon mal das Fenster öffnen, um schneller fliehen zu können?“   „Nah, Jay, wo denkst du denn hin? Ich hab mich nur gerade erinnert, dass ich beim letzten Bummel im Center was gesehen habe, was mich hundertprozentig an dich erinnert hat und musste es einfach mitnehmen! Ich wollte eigentlich bis zu deinem Geburtstag warten, aber was soll’s, du brauchst es jetzt nötiger. Wie sieht’s aus? Willst du dir die Überraschung verderben?“   „Wenn ich’s jetzt nehme, eröffnet sich mir die Chance, die Anzahl der Präsente zu verdoppeln. Wär ja schön blöd, wenn ich’s ausschlagen würde.“   „Gut mitgedacht! Und mir eröffnet es die Chance, mir gleich nochmal was Schönes für dich einfallen zu lassen!“   „Jetzt will ich’s irgendwie nicht mehr ...“   „Ach, Jay, sei kein Hasenfuß! Ich versprech dir, du wirst Bauklötze staunen!“   „... Na schön. Her mit dem Teil, bevor ichʼs mir anders überlege.“   „Ooooooh, ich hab immer gewusst, dass du uns ganz doll liebhast!“   „Schnauze, Dickshit! Und jetzt zieh Leine und tu dein Schlimmstes, mich kannst du mit nichts mehr erschüttern!“   ---   Er war erschüttert. So erschüttert, dass er es beinahe vergaß, den Rest seiner Lädierungen und Prellungen zu versorgen, die an seinem Körper brannten. Nun wünschte er sich, nicht der morbiden Neugier nachgegeben zu haben und sich, sicher vor äußeren dicklichen Einflüssen, im fest verschlossenen Badezimmer zuerst aller nötigen medizinischen Versorgung hingegeben zu haben. Doch dafür war es nun zu spät.   Er war gekommen, hatte gesehen – und hatte ausgecheckt.   Und nun versuchte er zu entscheiden, ob er lachen, weinen oder den gesamten Stab seiner Adoptivgeschwister im unterirdischen Guanotümpel ersäufen sollte. Streng gesehen waren sie nicht blutsverwandt, es hätte sich also keineswegs um Brudermord gehandelt. Doch konnte er es tatsächlich riskieren, sich einmal mehr den Zorn ihres strengen Vaters zuzuziehen?   Nein, entschied er, Bruce hätte in seiner Verblendung schlichtweg nicht erkannt, welch gnadenvollen Gefallen er der Menschheit mit der Tilgung jener Prunzkacheln vom Angesicht der Erde geleistet hätte.   Entmachtet seufzend stützte er sich stattdessen mit beiden Händen auf dem Bett ab. Auf einmal empfand er eine so überwältigende Müdigkeit, dass er Richards freundliche Gabe am liebsten von der Matratze getreten und sich für die nächsten dreihundert Jahre in den weichen Federn vergraben hätte. Vielleicht hätte sich das Problem dann von selbst erledigt. Aber nein, dachte er bei sich, diese Plagen hätten sich reanimiert, sobald sie sein Erwachen bemerkt hätten, nur um ihm eins auszuwischen.   Er wusste genau, dass sie irgendwo gehässig unten lauerten, unzweifelhaft Richards stets vielversprechendem Ruf gefolgt, zusammengepfercht im Fernsehzimmer, nur darauf wartend, mit ihrem Hyänengeiern schadenfroh über ihn herzufallen. Oh ja, und wie er es wusste.   Mit zusammengepressten Lippen ballte er ergrimmt die Hände zu Fäusten.   Nun, wenn sie eine Show haben wollten, würden sie eine bekommen – doch sollten sie sich nur nicht allzu sicher sein, sie auch genießen zu können.   Richard war der erste, der ihn bemerkte, als er wenig später komplett bekleidet ins Zimmer trat und aller Welt ungehinderte Sicht auf das verabscheuungswürdige Machwerk bot. Wortlos schloss Jason die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust. Damian und Timothy sahen vom Fernseher auf und musterten ihn mit stetig wachsender Fassungslosigkeit.   Und dann brach ein Grinsen auf Richards Gesicht aus, während er beide Hände zum Mund führte und mit überschwelliger Begeisterung hinein quiekte: „Oh mein Gott! Das steht dir fabulös!“ Jason spießte ihn mit einem gereizten Blick auf, war er sich doch sicher, am Ende des Satzes ein schnell geschlucktes infantiles Gackern vernommen zu haben. Timothy hingegen blinzelte beeindruckt und bedachte Richard mit einen anerkennenden Nicken: „Du hattest recht! Das ist echt cool! Sogar den Buffalostance hat er perfekt drauf!“ „Yepp“, freute sich der Angesprochene eindeutig zu sehr, „und den düsteren Gesichtsausdruck auch!“ „Yepp“, imitierte Damian seinen Lieblingsbruder mit betont ungerührter Miene, „und den zurückweichenden Haaransatz auch.“   Die Umgebungstemperatur sank erheblich. Richards und Timothys Kinnladen sackten langsam ab, während sie Damian in stummem Entsetzen anstarrten. Der Junge ließ sich ein triumphales Grinsen nicht nehmen, hielt es aber doch für sicherer, alle Muskeln anzuspannen und sich vorsichtig zu erheben: „Hey, Todd, komm runter, okay? Es gibt in Zeiten der chirurgischen Eingriffe höchst wirksame Mittel gegen solch unschöne Alterserscheinungen! Ich bin mir sicher, wenn du Vater ganz unterwürfig fragst, wird er dir genug finanzielle Unterstützung gewähren, um dich vor der drohenden Platte zu bewahren!“   Richard krümmte sich ein Stück zusammen wie das Reh vor der Kühlerhaube: „Oh~oh.“ Timothy senkte nur die Stirn in eine Hand.   Jason strahlte blanke Mordgier aus. Mit starrem Blick ließ er die Fingerknöchel knacken und machte einen drohenden Schritt auf sie zu: „Lauft, ihr kleinen Scheißwichser.“ Richard schluckte wimmernd: „... Vorsprung?“ Jason begutachtete ihn durchdringend und entschied dann wohlwollend: „Fünf Sekunden.“ Seine Augen blitzten gefährlich: „Minus.“   Und seine Brüder rannten so schnell und weit weg wie sie konnten.   Als Bruce kurze Zeit später die Treppe vom ersten Stock hinunterstieg, um nachzusehen, was der unsägliche Radau im Erdgeschoss zu bedeuten hatte, hatte er nicht erwartet, mitten in eine nervenaufreibende Schlacht zu taumeln.   Schreie und Gepolter hüllten ihn ein und kaum dass er den Weg zum Wohnzimmer, aus dem der lauteste Krach ertönte, hinter sich gebracht hatte, zischte ein stahlblaues Geschoss an ihm vorbei, so scharf am Ohr, dass die Reibung ihm einen elektrischen Schlag versetzte.   Nach einem beherzten Sprung zur Seite blinzelte er irritiert und presste sich dicht an die Wand, um tief durchzuatmen und vorsichtig um die Ecke zu linsen. Ein besonders lauter und zorniger Schrei ertönte, er erkannte noch Damians Stimme, und diesmal flog ein grünes Projektil durch den Durchgang in den Flur und prallte an der gegenüberliegenden Seite am Gemälde einer entfernten Verwandten ab. Das Bild wackelte, blieb stehen und fiel. Ein durchdringendes Knacken verlautbarte das Ende des antiken Rahmens.   Wortlos musterte Bruce das halb zerschlissene Kissen, das in den Überresten des uralten Holzes lag, und wandte sich dann wieder dem Schauspiel im Zimmer zu.   Richard lag sternförmig ausgebreitet auf dem aus massiver Eiche gearbeiteten Tisch und bemühte sich redlich, die zahlreichen Schläge abzuwehren, die Jason – über ihn gebeugt – ihm mit einem schon halb zerfetzten Kissen verpasste, und gleichzeitig nicht an den Federn zu ersticken, die die ganze Umgebung in einen weißen Schleier tauchten. Es gelang ihm nur unzureichend, und so schien sich Timothy genötigt zu fühlen, ihm von der Seite Hilfestellung zu leisten. Er befand sich außerhalb von Bruces Blickfeld, aber anhand der Stimme vermutete er ihn in der Nähe der Stereoanlage.   „KAAAME-HAAAME-H-“   Jason drehte sich blitzschnell zur Seite: „FINAL FLASH!“ Noch im Schrei warf er die Überreste seiner Waffe auf den neuen Gegner. Dann sprang er von Richard herunter und stürzte sich blindlings hinterdrein, woraufhin erschrockenes Quieken ertönte – und heftiges Krachen und Klirren.   Ja, direkt vor der Stereoanlage. Vor der nun wahrscheinlich ehemaligen Stereoanlage.   „Das war nicht fair! Du hast es viel zu schnell gerufen!“   „Wär ja schön blöd, wenn ich dir die Gelegenheit gegeben hätte, als erster anzugreifen! Ich bin klüger als das, ich ... bin ... FÜRSTLICH! Friss das, Schwächling!“   „UAH! DAMIAN! HILFE!“   „Lass umgehend von ihm ab, Todd! Er mag ein Schwächling sein, aber er ist immer noch besser als du, teuflischer Unhol-“   Bruce musste gestehen, froh darüber zu sein, dass die Beleidigung mit einem dumpfen Aufprall, schmerzerfülltem Stöhnen und einem höhnischen „Oh, übrigens: Galick Gun“ abgebrochen wurde, sonst hätte er seinen Jüngsten ernstlich zurechtweisen müssen über den Umgang mit seinem entfremdeten Bruder – auch wenn Jason im Moment keineswegs so entfremdet wirkte, wie er immer besorgt gedacht hatte. Und obwohl er das unangenehme Gefühl hatte, einen gewissen Kontext im herrschenden gewalttätigen Benehmen zu vermissen, erfüllte ihn die Erkenntnis mit Erleichterung.   „KÜKEN! Oh nein! Tim, er stirbt! Er stirbt! NEEEEEEEEEEIN!!!“   „Benutz Senzu-Bohnen, Dick! Beeil dich! Ich kann ihn nicht länger allein in Schach halten!“   „Oooooh ... Grayson ... Es war mir ... eine Ehre ... an deiner ... Seite ...“   „Halt durch, Little D! Halt durch!“   „DICK, PASS AUF!“   Jasons Körper prallte mit voller Wucht seitlich in Richard hinein, just in dem Augenblick, in dem dieser Damian eine halbe Handvoll knallbunter Jellybeans in den Mund zu stopfen versuchte. Sie kullerten durcheinander über den Boden – die Jungs, nicht die Jellybeans – und diesmal schaffte es Richard, Jason beim Ergreifen einer Waffe zuvorzukommen, allerdings nur knapp.   Während Bruce dabei zuschaute, wie sie die Kissen in ihren Händen mit aller Macht gegeneinander schlugen und sie so zu kümmerlichen Lappen abnutzten, fragte er sich, seit wann Jason einen solch extravaganten Modegeschmack entwickelt hatte.   Er hatte ihn noch nie in einem kurzärmligen, rosafarbenen Leinenhemd gesehen.   Allerdings musste er zugeben, dass ihm die grelle Farbe gut stand, und so fühlte er sich verpflichtet, ihm eines der seltenen Komplimente zukommen zu lassen, die seine Kinder sich immer so sehnlichst von ihm zu wünschen schienen. „Du siehst gut aus, Jay“, rief er deshalb beiläufig in den Raum hinein, seine dunkle Stimme den Krach mit Leichtigkeit übertönend.   Zugegeben, das mitten ins Gesicht geworfene Kissen hatte er als Dank für seine Mühen nicht erwartet. Doch er entschied sich, diese kleine spontane Respektlosigkeit zu ignorieren, solange es nicht das letzte Mal gewesen war, nach einer totenstillen Schrecksekunde das vereinte Lachen seiner Kinderschar genießen zu dürfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)