Von Sündenböcken und roten Schafen von LockXOn ([Oneshot-Sammlung]) ================================================================================ Am Anfang war die Tat --------------------- Gedankenverloren wanderte Bruce über nasse Pflastersteine, die Stirn in tiefe Falten gelegt, den Griff seines Regenschirms leicht hin und her drehend.   Stundenlang hatte er über die zahlreichen Überwachungskameras in der Bathöhle das Treiben auf dem hauseigenen Friedhof verfolgt, seit der unerwartete Besucher den Fuß durch die eiserne Gitterpforte gesetzt hatte, bis er sich schließlich dazu entschlossen hatte, dem Ganzen ein Ende zu setzen.   Lange hatte er darüber nachgegrübelt, was Jason an diesem Abend an sein Grab getrieben hatte, ohne zu einem Schluss zu kommen. Es war kein besonderer Gedenktag, zumindest keiner, von dem er wusste. Erst hatte er geglaubt, sein entfremdeter Sohn wollte dem neuesten Bewohner dieses bedrückenden Ortes den längst überfälligen Respekt zollen, doch er war nicht einmal in die Nähe von Timothys Grab gegangen. Stattdessen hatte er zielsicher den Weg zum eigenen eingeschlagen, sich nach einer vollen halben Stunde Regungslosigkeit davor auf Knien zu Boden sinken lassen – und seitdem kontemplierte er. Scheinbar in stillem Grauen, denn zwischendurch war er dreimal wie von der Tarantel gestochen aufgefahren, blindlings in Panik Richtung Ausgang gestürzt ...   Und doch kurz vor der Pforte wieder in sich zusammengesunken und langsam an denselben Platz zurückgekehrt, um wieder dieselbe meditative Haltung einzunehmen.   Bruce hatte sich zum Eingreifen entschieden, nachdem er sich nach einer gefühlten Ewigkeit hintenüber aufs Gesäß fallengelassen und sich resigniert anmutend zusammengekrümmt hatte.   Seufzend fragte er sich, was dieser notorische Störenfried nun wieder ausheckte. Er machte sich Sorgen. Um Jason. Wegen Jason. Bruce – Batman – trug eine Menge Verantwortung für eine Menge Leute. Das schloss Jason mit ein, aber alle anderen nicht automatisch aus, was sein Zweitältester in seinen berüchtigten Wutanfällen leider allzu häufig vergaß. Und auch, wenn seine Ausraster wesentlich seltener geworden waren und vielleicht sogar manchmal aus nachvollziehbaren Gründen erfolgten, durften sie sich nichts vormachen. Sie mussten an die anderen Familienmitglieder denken und Jasons Psyche war nicht gefestigt genug. Viel beständiger zwar als noch unter dem unmittelbaren Einfluss der Lazarusgrube, Zeit und Vernunft hatten den Wahnsinn unter Kontrolle zu bringen vermocht, aber das Gift kursierte noch immer in Jasons Adern und nichts konnte etwas daran ändern. Einmal dem Einfluss der Gruben ausgesetzt, verschwand er nicht mehr – höchstens vielleicht mit dem Tod.   Und im Moment sah es ihm unangenehm danach aus, als wollte sich Jason zu Tode kasteien.   Doch ehe Bruce einen weiteren Todesfall in der Familie duldete, setzte er sich lieber mit Jasons unberechenbaren Launen auseinander sowie mit den ewigen Streitereien, meistens, wenn es um Vertrauen ging, gegenseitiges Vertrauen, das er ihm einfach nicht entgegenbringen konnte. Und so stellte sich Bruce innerlich vorsorglich auf einen weiteren Zank ein. Normalerweise zog Jason es vor, bei seinen Anwandlungen allein gelassen zu werden. Diese Freiheit hatte Bruce im gönnen wollen, aber jetzt erschien es ihm eindeutig genug. Was immer er auch gerade tat, es musste eine Menge innere Unruhe und noch mehr Schrecken und negative Erinnerungen bedeuten.   Eins war klar: Jason war nicht bereit, das Unternehmen aufzugeben, bis er zufriedenstellende Ergebnisse vorzuweisen hatte, sonst hätte er den Friedhof längst verlassen – was dieses Unternehmen oder gar die Ergebnisse waren und wem er sie vorweisen wollte, konnte Bruce nur ahnen. Aber es musste ihm außerordentlich wichtig sein, um im strömenden Gewitterregen in der Dunkelheit der Nacht auf seinen Grabstein zu starren und in seiner verstörenden Vergangenheit zu schwelgen. Denn etwas anderes gab es für ihn an diesem Ort nicht zu tun.   Bruce trat aus der letzten Wegbiegung heraus und musste nur noch wenige Schritte tun, um neben Jason angekommen zu sein. Nichts an der kauernden Körperhaltung ließ erkennen, dass er seine Anwesenheit registriert hatte, doch es hätte ihn sehr gewundert – beinahe besorgt – wenn ihm tatsächlich nicht bewusst war, dass er Gesellschaft bekommen hatte.   Eine Weile stand er stumm da, begnügte sich nur damit, mit dem breiten Schirm den Regen von ihnen fernzuhalten, auch wenn das bei dem hoffnungslos durchnässten Jungen keinen Unterschied mehr machte, und lauschte.   Wenn Jason weinte, schluchzte er nicht herzerweichend wie Richard, oder wie es Timothy getan hatte. Erstaunlicherweise war er aber auch nicht aggressiv in seinem Kummer, wie sie es von Damian gewohnt waren. Nein, wenn er keine Show abziehen wollte, wenn er kein absonderliches Zeichen setzen wollte, wenn er eine Schwäche nicht zugeben wollte und man sich deshalb umgehend sicher sein konnte, dass es wirklich, wirklich ernst war ...   Dann weinte Jason still, geräuschlos, ohne jede Möglichkeit, trotz nahezu schmerzhaft zusammengebissenen Zähnen die nicht versiegen wollenden Tränenbäche über glühenden Wangen zurückzuhalten, und nur an seiner unregelmäßigen Atmung erkannte man die Anspannung, jeder Atemzug schwer und stockend, als musste sich der Sauerstoff Millimeter für Millimeter an einem sperrigen Hindernis vorbeiarbeiten.   „Tut mir leid wegen der Umstände“, ertönte es plötzlich gedämpft durch das Bündel Gliedmaße, die Jason in ein so kleines Paket wie möglich zu pressen versuchte, „Ich wollte hier fertig sein, bevor du misstrauisch wirst, aber entweder hab ich die Zeit vergessen oder du hast dieses Mal schneller die Geduld verloren als üblich.“ Jason hob den Kopf ein Stück, blickte knapp über die eigenen Knie erneut auf das finstere Monument, das seinen Namen trug. Bruce konnte nur spekulieren, was das für ein Gefühl war. Sie beide waren pragmatisch, aber konnte man pragmatisch genug sein für die Existenz des eigenen Grabs? Jasons Stimme war so leise, dass er sie kaum verstand: „Aber es hat keinen Sinn. Es hat einfach keinen Sinn. Ich verschwinde.“   Er machte keine Anstalten aufzustehen.   Bruce ging in die Hocke, ohne den Blick abzuwenden: „Warum bist du hier, Jay?“ Die grauen Augen wanderten etwas ziellos herum. Unsicherheit. Das diskrete Schlucken unterstrich den Eindruck von Befangenheit – der Grund blieb zu ermitteln.   „Wegen ... wegen Tim“, murmelte Jason schließlich kleinlaut, als ob Trauer um ein verstorbenes Familienmitglied eine verwerfliche Angelegenheit war. Nach Jasons Einstellung stimmte das vielleicht sogar. „Du bist hier an der falschen Adresse“, erwiderte Bruce ruhig und wies mit dem Kinn den Weg hinunter, „du hast nicht einmal die grobe Richtung seines Grabs getroffen.“ Er bemühte sich, jeglichen Humor oder gar Vorwurf aus der Stimme zu verbannen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er Jason nicht glaubte.   Als dieser nichts erwiderte, seufzte er und ließ sich endlich neben ihn auf die kalten Steine sinken. Er fröstelte unmittelbar. Jason musste durchgefroren sein! Er musste diese Sache eiligst klären und ihn dann schnellstens aufwärmen, wollte er keine gesundheitlichen Einschränkungen riskieren. „Ich dachte, du glaubst nicht an seinen Tod?“, fragte er so gelassen wie möglich, „Deswegen hast du doch auch nicht an der Beerdigung teilgenommen, oder?“ „Das tue ich auch nicht“, dementierte Jason automatisch, nur um dann aber so unendlich leise, fast schuldbewusst hinzuzufügen, „Ich denke nur ... Es ist immer besser, vorbereitet zu sein, richtig?“   Bruce wollte es nicht zugeben, denn jede Unterstützung von Jasons Verblendung konnte nur seinem sowieso schon angeschlagenen Geist schaden, aber es tat unendlich gut, jemanden zu haben, der mit formvollendeter Selbstsicherheit behaupten konnte, dass Timothy Jackson Drake noch unter den Lebenden weilte und lediglich wiedergefunden werden musste – nun Zweifel von derselben Person vernehmen zu müssen, hinterließ ein dumpfes Gefühl in seiner Brust.   Als verlöre er ihn ein weiteres Mal, dieses Mal endgültig.   Als tötete Jason seinen Bruder.   Es war ein beunruhigender Vergleich, zu nah an einer gar nicht so veralteten Erinnerung, und unfair noch dazu, und so schüttelte er verärgert den Kopf über sich selbst.   Timothy war tot. Jason konnte nichts dafür. Er würde die Verzweiflung über den Verlust des einen nicht an dem anderen auslassen, nur weil dieser sich aus Trotz wahrscheinlich sogar gleichgültig gegenüber jeder Beschuldigung stellen würde.   „Wenn es sich als wahr rausstellt ...“, unterbrach Jason die düsteren Gedanken oh so zögerlich, „Wenn er wirklich ... wenn er wirklich ... B, wenn wir was tun können, um ihn zurückzuholen, werden wir es tun ... richtig?“ „Jay“, antwortete er ihm so fest und entschlossen wie möglich, ahnte er doch, wie wichtig gerade diesem Jungen – einem wandelnden schockierenden, unerklärlichen Phänomen – eine überzeugte und überzeugende Antwort sein musste, „wenn wir tatsächlich etwas tun können, werde ich keine Mühen und Gefahren scheuen, es zu tun.“ Jason musterte ihn einige lange Sekunden von der Seite und legte dann das Kinn sachte auf den Knien ab: „... Okay.“   Bruce wartete geduldig, doch nach einigen Minuten Schweigen erinnerte er sich an die nötige Sicherstellung von Jasons Wohlbefinden und trieb die Aussprache voran: „Erzählst du mir jetzt, was du hier tust?“ Ein kaum merklicher Schauer ging durch Jasons Körper, gepaart mit einem erneuten Schlucken und dem überdeutlichen Versuch, jedweden Blickkontakt zu vermeiden. Hätte er nicht jahrelange Erfahrung in Psychoanalyse gehabt, hätte ihn das Herumdrucksen seines Sorgenkinds überaus beunruhigt – Jason wägte offenbar sehr genau ab, ob und was er ihm mitteilen sollte, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.   Und als sich ein eindeutig erzwungenes Grinsen auf dem aschfahlen Gesicht ausbreitete, bekam er es tatsächlich ein bisschen mit der Angst zu tun.   Jason lachte, ein gebrochenes, an Hysterie grenzendes Geräusch, welches er am liebsten sofort vergessen hätte: „Weißt du, du hast es damals völlig falsch angefasst, B! Ich meine, ich mach dir keinen Vorwurf, du warst ziemlich durch den Wind nach ... nach ... der Sache mit Leviathan und Talia und so und ... und wenn ich daran zurückdenke, muss ich zugeben, dass es eine gute Idee war. Ein Strohhalm, dein letzter wahrscheinlich, aber einen Versuch wert, das seh ich jetzt ein, okay? Damals war ich nur ... Naja, ein bisschen schockiert, dass du mich so bereitwillig zur Schlachtbank hast führen können, aber jetzt seh ich es ein, wirklich. Ich meine, Damian ist ... ist dein ‚Echter‘, also ...“ Ein mühsames Schlucken überdeckte notdürftig das Brechen der Stimme.   Bruce hielt sich energisch davon ab, ihm den Mund zuzuhalten – oder noch besser, mit beiden Händen aufs eigene Gesicht einzuschlagen, bis sich die auf ihn einstürzenden Erinnerungen, der plötzlich entstandene Kloß in seinem Hals sowie die Felsen in seinem Magen pulverisierten. Denn er wusste augenblicklich, worauf das Gespräch hinauslaufen sollte. Stattdessen zwang er sich, weiterhin aufmerksam zuzuhören.   Jason rieb sich über die Augen, um sich Regenwasser und verbliebene Tränen heraus zu wischen, und fuhr dann fort, wieder leiser, aber zum Glück gefasster, sodass sein Mentor vorerst keine weiteren durch abgrundtief schlechtes Gewissen hervorgerufene Alpträume befürchtete.   „Ich sehʼs ein, aber ... Ich kannʼs immer noch nicht fassen, dass du mich nach Qurac gebracht hast.“   Durch abgrundtief schlechtes Gewissen hervorgerufene Alpträume Ahoi.   ... Aufpassen. Zuhören. Es ging hier nicht um ihn.   Jason wischte sich erneut mit dem Ärmel übers Gesicht: „Um irgendwas Verwertbares über meine Wiederbelebung rauszufinden. Für Damian. Ich verstehʼs ja, okay? Aber ...“ Ein Schluchzen entfuhr seiner Kehle, welches er entgegen jeden besseren Wissens nicht unterdrücken konnte. „Aber alles, was ich mit diesem Ort verbinde, ist mein Tod“, presste er mühsam hervor, gefolgt von einem abgehackten Kichern, „Total kontraproduktiv, B! Hat sich was mit ʼnem Weg zur Wiederbelebung.“ Seine Atmung ging wieder etwas schwerer und er starrte stur geradeaus, die Arme fest, fester um die Unterschenkel legend, nahezu krampfhaft darum gewickelt. „Ich war vor Kurzem wieder da, weißt du? Hatte ʼne kleine Episode, Flashbacks und Aussetzer ... Hatte vielleicht auch was mit der Gehirnerschütterung zu tun, aber ... Hab noch nicht mal gemerkt, was sie in der Zwischenzeit mit mir angestellt haben“, er lachte kurz auf, als wäre irgendetwas am Gesagten irrsinnig komisch, „Aber ist ja egal.“   Bruce stimmte dem nicht zu. Bruce stimmte dem ganz und gar nicht zu. Und er musste sich sehr dazu zwingen, sich nicht vom Wesentlichen ablenken zu lassen und Jason umgehend sehr genau zu verhören, warum um alles in der Welt er nach Äthiopien gereist war, wie er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte und wer was in welcher Zwischenzeit mit ihm angestellt hatte – um den Verantwortlichen anschließend einen ausgesprochen förmlichen Besuch abzustatten. Stattdessen atmete er selbst tief durch, so heimlich wie möglich, um den Bericht nicht unnötig zu unterbrechen. Obwohl ihm keineswegs gefiel, in welche Richtung er ging.   Jason sah zu Boden, angespannt und nervös.   „Auf jeden Fall ... Ich hockte da in dieser Zelle, keinen Kilometer von diesem vermaledeiten Lagerhaus entfernt – oder zumindest dem Trümmerhaufen, der davon übriggeblieben ist – und es lief alles direkt vor mir ab, wie ein Film ... Noch nicht mal wie vorm inneren Auge, B, ich war da, er war da, ich hab ihn greifen und mit Blei vollpumpen können, einfach so! Es war ... gruselig, echt gruselig, aber gleichzeitig ziemlich befriedigend, ihn am eigenen Blut ersticken zu sehen ... Zumindest bis er wiedergekommen ist. Und er ist immer wiedergekommen. Und dann fing das Ganze von vorne ...“   Eilig legte er die Hand über den Mund und kniff die Augen zusammen, um den aufsteigenden Mageninhalt am Austreten zu hindern. Ein schwacher Hustenanfall schüttelte ihn und er schwieg eine Weile, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Bruce neben ihm blieb so bewegungslos wie eine Statue. Er vernahm ihn nicht mal mehr atmen. Jason seufzte.   „Ich ... ich will nur damit sagen, dass ich es immer und immer wieder durchlebt hab, und nichts kam zurück bezüglich meiner ... keine Ahnung ... meiner ‚Auferstehung‘. Es war auch nicht obskur oder so ʼn Scheiß, es war alles so klar und deutlich und wenn was Nützliches dabei gewesen wäre, ich würdʼs dir sagen, glaub mir! Aber ... es ging alles nur bis zur Explosion ... und dann nichts. Und dann fingʼs von vorne an. Absolut uninteressant.“   Nur Jason. Nur Jason konnte so abfällig über sich richten, den erlebten Schrecken als uninteressant zu bezeichnen. Bruce wollte ihn packen und schütteln und verlangen, ihm zu sagen, wer ihm ein derart geringes Selbstvertrauen eingeredet hatte, doch er fürchtete, die Antwort bereits zu kennen. Seine Hände ballten sich trotzdem zu Fäusten, die Knöchel traten weiß hervor.   „Und nachdem wir wieder hier waren, nachdem ich eine Weile drüber nachgedacht hab ... dachte ich mir, wahrscheinlich war es blöd, am Ort meines Ablebens nach Lösungen zu suchen, weißt du? Ich dachte, wäre es nicht viel sinnvoller, am Ort meiner Wiederbelebung zu suchen? Also bin ich hierher und ... und hab mir gedacht, wenn ich hier sitze und es auf mich wirken lasse und es nicht abblocke wie sonst ... Ich ... ich hab nie aktiv versucht, mich daran zu erinnern, was ich vergessen hab, okay!? Ich wollte einfach nur das vergessen, woran ich mich erinnere! Ich meine ... ich hatte dieses miese Gefühl bei der Sache, als ob es wirklich, wirklich nicht so gut wäre, mich daran zu erinnern, wie ich in ... in meinem ... Ich meine, es ist nicht unbedingt angenehm, im eigenen Sarg aufzuwachen und ... Ich hatte nichts, womit ich arbeiten konnte, B, nur ʼne Gürtelschnalle und meine Hände und ich glaube, ich bin in ziemliche Panik verfallen, ʼtschuldige, deshalb bin ich vielleicht nicht auf die optimale Lösung gekommen, ich hab einfach nur gegraben ...“   Ein erneutes Schluchzen übertönte das Prasseln der Regentropfen auf den harten Boden. Jason vergrub das Gesicht in den Händen und begann damit, rhythmisch vor und zurück zu schaukeln, als benötigte er Hilfe beim Atmen. Es nutzte nichts.   Bruce bedeckte sich nun doch die Augen mit einer Hand.    „Und ich kann mich an den ganzen Dreck erinnern, den ich geschluckt hab und an die Enge und Dunkelheit und dass ich keine Luft bekommen hab und dass ich einfach nur raus wollte ... Es war so ein Wetter wie heute, glaub ich, ich glaube, es hat geblitzt ... Wie Frankensteins Monster ...“   Jason kicherte gedämpft in die Handflächen. Es klang, als würde er ertrinken.   „Vielleicht warʼs ein Blitz, B? Vielleicht ... nur vielleicht, weil ... B, ich kann mich einfach nicht erinnern! Ich versuchʼs, wirklich, ich versuchʼs, aber da ist einfach nichts und plötzlich wache ich auf und es ist dunkel ... und eng ... und ich bin ganz allein und ... Ich weiß nicht, wie es passiert ist!“   Er sank langsam nach vorne und Bruce erkannte, dass der Bericht abgeschlossen war. Sein Arm fuhr wie von selbst voran und legte sich fest um Jasons Schultern, um ihn entgegen jedes Widerstands an seine Brust ziehen zu können. Doch da war kein Widerstand, nur ein kaum hörbares Nuscheln, dessen vollkommen entmutigter Tonfall sich tief in Bruces Herz fraß.   Ich weiß einfach nicht, wie es passiert ist.   Bruce ließ den Schirm ins Gras fallen, um auch noch den anderen Arm um ihn legen zu können, und Jason schauderte, kaum vernehmlich in Bruces Mantels jammernd, eiskalte Finger sich zögerlich in den dicken Stoff grabend. Bruces Finger fuhren ihrerseits in triefendnasses Haar und pflügten sanft durch die schwarzen Strähnen. „Es ist schon gut, Jay“, flüsterte er ihm ins Ohr, „hör jetzt auf. Es hat keinen Sinn, sich zu zwingen.“   Von einer auf die andere Sekunde fand er sich auf dem Rücken wieder, mit Jason über sich gebeugt, dessen zitternde Finger ihn am Kragen gepackt hatten und ihn mehrmals in den harten Boden stießen.   „DAS SAGST DU JETZT?!“   Seine Wirbelsäule schmerzte von der Kraft, die der Junge aufwand, um ihn in Position zu halten, als ob er befürchtete, jeden Augenblick mit brutaler Gegenwehr rechnen zu müssen. Bruce dachte nicht daran, sich zu verteidigen. „Warum hast du mich damals zwingen wollen, huh?! Für Damian! Alles für Damian, aber nicht für Tim, oder was?!“, brüllte Jason ihm zügellos ins Gesicht, „Die Teufelsbrut ist dein Ein und Alles, für den opferst du alles, für den riskierst du alles! Tja, Überraschung, aber ich scheiße auf Blut und Wasser! Ich will verdammt nochmal Tim zurück und ich sitz mir hier den Arsch ab an meinem verdammten eigenen Grab und versuche mich an Scheiße zu erinnern die uns vielleicht irgendwie ein Stückchen weiterbringen könnte um ihn wiederzubekommen und ich sitze und sitze und sitze und nichts kommt absolut gar nichts Brauchbares und ich mache dasselbe was du von mir verlangt hast nichts Minderes und es kommt nichts und ich will Tim zurück verdammt nochmal er war der einzige der wenigstens versucht hat zu verstehen aber ich bin wieder nutzlos genau wie es diese gemeine Krötenviper immer behauptet obwohl ich vielleicht einmal für jemanden nützlich sein könnte der mir wichtig ist wenn mein verficktes unterentwickeltes Hirn mir keinen verschissenen Riegel vorschieben würde und jetzt kommst du an und sagst ‚Hör auf, es hat keinen Sinn‘?! LECK MICH!“   Er hob ihn so weit an, dass er beinahe aufrecht saß, ehe er ihn mit aller Gewalt zurück zu Boden stieß. Bruce schluckte den Schmerz, sah nur gefasst zu ihm auf.   Und wo er mit seiner scheinbaren Gleichgültigkeit, dieser vertrackten Rationalität normalerweise nur noch mehr Wut hervorgerufen hätte, wich jetzt auffallend schnell jeder Kampfgeist aus Jasons unendlich müden Augen. Sie fielen zu und er senkte die Stirn auf seine immer noch verkrampften Fäuste, auf Bruces Brust, und presste durch bebende Lippen hervor: „Ich wollte ... Ich dachte ... ich könnte helfen. Ihm helfen. Aber ich kann nicht ... Da ist nichts ... Es tut mir so leid ... Tut mir so leid, Tim ... Bruce ...“   Er weinte. Er weinte wieder, in dieser verstörenden in sich gekehrten Art, und alles, was Bruce tun konnte, war, sich wieder aufzurichten und ihre vorherige Position einzunehmen, um ihm Halt zu geben, soviel und solange er brauchte – auch wenn er ihn nicht wollte.   Während er schweigend Hilfestellung gab, dachte er über Jasons Worte nach. Der Junge hatte sich bei ihm entschuldigt, nicht etwa für die harsche Beschimpfung, sondern dafür, sich nicht erinnert zu haben. Was ihm nur allzu deutlich verriet, dass es hier nicht nur um Timothy allein gegangen war.   Nachdem ihre Beziehung durch Jasons irrationalen Rachefeldzug so immens gelitten hatte, hätte er nie gedacht, dass sein entfremdeter Sohn auch nur noch einen Funken Wert auf seine Meinung legte. Doch diese ganze Situation machte ihm unmissverständlich klar, wie tief verwurzelt Jasons Wunsch nach Anerkennung – seiner Anerkennung – noch immer war.   Und es schmerzte, mit anzusehen, wie sehr er sich beim Versuch zu beeindrucken selbst verletzte.   Bruce riss sich zusammen. Er durfte sich keine seiner aufkeimenden Gefühle anmerken lassen, nicht hier, nicht jetzt. Jason würde sie missverstehen. Denn er kam nicht umhin, tiefe Enttäuschung zu empfinden. Auf keinen Fall fühlte er sich enttäuscht von diesem Jungen, der sich so heillos aufgewühlt an ihn presste und sich Vorwürfe machte, etwas nicht zu wissen, was er in aller Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht wissen konnte. Aber davon, dass Jason nicht weiterhelfen konnte. Dass sie, sollten sie tatsächlich sterbliche Überreste von Timothy finden – es drehte ihm den Magen um beim bloßen Gedanken – nichts anderes tun konnten als ihn abermals zu beerdigen ...   Und stets still zu hoffen, dass ihnen ein einmal geschehenes Wunder ein zweites Mal wiederfahren würde. Zumindest für eines hatten sie gesorgt – der Sarg war dieses Mal vorbereitet.   Bruce war so in Gedanken versunken gewesen, dass er weder gemerkt hatte, wie still und reglos Jason in seinen Armen geworden war, noch dass der Regen sie nicht mehr erreichte, obwohl er sich nach wie vor in Strömen über sie ergoss. Irritiert sah er auf und ins unendlich geduldige Gesicht seines Butlers, der ihnen ungeachtet der eigenen Unannehmlichkeiten mit dem aufgehobenen Schirm Schutz bot.   Als er sich der Aufmerksamkeit bewusst wurde, sagte Alfred im typisch gelassenen Tonfall: „Wie ich das sehe, wird uns Master Jason wohl eine Zeitlang mit seiner Anwesenheit beglücken. Ich werde sofort sein Bett herrichten. Und ich denke, Vorsorgemaßnahmen gegen den einen oder anderen grippalen Infekt wären angemessen. Wie lange gedenken Sie sich noch in diesem unsäglichen Wetter aufzuhalten, Master Bruce?“ „Keine Sekunde länger, Alfred. Du hast recht, wir sind bereits eindeutig zu lange hier“, gestand Bruce zerknirscht und drehte Jasons Kopf ein wenig zur Seite, um seine Befindlichkeit zu prüfen. Er war eingeschlafen oder bewusstlos, vor Erschöpfung, Schock, Trauma, das konnte er in diesem Moment nicht sagen. Zumindest wirkte er friedlich, was eine Verbesserung zu seinem vorherigen zerrütteten Zustand darstellte. Deshalb verspürte Bruce leichtes Mitleid, während er ihm ein paar harmlose Klapse auf die Wangen versetzte, um ihn aufzuwecken, doch Jason zuckte nicht mal mit der Wimper. Als ihm die Sinnlosigkeit des Unterfangens bewusst wurde, drückte er ihn stattdessen seufzend fester an sich und vergrub die Nase im klatschnassen Haar.   Hinter sich hörte er Alfred hüsteln: „Wenn Sie mir den Einwand gestatten, Master Bruce: Sie erfüllen Ihre Rolle als Vater heute anscheinend zuverlässiger als in vielen anderen Fällen, die Master Jason betreffen. Ich möchte anmerken, dass es mich mit Stolz erfüllt.“ Bruce schaute mit einem ironischen Schmunzeln zu ihm auf: „Ich habe rein gar nichts getan.“   „Manchmal ist das besser, als zu viel zu tun.“   „Danke, Alfred. Aber wenn ich mir seine Reaktion so ansehe, erfüllen mich doch vage Zweifel.“   „Master Jason mangelt es an der Fähigkeit, sich außerhalb von Zorn und Zynismus auszudrücken. Das ist uns keineswegs neu. Ich bin überzeugt, dass seine Aggressivität vorhin nur aus einer verzweifelten Mischung von innerer Erschütterung und psychischem Stress explodiert ist. Ich weiß nicht, an was er sich an diesem unheilvollen Ort zu erinnern erhofft hat. Aber die Tatsache, dass er trotz ihres Beiseins nicht versucht hat, die Flucht zu ergreifen, Sie stattdessen nicht einmal in seiner Rage losgelassen hat, ist ein zuverlässiges Zeichen, dass er Sie im Moment nicht nur braucht, sondern will.“   Bruce brummte nachdenklich, Jason sachte über den Kopf streichend, als konnte er allein mit der Berührung das Zuviel an Anspannung aus den Muskeln vertreiben. Schließlich murmelte er mit hörbarer Anerkennung in der Stimme, im nicht gerade subtilen Versuch eines Themenwechsels: „Ich bin immer wieder erstaunt, wie eng die Beziehung zwischen ihm und Tim geworden ist, obwohl sich gerade diese beiden wohl auf dem größtmöglich falschen Fuß begegnet sind. Dass er jetzt so weit geht und versucht ...“ Er schnaubte amüsiert, aber auch nicht ohne leise Verbitterung: „Er ist hergekommen, um sich an seine Wiederbelebung zu erinnern, um daraus eine Methode zu entwickeln, Tim zurückzuholen. Ich erinnere mich noch gut an die Prügel, die ich einstecken musste, als ich nach Damians Ermordung dasselbe von ihm verlangt habe.“   Alfred entließ einen hörbar gereizten Atem und Bruce fühlte sich auf einmal seltsam allein: „Und genau da liegt der Unterschied, Master Bruce. Dass Sie alles zu tun, alles zu opfern bereit gewesen sind, um Ihren jüngsten Sohn zurückzubekommen, während Sie Ihren zweitältesten – und nun den zweitjüngsten – bereitwillig begraben ließen, war nicht das Problem. Das Problem war, dass Sie ihn auf schändlichste Weise in einen Hinterhalt gelockt und ohne Rücksicht auf Verluste von ihm verlangt haben, sich an einen der beiden grauenhaftesten Momente seines Lebens zu erinnern. Und dieses unaufrichtige Verhalten konnte nur auf eine einzige Art interpretiert werden: dass Sie nicht das Geringste von ihm erwarten. Muss ich Sie wirklich daran erinnern, über welch außerordentlich gute Instinkte er verfügt? Er wusste in dem Moment, in dem er Ihr Spiel durchschaute, wie wenig Sie von ihm hielten. Ich kann nur spekulieren, wie tief verletzt er gewesen sein muss. Wenn Sie stattdessen mit ihm geredet hätten ... Ich bin mir fast sicher, dass er Ihrem Plan aus freien Stücken zugestimmt hätte. Nicht ohne Protest selbstverständlich, nicht ohne eine Tirade schlimmster Schimpfwörter, die ich mir nicht einmal auszumalen wage, und vielleicht sogar nicht ohne einen ersten und zweiten Anfall körperliche Gewalt ... Vielleicht noch einem dritten, vierten und fünften, wer hätte es ihm verübeln können, bei derlei traumatischen Erfahrungen? ... Aber letztendlich hätte er Ihnen geholfen.“   „Das weiß ich“, protestierte Bruce und setzte, nachdem ihn ein besonders durchdringender Blick des Butlers zusammenzucken ließ, schuldbewusst hinzu „... Jetzt. Aber als ich blind war in meiner Verzweiflung über Damians Tod, habe ich nichts davon gesehen.“ Ein kurzes Lachen entfuhr ihm und er schüttelte über die eigene Gedankenlosigkeit den Kopf: „Seine Frechheit und schonungslose Art machen es immer wieder zu leicht zu vergessen, was genau er zu tun bereit ist für jene, die ihm etwas bedeuten. Es ist mir klar, wie fest er davon überzeugt ist, dass wir Schwerstkriminelle nur mit letalen Mitteln aufhalten können, trotzdem hat er sich dazu bereiterklärt, es nicht zu tun. Steph meinte, dass es dasselbe wäre, wenn er von mir zu töten verlangen würde.“   Nach einigen geistesabwesenden Sekunden schluckte er bedrückt und musterte Alfred nachdenklich, der erwartungsvoll zurückblickte.   „Jason hat mehr von meinem Vertrauen verdient, als ich bereit bin, ihm zu geben.“   Der Butler nickte ihm aufmunternd zu, als hätte er soeben eine besonders komplizierte Gleichung gelöst: „Fürwahr.“ Dann wies er mit einer einladenden Geste Richtung Ausgang: „Dürfte ich jetzt dringendst vorschlagen, zum Haus zurückzukehren? Wir wollen schließlich keinen weiteren unglücklichen Jungen beerdigen, auch wenn wir bei diesem die Generalprobe bereits erfolgreich hinter uns gebracht haben.“ Bruce runzelte pikiert die Stirn: „Das ist nicht lustig, Alfred.“ Das Gesicht des Butlers zeigte keinen Hauch Humor, nur eine kummervolle Ernsthaftigkeit, die auf Erfahrungen schließen ließ, die er sich nie gewünscht hatte: „Ich stimme Ihnen zu, Master Bruce. Ich stimme ihnen vollen Herzens zu.“ Daraufhin wandte er sich um und wanderte den Weg hinunter.   Bruce hätte Jason erneut aufzuwecken versuchen können, doch in Anbetracht von dessen maßloser Erschöpfung wollte er das nun nicht mehr. Es war keine wirkliche Schwierigkeit für ihn, seinen ausgewachsenen Sohn zu tragen, und so zog er sich nur einen schlaffen Arm über die Schulter und hievte ihn mit sich in die Höhe. Jetzt, da Jason unter Richards hartnäckigem – und vom Betroffenen nicht immer willkommenen – Einfluss wieder mehr Wert auf Beweglichkeit legte und den damit verbundenen Muskelschwund in Kauf nahm, war es erst recht kein Problem mehr.   Erst als er nach einigen Schritten mit einem kontrollierten Schwung den Griff nachjustierte, brummte Jason leise und schmiegte eine Wange an sein unnachgiebiges Brustbein. Ein Flüstern glitt ihm über die Lippen, kaum hörbar, wenn sie sich nicht so nah gewesen wären. Im Gegenzug lehnte sich Bruce dicht an Jasons Ohr und murmelte entschieden etwas zurück.   „ʼs tut mʼ leid, B.“   „Das muss es nicht, Jay. Du hast alles richtig gemacht.“   „Nur ʼs duʼs weißt ... ʼs nur ... Vorsicht. Er leb... Er lebt noch ...“   „... Ruh dich aus, Jay. Wir reden morgen weiter.“   Bruce seufzte schwer, hauptsächlich ein Zeichen der Sorge darüber, dass sich Jason noch immer weigerte, von der irreführenden Illusion abzulassen.   Doch wenn sich entgegen jeder Vernunft ein winziger Teil Hoffnung bildete angesichts dieses schädigenden Selbstbetrugs – konnte man einem trauernden Vater wirklich einen Vorwurf machen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)